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Ein e-book aus
dem Verlag

Saphir im Stahl

e-book 034

© Saphir im Stahl

Titelbild und Zeichnungen: Manfred Huss

Herausgeber Erik Schreiber

Zwerge
Märchen und Sagen
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Vorwort

Die Zwerge in Märchen und Sagen

Zwerge sind umgangssprachlich kleine Wesen, die vom Aussehen den Menschen ähneln. Sie werden als mythologische Wesen bezeichnet, die ihre Anwesenheit auf der Erde den Göttern verdanken. Ihren Ursprung finden wir in der nordischen Mythologie, wo sie neben den Göttern und Riesen ihr eigenes Reich besitzen. In den Texten der Edda und der altnordischen Isländersagas werden die Zwerge erwähnt. Geboren aus dem Blut des Riesen Brimirs und den Gebeinen Blainns entstanden Modsognir, der mächtigste aller Zwerge sowie die Gründer der Horden Durin und Dvalin. Beide stehen vielen Zwergen als Anführer vor. An anderer Stelle berichtet Snorri, die Zwerge seien als Maden aus dem Fleisch des Urriesen Ymir entstanden.

Ihr Wohnort wird dort in den Bergen und unter Felsen angegeben. Allerdings werden auch andere Orte angegeben, die geheimnisvoller und unwirklicher sind. So wird erwähnt, dass die Zwerge aus dem Geschlecht Sindris in einem goldenen Saal in Nidawellir leben. Sie gelten im Volksglauben als geizig und listig, tückisch und hinterhältig. Andererseits sind sie aber auch schlau, zauberkundig und hilfreich. Ihr Aussehen wird seit ein paar hundert Jahren mit Zipfelmütze und Bart beschrieben. Gerade Letztere ist es, womit man einen Zwerg besiegen kann. So konnte Siegfried den Zwerg Alberich am Bart packen und dessen Hort und Tarnkappe erringen. Oder andernorts wird ein Zwerg mit eingeklemmten Bart (wie bei Schneeweißchen und Rosenrot) gesehen, der sich nicht mehr selbst befreien kann. Mit dem Abschneiden des Bartes verliert er dabei viel seiner Kraft und Ansehen.

Der Beruf der Zwerge wird hauptsächlich als Schmied und Kunstschmied / Goldschmied angegeben. So wird immer wieder von ihrer Goldschmiedekunst und ihren großen Schätzen gesprochen. Ihr hauptsächliches Material ist jede Art Erz und deren Verarbeitung. Als Schmiede bauten sie die benötigten Erze selbst ab und verhütteten sie. Aus diesem Grund galten sie nicht nur als tüchtige Bergleute und Metallurgen, sondern verlegten die Erzähler den Wohnsitz der Zwerge oft unter die Erde. Diese unterirdischen Wohnungen und der sagenhafte goldene Saal werden mit jeder weiteren Erzählung zu unterirdischen Palästen voller Schätze und Wunderdinge. Bereits in der Edda und den Islandsagas findet sich das Motiv der Zwerge als Schatzhüter. Im Laufe der Zeit erlernten die Zwerge ganz normale Gewerke wie Bäcker, Tischler und Schuster etc. Zwerge leben in der Regel in größeren Gesellschaften, die sich mit den sozialen Begebenheiten änderten. Früher waren es Sippen und kleinere Familienverbände, es folgten aristokratische Gesellschaften mit Königen und Herzögen. Die Zwerge fanden sich auch zu Gilden und Ständen zusammen, den menschlichen Städtern gleich. Die Kunstfertigkeit der Zwerge übersteigt zudem die der Menschen. Ihr Vorteil sind die ihnen eigenen Zauberkräfte. Mit diesen gelingt es, aus einem einfachen Gewerk etwas weitaus mächtigeres herzustellen. Etwa den Speer Gungnir für den Gott Wotan, den Hammer Mjölnir für Donar oder einfach Tarnkappen wie bei den Zwergen Laurin und Alberich.

Die Zwerge spielen hauptsächlich in alten Sagen eine Rolle, wenn es darum geht, Abenteuer in den Bergen zu beschreiben. Die bekannteste Sammlung mit Märchen haben die Gebrüder Grimm angelegt in ihren Kinder- und Hausmärchen. Später kamen die sogenannten Kunstmärchen hinzu, die seit ein paar Jahrzehnten als Fantasy-Literatur ihre Erweiterung fanden.

Gerade in dieser neuen Literaturgattung änderten sich die Zwerge von den kleinen kaum kindergroßen Lebewesen zu Kriegern und Kämpfern. Die Größe variiert in den Erzählungen. Manchmal daumendick (ca. 2 cm) und Handbreit (ca. 10 cm) hoch, dann wieder groß wie eine Spanne (ca. 20 cm), ein Schuh (ca. 40 cm) oder Elle (ca. 50 cm), dann wieder reichen sie den Helden bis ans Knie oder an den Gürtel. Ihre Pferde sind nie größer als Rehe oder Ziegenböcke. Neben ihrem hervorragenden Merkmal des Bartes, zuweilen werden die wenigen Zwergenfrauen auch mit Bart beschrieben, besitzen sie, je nach Ausprägung gut oder böse, große leuchtende Augen, manchmal klein und lichtempfindlich. Oft werden missgestaltete Füße erwähnt, die sie zu verdecken suchen. Dann sind es Gänseoder Vogelfüße, erkennbar an den Spuren, die sie hinterlassen, oder nach rückwärts verdrehten Füßen.

Hauptsächlich stellten Sie Waffen für Götter und Menschen her, die im Kampf gegen die Riesen von Vorteil waren. Zwar immer noch kleiner als Menschen, dafür aber kompakter und stärker und vor allem größer als die Zwerge der Sagen wurden aus ihnen bald Krieger. In dieser Hinsicht war gerade J. R. R. Tolkien mit seinen Zwergen aus dem Herrn der Ringe prägend und fanden in Markus Heitz, Michael Peinkofer und T. S. Orgel ihre neueren Entsprechungen und Weiterentwicklungen. In der heutigen Zeit sind Zwerge eher dem Vorbild Tolkiens angenähert und für die anderen Sagen-Zwerge wird wieder mehr die regionale Bezeichnung genannt. Bergmännchen, Erdmännchen, Moosweibchen, Unterirdische und andere Namen mehr.

Bickenbach 10.012017

Inhaltsverzeichnis

Eine deutsche Sage

Der Schmied und die Zwerge von Müngsten

Jakob und Wilhelm Grimm

Der Zug der Zwerge über den Berg

Jakob und Wilhelm Grimm

Der Zwerg und die Wunderblume

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Füße der Zwerge

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Heilingszwerge

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Osenberger Zwerge

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge auf dem Baum

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge auf dem Felsstein

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge bei Dardesheim

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerglöcher

Jakob und Wilhelm Grimm

Steinverwandelte Zwerge

Jakob und Wilhelm Grimm

Zwerge ausgetrieben

Jakob und Wilhelm Grimm

Zwerge leihen Brot

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Abfahrt der Zwerge aus den Hüttemer Bergen

Eine deutsche Sage

Die Zwergenschmiede im Hüggel bei Osnabrück

Eine deutsche Sage

Der einkehrende Zwerg

Eine deutsche Sage

Der böse Zwerg und die Fliege

Ludwig Bechstein

Zwergenmützchen

Wilhelm Hauff

Der kleine Muck

Eine deutsche Sage

Der starke Zwerg auf dem Kyffhäuser

Eine deutsche Sage

Der Zwerg von Volkringhausen und das Hirtenmädchen

Eine spanische Sage

Der Zwerg

Jakob und Wilhelm Grimm

Schneeweißchen und Rosenrot

Jakob und Wilhelm Grimm

Die sieben Raben

Ein slawisches Märchen

Der Zwerg und das Fass Bier

Eine deutsche Sage aus Hannover Mündlich in Ettenbüttel, Gilde und Leiferde

Die Zwerge im Schalks- und im Wohldenberge

Eine deutsche Sage aus dem Spessart

Die Zwerge im Joßgrund

Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern

Der Hirt und die Zwerge

Eine deutsche Sage aus dem Harz

Zwerge in der Mühle

Eine deutsche Sage aus Niedersachsen

Die Zwerge von Hitzacker

Eine schweizer Sage aus St. Gallen

Die guten Zwerge

Eine irische Sage

Der Zwergenprinz

Eine deutsche Sage

Der Zwerg und der Schuhmacher

Ludwig Bechstein

Das stille Volk zu Plesse

Ernst Moritz Arndt

Der leichte Pflug

Jakob und Wilhelm Grimm

Der Scherfenberger und der Zwerg

Eine deutsche Sage aus Greifswald

Die Erdgeister in Greifswald

Eine deutsche Sage von der Ostsee

Die Unterirdischen bei Bernstein

Eine deutsche Sage

Zwerge bei der Hochzeit in Molden

Eine deutsche Sage vom Lüningsberg

Goldkegel von Aerzen

Eine deutsche Sage

Die Sage vom Fährmann

Ein indisches Märchen

Der große Teich

Ein kurdisches Märchen

Na ar Ogli

Ein syrisches Märchen

Zwerge

Eine Sage aus Estland

Der Zwerge Streit

Eine deutsche Sage

Der Schmied und die Zwerge von Müngsten

Bei Müngsten im Wuppertal wohnten Zwerge in steilen Felsen auf dem rechten Ufer des Flusses. Einmal kam um Mitternacht ein Hammerschmied vom Wirtshaus des Weges daher. Als er in die Gegend der Zwerglöcher gelangte, blieb er verwundert stehen; er hörte ganz deutlich helles Lachen und Jauchzen. Und da sah der Schmied auch schon im Mondschein die kleinen Kerlchen zwischen den Bäumen und Felsen herumspringen; manche warfen vor Vergnügen ihre Mützen in die Luft und fingen sie wieder auf, andere tanzten lustig das Flussufer entlang. Auf einmal gab's ein lautes Jammern. Einem der kleinen Schelme war die Mütze in die Wupper gefallen, alle rannten hin und sahen entsetzt, wie das Käppchen fortschwamm. Was sollte der Arme machen? Ohne seine Mütze war er ja kein richtiger Zwerg mehr! Das tat nun dem guten Hammerschmied leid; er stieg ins Wasser, fischte die Mütze heraus und gab sie dem Zwerg, der sich sehr darüber freute.

Der Schmied ging nun nach Hause, stellte sich noch Roheisen an den Amboss zurecht, weil er früh an die Arbeit gehen musste, und legte sich dann zu Bett. Als er aber am andern Morgen die Schmiede betrat, fand er statt des Roheisens den schönsten Stahl vor. Und das ging nun so fort, Nacht für Nacht; bald war er der wohlhabendste Mann in ganz Remscheid. Aber die Neugierde, wie das mit dem Eisen zuging, ließ den Mann nicht ruhen.

Eines Abends versteckte sich der Schmied hinter dem Blasebalg; bald hörte er auch ein feines Geräusch, und herein kam der Zwerg, dem er damals geholfen hatte, mit einem Schurzfell angetan, eine silberne Lampe in der Hand. Der Schmied musste sich bemühen still zu sein, um nicht loszuplatzen, so spaßig sah der kleine Mann aus. Nun holte der Zwerg sein Hämmerchen aus dem Schurzfell und fing an zu hämmern. Die Schläge hörte man kaum, aber das Eisen dehnte sich wie Wachs, und in wenigen Stunden lag der Stahl fertig da.

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Nun wollte sich der Hammerschmied auch nicht lumpen lassen; er bestellte bei dem besten Schneider ein goldgesticktes Wämschen für seinen kleinen Gesellen und legte es ihm am Abend, fein verpackt, hin. Das Männchen kam, öffnete vorsichtig das Paketchen und lachte übers ganze Gesicht vor Freude. Schnell hatte es sein graues Röckchen aus- und das neue angezogen, besah sich von oben bis unten und rief: „Wat brukt en Jonker te schlipen, de en ruaden Rock anhett?“, und ließ sich seitdem nicht mehr sehen.

Einstens sind Zwerge öfters bei Schmieden und anderen Arbeitern eingekehrt und haben ihnen geholfen. Leider sind diese Zeiten verklungen!

Jakob und Wilhelm Grimm

Der Zug der Zwerge über den Berg

Auch auf der Nordseite des Harzes wohnten einst viel tausend Zwerge oder Kröpel in den Felsklüften und den noch vorhandenen Zwerglöchern. Bei Seehausen, einem magdeburgischen Städtchen, zeigt man ebenfalls solche Kröpellöcher. Aber nur selten erschienen sie den Landesbewohnern in sichtbarer Gestalt, gewöhnlich wandelten sie, durch ihre Nebelkappen geschützt, ungesehen und ganz unbemerkt unter ihnen umher. Manche dieser Zwerge waren gutartig und den Landesbewohnern unter gewissen Umständen sehr behilflich; bei Hochzeiten und Kindtaufen borgten sie mancherlei Tischgeräte aus den Höhlen der Zwerge. Nur durfte sie niemand zum Zorn reizen, sonst wurden sie tückisch und bösartig und taten dem, der sie beleidigte, allen möglichen Schaden an. In dem Tal zwischen Blankenburg und Quedlinburg bemerkte einmal ein Bäcker, dass ihm immer einige der gebackenen Brote fehlten, und doch war der Dieb nicht zu entdecken. Dieser beständig fortdauernde geheime Diebstahl machte, dass der Mann allmählich verarmte. Endlich kam er auf den Verdacht, die Zwerge könnten an seinem Unheil schuld sein. Er schlug also mit einem Geflechte von schwanken Reisern so lange um sich her, bis er die Nebelkappen einiger Zwerge traf, die sich nun nicht mehr verbergen konnten. Es wurde Lärm. Man ertappte bald noch mehrere Zwerge auf Diebereien und nötigte endlich den ganzen Überrest des Zwergvolks auszuwandern. Um aber die Landeseinwohner einigermaßen für das Gestohlene zu entschädigen und zugleich die Zahl der Auswandernden überrechnen zu können, wurde auf dem jetzt sogenannten Kirchberg bei dem Dorfe Thale, wo sonst Wendhausen lag, ein groß Gefäß hingestellt, worin jeder Zwerg ein Stück Geld werfen musste. Dieses Faß fand sich nach dem Abzuge der Zwerge ganz mit alten Münzen angefüllt. So groß war ihre Zahl. Das Zwergvolk zog über Warnstedt (unweit Quedlinburg) immer nach Morgen zu. Seit dieser Zeit sind die Zwerge aus der Gegend verschwunden. Selten ließ sich seitdem hier und da ein Einzelner sehen.

Jakob und Wilhelm Grimm

Der Zwerg und die Wunderblume

Ein junger, armer Schäfer aus Sittendorf an der südlichen Seite des Harzes in der Goldenen Aue gelegen, trieb einst am Fuß des Kyffhäusers und stieg immer trauriger den Berg hinan. Auf der Höhe fand er eine wunderschöne Blume, dergleichen er noch nicht gesehen, pflückte und steckte sie an den Hut, seiner Braut ein Geschenk damit zu machen. Wie er so weiterging, fand er oben auf der alten Burg ein Gewölbe offenstehen, bloß der Eingang war etwas verschüttet. Er trat hinein, sah viel kleine glänzende Steine auf der Erde liegen und steckte seine Taschen ganz voll damit. Nun wollte er wieder ins Freie, als eine dumpfe Stimme erscholl:

„Vergiss das Beste nicht!“

Er wusste aber nicht, wie ihm geschah und wie er herauskam aus dem Gewölbe. Kaum sah er die Sonne und seine Herde wieder, schlug die Tür, die er vorhin gar nicht wahrgenommen, hinter ihm zu. Als der Schäfer nach seinem Hut fasste, war ihm die Blume abgefallen beim Stolpern. Urplötzlich stand ein Zwerg vor ihm:

„Wo hast du die Wunderblume, welche du fandest?“

„Verloren“, sagte betrübt der Schäfer.

„Dir war sie bestimmt“, sprach der Zwerg, „und sie ist mehr wert denn die ganze Rothenburg.“

Wie der Schäfer zu Haus in seine Tasche griff, waren die glimmernden Steine lauter Goldstücke. Die Blume ist verschwunden und wird von den Bergleuten bis auf heutigen Tag gesucht, in den Gewölben des Kyffhäusers nicht allein, sondern auch auf der Questenburg und selbst auf der Nordseite des Harzes, weil verborgene Schätze rucken.

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Jakob und Wilhelm Grimm

Die Füße der Zwerge

Vor alten Zeiten wohnten die Menschen im Tal und rings um sie in Klüften und Höhen die Zwerge, freundlich und gut mit den Leuten, denen sie manche schwere Arbeit nachts verrichteten; wenn nun das Landvolk frühmorgens mit Wagen und Geräten herbeizog und erstaunte, dass alles schon getan war, steckten die Zwerge im Gesträuch und lachten hellauf. Oftmals zürnten die Bauern, wenn sie ihr noch nicht ganz zeitiges Getreide auf dem Acker niedergeschnitten fanden, aber als bald Hagel und Gewitter hereinbrach und sie wohl sahen, dass vielleicht kein Hälmlein dem Verderben entronnen sein würde, da dankten sie innig dem voraussichtigen Zwergvolk. Endlich aber verscherzten die Menschen durch ihren Frevel die Huld und Gunst der Zwerge, sie entflohen, und seitdem hat sie kein Aug wieder erblickt. Die Ursache war diese: Ein Hirt hatte oben am Berg einen trefflichen Kirschbaum stehen. Als die Früchte eines Sommers reiften, begab sich, dass dreimal hintereinander nachts der Baum geleert wurde und alles Obst auf die Bänke und Hürden getragen war, wo der Hirt sonst die Kirschen aufzubewahren pflegte. Die Leute im Dorfe sprachen:

„Das tut niemand anders als die redlichen Zwerglein, die kommen bei Nacht in langen Mänteln mit bedeckten Füßen dahergetrippelt, leise wie Vögel, und schaffen den Menschen emsig ihr Tagwerk. Schon vielmal hat man sie heimlich belauscht, allein man stört sie nicht, sondern lässt sie kommen und gehen.“

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Durch diese Reden wurde der Hirt neugierig und hätte gern gewusst, warum die Zwerge so sorgfältig ihre Füße bärgen und ob diese anders gestaltet wären als Menschenfüße. Da nun das nächste Jahr wieder der Sommer und die Zeit kam, dass die Zwerge heimlich die Kirschen abbrachen und in den Speicher trugen, nahm der Hirt einen Sack voll Asche und streute die rings um den Baum herum aus. Den andern Morgen mit Tagesanbruch eilte er zur Stelle hin, der Baum war richtig leer gepflückt, und er sah unten in der Asche die Spuren von vielen Gänsefüßen eingedrückt. Da lachte der Hirt und spottete, dass der Zwerge Geheimnis verraten war. Bald aber zerbrachen und verwüsteten diese ihre Häuser und flohen tiefer in die Berge hinab, grollen dem Menschengeschlecht und versagen ihm ihre Hilfe. Jener Hirt, der sie verraten hatte, wurde siech und blödsinnig fortan bis an sein Lebensende.

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Heilingszwerge

Im Fluss Eger zwischen dem Hof Wildenau und dem Schlosse Aicha ragen ungeheure große Felsen hervor, die man vor Alters den Heilingsfelsen nannte. Am Fuß derselben erblickt man eine Höhle, inwendig gewölbt, auswendig, aber nur durch eine kleine Öffnung, in die man, den Leib gebückt, kriechen muss, erkennbar. Die Höhle wurde von kleinen Zwerglein bewohnt, über die zuletzt ein unbekannter alter Mann, des Namens Heiling, als Fürst geherrscht haben soll. Einmal vorzeiten ging ein Weib, aus dem Dorfe Taschwitz gebürtig, am Vorabend von Peter Pauli in den Forst und wollte Beeren suchen; es wurde ihr Nacht, und sie sah neben diesem Felsen ein schönes Haus stehen. Sie trat hinein, und als sie die Tür öffnete, saß ein alter Mann an einem Tische, schrieb emsig und eifrig. Die Frau bat um Herberge und wurde willig angenommen. Außer dem alten Mann war aber kein lebendes Wesen im ganzen Gemach, allein es rumorte heftig in allen Ecken, der Frau ward greulich und schauerlich, und sie fragte den Alten:

„Wo bin ich denn eigentlich?“

Der Alte versetzte, dass er Heiling heiße, bald aber auch abreisen werde, „denn zwei Drittel meiner Zwerge sind schon fort und entflohen“. Diese sonderbare Antwort machte das Weib nur noch unruhiger, und sie wollte mehr fragen, allein er gebot ihr Stillschweigen und sagte nebenbei:

„Wäret Ihr nicht gerade in dieser merkwürdigen Stunde gekommen, solltet Ihr nimmer Herberge gefunden haben.“

Die furchtsame Frau kroch demütig in einen Winkel und schlief sanft, und wie sie den Morgen mitten unter dem Felsstein erwachte, glaubte sie geträumt zu haben, denn nirgends war ein Gebäude da zu ersehen. Froh und zufrieden, dass ihr in der gefährlichen Gegend kein Leid widerfahren sei, eilte sie nach ihrem Dorfe zurück, es war alles so verändert und seltsam. Im Dorf waren die Häuser neu und anders aufgebaut, die Leute, die ihr begegneten, kannte sie nicht und wurde auch nicht von ihnen erkannt. Mit Mühe fand sie endlich die Hütte, wo sie sonst wohnte, und auch die war besser gebaut; nur dieselbe Eiche beschattete sie noch, welche einst ihr Großvater dahin gepflanzt hatte. Aber wie sie in die Stube treten wollte, ward sie von den unbekannten Bewohnern als eine Fremde von der Tür gewiesen und lief weinend und klagend im Dorfe umher. Die Leute hielten sie für wahnwitzig und führten sie vor die Obrigkeit, wo sie verhört und ihre Sache untersucht wurde; sieh da, es fand sich in den Gedenk- und Kirchenbüchern, dass grad vor hundert Jahren an ebendiesem Tag eine Frau ihres Namens, welche nach dem Forst in die Beeren gegangen, nicht wieder heimgekehrt sei und auch nicht mehr zu finden gewesen war. Es war also deutlich erwiesen, dass sie volle hundert Jahr im Felsen geschlafen hatte und die Zeit über nicht älter geworden war. Sie lebte nun ihre übrigen Jahre ruhig und sorgenlos aus und wurde von der ganzen Gemeinde anständig verpflegt zum Lohn für die Zauberei, die sie hatte erdulden müssen.

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Jakob und Wilhelm Grimm

Die Osenberger Zwerge

Als Winkelmann im Jahr 1653 aus unserm Hessenlande nach Oldenburg reiste und, über den Osenberg kommend, in dem Dorf Bümmerstedt von der Nacht übereilt wurde, erzählte ihm ein hundertjähriger Krugwirt, dass bei seines Großvaters Zeiten das Haus treffliche Nahrung gehabt, anjetzo wäre es aber schlecht. Wenn der Großvater gebrauet, wären Erdmännlein vom Osenberg gekommen, hätten das Bier ganz warm aus der Bütte abgeholt und mit einem Geld bezahlt, das zwar unbekannt, aber von gutem Silber gewesen. Einsmal hätte ein altes Männlein im Sommer bei großer Wärme Bier holen wollen und vor Durst alsogleich getrunken, aber zu viel, dass es davon eingeschlafen. Hernach beim Aufwachen, wie es sah, dass es sich so verspätet hatte, hub das alte kleine Männlein an, bitterlich zu weinen:

„Nun wird mich mein Großvater des langen Ausbleibens wegen schlagen.“

In dieser Not lief es auf und davon, vergaß seinen Bierkrug mitzunehmen und kam seitdem nimmer wieder. Den hinterlassenen Krug hatte sein (des Wirtes) Vater und er selbst auf seine ausgesteuerte Tochter erhalten und, solang der Krug im Haus gewesen, die Wirtschaft vollauf Nahrung gehabt. Als er aber vor kurzem zerbrochen worden, wäre das Glück gleichsam mitzerbrochen und alles krebsgängig.

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge auf dem Baum

Eines Sommers kam die Schar der Zwerge häufig aus den Flühen herab ins Tal und gesellte sich entweder hilfreich oder doch zuschauend den arbeitenden Menschen, namentlich zu den Mähdern im Heuet (der Heuernte). Da setzten sie sich denn wohl vergnügt auf den langen und dicken Ast eines Ahorns ins schattige Laub. Einmal aber kamen boshafte Leute und sägten bei Nacht den Ast durch, dass er bloß noch schwach am Stamme hielt, und als die arglosen Geschöpfe sich am Morgen darauf niederließen, krachte der Ast vollends entzwei, die Zwerge stürzten auf den Grund, wurden ausgelacht, erzürnten sich heftig und schrien:

„O wie ist der Himmel so hoch und die Untreu so groß! Heut hierher und nimmermehr!“

Sie hielten Wort und ließen sich im Lande niemals wieder sehen.

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Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge auf dem Felsstein

Es war der Zwerglein Gewohnheit, sich auf einen großen Felsstein zu setzen und von da den Heuern zuzuschauen. Aber ein paar Schalke machten Feuer auf den Stein, ließen ihn glühend werden und fegten dann alle Kohlen hinweg. Am Morgen kam das winzige Volk und verbrannte sich jämmerlich; rief voll Zornes:

„O böse Welt, o böse Welt!“ und schrie um Rache und verschwand auf ewig.

Jakob und Wilhelm Grimm

Die Zwerge bei Dardesheim