Léonor de Récondo

Amours

Roman

Aus dem Französischen

von Isabel Kupski

Dörlemann

eBook-Ausgabe 2017
Die Originalausgabe »Amours«
ist 2015 bei Sabine Wespieser Éditeur in Paris erschienen.
Der Verlag dankt der Übersetzerin
für ihre Großzügigkeit.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2015 Sabine Wespieser Éditeur
© 2017 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung
einer Zeichnung von Mary Cassatt
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-949-2
www.doerlemann.com

 

Für meine Tutta Blu

 

Unsere Liebe ist die Liebe des Lebens,
die Verachtung des Todes.

Paul Éluard

 

Im Grunde des Herzens
in Was zu zeigen ist

Anselme stößt Céleste auf die Matratze, jedes Mal dieselbe Geste, die sie auf den Bauch wirft, ihren Kopf ins Kissen taucht, der Haarschopf griffbereit. Schnell hebt er den Rock. Sie wehrt sich nicht, wehrt sich nicht mehr. Er packt den Dutt, zerrt fest am Haar. Dann richtet er sich ein, pflanzt sich zwischen ihre Schenkel und beginnt. Das Eisenbett quietscht. Weder Anselme noch Céleste hören das Klagen des Bettes, das die erzwungene Liebe erduldet. Das ist mühsam, immer wieder. Das dauert. Sie fragt sich, warum diese Momente so langsam vorbeigehen. Warum wird sie nicht ohnmächtig, damit sie nichts empfindet?

Einmal hat sie im Dienstbotenaufgang versucht, Huguette davon zu erzählen. Am ganzen Körper zitternd stammelte sie: »Monsieur de Boisvaillant …«

Huguette verstand sofort. Mehrmals sagte sie, dass sie schweigen solle.

»Sei still und komm bloß nicht auf die Idee, Madame davon zu erzählen!«

Wortlos sah sie auf die schlotternden Knie. Dann drehte sie Céleste den Rücken zu und rief ihr hinterher:

»Geh mit erhobenem Haupt, das ist alles, was wir tun können, wir anderen! Mit erhobenem Haupt, um glauben zu machen, dass man sich nicht schämt.«

Céleste hob also ihren Kopf, biss die Zähne zusammen, streckte die Beine durch, damit ihre Knie endlich aufhörten, so dumm zu zittern. Es gelang ihr gerade noch, hervorzubringen:

»Wohl denn, Huguette.«

Ihre Stimme klang gesetzt, fast ruhig. Mit einem Mal begriff sie, dass sie gezwungen war, sich mit der Einsamkeit, in die sie hineingeboren worden war, für alle Zeiten abzufinden. Hätte sie die Wahl gehabt – aber dieses Wort existiert nicht, weder dort, wo sie herkommt, noch in ihrem Wortschatz –, dann hätte sie gesagt: »Nein.« Sie hätte es hinausgeschrien.

Wenn Anselme wie versessen in ihr ein und aus geht, denkt Céleste an etwas anderes. Das fiel ihr gezwungenermaßen irgendwann leicht. Mit Vorliebe an eine Waldlichtung. Während er sie rannimmt, geht sie in dem Wald spazieren, in dem sie als Kind mit ihren Brüdern und Schwestern gespielt hat. Ihre Geschwister sind so zahlreich, dass sie nicht genau weiß, wie viele es sind, sie hat sie nie gezählt. Sie ist eine unter ihnen. Diese Spaziergänge vergisst sie nicht, sie zählen zu ihren kostbarsten Erinnerungen. Das sorglose Herumrennen, der Geruch der Erde und des Kiefernharzes, das Versteckspiel, all das genoss sie, bevor man zu dem düsteren Hof zurückkehren musste, wo man sich bis zur Unsichtbarkeit wegduckte, um dem plötzlichen Gebrüll des Vaters zu entrinnen.

Anselme zerrt noch fester an ihrem Haarschopf, er findet Gefallen daran, sich an ihren Haarnadeln weh zu tun. Er spürt, wie sie sich in seine Handfläche bohren und er kurz davor ist, zu kommen – diesen Moment kurz davor zögert er so lange wie möglich hinaus. Er zieht ihren Dutt so weit zu sich heran, dass sie sich aufbäumen muss. In diesem Augenblick existiert Céleste nicht mehr, sie ist nur ein Körper, und er will, dass dieser Körper schreit, sich ein wenig beteiligt, aber es herrscht nur Stille. Als er kommt, zieht er so fest am Dutt, dass er sich unter seiner Hand auflöst. Im Glauben, Herr eines unendlichen Ritts zu sein, verwechselt er das Haar mit der Mähne.

Er beugt sich mit seinem ganzen Gewicht über sein Reittier. Céleste merkt nicht, wie ein Haar nach dem anderen mit der Wurzel ausgerissen wird. Sie sitzt auf der Waldlichtung. Ihrem Lieblingsort. Es hilft nichts, sie muss einfach nur die Zeit verstreichen lassen. Und das macht sie auch.

Ihr bezaubernder Spaziergang endet brutal, als sein Körper auf ihrem zusammenbricht. Wie schwer er ist! Sie wundert sich jedes Mal. Schwer und kraftlos, schwer und entleert. Dann kehrt sie in die Wirklichkeit ihres Kopfkissens zurück, in das sie beißt, als wolle sie daran ersticken, in die Wirklichkeit des quietschenden Eisenbetts, das jetzt verstummt, des winzigen Zimmers unter dem Dach, in dem es ihr entweder zu kalt oder zu heiß ist.

Sie richtet ihren Kopf auf, hält ihn erhoben, wie es sich gehört. Anselme steht da und ordnet seine Kleidung. Sie schaut ihn nicht an, das tut sie nie. Sie wartet, bis er die Tür zuschlägt, und rollt sich dann zusammen, um ein bisschen zu weinen.

Victoire erwacht langsam. Morgens, wenn sich ihr Körper, noch taub vom Schlaf, unter dem Bettlaken streckt, sucht sie unter ihrem Kopfkissen das kleine Seidensäckchen mit dem im Vorjahr geernteten Lavendel. Victoire liebt es, jeden neuen Tag damit zu beginnen, diesen beruhigenden Duft tief einzuatmen.

Am Licht, das sich durch die Fensterläden und die schweren Taftvorhänge zwängt, erkennt sie, dass es neun Uhr sein muss. Huguette wird ihr gleich das Frühstück bringen. Sie schließt die Augen und genießt noch kurz diesen Moment, bevor der Trubel des Tages beginnt. Sie hält das parfümierte Säckchen an ihre Nase, atmet mehrmals tief ein, und als sie Huguettes Schritte auf dem Flur hört, schiebt sie es schnell zurück unter das Kopfkissen. Nach der gewohnten Begrüßung steht einen Augenblick später das Tablett auf ihrem Bett. Der Tee dampft, die getoasteten Brotscheiben werden unter der Lasche des Stoffkorbs warmgehalten.

Huguette macht sich im Zimmer zu schaffen, zieht die Vorhänge zurück, öffnet die Fensterläden und berichtet:

»Monsieur ist in der Kanzlei.«

Jeden Morgen derselbe Satz. Wo sonst als in seiner Kanzlei sollte er auch sein, denkt Victoire.

Fünf Jahre ist sie jetzt mit Anselme verheiratet, und jeden Tag – in Gedanken betont sie »jeden Tag« –, selbst am Sonntag, kann er nicht anders als sich ins Parterre zu begeben, um sich in die sein Büro bevölkernden Unterlagen von Erbangelegenheiten oder Eheschließungen zu vertiefen. Victoire findet, dass all diese Verträge sein Leben auf absurde Weise bestimmen. »Ich werfe nur einen kurzen Blick darauf und bin gleich wieder da«, erwidert Anselme jedes Mal, wenn Victoire sich beklagt, dass dieser Papierkram einen zu großen Platz in seinem Leben einnimmt. Eine Papiermauer zwischen sich und den anderen.

Huguette reißt sie aus ihren Gedanken: »Darf ich Sie an das Wohltätigkeitsessen heute Mittag im Krankenhaus erinnern?«

»Danke, Huguette, das hatte ich völlig vergessen.«

Schlagartig ist Victoire der Tag verleidet. Zu Beginn ihrer Ehe gefielen ihr die Wohltätigkeitsveranstaltungen, vor allem die Krankenhausbesuche. Ihr Ehemann setzte die über Generationen weitergegebene Tradition mit einem großzügigen Scheck am Anfang jeden Jahres fort. Als Gegenleistung wurde den Wohltätern ein herzlicher Dank und öffentliche Wertschätzung gezollt sowie das Privileg, die Gattinnen an den vierteljährlichen Versammlungen teilhaben zu lassen. Wie stolz Victoire die ersten Male gewesen war. Tagelang hatte sie überlegt, welches Kleid sie tragen solle. Vor dem Spiegel hatte sie die Gesten geübt, mit denen sie der Direktorsgattin der jeweiligen Einrichtung gegenübertreten würde. Selbstverständlich mit einer gewissen Bescheidenheit in den Äußerungen, aber auch mit Selbstbewusstsein, denn immerhin war sie Madame de Boisvaillant, die Ehefrau des Notars! Wie viele Male hatte sie sich, frisch verheiratet, ihren neuen Namen vorgesagt, diese neue bezaubernde Identität. Endlos hatte sie auf ein Blatt geschrieben: Victoire de Champfleuri, verheiratete de Boisvaillant. Wie herrlich das war, wie gut das klang, und wie sie das heute langweilte.

»Welches Kleid soll ich Ihnen rauslegen, Madame?«

»Ich weiß nicht, Huguette …«

Victore pustet über den heißen Tee und trinkt ein paar Schlucke, bevor sie hinzufügt:

»Vielleicht das violette, das ich neulich getragen habe, aber kommen Sie später, um mir zu helfen.«

»Sehr wohl, Madame.«

Huguette öffnet das Fenster weit. Die Junihitze strömt gnadenlos herein. Victoire schiebt das Tablett beiseite, als das Zimmermädchen den Raum verlässt. Huguette ist mehr als nur ein Zimmermädchen. Sie ist auch Köchin, Mädchen für alles, nein, eher noch: Herrin über alles.

Als Victoire geheiratet hat, stand Huguette schon seit Jahren in Anselmes Diensten, eigentlich schon immer, da sie sich bereits um ihn als Kind gekümmert hatte, als sie alle zusammen in dem großen Familienhaus lebten. Sie war ihm anlässlich seiner ersten Heirat in die Stadt gefolgt. Es dauerte, bis sie sich an den Lärm gewöhnt hatte, an die engen Straßen von Saint-Ferreux-sur-Cher. Als Anselme ihr und Pierre vorschlug, sich im Gartenhaus einzurichten, hatte sie angenommen. Wie hätte sie dies auch ausschlagen können, da sie ihn von Geburt an kannte.

Victoire war in ein perfekt geführtes Haus gekommen. Am Anfang schlief sie schlecht in dem Ehebett, in dem sich eine andere ausgestreckt hatte und sogar darin gestorben war, aber diese andere hatte kein Kind hinterlassen, so hatte Anselme bald Ersatz gesucht. Huguette war schnell klar geworden, dass Victoire ihr nicht die Zügel aus der Hand nehmen würde. Daher hatte sie Victoire mit offenen Armen empfangen, und auch wenn manchmal eine leichte Verachtung in ihren Äußerungen lag, zeigte sie sich wohlwollend gegenüber der neuen Madame de Boisvaillant. Jeder blieb an seinem Platz und spielte seine Rolle bis zur Perfektion.

Victoire trinkt den Tee nicht mehr, isst nicht die sorgsam zubereiteten Brote. Die Krankenhausbesuche sind ihr zuwider, lächelnd von Bett zu Bett zu gehen, Mitleid den Patienten gegenüber zu zeigen, sich nach dem Befinden zu erkundigen, interessiert zu erscheinen. Was sie am meisten hasst, sind die Besuche der jungen Wöchnerinnen. Allein dass sie bei der schrumpeligen Haut der Säuglinge ins Schwärmen geraten soll, die ohrenbetäubenden Schreie aushalten, und vor allem sich die nicht enden wollenden Kommentare der begüterten Gattinnen zu ihren Sprösslingen anhören muss. All die Hochgeborenen, kräftig die einen wie die anderen, und immer dieselbe Frage:

»Nun, und Sie, Madame de Boisvaillant, warum warten Sie noch damit? Bekommen Sie angesichts dieser Kleinen keine Lust?«

Allein bei diesem Gedanken versteckt sich Victoire unter dem Laken und wirft das Tablett mit allem, was daraufsteht, um.

Victoire zerrt mit ganzer Kraft an der Klingel. Kurze Zeit später betreten Huguette und Céleste das Zimmer. Victoire ist aufgestanden und schaut aus dem Fenster, nervös zupft sie an ihrem Ohrläppchen.

Céleste sammelt Teller und Tasse vom Boden auf. Huguette scheucht sie:

»Beeil dich und wechsle die Laken!«

Céleste folgt den Anweisungen, so schnell sie kann. Während sie sich zu schaffen macht, bereitet Huguette das violette Kleid vor.

Victoire schweigt und knetet weiter ihr Ohr.

Wie töricht von mir, alles umzuwerfen! Habe ich denn nichts im Griff?

Huguette beginnt, ihr Korsett zu schnüren.

Wie prächtig der Garten blüht, wie viel lieber würde sie jetzt hinausstürmen und sich am Wind berauschen, der ihr Gesicht und Mund streichelt. Victoire unterbricht ihre Gedanken: »Ziehen Sie fester. Ich habe nicht gefrühstückt, außerdem muss ich heute Haltung zeigen.«

Sie sagt das verträumt, kaum hörbar, kann aber ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, als Huguettes kräftige Hand plötzlich energisch am schnürenden Band zieht.

»Im Krankenhaus wird Ihnen warm werden.«

Victoire zuckt mit den Schultern.

Huguette denkt, dass sie als Hausmädchen wenigstens den einen Vorteil hat, nicht diese lächerlichen Korsetts tragen zu müssen. Dabei hat Madame das Glück, eine wirklich schmale Taille zu haben. Bei einer so stämmigen Frau wie ihr müsste man zerren und noch mal zerren, um ein halbwegs überzeugendes Ergebnis zu erzielen.

Céleste denkt an nichts. Sie ist nur selten in Victoires Anwesenheit in diesem Zimmer. Sie ist befangen, denn sonst betritt sie den Raum nur, um sauber zu machen. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie Huguette beim Schnüren des Korsetts. Das hat sie noch nie zuvor gesehen. Sie sieht, wie sich Victoires Körper krümmt und immer schlanker wird. Sie findet das zugleich seltsam und schön.

»Träum nicht, Céleste! Spute dich!«, ruft Huguette sie zur Ordnung, also packt Céleste die Bettlaken und stürzt aus dem Zimmer. Victoire hat sie nicht einmal bemerkt.

Einige Stunden später fährt Pierre die Kalesche vor die Außentreppe des Hauses. Victoire steht bereit und steigt die Stufen hinunter. Ihre Silhouette wogt auf dem Tuffstein. Ein großer Strohhut als Sonnenschutz, mit Stoffblumen verziert, die auf ihr Kleid und den Sonnenschirm abgestimmt sind, verschönert Ihre Erscheinung. Pierre nickt zum Gruß.

Der Mann ist taubstumm, seitdem eine Granate neben ihm explodierte, das war kurz vor Kriegsende im Januar 1871. Niemand weiß, was wirklich geschah, aber von dem Tag an, vor mehr als siebenunddreißig Jahren, hat er keinen einzigen Laut mehr von sich gegeben. Noch bevor er eingezogen worden war, hatten sich Huguette und er verlobt. Als er so ohne Stimme zurückkehrte, zögerte Huguette. Und als sie begriff, dass er nie wieder den Klang ihrer Stimme hören würde, zweifelte sie fürchterlich. Pierre hatte Huguette nur angestarrt, als sie ihn so versehrt wiedersah. Wenn ihm der Krieg auch Gehör und Stimme geraubt hatte, so hatte er ihn doch das Sehen gelehrt. Am Brustkorb der jungen Frau hatte er bemerkt, wie ihr Herz raste, nicht wusste, in welchen Rhythmus es verfallen sollte, und sich dann wieder beruhigte. Nach einem Moment der Panik hatte sich Huguette gesagt, dass sie genauso gut für zwei sprechen könne und dass es viel angenehmer wäre, in einem ruhigen als in einem zu lauten Haus zu leben. Sie konnte ihn doch nicht einfach so stehen lassen! Also hatte sie die Arme ausgebreitet, und sie hatten geheiratet. In den siebenunddreißig Jahren beständigen, stillen Glücks hatte sie nach und nach gelernt, sein Gemurmel in Worte zu fassen. Und immer wenn Pierre nachts schweißgebadet hochfuhr und sich an Huguette klammerte, flüsterte sie ihm zu: »Du bist mein Mann und mein Kind, ich liebe dich.« Sie wusste, dass die Worte trotz der tiefen Nacht in ihm ihren Weg finden würden, und sie schliefen wieder ein.

Sie arbeiteten beide für die Familie Boisvaillant. Pierre war zugleich Gärtner und Kutscher. Im Krieg war er zu demselben Regiment abkommandiert worden wie Anselmes Vater. War der eine taubstumm zurückgekehrt, so war der andere dort geblieben. Anselme, damals nur wenige Monate alt, hatte nicht die Gelegenheit gehabt, seinen Vater kennen zu lernen, so klammerte er sich an den Gärtner, denn der hatte den Verschwundenen flüchtig gekannt und mit ihm gesprochen. Zwar konnte Pierre ihm nicht viel erzählen, aber Anselme genügte es, ihm nahezustehen.

Pierre öffnet die Wagentür. Victoire steigt leichtfüßig das Trittbrett hinauf und lässt sich in der Kalesche nieder. Sie liebt diesen abgekapselten Ort, der nach Leder und Pferd riecht. Sie liebt es, vom Rhythmus der Tiere und den Unwägbarkeiten des Weges geschaukelt zu werden. Ihre schlechte Laune verfliegt auf der Fahrt. Dies wird der letzte Krankenhausbesuch vor dem Sommer und ihrer Abreise aufs Land sein. Die Luftveränderung wird ihr guttun. Vielleicht vergisst Anselme seine Papiere den August über. Wer weiß?

In der Kalesche wird es immer heißer. Sie hätte nicht gedacht, dass die Sonne so stark auf das schwarze Dach des Fuhrwerks knallt. Plötzlich fühlt sie sich in ihrem Korsett beengt und hat Mühe zu atmen. Glücklicherweise sind sie gleich da. Pierre hilft ihr beim Aussteigen. Aber als ihr Fuß den Gehsteig berührt, bricht Victoire in sich zusammen und wird in den Armen des Kutschers ohnmächtig.

Als Victoire wieder zu Bewusstsein kommt, liegt sie ausgestreckt auf einem Krankenhausbett. Das erste Gesicht, das sie erblickt, ist das des Arztes, der für gewöhnlich die Visite leitet. Pierre bleibt mit der Mütze in der Hand im Hintergrund.

»Madame de Boisvaillant, Sie waren ohnmächtig.« Der Arzt fährt fort: »Sicher die Hitze …«

Victoire nickt, schaut um sich und atmet den scharfen Geruch dieses Ortes ein.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich zurückfahre. Bitte entschuldigen Sie mich bei den Damen …«

Pierre tritt näher, um ihr zu helfen. Victoire stützt sich auf seinen Arm und verabschiedet sich kurzerhand vom Arzt. Nur schnell weg hier. Sie hört gerade noch, wie er sie bittet, ihrem Ehemann für seine großzügige Unterstützung der Wissenschaft sowie derjenigen, die Tag und Nacht gegen Krankheiten kämpfen, zu danken. Seine Stimme verebbt im Labyrinth der hallenden Gänge.

Auf dem Rückweg ist ihr Kopf hoffnungslos leer, weder die Erschütterungen der Kalesche noch der Geruch des Leders reißen sie aus ihrer Erstarrung. Wie wohltuend war doch die Ohnmacht, die Gedanken woanders, weit weg. Wohin war sie nur entflohen? Diese Leere sagt ihr absolut zu. Ihr gefällt der Gedanke, dass sie auf diese Weise einer ganzen Welt Platz machen könnte. Sie muss nur noch bestimmen, welche es sein soll. Das würde sie sicher eines Tages herausbekommen.

Weniger als zwei Stunden nach ihrer Abfahrt hält die Kutsche wieder genau an der Stelle, von der sie losgefahren ist. Die Außentreppe mit ihren Stufen, der goldgelb schimmernde weiße Stein, das hübsch angeordnete Schieferdach, die perfekte bürgerliche Bleibe, in der sich Victoire so schnell wohlgefühlt hatte.

Huguette eilt vom Eingang herbei:

»Was ist geschehen, Madame? Sie kehren früher als erwartet zurück!«

»Ich bin im Krankenhaus ohnmächtig geworden. Ich habe es vorgezogen zurückzukehren.«

»Daran haben Sie gutgetan! Ich bereite Ihnen einen Imbiss.«

»Eine schöne Idee, ich bin in der Bibliothek.«

In der Bibliothek staubt Céleste gerade all die Gegenstände ab, die Victoire kunstvoll auf dem Flügel angeordnet hat. Vorsichtig hebt Céleste jede Nippesfigur an und setzt sie wieder ab. Sie ist so sehr in ihre Arbeit versunken, dass sie nicht bemerkt, wie sich Victoire auf einer Chaiselongue niederlässt, und fast hätte sie die kleine Porzellanfigur zerbrochen, die sie gerade mit ihrem Staubwedel streichelt, als sie Victoire sagen hört:

»Guten Tag, Céleste.«

Das Dienstmädchen schreckt hoch und stammelt:

»Guten Tag, Madame, entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht reinkommen hören.«

Schnell sammelt sie ihre Sachen zusammen und verschwindet mit einem Nicken aus dem Zimmer. Wieso erschrickt Céleste jedes Mal, wenn sie mich sieht, fragt sich Victoire. Wie dem auch sei, sie scheint ihre Arbeit gut zu machen, und auch Huguette beklagt sich nie. Besser ein zu diskretes Dienstmädchen als anders herum.

Huguette stellt die Teekanne und etwas Obst auf dem kleinen runden Tisch ab.

»Ich habe Ihnen Kamillentee gemacht, der heilt alles.«

»Danke, Huguette.«

Victoire hat sich erhoben, um ein Buch aus dem Regal zu ziehen: Madame Bovary. Das war das erste Buch, das sie nach ihrer Hochzeit gelesen hatte. Ihre Mutter hatte es ihr zu lesen verboten, sie fand es unschicklich für ein junges Mädchen. Kaum verheiratet, hatte es Victoire sofort gekauft und verschlungen. Auch wenn sie diese Bovary etwas töricht fand, ergötzte sie sich an ihrer Verderbtheit. Als sie ihre Lektüre im Salon begonnen hatte, hatte Anselme sie nur mit großen Augen angesehen: »Wie kannst du nur so dummes Zeug lesen.« Und sogar nachgelegt: »Dieses Buch ist ein Scheißdreck!« Das lässt sie noch heute erröten. Ja, genau das hatte er gesagt. Victoire blättert im Buch und denkt: arme Emma. Mir würde so etwas nie passieren. Mein Leben ist anständiger und sinnvoller.

Ihre Augen wandern von einer Seite zur nächsten und erstarren plötzlich bei dieser Passage:

Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, Liebe zu empfinden; aber als sich das Glück, das aus dieser Liebe hätte entstehen sollen, nicht einstellte, dachte sie, sie müsse sich getäuscht haben. Und Emma versuchte zu erfahren, was genau man im Leben unter den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch verstand, die ihr in den Büchern so schön erschienen waren.

Ein merkwürdiger Schauder läuft ihr über den Rücken. Hastig schließt sie das Buch. Anselme hatte recht. Da kommt er auch schon, Huguette hat ihn alarmiert.

»Ich habe gehört, dass es dir nicht gut geht.«

»Es ist nichts, sicher die Hitze …«

»Du musst dich ausruhen, du musst auf dich aufpassen!«

Victoire fragt sich, was an ihrem Leben so ermüdend sein soll, dass sie sich ausruhen müsste. Nichts, rein gar nichts.

»Ich gehe wieder in die Kanzlei. Ich habe Wichtiges zu erledigen. Warum fährst du nicht demnächst aufs Land? Ich komme nach.«

»Ja, vielleicht.«

Ohne die Antwort seiner Frau abzuwarten, geht Anselme. Er empfindet Zärtlichkeit für sie, will sie wie einen zerbrechlichen Gegenstand umsorgen. Offenbar zu zerbrechlich, um zu gebären. Das muss der Fluch der Boisvaillant sein. Dabei wurde er, Anselme, doch geboren. Seinem Vater ist es gelungen, ein Kind zu zeugen, wenn auch nur eins. Und wenn auch erst nach einigen Ehejahren. Und dann musste Anselme mit ansehen, wie die Witwenschaft und die fast gleichzeitige Geburt seine Mutter verwelken ließen.

Auf dem Flur zur Kanzlei trifft Anselme auf Céleste, die sogleich den Blick senkt. Er grüßt sie nicht, sie existiert nicht. Das Dienstmädchen erwacht nur für kurze Augenblicke zum Leben. Ungefähr alle drei Monate, wenn ihn eine unbändige Lust treibt und er die Treppe zu ihrem kleinen Zimmer hochstürzt, zu ihrem schmalen Eisenbett, um so lange an ihrem Dutt zu zerren und zu reißen, bis er kommt.