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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mon frère, le Che«

© Editions Calmann-Lévy, 2016

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

unter Verwendung eines Fotos von
ullstein bild – Pictures from History

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50366-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10875-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

La Quebrada del Yuro

Ich habe siebenundvierzig Jahre damit gewartet, den Ort aufzusuchen, an dem man meinen Bruder Ernesto Guevara ermordete. Alle Welt weiß, dass er am 9. Oktober 1967 im ärmlichen Unterrichtszimmer der Gemeindeschule von La Higuera, einem gottverlassenen Dörfchen im Süden Boliviens, auf feige Art erschossen wurde. Man hatte ihn am Tag zuvor in der Talsohle der Quebrada del Yuro ergriffen, wo er sich in einer kahlen Schlucht verschanzt hatte, als ihm klar geworden war, dass sein aufgeriebenes, zahlenmäßig unterlegenes und von Hunger und Durst geschwächtes Guerillagrüppchen von der Armee umzingelt war. Man sagt, er sei in Würde gestorben und seine letzten Worte seien »Póngase sereno y apunte bien. Va a matar a un hombre« gewesen: Zeigen Sie Haltung und zielen Sie gut. Sie töten einen Menschen. Der unglückliche Mario Terán Salazar, den man auserkoren hatte, den schmutzigen Job zu erledigen, zitterte am ganzen Leib. Che galt seit elf Monaten als Staatsfeind Nummer eins der bolivianischen Armee, vielleicht des gesamten südamerikanischen Kontinents. Aber er war auch eine Legende, ein geradezu mythischer Gegner, umgeben von einer Aura des Ruhms und hochgeachtet für seine Tapferkeit und seinen Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Und wenn dieser Che, der ihn jetzt mit seinen großen, dunklen Augen ansah, ohne mit der Wimper zu zucken und, wie es schien, ohne ihn zu verurteilen, nun doch der Freund und Anwalt der Gedemütigten und nicht der blutdürstige Revolutionär war, als den Salazars Vorgesetzte ihn abgestempelt hatten? Oder wenn seine Jünger, denen unbedingte Loyalität nachgesagt wurde, eines Tages beschlossen, ihn zu jagen und Ches Ermordung zu rächen?

Mario Terán Salazar hatte sich zuvor Mut antrinken müssen, um abdrücken zu können. Als er jetzt Che sah, der ruhig dasaß und wartete, dass sich, wie er wohl wusste, sein unausweichliches Schicksal erfüllte, war er schweißgebadet aus dem Klassenzimmer gestürzt. Seine Vorgesetzten hatten ihn zwingen müssen, wieder hineinzugehen.

Mein Bruder starb in aufrechter Haltung. Sie wollten ihn im Sitzen töten, um ihn zu demütigen. Er protestierte und gewann diese letzte Schlacht. Zu seinen zahlreichen Vorzügen und Talenten zählte eben auch die Kunst der Überzeugung.

Ich habe mir ein neues Paar Turnschuhe gekauft, um in die Quebrada del Yuro hinabzusteigen. Es ist eine tiefe Schlucht, die hinter La Higuera jäh senkrecht abstürzt. Hier zu sein, ist für mich sehr schwer und schmerzhaft. Aber notwendig. Seit Jahren nehme ich diese Wallfahrt auf mich. Vorher war es mir fast unmöglich, hierher zu kommen. In den ersten Jahren war ich noch zu jung und seelisch nicht gewappnet. Danach herrschten in Argentinien Faschismus und Unterdrückung, und ich vegetierte fast neun Jahre lang in den Kerkern der Militärjunta vor mich hin, die im März 1976 gewaltsam die Macht an sich gerissen hatte. Ich lernte, in Deckung zu bleiben. Im politischen Klima meines Landes mit Che Guevara in Verbindung gebracht zu werden, war lange lebensgefährlich.

Nur mein Bruder Roberto hat diesen Ort besucht, im Oktober 1967, als die Nachricht von Ernestos Tod eintraf und die Familie ihn entsandte, die Leiche zu identifizieren. Er kehrte tief bestürzt und verwirrt zurück. Als er in Bolivien eintraf, waren die sterblichen Überreste unseres Bruders spurlos verschwunden. Die bolivianischen Militärs hatten Roberto per Schiff von einer Stadt zur anderen geschickt und ihm jedes Mal eine andere Geschichte aufgetischt.

Mein Vater und meine Schwestern Celia und Ana María fanden nie den Mut zu dieser Reise. Eine Krebserkrankung hatte zwei Jahre zuvor meine Mutter hingerafft. Hätte sie nicht schon im Grabe gelegen, Ernestos Ermordung hätte sie mit Sicherheit dorthin gebracht. Sie hatte ihn geradezu vergöttert.

Ich bin die 2600 Kilometer von Buenos Aires im Auto von Freunden hergekommen. Wir hatten 1967 nicht die leiseste Ahnung, wo Ernesto sich aufhielt. Er hatte Kuba klammheimlich verlassen. Nur eine Handvoll Menschen, darunter Fidel Castro, wussten, dass er nun für die Befreiung des bolivianischen Volkes kämpfte. Meine Familie erging sich in Vermutungen, wähnte ihn am anderen Ende der Welt oder vielleicht in Afrika. In Wirklichkeit war er keine dreißig Autostunden von unserem Zuhause in Buenos Aires entfernt. Jahre später erfuhren wir, dass er sich zuvor mit einem Dutzend Afro-Kubanern im belgischen Kongo aufgehalten hatte, um die Simba-Rebellen zu unterstützen.1

Auf dem Kamm der Schlucht spricht mich ein Fremdenführer an. Er weiß nicht, wer ich bin, und ich verspüre wenig Lust, mich ihm zu erkennen zu geben. Er verlangt Geld von mir und verspricht, mich an die Stelle zu führen, wo Che festgenommen wurde. Der Tod meines Bruders hatte sich in ein Geschäft verwandelt. Ich bin wütend. Che verkörperte das genaue Gegenteil von skrupellosem Gewinnstreben. Vor Empörung kann der Freund, der mich begleitet, nicht mehr an sich halten und sagt dem Kerl, wer ich bin. Wie er es wagen könne, dem Bruder von Che Geld aus der Tasche zu ziehen, wenn dieser zum ersten Mal den Ort aufsucht, an dem sein Bruder ums Leben kam? Der Führer entfernt sich mit einer Verneigung und fixiert mich mit großen Augen, als habe er gerade eine Erscheinung gehabt. Er stammelt einen Rosenkranz von Entschuldigungen, die ich nicht einmal verstehe. Ich bin das gewohnt. Der Bruder von Che zu sein, war nie leicht. Sobald sie es wissen, verschlägt es ihnen die Sprache. Christus kann unmöglich Brüder oder Schwestern haben. Und mit Che verhält es sich ein bisschen wie mit Christus. In La Higuera und Vallegrande, wohin seine Leiche am 9. Oktober gebracht worden war, um der Öffentlichkeit präsentiert zu werden, bevor sie verschwand, ist er zum Heiligen Ernesto von La Higuera2 geworden. Die Einwohner beten vor seinem Bild. Ich respektiere ja im Allgemeinen religiöse Bräuche, aber das hier ist mir unendlich peinlich. Seit meiner Großmutter väterlicherseits, Ana Lynch-Ortiz, glaubt in meiner Familie kein Mensch mehr an Gott. Meine Mutter ist nie mit uns zur Messe gegangen. Ernesto war ein Mensch. Man muss ihn von diesem Podest herunterholen, muss diese zur Bronzestatue erstarrte Figur wieder mit Leben füllen, damit seine Botschaft lebendig bleibt. Che hätte darauf gespuckt, zum Idol zu werden.

Schweren Herzens mache ich mich auf den Weg hinab zum Schicksalsort. Die Kargheit der Schlucht erstaunt mich. Ich hatte dichte Vegetation erwartet. In Wirklichkeit gleicht die Natur hier mit ihren wenigen trockenen, knorrigen Büschen einem Ödland. Ich verstehe jetzt besser, dass Ernesto sich wie eine Ratte in der Falle gefühlt haben muss. Es war praktisch unmöglich, nicht von den Soldaten entdeckt zu werden, die seit dem Vortag die Schlucht einkesselten.

Ich erreiche den Ort, an dem er durch eine Kugel ins linke Bein und eine zweite in den rechten Unterarm verwundet wurde. Ich bin aufgewühlt. Vor dem mickrigen Baum, an den er sich am 8. Oktober gelehnt hatte, bedeckt ein in Beton eingelassener Stern die trockene Erde. Er markiert genau die Stelle, an der Che saß, als man ihn aufspürte. Beklommenheit ergreift mich. Zweifel plagen mich. Ich spüre seine Gegenwart. Er tut mir leid. Ich frage mich, was er da ganz allein gemacht hat. Warum war ich nicht bei ihm? Natürlich hätte ich bei ihm sein müssen. Auch ich war ja immer aktiv im politischen Kampf. Schließlich war er nicht nur mein Bruder, sondern auch mein Kampfgenosse und Vorbild. Ich war damals erst dreiundzwanzig Jahre alt, aber das entschuldigt nichts. In der kubanischen Sierra Maestra, dem Gebirgsmassiv, von dem der bewaffnete Kampf seinen Ausgang nahm, in dessen Verlauf Fidel Castro ihn zum Co-mandante ernannt und wo er sich militärisch ausgezeichnet hat, kämpften auch Fünfzehnjährige. Ich wusste zwar nicht, dass er in Bolivien war, aber ich hätte es doch wissen müssen! Ich hätte damals, im Februar 1959, den Einspruch meines Vaters in den Wind schlagen und mit ihm auf Kuba bleiben sollen.

Ich setze mich hin, besser gesagt, ich sacke an der Stelle zusammen, an der er gesessen hatte. Ich sehe sein schönes Gesicht wieder, seinen hypnotischen und forschenden Blick, sein verschmitztes Lächeln. Ich fand dieses Lächeln immer ansteckend, seine Stimme, seine undefinierbare Intonation. Mit den Jahren in Mexiko und später auf Kuba hatte sich sein Spanisch in eine Mischung aus drei Akzenten verwandelt. Hat er sich verlassen, besiegt gefühlt?

Manche der Fragen, die ich mir jetzt stelle, betreffen materielle Details. Andere haben mit meinen Gefühlen zu tun. Che war nicht allein, sondern hatte sechs Mitkämpfer bei sich, die mit ihm verhaftet wurden. Hätte ich ihm zur Flucht verhelfen können? Schließlich war es am selben Tag fünf weiteren Weggenossen, darunter Guido »Inti« Peredo, gelungen, dem Hinterhalt zu entkommen.3 Warum nicht ihm? Ich lasse die Ereignisse Revue passieren, die dem Tod meines Bruders vorangingen. Hatte man Che verkauft? Und wenn ja, wer? Es gibt darüber mehrere Hypothesen, aber weil es eben nur Hypothesen sind, ziehe ich es vor, mich nicht damit aufzuhalten. Ernesto kämpfte unter dem Decknamen Ramón Benítez. Den Vornamen Ramón soll er im Andenken an Julio Cortázars Erzählung Reunión gewählt haben, die von den Schicksalen einer Gruppe von Revolutionären in der kubanischen Sierra Maestra handelt. Es umgab ihn ein mysteriöser Nimbus. Gefüttert mit Geheimdienstberichten der CIA – die sich schamlos in René Barrientos’ Präsidentenpalast in La Paz eingenistet hatte – bekam das bolivianische Militär Wind davon, dass Ernesto Guevara die Armee von Ñancahuazú kommandierte, hatte aber noch keinerlei Beweise. Bis der Argentinier Ciro Bustos, der, nachdem Che ihm erlaubt hatte, die Guerillatruppe zu verlassen, im Urwald ergriffen wurde und unter der Androhung, den Rest seiner Tage im Gefängnis zu verbringen, ein Phantombild anfertigte.

Als ich die Klamm wieder hinaufsteige, fühle ich mich niedergeschlagen und leer. In La Higuera erwartet mich eine unschöne Überraschung. Sobald ich den Weiler erreiche und zu der Schule gehe, in der Ernesto getötet wurde, um mich dort zu sammeln, löst sich eine Frau aus einer japanischen Touristengruppe und bedrängt mich. Gerade habe sie von einem landsmännischen Journalisten erfahren, dass der Bruder von Che hier sei. Sie nuschelt weinend: »Der Bruder von Che, der Bruder von Che!« Sie bittet mich in aller Höflichkeit, für ein Foto mit ihr zu posieren. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr diesen Gefallen zu tun und auf diese Weise Trost zu spenden. Offensichtlich sieht diese Japanerin in mir die Verkörperung von Che. Die Situation verwirrt und rührt mich zugleich. Fast fünfzig Jahre nach seinem Tod ist mein Bruder im kollektiven Gedächtnis gegenwärtiger als je zuvor. Ich bin zwar ganz bestimmt nicht Che, aber vielleicht kann und muss ich das Medium sein, das sein Denken und seine Vorstellungen weiter verbreitet. Seine fünf Kinder hatten ihn ja kaum gekannt. Und meine Schwester Celia und mein Bruder Roberto weigerten sich kategorisch, über ihn zu sprechen. Meine Schwester ist nun ebenso wie meine Mutter an Krebs gestorben. Und mir läuft die Zeit davon, ich bin zweiundsiebzig Jahre alt.

Die Schule, in der Ernesto die letzte Nacht seines Lebens verbrachte, hat einige Veränderungen durchgemacht. Die Wand, die beide Klassenzimmer trennte, wurde abgerissen. Die Mauern sind mit Bildern und Plakaten übersät, die die letzten Stunden von Che nachzeichnen. Noch immer steht der Stuhl da, auf dem er saß, als Mario Terán Salazar in den Raum trat, um ihn hinzurichten. Ich stelle mir vor, wie mein Bruder dasitzt und seinem Tod entgegensieht. Es ist sehr schlimm für mich.

Den Dorfplatz beherrscht eine hohe Büste, die ein kubanischer Künstler Alberto Kordas berühmtem Foto Guerrillero Heroico nachempfunden hat. Auch die Büste, hinter der mahnend ein weißes Kreuz aufragt, hat eine bewegte Geschichte. Sie wurde erstmals zu Beginn des Jahres 1987 aufgestellt, dann von einem Kommando der bolivianischen Armee in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgerissen und durch eine Erinnerungstafel für die Opfer des Guerillakriegs ersetzt. Zwanzig Jahre später ist sie wieder an ihren Platz zurückgekehrt, zusammen mit einer vier Meter hohen Statue, die nun am Eingang des Dörfchens thront. Jahrelang lebten die Bewohner von La Higuera und Vallegrande in Angst. Niemand wagte es, über Che zu sprechen. Um jede Spur auf dem Lebensweg dieses »Subversiven«4 zu tilgen, hatte das bolivianische Regime jedwede Erwähnung seines Namens untersagt. Als Antwort auf das verordnete Schweigen überschlug sich die Legendenbildung. Bei seiner Festnahme hatten die Bauern unter den aymarasprachigen Einwohnern, die die Gegend bevölkerten, nicht die geringste Ahnung von der Bedeutung dieses Gefangenen. Sie bekamen Fremde so gut wie nie zu Gesicht und sprachen nur wenige Brocken Spanisch. Erst der Tod von Che lockte Horden von Journalisten ins Dorf. Bis zum 9. Oktober 1967 hatte keine Menschenseele je von La Higuera gehört. Einen Tag später drängelten sich sechsunddreißig Flugzeuge auf der improvisierten Landebahn von Vallegrande, das etwa sechzig Kilometer entfernt liegt. Die Einheimischen begannen zu verstehen, dass sich hier soeben ein entscheidendes Ereignis abgespielt haben musste und dass dieser Gefangene nicht irgendein Gefangener war.

Ernestos Leichnam wurde auf einer Bahre, die man am Fahrgestell eines Hubschraubers befestigt hatte, in Richtung Vallegrande ausgeflogen. Das bolivianische Militär hatte angeordnet, ihn zur Abschreckung siebzehn Stunden lang im Waschhaus am Ende der Gartenanlage des kleinen örtlichen Krankenhauses auszustellen. Man musste doch zeigen, dass die »subversive« Brut vom Schlage eines Ernesto Che Guevara vernichtet war. Che war tot! Tot und nochmal tot! Auf dass dieses schmähliche Ende den Leuten zur Mahnung gerate und sich niemand auf ein derart ehrloses Abenteuer einlasse, das unausweichlich zum Scheitern verurteilt war!

Man legte seinen halb entkleideten Körper auf eine Zementplatte. Er war barfuß, und seine Augen waren geöffnet. Obwohl es geheißen hatte, ein Pfarrer in La Higuera habe sie ihm geschlossen … Manch einer hat den Anblick meines getöteten Bruders mit der Beweinung Christi auf dem Gemälde des italienischen Renaissancemalers Andrea Mantegna verglichen. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, aber sie führt in eine Sackgasse. Einige Zeugen berichteten, die Augen von Che seien ihnen gefolgt, als sie um seine sterbliche Hülle herumgingen. Andere, dass der mit der Waschung des Leichnams beauftragte Arzt – ein heimlicher Bewunderer –, ihn einbalsamieren wollte, weil ihm dazu jedoch die Zeit fehlte, habe er ihm nur das Herz herausgeschnitten, um es in einem Einmachglas aufzubewahren. Derselbe Doktor soll auch zwei Totenmasken angefertigt haben, eine aus Wachs, die andere aus Gips. Eine Krankenschwester wiede-rum sei vom friedlichen Gesichtsausdruck Ches überrascht gewesen, der sich vollkommen von den Gesichtern der anderen getöteten Guerilleros abgehoben habe, auf denen Leid und Angst abzulesen waren. Ich glaube nichts von alledem. Das ganze dumme Gerede läuft einzig darauf hinaus, Che zum Mythos zu machen. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, diesen Mythos zu zerstören und meinem Bruder wieder ein menschliches Antlitz zu geben.

Nach dem 19. Oktober verrichteten in La Higuera fünfzehn Soldaten noch ein Jahr lang ihren Dienst. Sie erklärten den Bauern, sie seien hier, um sie vor Ches Komplizen zu beschützen, die mit Sicherheit seinen Tod rächen und sie alle massakrieren würden. Schließlich seien sie, die Bauern, es gewesen, die ihn verraten hätten.

So wurde, im Schoß ängstlichen Geflüsters, ein Kult geboren.

Der schändliche Devotionalienhandel, der sich um Che herum entwickelt hat, stößt mich grenzenlos ab. Ernesto hätte diese blödsinnigen, am Rande des Mystizismus balancierenden Legenden entlarvt. In La Higuera und Vallegrande verwurstet eine ganze Tourismusindustrie Che. Es gibt Führungen entlang der »Wege von Che«. Man versucht, alles nur Erdenkliche zu verramschen. Es ist ekelerregend. Am Ausgang der Schule sah ich in den Auslagen Mitbringsel, T-Shirts, Flaggen. Ich empfand das als eine bodenlose Infamie. Ernesto kämpfte für die Befreiung des amerikanischen Kontinents, und da gibt es welche, die sein Konterfei dafür benutzen, sich zu bereichern. Die Leute beten zum Heiligen Che, erbitten sich Wunder von ihm, dass ihre Kühe wieder Milch geben und was weiß ich. Che wollte geben, nicht nehmen. Er glaubte an die Menschen als Meister ihres Schicksals, nicht als höheren Gewalten Unterworfene, die ihnen gnädig etwas vom Kuchen abgeben, wenn ihnen danach ist. Er glaubte an diesen Kampf. Er war Humanist.

Zweimal bin ich in La Higuera gewesen und werde gewiss kein drittes Mal hingehen. Das ist nicht mehr der Weiler mit vier ärmlichen Häusern, sondern eine Freiluftboutique, in der sie ständig versuchen, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit meinem Bruder hat das hier nicht das Geringste zu tun.

Ernestos Leichnam verschwand am Morgen des 11. Oktobers 1967 auf rätselhafte Weise. Eine Ordensschwester, die im Krankenhaus Bereitschaftsdienst hatte, vertraute dem deutschen Franziskanerbruder Anastasio später an, sie habe auf den Gängen des Hospitals gegen ein Uhr nachts laute Geräusche wie von einer Prozession vernommen. Natürlich zirkulierten bald alle möglichen Gerüchte. Die Wahrheit kam zwanzig Jahre später ans Licht.

Havanna – Januar 1959

In unserem Haus an der Calle Aráoz in Buenos Aires klingelt am späten Morgen das Telefon. Meine Mutter schreckt hoch. Was, wenn er es ist? Sie springt auf und stößt beinahe den Tisch um, auf dem eine Patience ausliegt. Seit zwei Jahren ist sie sehr schwermütig, hat fast ununterbrochen Angst und findet einen gewissen Trost in diesem Kartenspiel, bei dem sie filterlose Zigaretten aus schwar-zem Tabak raucht. Sie macht sich unablässig Sorgen um meinen Bruder, ihren Erstgeborenen. Der kämpft jetzt an der Spitze der Kolonne 8 »Ciro Redondo« des Ejército Rebelde, der Rebellionsarmee des jungen Revolutionsführers Fidel Castro und seiner Bewegung des 26. Juli, die sich das Ziel gesetzt hat, den kubanischen Diktator Fulgencio Batista zu stürzen und seinen brutalen Terror gegen die Bevölkerung zu beenden. Mehrfach hat die internationale Presse den Tod des »argentinischen Arztes Ernesto Che Guevara« verkündet und die ganze Familie in Aufruhr und Schrecken versetzt. Jedes Mal waren es nur Gerüchte, die das repressive Regime in Umlauf brachte, um die Kubaner zu verwirren und davon zu überzeugen, dass sie aufhören sollten, die Revolutionäre zu unterstützen. Ein ums andere Mal wurden die düsteren Meldungen zu unserer großen Erleichterung am Ende dementiert.

Nachrichten von Ernesto haben Seltenheitswert. Wir wissen, dass er irgendwo auf Kuba kämpft, dass das Revolutionsheer entscheidende Schlachten gewonnen hat, dass er auf die Unterstützung der Bevölkerung bauen kann und mittlerweile auf die Hauptstadt vorrückt. Wir leben 6500 Kilometer von der Insel entfernt, also so weit, dass es sich wie Lichtjahre anfühlt. Begierig saugen wir jeden kleinsten Tropfen Information vom Schauplatz des Geschehens in uns auf, das sich gerade in der Sierra Maestra abzuspielen scheint, einer unwirtlichen Gebirgskette im Südosten der Insel, wo eine undurchdringliche Vegetation gedeiht und die Temperaturen manchmal unversehens ins Winterliche kippen.

Ernestos Todesmeldungen sind mit der Zeit immer zweifelhafter, immer unglaubwürdiger geworden. Dennoch leben wir wie auf Messers Schneide, in permanenter Bereitschaft. Im Geheimen machen sich meine Eltern Vorwürfe, dass sie ihren tollkühnen und unbezähmbaren Sohn nicht davon überzeugen konnten, hierzubleiben, auch wenn sie niemals versucht haben, ihn von etwas abzuhalten. Sie haben uns sehr frei erzogen, uns zu unseren Reisen, Entdeckungen, Abenteuern, politischem Engagement, sogar zur Rebellion ermutigt. Aber das hier? Diese Revolution auf fremder Erde, wo man jeden Tag sein Leben riskiert? Es fällt ihnen verdammt schwer, das zu verstehen oder gar zu unterstützen. Ihr angebeteter Sohn, den sie verhätschelt haben, an dessen Bett sie unzählige zermürbende Stunden zugebracht hatten, um die fürchterlichen Ausbrüche seiner Asthmaerkrankung in Schach zu halten, die ihm jede Kraft und oft genug den Atem raubten, setzt sein Leben für ein Ideal aufs Spiel. Dabei ist er noch keine dreißig Jahre alt! Andererseits muss ihnen doch klar sein, dass sie ihm auch das beigebracht haben. Genau so haben sie uns erzogen – und nun werden sie darin noch übertroffen. Hartnäckig und unbeirrbar hat Ernesto ihre Lektionen mit der Muttermilch aufgesogen, um diesen schließlich eine neue Richtung zu verleihen.

Ich bin fünfzehn. Natürlich sehe ich genau, wie meine Eltern darunter leiden, dass er nicht da ist. Doch schätze ich die Gefahr falsch ein. Ich bewundere meinen Bruder, den großen Ausreißer, der sich im Alter von einundzwanzig Jahren allein und ohne jeden Cent am Lenker eines motorisierten Fahrrads auf eine 4500 Kilometer lange Fahrt macht, der, ein Jahr später, mit seinem Kumpel Alberto »Mial« Granado zu einer monatelangen Motorradtour aufbricht und sich anschließend auf eine noch längere Expedition einlässt, in deren Verlauf er einen Haufen kubanischer Revolutionäre kennenlernt und mit ihnen loszieht, um mit der Waffe in der Hand auf einer fernen, exotischen Insel die Welt umzukrempeln. Keiner meiner Freunde kann sich rühmen, einen solchen Bruder zu haben.

»Hallo?«, fragt meine Mutter, als sie sich den Telefonhörer greift.

»Hola vieja5, ich bin’s, dein Sohn, Ernestito.«

Meine Mutter war nie überschwänglich. Doch jetzt entfährt ihr unwillkürlich ein Schrei. In sechs langen Jahren hat sie Ernestos Stimme nur einmal kurz gehört, nämlich als er sie aus seinem Lager in der Sierra Maestra anrief. Seit seiner endgültigen Abreise aus Buenos Aires am 8. Juli 1953 hielten alle Familienmitglieder – mein Vater Ernesto Guevara Lynch, meine Mutter Celia de la Serna, mein Bruder Roberto, meine Schwestern Celia und Ana María und ich – regelmäßig Briefkontakt mit ihm, zumindest solange er noch nicht in geheimer Mission unterwegs war. Die Kommunikation innerhalb der Familie fand schon immer eher schriftlich als über das Telefon statt.

»Es ist Ernestito!«, strahlt meine Mutter. Sie scheint plötzlich wie ausgewechselt, so überglücklich ist sie. Es gibt auch ausgezeichnete Nachrichten. Ernesto verkündet ihr den Sieg des Revolutionsheers und berichtet von seinem triumphalen Einzug in Havanna und von Fulgencio Batistas Flucht. Er rufe Buenos Aires aber nicht an, um mit seinen Heldentaten zu prahlen, beteuert er. Nicht der Comandante sei am Telefon, sondern der Sohn und Bruder. Er möchte den Klang der mütterlichen Stimme vernehmen, der ihm so sehr gefehlt hat. Die »alte Frau« und ihn verbinden eine große Liebe und ein tiefer Respekt voreinander. Schließlich ging er durch ihre Schule. Sie war schon vor ihm Politikerin und Protestlerin. Von ihr erlernte er die Lust am Lesen, ihm hat sie die französische Sprache beigebracht, die sie fließend spricht. Jeder sagt, Ernesto sei ihr Lieblingssohn. Diese Bevorzugung hat ihre Wurzeln in der Krankheit, die seine Kindheit verdunkelte: das heftige Asthma, das jeden normalen Schulbesuch unmöglich machte und meine Mutter zwang, ihn allmorgendlich bis zu seinem neunten Lebensjahr zu Hause zu unterrichten.

Ich habe unter der engen Beziehung der beiden nie gelitten. Als jüngster Sohn – ich bin fünfzehn Jahre jünger als Ernesto und elf Jahre jünger als Roberto – genoss ich meinen eigenen privilegierten Platz in der Familie. Außerdem lässt meine Mutter am Tag nach Ernestos Anruf, als die Welt vom Sieg Fidel Castros erfährt, die Journalistin Angelina Muñoz von der Zeitschrift La Mujer wissen: »Von meinen fünf Kindern mag Ernestito das bekannteste sein, aber sie sind alle großartig«, und fügt hinzu: »Keine Ahnung, wen ich da in Havanna vorfinden werde. Die letzten sechs Jahre haben meinen Sohn entscheidend geprägt, und sicherlich hat ihn das alles auch verändert. Ich habe daher ein bisschen Angst. Aber ich wollte ihm nie in seinem Freiheitsdrang im Weg stehen. Hätten mein Mann und ich das getan, so wäre die Beziehung zu ihm nicht so, wie sie heute ist, nämlich wie zwischen Freunden. Mein Sohn hatte es nie nötig, seiner Familie die Stirn zu bieten, weil wir immer versucht haben, ihn zu verstehen und seine Sorgen zu teilen.«

Am Abend nach dem schicksalhaften Anruf sind wir im Haus zusammengekommen, beglückt und überwältigt. Aber alle fragen wir uns: Werden wir Ernesto als denselben Menschen wiedererkennen? Wer ist dieser bärtige Mann mit dem wilden langen Haar unter dem Barett, dieser Comandante, der auf den Titelseiten der internationalen Presse prangt? Was hat er noch mit unserem Ernesto zu tun?

Auf den Straßen von Buenos Aires wird gefeiert. Die Bevölkerung hat soeben vom Sieg ihres heldenhaften Landsmanns erfahren. Alle Zeitungen verkünden den Triumph der Revolution auf Kuba. Auch die Verwandten, die Ernestos Ideen immer ablehnend gegenübergestanden haben, feiern fröhlich mit. Die Clans der Guevara und de la Serna haben allem Anschein nach einer Berühmtheit das Leben geschenkt und platzen nun vor Stolz – zumindest während dieser Stunden. Manch einer wird in der Folgezeit versuchen, sich allmählich davon zu distanzieren, als die Dinge in Argentinien eine unerfreuliche Wendung nehmen.

Zwei Tage nach dem Telefonat, am 6. Januar 1959, biegen mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Celia und ich von der Calle Aráoz zum internationalen Flughafen Ezeiza ab, um eine Maschine nach Kuba zu besteigen. Bedauerlicherweise können Roberto und Ana María nicht mitkommen. Roberto ist beruflich verhindert, warum, ist mir heute entfallen; und Ana María hat gerade entbunden. Ich trage stolz den Anzug, den mir meine Eltern zu diesem Anlass gekauft haben, es ist mein allererster Anzug. Endlich werde ich meinen großen Bruder wiedersehen, den Spaßvogel, der mir die Abenteuerromane von Emilio Salgari und Jules Verne schmackhaft gemacht hat. Was ändert das schon, wenn er jetzt Comandante oder Che geworden ist? Natürlich keimt von irgendwoher Stolz in mir auf – schließlich springt mir sein Konterfei aus sämtlichen Titelseiten entgegen – und doch fühlt sich das alles noch sehr, sehr unwirklich an.

Wir sind völlig aus dem Häuschen. Fidel Castro hat ganz nebenbei entschieden, uns zur Siegesfeier nach Havanna einzuladen, ohne mit Ernesto Rücksprache zu halten. Mein Bruder hätte den Vorschlag strikt abgelehnt, weil im neuen revolutionären kubanischen Staatsgebilde kein Geld verschwendet werden sollte. Nach zwei Jahren Seite an Seite im gemeinsamen Kampf verbindet Ernesto und Fidel eine tiefe Männerfreundschaft, die der große kubanische Intellektuelle Alfredo Guevara später in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País auf den Punkt bringt: »Fidel ist in seinem Leben zu vielen begegnet, die ihn spiegelten; Che war kein Spiegel, er war gebildet und legte eigene Kriterien an. Er sprach mit ihm auf Augenhöhe, er war ihm, vielleicht als einziger von uns, ebenbürtig. Es bestand für ihn kein Zweifel, dass Fidel der Anführer war, und Fidel hörte Che an und respektierte seine Meinung; es war die perfekte Komplizenschaft.«6

Fidel weiß um Ernestos enge Bindung zu seiner Familie. Ernesto hat sein Leben riskiert, um ein Land zu befreien, das nicht seines war. Außerdem hielt Fidel es für ungerecht, dass Ernesto das einzige »Waisenkind« auf dem Fest sein sollte. Daher hat er seinen anderen Comandante, Camilo Cienfuegos, beauftragt, uns mitzuteilen, dass wir unsere Koffer packen und zum Flughafen kommen sollen. Dort würden wir ein Flugzeug der staatseigenen Fluggesellschaft Cubana de Aviación besteigen, das man eigens für die Rückführung kubanischer Exilpolitiker gechartert habe, nicht nur die aus Argentinien, sondern auch aus Chile, Ecuador und Mexiko. Der Charterflug verspricht interessant zu werden …

Die ersten Exilanten, die in Ezeiza auf die Maschine warten, sind beladen wie Mulis. Besonders einer von ihnen: Er hat Hunderte Bücher dabei, die aus mehreren Säcken quellen. Erschrocken spricht mein Vater den Piloten auf das überhöhte Gewicht an. Wir müssen die Gebirgskette der Anden überfliegen und in Santiago de Chile zwischenlanden, wo uns noch mehr Exilkubaner erwarten, dann geht es weiter nach Guayaquil und schließlich nach Mexiko. Der Pilot beruhigt meinen Vater, dann heben wir in feierlicher Stimmung ab.

Statt des Landeanflugs dreht die Maschine über Guayaquil große Warteschleifen. Fast eine Stunde lang fliegen wir Karussell. Das Fahrwerk ist blockiert. Eine fürchterliche Anspannung liegt in der Luft. Doch endlich lässt es sich lösen, und wir setzen glücklich auf. Das fehlte gerade noch, dass wir alle zerschellen, ohne Ernesto wiedergesehen zu haben!

Die Reise dehnt sich. An jedem Flughafen nehmen uns Journalisten in Beschlag, die die Eltern von Che interviewen wollen. Und wir haben gedacht, unsere Anwesenheit im Flieger sei diskret behandelt worden! Mein Vater fügt sich freilich nur allzu gern ihren Wünschen: Sein vagabundierender Sohn hat es schließlich zum internationalen Helden gebracht.

Über Havanna fürchten wir erneut abzustürzen, weil uns besagtes Fahrwerk trotz der Reparaturen, die man in Guayaquil vorgenommen hat, ein zweites Mal im Stich lässt. Am Ende setzen wir dann doch noch sanft auf der Landepiste des internationalen Flughafens José Martí auf. Wir sind erschöpft, aber die Vorstellung, Ernesto wiederzusehen, entzückt uns über alle Maßen. Nach dem Verlassen der Passagiertreppe kniet mein Vater nieder und küsst die kubanische Erde.

Bewaffnete, bärtige Guerilleros erwarten uns auf dem Rollfeld und eskortieren uns durch die Menschenmenge zu Ernesto. Aus Sicherheitsgründen ist er im Inneren des Terminals geblieben. Am selben Morgen hatte Camilo ihm bedeutet, sich zum Flughafen zu begeben, es warte dort »eine Überraschung« auf ihn. Es ist ihm keine Zeit mehr geblieben, seinem Ärger Luft zu machen, zu bekunden, dass er jede bevorzugte Behandlung für sich und die Seinen verabscheue. Fidel ist bislang noch nicht in Havanna eingetroffen. Der Sieg ist noch sehr frisch. Che bleibt im Augenblick nichts zu tun, als sich darüber zu freuen, dass er endlich seine Familie wiedersieht.

Als meine Mutter Ernesto erblickt, stürzt sie ihm entgegen und stolpert über den Kabelsalat des Fernsehens, der den Boden bedeckt. Dann folgt eine nicht enden wollende Umarmung, ein Augenblick ungewöhnlicher Innigkeit. Meine Mutter schluchzt hemmungslos in Ernestos Armen, die sie liebevoll festhalten. Vater, Celia und ich betrachten die Szene tief bewegt. Sechs Jahre lang hat meine Mutter von diesem Moment geträumt. Wie viele Male hat sie ihren Sohn tot geglaubt!

Mein Vater betrachtet die Angelegenheit von einem etwas anderen Standpunkt aus. Natürlich liebt auch er seinen Erstgeborenen, aber ihr Verhältnis ist schwierig. Jeder in unserer Familie ist ein bisschen durchgeknallt, aber mein Vater hält darin den uneinholbaren Rekord. Drücken wir es so aus: Seine ständigen Extravaganzen haben das Zeug, seine Lieben regelmäßig auf die Palme bringen. Dazu kommt, dass er sich auch noch über Ernestos Ideen lustig macht. Er teilt – in diesem Januar 1959 – weder dessen politischen Ansichten noch honoriert er seine unerschütterliche Rechtschaffenheit. Er hat für Ernesto andere Pläne. Er glaubt, er könne diesen Aufenthalt in Havanna nutzen, um ihm bei günstiger Gelegenheit den Kopf zurechtzurücken und ihn dazu zu bringen, nach Buenos Aires zurückzukehren und seine Karriere als Allergologe fortzusetzen. Wir werden bald sehen, dass Ernesto andere Projekte umtreiben. Mein Vater scheint nicht zu verstehen, dass diese Revolution für seinen Sohn weit mehr ist als ein hübsches kleines Abenteuer, das in diesem Augenblick seinem Ende zugeht, um anderen wichtigen Dingen Platz zu machen. »Meine Karriere als Arzt, lass dir das gesagt sein«, gibt Ernesto ihm vom ersten Tag an unzweideutig zu verstehen, »habe ich schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. Ich bin jetzt ein Kämpfer, der seinen Einsatz zur Konsolidierung einer Regierung leistet. Wer weiß, was aus mir wird? Ich weiß nicht einmal, wo dereinst meine Knochen begraben werden.« Und mit dem üblichen Humor fügte er hinzu: »Bis dahin, viejo, kannst du ja, da du auch Ernesto Guevara heißt, mein Medizindiplom in dein Architektenbüro hängen und ohne jedes Risiko damit anfangen, Patienten abzumurksen.« Dazu muss man wissen, dass mein Vater sich Architekt schimpft und diesen Beruf ausübt, ohne jemals darin ein Diplom gemacht zu haben …

Nichts erinnert an meinem Bruder mehr an den Arzt, den wir am 8. Juli 1953 im Bahnhof Retiro in Buenos Aires verabschiedet haben, bevor er zu Che7 wurde. Er hat sich verändert, ist älter und stattlich. Er, der immer rasend schnell sprach und die Wörter, die aus ihm heraussprudelten, schier verschluckte, um den dahingaloppierenden Gedanken hinterherzukommen, wirkt nun gesetzt. Mein erstaunter Vater registriert, wie Ernesto sich seine Worte offenbar genau überlegt und mit Bedacht wählt, bevor er den Mund aufmacht. Als er Buenos Aires verließ, war er glattrasiert; jetzt hat er einen Bart, aus dünnen und spärlichen Stoppeln zwar, aber doch einen Bart. Er trug immer liebend gern kurzes Haar, um sich nicht kämmen zu müssen: Nun hat er eine Löwenmähne, die kaum zu bändigen ist. Und mager ist er geworden. Bisher war sein Appetit immer sehr unregelmäßig, wilde Fressattacken wechselten im Rhythmus seiner Asthmaanfälle mit Phasen der Genügsamkeit ab. Er ist in eine olivfarbene Uniform gekleidet, die ein großer, khakifarbener, elastischer Gurt zusammenhält, auf dem Kopf ein schwarzes Barett mit rotem Kommandantenstern, Accessoires, die ihn von nun an ständig begleiten werden. Sein Auftreten ist selbstsicherer geworden, er strahlt noch mehr Charisma und Autorität aus, sofern das überhaupt möglich ist, denn Ernesto hatte immer schon einen starken Charakter, sein Talent zum geschmeidigen Umgang machte ihn zu einer Führernatur. Bereits als kleiner Junge war er Chef einer Bande, was völlig natürlich schien, weil er Vertrauen einflößte. An seiner Seite fühlten sich sogar ältere Jungs sicher. Seine Freundschaft war unanfechtbar, er stand zu den Seinen fest wie ein Fels.

Ich bemerke den Respekt, den er auch hier seinen Leuten einflößt. Ich habe einen Bruder vor mir, der mir wie früher zärtlich zulächelt und mich neckt, und doch scheint er verwandelt. Ich bin begierig herauszufinden, wer dieser Bruder ist, der sich im Kampf so mutig hervorgetan und mit dreitausend Waffenbrüdern eine hartgesottene Fünfzigtausend-Mann-Armee geschlagen hat, die noch dazu von der größten Militärmacht der Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika, unterstützt wurde. Am allerwichtigsten aber ist mir, den Komplizen meiner Kindertage zurückzubekommen.

Wir fahren im Jeep zum Hilton, wo wir für eine noch unbestimmte Zeit logieren werden. Das Straßenbild von Havanna zeigt ein Land, das man nach einer endlosen Zeit der Unterwerfung endlich befreit hat. In allen Stadtvierteln scheppert Musik, die Menschen tanzen auf den Straßen und feiern den Sieg der jungen Revolutionäre, denen sie ihre wiedererlangte Freiheit verdanken. Es ist ein ohrenbetäubendes Getöse. Gruppen von Guerilleros aus der Sierra Maestra, halbe Analphabeten, die nie aus ihren Dörfern und Bergen herausgekommen sind und weder Zeit noch Muße hatten, sich in aller Ruhe eine Stadt anzuschauen, bestaunen jetzt die Pracht der Metropole, ihre Wolkenkratzer, Luxusautos und Hotels.

Am Hilton angekommen, erwartet mich jungen Argentinier eine surreale Szenerie voll entfesselter Exotik. Ein großer Schwarzer und ein Kleinwüchsiger in Livree, Wächter einer anderen Welt, tummeln sich im Eingangsbereich. Der amerikanische Schauspieler Errol Flynn schreitet den Hotelflur ab: Die Ankunft von Ches Tross in Havanna hat ihn mitten im Urlaub überrascht. Die luxuriös gestaltete Vorhalle hat sich in ein barockes Gemisch aus Guerilleros, die in Kanapees lümmeln, und verblüfften Touristen verwandelt, die urplötzlich zu ungläubigen Augenzeugen einer gerade stattfindenden Revolution geworden sind. Die einen wie die anderen wirken noch immer wie vor den Kopf geschlagen: Sie hatten kaum Zeit, den Verlauf der Ereignisse zu verarbeiten. Während wir nicht weniger erstaunt die Szene beobachten, platzt der Comandante Camilo Cienfuegos mit seiner Truppe herein. Die erschöpften Guerilleros erheben sich wie ein Mann. Camilo ist gutaussehend und imposant, mit seinem Vollbart, langen Haaren, beigem Cowboyhut und einer Thompson-Maschinenpistole am Schulterriemen. Er bricht in schallendes Gelächter aus. Auch er ist bereits eine Legende. Ernesto wendet sich ihm zu und umarmt ihn zur Begrüßung, bevor er uns vorstellt. Sie sind richtige Freunde geworden. Die Angestellten des Hilton verstehen nichts von dem, was hier vor sich geht. Alles hat sich so rasend schnell abgespielt! Es ist ein unglaubliches Spektakel, von dem ich jede einzelne Sekunde in mich einsauge. Die Tische biegen sich unter der Last der Schusswaffen, sodass kein Platz mehr für einen Teller oder auch nur eine Tasse bleibt. Die Soldaten machen einen zotteligen und zerlumpten Eindruck. Sie kommen gerade aus einem zwei Jahre dauernden Untergrundkampf. Ihre Uniformen sind durch Sonne und Witterung mit der Zeit schmuddelig und fahl geworden, nun liegen sie neben ihren Amuletten am Boden; ihre Halbstiefel sind abgewetzt und voller Löcher. Verwundert stelle ich fest, dass junge Männer in meinem Alter im Revolutionsheer schon militärische Dienstgrade innehaben. Der Erstaunlichste von allen ist aber Ernesto selbst. Meine Familie war immer eine Randerscheinung, unkonventionell und voller Ablehnung jeglicher Autorität gegenüber. Meinen Bruder, der sich wegen seines Asthmas in Argentinien vom Militärdienst freistellen ließ, jetzt als Comandante vor mir zu sehen, macht mich vollends sprachlos.

Wir sind in einer Suite im sechzehnten Stock des Hilton untergebracht. Meine Mutter sitzt auf dem Balkon, von hier aus kann sie das Geschehen wunderbar überblicken: den Stadtteil Vedado, La Rampa, die berühmte Uferstraße Malecón, das Castillo del Morro, das Meer. Sie ergötzt sich an so viel Glück. Sie hat ein Programm für sich aufgestellt: Sie will möglichst oft ihren Sohn sehen, dann diesen Fidel treffen, von dem in Ernestos Briefen und in der Presse so viel die Rede war, und möglichst alles über diese Revolution und ihre politischen, philosophischen, wirtschaftlichen und lebenspraktischen Ziele erfahren. Die Pläne meines Vaters sind profaner. Unter anderem hegt er den Wunsch, Beziehungen zu knüpfen, die ihm – wer weiß – in der Zukunft einmal nützlich sein könnten.

Unsere Reise war anstregend. Glücklich und noch immer ungläubig, dass wir unter demselben Himmel schlafen dürfen wie Ernesto, legen wir uns inmitten des Blaskapellen-Tohuwabohus, das von der Straße heraufplärrt, zur Ruhe.

Als er am nächsten Tag erscheint, um mit uns zu Mittag zu essen, platzt er zu seinem Erstaunen in einen Fototermin, den mein Vater mit einem Onkel und einer Cousine Fidels, Gonzalo und Ana Castro Argiz, arrangiert hat. Der Stolz des frisch erlangten Ruhms ihrer nächsten Verwandten hat sie einander nähergebracht. Ernesto ist aufgebracht. Er sähe es lieber, wenn sein Vater sich angesichts der Würde des Ereignisses mehr Zurückhaltung und Diskretion auferlegte. Aber ebenso gut könnte man einen Filmstar beim Festival in Cannes bitten, unsichtbar zu bleiben. Mein Vater ist ein leicht entflammbarer Mann, und diese schicksalhaften Ereignisse kommen ihm gerade recht, liefern sie ihm doch den perfekten Rahmen, sich in Szene zu setzen. Die Folge: Mit jedem neuen Fauxpas meines Vaters wird Ernestos – und meine – Gereiztheit in den nächsten Tagen anwachsen. Mein Vater wird in eine Reihe unverzeihlicher Fettnäpfchen treten und damit seine vorzeitige Abreise heraufbeschwö-ren.