Periplaneta

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PIT PIKUS, MARK URIONA:
„Lämmels Syndrom oder Die fünf Dimensionen der Wahrheit“
1. Auflage, März 2017, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Mascha Tobe
Cover: Marion Alexa Müller
Satz & Layout: Thomas Manegold


print ISBN: 978-3-95996-045-8
epub ISBN: 978-3-95996-046-5
E-Book-Version: 1.0


Pit Pikus / Mark Uriona

Lämmels
Syndrom

oder
Die fünf Dimensionen der Wahrheit



Roman


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Für Charlotte


„Wer ein Abenteuer zu erzählen hat, bei dem die Zuhörer nicht dabei gewesen sind, wer also freies Feld findet und seine Phantasie ein Wörtchen mitreden lassen darf, der wird gewiss schon an sich selbst die Erfahrung gemacht haben, dass er dann – und wäre er auch der ehrlichste, aufrichtigste Mensch der Welt – die Spitze ein klein wenig verbessert, schärfer und klarer hinstellt, störende Einzelheiten weglässt und über das Ganze gewiss jenen Zauber breitet, den die Erinnerung so gern und ohne weitere Kosten über alles ihr Angehörige ausstrahlt.“

W.L. Hertslet, Der Treppenwitz der Weltgeschichte, Berlin 1918

Montag, 22. September

Dr. Arno Lämmel öffnete die Toreinfahrt. Der weiße Renault brummte auf, rollte mit der kleinen Frau hinaus auf die sandbucklige Straße, wich dem stehenden Wasser aus und bog ein in die Allee zur Stadt.

„Das Volk fährt zur Arbeit“, murmelte Lämmel und zog die leicht durchnässte Zeitung aus dem Briefkasten. Staksend, fröstelnd, eingehüllt in den verblichenen blauen Bademantel und Hausschuhe an den bloßen Füßen, begab er sich zur Tonne hinter dem Buchsbaumbusch und reinigte das Papier der Zeitung. Er trennte das Eigentliche vom Beiwerk.

‚Die Werbung verhält sich umgekehrt proportional zum Umsatz‘, konstatierte er und warf die bunten Seiten der Baumärkte, Küchenstudios und Möbelhäuser in das Papiergrab. Lämmel blickte auf die noch immer gefaltete Zeitung und las den Wetterbericht auf der sechsten Seite.

Es bereitete ihm keine Mühe mehr, durch die ersten Seiten hindurchzublicken. Seine Augen durchdrangen den Bericht über einen explodierten Tanklaster, die Wahlprognosen und einen Kommentar zur Wirtschaftssituation. Das Wetter war noch bei Weitem die beste Nachricht. Lämmel hatte die beachtliche Fähigkeit erlangt, die Dinge hinter den Dingen zu sehen.

Alles begann mit einem schleifenverzierten Päckchen. Die kleine Frau überreichte es Lämmel zum Geburtstag.

Als er es in den Händen hielt und freundlich lächelte, fragte die kleine Frau: „Willst du es nicht öffnen?“ Doch Lämmel wusste bereits, was dieses Päckchen enthielt. Er erriet es nicht, kombinierte sein Wissen nicht aus den Erfahrungen eines langen Ehelebens. Sondern er sah unter der bunten papiernen Hülle sehr deutlich einen Rasierpinsel aus Dachshaar.

Lämmel hielt sich an seinem Lächeln fest und betrachtete diesen Pinsel. Während er an den Enden der Schleife zog, den Tesafilm entfernte und dort, wo das Papier nicht von selbst nachgab, ein wenig riss und zog, da hoffte er inständig, es möge Parfüm in dem Päckchen sein oder ein dickes kleines Buch oder eine hässliche Uhr. Doch es blieb dabei: Es war ein Dachshaarpinsel.

„Freust du dich?“, fragte die kleine Frau.

„Ich freue mich, weil das ein sehr nützliches Geschenk ist“, erwiderte Lämmel, „aber ich werde noch lernen müssen, damit umzugehen.“

Die kleine Frau schüttelte verständnislos den Kopf.

Noch am gleichen Tage erhielt Lämmel die Gelegenheit, seine unverhofft empfangene Gabe auf die Probe zu stellen.

Mit einem azurblauen Himmelsbogen, in dem die silbernen Fäden des jungen Spinnenvolkes segelten, hatte sich der frühe Herbst aus dem nasskalten Sommer herausgeschält. Lämmel genoss die neue Wärme. Die Hände auf den Rücken gelegt, durchschritt er den Garten, inspizierte sein umzäuntes Reich, zählte die möglichen Pflanzstellen für Erika und die späten rosa Astern, die er liebte. Er entschloss sich zum Handeln, zum Kauf.

Als er die gläserne Halle des Gartencenters betrat, stieg er hinein in das Klingen und Singen weihnachtlicher Weisen, in all den Glanz und Flitter einer absurd fernen Festlichkeit. Lämmels Blick fiel auf die bunten Geschenkkartons unter einer geschmückten Nordmanntanne. Kartons in schimmernder Hülle. Lämmel schüttelte unmutig den Kopf. Er sah das Nichts unter dem bunten Papier. Doch in diesem Nichts knautschte sich etwas: Stücke von etwas. Unter den verwunderten Blicken eilender Kunden hob er eines jener Pakete auf. Schemenhaft, doch bald schon klarer und klarer, erkannte er den Inhalt: Zeitungspapier. Im Wirbel der Buchstaben fand er die Worte ‚Sommerschlussverkauf ( …) Händler ( …) Erwartungen.‘

Sorgsam und sehr langsam legte Lämmel das Paket an seinen Platz zurück. Etwas war da mit ihm geschehen. Es musste eine Erklärung dafür geben, materialistisch sozusagen. Auch Röntgenstrahlen waren denkbar.

Lämmel kehrte erst spät zu seinem Haus und der kleinen Frau zurück. Er hatte einen langen Nachmittag vor den Schaufenstern der Innenstadt verbracht und unzählige Kartons, Schachteln und Schächtelchen auf ihren Inhalt überprüft.

Sein neues Können war ungelenk, entbehrte noch der Perfektion, die er in späteren Wochen erlangte, doch schon an diesem ersten Tag machte er stete Fortschritte. Er lernte bereits, seinen Blick wie den Fokus einer Kamera auf unterschiedliche Fernen des Verborgenen einzurichten. Wie in schwarzen Schalen ordneten sich die dem Licht entzogenen Dinge. Lämmels Augen lernten zunächst, zwischen einem vorderen Schwarz und einem hinteren Schwarz zu unterscheiden und es war dabei auch durchaus nicht so, als müssten die Dinge erleuchtet werden, um von Lämmel gesehen zu werden. Sein Blick fügte dem Dunkel keinen Schaden zu, störte es nicht, durchquerte es, ohne es zu verändern und erforschte lediglich die Kontraste zwischen dessen Besonderheiten, dessen Linien, Formen, Farben und Größen.

Vor vielen Jahren hatte Lämmel die Zeit in einem Philosophieseminar verschlafen. Als die Studenten einen Aufsatz zu der Frage verfassen sollten, ob ein Baum auch dann im Wald stünde, wenn es niemanden gäbe, der ihn dort sehen könne, hatte er das Seminar verlassen. Und als Lämmel an diesem Abend seinen Dachshaarpinsel auf den Sims des Spiegelschrankes stellte und den Vorgänger in den dezenten Mülleimer warf, da murmelte er leise: „Die entscheidende Frage ist doch, wie ein Baum wirklich aussieht.“

Und später dann, als die Nacht das kleine Haus umarmte, Lämmel in seinem Bett in der Mansarde lag und den leisen Atemzügen der kleinen Frau lauschte, da sah er im Dachfenster den vollen Mond in den schwarzen Wolken schweben.

„Das stimmt nicht“, murmelte er, „wir haben jetzt Halbmond.“

Noch bevor er begriff, umfing ihn der Schlaf.

Dienstag, 30. September

Lämmel genoss die Sonnenstrahlen in einem Straßencafé in der Innenstadt. Er liebte die Ereignislosigkeit des Tages und den schlafenden Wind. Er bestellte sich einen Latte macchiato.

Auf dem Zuckertütchen stand der Name des Cafés, aber hinter dem Papier sah Lämmel bereits die kristalline Struktur des Saccharids. Längst durchdrang er nicht nur Papier. Als Lämmel den Blick hob, grub sich sein Sehen hinein in die Kleidung der Passanten. T-Shirts, Tops, Blusen, Röcke, Beinkleider – sie alle wurden zu leicht verhüllenden Schleiern, die sich bald gänzlich auflösten. Lämmel sah die totale Nacktheit. Dieses Überangebot an eingeschnürten, gehobenen Brüsten irritierte und erschreckte ihn. Dann sah er die Bäuche, die sich unentwegt an ihm vorüber schoben. Faltige, wulstige, auch flache, straffe Bäuche und darunter das Dreieck, nackt oder behaart, mit schwarzem oder blondem Flaum.

‚Sekundäre Geschlechtsmerkmale‘, dachte Lämmel und setzte die Sonnenbrille auf.

Denn konnte es nicht sein, dass da etwas Sonderbares, Auffallendes, Verräterisches in seinem Blick war? Etwas beinah Voyeuristisches?

„Sekundäre Geschlechtsmerkmale“, wiederholte er leise. Er blickte auf die Genitalien seiner Geschlechtsgenossen, die der Gravitation folgend, vom durchsichtigen Slip schräg verformt, links oder rechts vom Schritt hingen. Sogleich erinnerte er sich daran, dass ihn sein Schneider dereinst gefragt hatte, damals, als er sich den mausgrauen Manchesteranzug fertigen ließ, ob er, Lämmel, Rechts- oder Linksträger sei. Sein Unverständnis bezüglich der von ihm erwarteten Auskunft wurde mit der lakonischen Feststellung kommentiert, dass er dies eigentlich wissen solle. Seitdem wusste Lämmel, dass er ein Linksträger war.

Als er an diesem Nachmittag seinen Latte genossen hatte, beschloss er, dem Phänomen einen wissenschaftlichen Namen zu geben. Er nannte es: das Syndrom. Da Lämmels Bild von dieser Welt und ihren inneren Zusammenhängen ein durchaus materialistisches war, suchte er nach einer natürlichen Erklärung.

Vergleiche mit unterschiedlichen Werkstoffen führten ihn zu neuen Erkenntnissen, jedoch nicht zur Aufhellung der Ursache des Syndroms. Lämmel stellte fest, dass sein Blick den Tresor des Autohändlers nicht durchdringen konnte. Ebenso wenig vermochte er den Bioabfall im Plastikeimer zu eruieren. Stahl und Plastik schieden somit aus der Versuchsreihe aus. Auch Behälter aus Leder widerstanden seiner Fähigkeit.

Bei Keramik und Ton gab es keine eindeutigen Ergebnisse. Es schien auf die Art der Verarbeitung anzukommen.

In dieser schwierigen Phase konsultierte Lämmel seinen Augenarzt, einen mürrischen, sprachfaulen Mann, den er seit Jahren kannte und ob seiner eindeutigen Diagnosen schätzte. Vielleicht war etwas mit Lämmels Netzhaut geschehen. Vielleicht ließ sich dem Glaskörper etwas ansehen.

Die Untersuchung endete mit einem Brillenrezept. Lämmel schwieg dazu. Auch die kleine Frau würde er nicht einweihen. Sorgsam hatte er alle Varianten durchgespielt und die möglichen Folgen für sein Eheleben bedacht. Nein, er konnte sie nicht ins Vertrauen ziehen. Hüllenlos sah er die kleine Frau. Nackt stand sie vor ihm, nackt schritt sie, nackt saß sie. Würde er die kleine Frau einweihen, sie um Rat oder Hilfe ersuchen, eine frostige Stille käme sogleich über ihre ohnehin schwache Libido.

Obgleich die natürliche Erklärung des Syndroms nicht vorankam, spielte er mit dem Gedanken seiner Vermarktung. Lämmel sah sich als berühmten Magier. Vor sich die Probanden, die Mutigen. Jene, die sich seinen Künsten zu stellen wagten. In ihren Händen die Briefumschläge, sorgsam verschlossen, versiegelt das Wort, der Satz, die Botschaft, die er, Lämmel, vor dem staunenden Publikum zu entschlüsseln gedachte.

Hindurchblicken würde er, durch das graue, weiße, gelbe Papier der Umschläge, vordringen zu den Botschaften. Problemlos würde er dies tun, dank des nützlichen Syndroms. Und als Zugabe vielleicht noch die eine oder andere leicht hingeworfene Bemerkung.

„Gnädige Frau, dies kleine Muttermal links unter dem Nabel steht Ihnen wirklich reizend.“

Kein schlechtes Leben wäre das. Er könnte den verhassten Job aufgeben, aussteigen aus diesem bundesrepublikanischen Leben. Doch er konnte es nicht. Der kleinen Frau wegen musste er schweigen, wollte er nicht in Erklärungen versinken.

Donnerstag, 13. November

Der weiße Renault fuhr vom Hof. Es regnete. Es würde sich nichts ändern an diesem Wetter. Es würde nicht besser, sonniger, wärmer werden. Denn das Tief blieb stabil. Lämmel fingerte sich eine Zigarette aus der Tasche des alten Bademantels und trat unter das schützende Vordach des Hauses. Er rauchte frierend.

Sobald der leichte Schwindel, den die erste Zigarette des Tages auslöste, dahinschwand, kehrte er in die Wärme des Hauses zurück, sortierte das Frühstücksgeschirr in den Spüler, schuf die vertraute Ordnung der Dinge. Danach las er den Zettel mit den Hinweisen der kleinen Frau. ‚Küche fegen, Staub wischen und einkaufen: Käse, Vollkornbrot, Tomaten, nicht zu viel und achte auf den Preis.‘

Unmut stieg in Lämmel auf. Unmut gegen diese Alltäglichkeiten und ein Unmut auch gegen die kleine Frau und ihre zetteligen Ermahnungen.

„Hausmannskost. Kost des Hausmanns“, knurrte er.

Mürrisch nahm er den Besen vom Haken und fegte die Brotkrümel, die von der Schneidemaschine auf das Linoleum gefallen waren.

‚Ich müsste die Bodenleiste, die Fußleiste der Schränke abschrauben‘, überlegte er. ‚Die Krümel rutschen, bröseln hinter die Leiste. Weiß der Fuchs, wie es dort aussieht! Staubig, schmutzig, brotkrümelig.‘

Als er den Kreuzschraubendreher aus der Lade fingerte und ihn an die hölzerne Leiste ansetzte, da tütelte das Telefon im Flur. Sieben Uhr zehn. Lämmel nahm den Hörer ab und hörte eine rauchige Stimme. Ihm wurde bewusst, dass der Anrufer Portugiesisch sprach.

„Aqui falo Dom Alfonso !“ (Hier spricht Dom Alfonso.)

Lämmel folgte dem einst erlernten, fast verschütteten Singsang dieser Sprache, erinnerte sich an den Klang der Vokale, an die Wortverkehrungen im Satz, die ihm stets Mühe bereiteten. Als er sich hineinhörte in das Zischen der Konsonanten, begriff er die Botschaft, die herausfordernde Drohung.

„Wir leben von den Krümeln deines Tisches, die du täglich hinter die Leiste fegst. Hüte dich, diese Grenze zu verletzen! Bedenke, Lämmel, du provozierst den Krieg. Guerra!“

Dann das Tuten im Apparat. Verstört legte Lämmel den Hörer auf. ‚Es ist dieser Job‘, dachte er. ‚Er verschüttet mich.‘ Und dann, mit einem Anflug von forscher Energie und Gegenwehr, zog er den Gürtel des Bademantels fester. Den Schraubendreher in der vorgestreckten Hand näherte er sich erneut der Leiste, fixierte die Grenze, starrte auf sie und in diesem Starren wurde ihm bewusst, dass er Angst hatte.

Lämmel zögerte. Er legte den Schraubendreher in die Küchenschublade zurück. Das Telefon tütelte erneut. Lämmel verharrte, wartete.

Der Anrufbeantworter sprang an. Aus dem Augenwinkel sah Lämmel das Flackern der Anzeige: glutig, brandig, rot. Der Ansagetext war stumm geschaltet und er nahm fast zehn Sekunden in Anspruch. Zehn Sekunden waren zu lang für einen beruflich genutzten Anschluss. Fünf Sekunden wären besser. Sieben Sekunden sind das empfohlene Maximum. Gleich würde er wieder die Stimme vernehmen, die Drohung, die Kriegserklärung. Der Anrufbeantworter knackste und schaltete auf laut.

„Grüß Gott und einen wunderschönen, optimistischen und erfolgreichen Tag. Hier Gotthart!“

Lämmel sprang zum Telefontisch und ergriff den Hörer: „Lämmel, hier Arno Lämmel!“

„Ja, wunderbar“, sagte die Stimme und verfiel sogleich in bayrische Mundart: „Des gefeit mi gawoddisch.“

Lämmel setzte sich auf den Boden des Flurs und zwang seinen Atem zur Ruhe. Der Bayer dröhnte: „Sie sind moiner Struktur zug’ordnet worden und i ma Sie zu oinem Topverkäufer, zum Topverkäufer sa i.“

Lämmel schwieg, wartete.

„Auf Gwehr und Seweschneid“, brusttönte der Bayer.

Nicht übersetzbar war er. Erfassbar jedoch: neun Uhr, Hotel am Wald. Ein erstes Gespräch sollte Vertrauen schaffen für die neue Zusammenarbeit.

„A Schdrudl daad mi jetzt oweign!“, brüllte das Telefon.

Was für ein Singsang! Überkommen, herübergekommen, Chef geworden. So ist das Leben. Rätselhaft, wie es die Weisungsbefugten findet und adelt. Lämmel hatte gehört, dass es einen Gotthart gebe. Man hatte Verkaufszahlen geflüstert. Raunend, andachtsvoll oder auch skeptisch. Gotthart, der bayrische Gigant mit der Fähigkeit, Menschen zu sammeln und zu motivieren. Unzählige namenlose Helfer schrieben die Umsätze für ihn. Aller Fleiß auf einen Namen: Gotthart! Alles war möglich in diesem Geschäft, fast alles.

„Neun Uhr“, wiederholte Lämmel, „jawohl, neun Uhr in der Lobby. Ja, ich kenne das Hotel gut.“

Er legte auf, erhob sich vom kalten Boden, ging in die Küche und sah auf die Fußbodenleiste. Etwas knackte und raschelte dahinter.

Im Hotel am Wald roch es nach Rührei, Würstchen und Ledermöbeln. Wiener Klassik mischte sich mit dem Klappern des Geschirrs. Lämmel nahm an einem der Zweiertische Platz, den Rücken zur Wand, die Arme verschränkt, die Tür der Lobby im Auge. So wollte er dieses Gespräch mit Gotthart angehen. Im Raum stieg das Lachen einer Frauenstimme auf. Etwas zu derb, zu extrovertiert, nicht nach Lämmels Geschmack.

Neun Uhr zehn kam der Bayer. Er musste es sein. Wer sonst trug hier eine solche Kleidung, Trachtenjanker mit Hirschhornknöpfen? Breit und massig schob sich Gotthart durch die Drehtür, den kantigen Schädel mit dem spärlichen blonden Haar vorgereckt. Weit schlugen seine Hände im Schreiten aus. Alle denkbaren Probleme, alle Misshelligkeiten, Einwände oder Sorgen schoben diese schaufelnden Hände hinter sich wie ein Raddampfer das schmutzige Wasser eines breiten Flusses.

Jetzt erspähte er Lämmel. Er breitete die Arme aus. Lämmel ahnte es und fand es furchtbar. Gleich würde sein neuer Chef ihn an die Brust drücken, die Schulter klopfen, so, als hätte er dereinst mit Lämmel die Förmchen mit bayrischem Sand gefüllt.

‚Hüte dich vor dem!‘, dachte er. ‚Wer da so raumgreifend, so einfordernd daherkommt, der wird dir die kleinen Freiheiten, die du dir in diesem Geschäft noch bewahren konntest, vom Tisch fegen.‘

Dann sah Lämmel, dass auch Gotthart ein Linksträger war.

Gotthart umarmte Lämmel nicht. Vielmehr sagte er mit einer generösen Geste: „Bedienen Sie sich! Das Buffet ist zu empfehlen.“

„Danke, ich habe schon gefrühstückt“, rebellierte Lämmel.

Gotthart lächelte breit: „Bestens! Dann können wir gleich zum Geschäft kommen. Ein gutes Geschäft, weil es ein gegenseitiges ist. Denn wie ich Ihnen sagte: Sie sind jetzt ein Teil meiner Struktur.“

Lämmel hörte auf das rollende R in Gottharts Mundart und schwieg. Er blickte durch das Hemd seines Gegenübers hindurch, sah das Brusthaar und die kleine Narbe über der linken Warze und mutmaßte über deren Ursache.

‚Hatte sich da irgendwer aus dem Wasser des durchwühlten Flusses aufgeworfen, das Messer gezogen und war den Raddampfer angegangen?‘

Lämmel würde nicht die Beherrschung verlieren. Denn er kannte das Spiel, das er hasste und das ihn, im Augenblick allerdings schlecht, ernährte. Gotthart würde ihn jetzt loben. Das war das Prinzip der Führung freier Mitarbeiter. Doch wie würde er dies tun, jetzt, da Lämmels Verkaufserfolg gegen null ging?

Gotthart lobte: „Exzellent, ganz exzellent! Wenn ich mir Ihre persönlichen Bestleistungen ansehe.“

Er fingerte ein Papier aus der Jackentasche und strich es sorgsam glatt.

„Im vorigen Jahr waren Sie auf Platz drei der Rangliste der besten Verkäufer in der Region und im Jahr davor verfehlten Sie nur knapp das Siegerpodest. Wirklich exzellent! Für einen Quereinsteiger in diesem Geschäft ein beachtliches Resultat.“

„Wieso Quereinsteiger?“, fragte Lämmel.

Gotthart lächelte unsicher. Suchte nach der rechten Art der Formulierung und Lämmel bemerkte überrascht, dass er das Zögern sympathisch fand.

„Nun, wie mir gesagt wurde, waren Sie früher etwas, was man einen Akademiker nennt.“

Gotthart lachte, wechselte ins Bayrische und Lämmel glaubte zu verstehen, dass auch solch ein Doagaffpreiß fürs Geschäft ein Geschäft sei.

Am Frühstücksbuffet gingen die Eier aus und es bildete sich eine kleine Schlange der Unzufriedenen. Auch die schrill Lachende balancierte ungeduldig ihren Teller auf der Hand. Gotthart sprach über die Optimierung von Geschäftsabläufen, den konstruktiven Umgang mit Misserfolgen und er machte dabei reichliche Verwendung von dem Wort wir.

Dann erhob er sich und Lämmel mit ihm. Es war eine unbedachte Geste seiner Höflichkeit, denn Höflichkeit war eine von Lämmels zwei Tugenden. Gotthart streckte Lämmel seine breite Hand über den Tisch.

„Hören Sie, wir sehen uns morgen, Punkt 14 Uhr auf dem Parkplatz des Supermarktes an der Schlossstraße. Sie wissen, wo das ist?“

Lämmel bejahte und war wiederum höflich genug, nicht nach dem Grund eines solchen Termins zu fragen. Was blieb ihm auch anderes übrig, als sich von seinem neuen Chef Termine diktieren zu lassen. Denn da gab es dieses flachbrüstige Provisionskonto und es gab die kleine Frau und es gab die gemeinsame kleine Hoffnung, dass sich vielleicht alles noch wenden werde.

Am Buffet trafen neue Eier ein. Gotthart ging und Lämmel blickte ihm nach. Er betrachtete das nackte Hinterteil, den musculus gluteus maximus, der sich schwingend durch die Drehtür schob. Hinaus in die Welt, fort zu immer neuen Erfolgen.

Freitag, 14. November

Zehn Minuten vor dem verabredeten Termin parkte Lämmel sein Fahrzeug vor dem Supermarkt an der Schlossstraße, zog die Handbremse an, stieg aus, schloss ab und fröstelte. Der frühe Nachmittag dieses Tages zeigte sich novemberbleich. Lämmel war immer pünktlich oder zu früh.

Pünktlichkeit war die zweite seiner Tugenden. Beide hatte er wie zwei Koffer aus seinem alten Leben mitgebracht. Die Menge der Gepäckstücke für die Reise war streng limitiert gewesen. Vieles durfte ohnehin nicht eingeführt werden. Das Meiste musste er zurücklassen. Als er seine Koffer dann auf dieser Seite der Realität öffnete, fand er in einem von ihnen neben Pünktlichkeit und Höflichkeit auch etwas Gerechtigkeit. Die kleine Frau kletterte aus dem Koffer und strahlte ihn an. Sie hatte ihn nicht verlassen.

Lämmel sah Gotthart aus einem schwarzen Auto steigen. Die Zentralverriegelung klackte. Mit ausholenden Schritten und rudernden Armen eilte er auf ihn zu.

„Grüß Gott“, schnaufte er. „Wie lange warten Sie denn schon? Ist auch nicht wichtig. Sie sind ja da. Fangen wir an. Sie brauchen Adressen. Adressen sind Ihre Kunden von morgen, und Sie brauchen doch Kunden, oder? Ohne Kunden kein Verkauf und ohne Verkauf keine Provision, kein Geld. Geld ist zwar nicht alles im Leben, aber ohne Geld ist alles nichts.“

Lämmel nickte still. Gotthart bellte ein Lachen und klopfte Lämmel auf die Schulter. „Jetzt passen Sie mal auf! Ich habe alles vorbereitet. Hier ist eine Kladde. Hier haben Sie einen dezenten Kugelschreiber und ausreichend Fragebögen des Instituts für haushaltsnahe Dienstleistungen. Sie sind heute das Wichtigste für uns.“

Lämmel nahm den Kugelschreiber und die Kladde entgegen und klemmte die Fragebögen an ihr fest. Rechts oben auf dem grauen Umweltpapier sah er ein unbekanntes Logo und in geordneter Abfolge unter diesem einige Fragestellungen.

‚Wie viele Personen leben in Ihrem Haushalt? Wie viele Stunden verwenden Sie täglich auf die Hausarbeit? Zu beantworten in einer Skala von eins bis sechs.‘

Lämmel blickte in Gottharts erwartungsvolles Gesicht. Er wollte Zweifel äußern, unterließ es jedoch und fragte lediglich: „Was ist das für ein Institut, dieses Haushaltsinstitut?“

„Haushaltsnahe Dienstleistungen“, korrigierte Gotthart und lachte. „Nehmen Sie’s nicht zu wissenschaftlich. Es ist der Schimmel Schummel, den wir heute reiten. Auf geht’s! Kommen Sie mit, ich werde es Ihnen vormachen.“

Gotthart spähte über den Parkplatz und erblickte eine junge Frau, die soeben die Einkäufe im Kofferraum ihres Wagens verstaute. Er raddampfte ihr kraftvoll entgegen. Lämmel hörte verwundert, wie Gotthart in einen leichten Wiener Akzent glitt.

„Küss die Hand, gnä‘ Frau, ich hätte da einige wenige Fragen im Interesse der Wissenschaft. Eine Umfrage des Instituts für haushaltsnahe Dienstleistungen. Darf ich fragen, für wie viele Personen Sie den Haushalt führen?“

Das Gespräch verlief blendend. Gotthart befragte, Lämmel schrieb, der Schimmel Schummel wieherte. Gotthart war bereits dabei, sich wieder zu verabschieden. Jetzt nickte er Lämmel bedeutungsvoll zu.

„Und übrigens, gnä‘ Frau, als ein kleines Dankeschön für Ihre Unterstützung unserer Arbeit nehmen Sie an einer institutsinternen Verlosung des großen Ratgebers für den modernen Haushalt teil.“ Und ohne Unterbrechung, eine zustimmende Reaktion voraussetzend, fuhr er fort: „Wenn Sie, gnä‘ Frau, zu den glücklichen Gewinnern zählen sollten, wie kann ich Sie dann telefonisch benachrichtigen?“

Nach einem kurzen Zögern nannte ihnen die junge Frau ihre Mobilfunknummer.

„Nein, warten Sie“, unterbrach sie sich, „da habe ich wieder diesen Zahlendreher. Am Schluss kommt erst die drei und dann die zwei.“

Gotthart strahlte verständnisvoll: „Ah, gut. Ja danke, ich habe es notiert, erst die drei und dann die zwei und nach wem darf ich dann fragen?“

„Hoffmann“, sagte die junge Frau und schloss den Kofferraum, „Mandy Hoffmann, das bin ich.“

Lämmel fand, dass Mandy Hoffmanns Nacktheit etwas Besonderes hatte. Er war enttäuscht, als sie einstieg und der Stahl der Karosserie ihm in Teilen den Blick verstellte. Als sie dann ihren PKW vom Parkplatz des Supermarktes steuerte, erläuterte Gotthart die Vorzüge dieser Kundenakquise.

„Zum Ersten“, dozierte er dröhnend, „haben wir damit bereits einen persönlichen Kontakt geschaffen, der, wie Sie später noch sehen werden, die konkrete Terminvereinbarung erleichtert. Zum Zweiten besitzen wir jetzt erste Informationen über das Lebensumfeld des Kunden, wie da wären: Familiengröße, zeitlicher Umfang der Haushaltsaufwendungen und einiges mehr. Zum Dritten können wir aus dem Fahrzeug, das die Person fährt, gewisse Rückschlüsse auf das Familieneinkommen ziehen. Zum Vierten verrät uns das Kennzeichen des Wagens, ob wir vor Ort arbeiten können und nicht etwa in München oder Köln anlanden.“

Lämmel nickte und ergänzte: „Fünftens ist ein Mensch, der soeben seine Einkäufe im Kofferraum platziert, kaum fähig, sich wirksam einer schummelschimmelnden Befragung zu entziehen.“

„Das haben Sie sehr gut beobachtet“, lobte Gotthart mit schmalen Augen. „Und jetzt sind Sie auch gleich selbst dran. Zeigen Sie mal, was sie so drauf haben.“

Lämmel hatte diese Aufforderung bereits erwartet. Doch schien es ihm, als sei da noch etwas angehängt gewesen, das klang wie: ‚Hossd mi! Schleich di!‘

Lämmel zeigte, was in ihm steckte. Freundlich grüßte er die Insassen neu eintreffender Fahrzeuge, bevor er sie nach ihren Einkäufen mit seinem Fragebogen konfrontierte. Wer ihn dann floh, dem ging er nicht nach. Er wusste, dass dieses Verhalten seine Telefonliste kaum belastbarer machen würde.

Als Gotthart ihn zufrieden verließ, hatte er bereits vierundfünfzig Kontaktdaten gesammelt.

Lämmel fror. Er wartete ab, bis Gottharts Wagen nicht mehr zu sehen war. Dann startete er den Motor und entfloh der ungeliebten Stadt im Strom des sich ausdünnenden Verkehrs. Über einen sandigen Weg, entlang eines Waldes, fuhr er seinem Dorf entgegen. Es war ein mühsames Fahren. Bodenmulden, schräge Senken, der zersplitterte Ast einer Kiefer. Doch Lämmel liebte diesen Weg. Das Jahr verabschiedete sich wie die welken Blätter der Sommereichen. Der November brachte die kurzen grauen Tage. Ein trauriger Monat. Eine wunde Zeit, wenn schwarze Vögel krächzend über entleerte Felder ziehen.

Lämmel nahm eine weitere Abkürzung, eine katzenköpfige Landstraße, gesäumt von knorrigen Apfelbäumen. Er sah die Fruchtmumien in den kahlen Ästen und ermahnte sich: ‚Ich muss heraus aus dieser winterblassen Traurigkeit.‘ Er schaltete den CD-Player des Autoradios ein und glitt hinein in die Rheinische Sinfonie.

Als er den Ortsteil Neulangerwisch erreichte, überquerte er die Umgehungsstraße und folgte dem schmalen Weg, der von Holunder und Schlehen begrenzt wurde. Doch je näher er seinem Dorf kam, umso kantiger kroch der Gedanke an Dom Alfonso hervor. Wer war das? Was war er? Welches Monstrum drohte ihm im eigenen Haus mit Krieg? Guerra! Oder hatte der Feind bereits ein Verb benutzt? Guerrear, in den Krieg ziehen?

„Ich werde ihn aushungern“, flüsterte er und stellte die Rheinische leiser. „Aushungern werde ich ihn und damit aus dem Haus treiben.“

Doch Lämmel verfügte auch über hinreichende soziologische Kenntnisse, die ihn lehrten, zu welchen Exzessen Hunger und Vertreibung führen konnten. Er musste behutsam vorgehen.

Ein Krümelentzug war der richtige Schritt, doch nur, wenn er in kleinen Dosen daherkam. Er würde fortan achtsam krümeln, mit jedem Tag weniger Nahrung hinter die Leiste fegen. Denn ein plötzlicher Entzug der Nahrung versetzt den Hungernden in Wut. Der allmähliche Entzug jedoch schwächt ihn, nimmt ihm die Kraft zur Revolte und macht ein ausweichendes Verhalten wahrscheinlich. Die letzte Kraft, die der Hungerschwache findet, wird dann zur Flucht verwandt und nicht zum Aufstand.

Doch was, wenn Dom Alfonso Vorräte angelegt hatte? Stille Reserven, die den Feind über Jahre nähren würden. Lämmels Denken schrie nach Information. Er musste hinter die Leiste blicken. Papier, Pappe, diverse Stoffe zu durchdringen, das beherrschte er. Selbst unter dem Papierstapel im Kassettendeck seines Druckers sah er stets das letzte, das unterste Blatt.

Schlagartig kam ihm die Erkenntnis. Das war die Lösung, hier musste er ansetzen: am Druckerpapier!

Er parkte sein Auto vor dem Tor, stürmte ins Haus, riss den Zollstock aus der Küchenschublade, hetzte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu seinem Büro. Atemlos beugte er sich über den Drucker und legte an: Fünf komma drei Zentimeter maß er, Blatt auf Blatt, nicht mehr und nicht weniger, und darunter begann der graue glatte Grund des Kassettenbodens.

Lämmels Atem ging schwer. Er lief die Treppe hinunter und in die Küche. Er kniete sich auf das sauber gefegte Linoleum und näherte vorsichtig die Hand mit dem Zollstock darin der Leiste. Wie oft hatte sein Besen achtlos hier angeschlagen? Wie viel Wischwasser mag dort versickert sein? Wie lange mochte der Andere da schon leben? Wie viele lebten dort noch?

Lämmel ignorierte den einstechenden Schmerz im Kreuzband, schluckte und überwand sich: Er maß nach und zog die Hand schnell zurück. Seine Vermutung bestätigte sich. Die Leiste hatte eine Stärke von einem Zentimeter.

Lämmel lehnte sich an den gegenüberliegenden Unterbaukühlschrank, atmete tief durch und dachte nach, ohne jedoch die Leiste aus den Augen zu lassen.

‚Hier Zellulose im Holz und dort im Druckerpapier gleichfalls.‘

Warum konnte er das Fünffache des Papiers durchdringen, hier aber scheiterte er? Warum? Welche Bestandteile des Holzes verwehrten ihm die Sicht hinter die Leiste? Lämmel überlegte: ‚Papier enthält Zellulose, Füllstoffe und Leimsubstanzen. Und woraus besteht Holz? Also, da wären das Lignin, die Pentosane und vor allem die Zellulose. Die Harzstoffe, Terpene und das Tallöl fallen nicht ins Gewicht.‘

Lämmel schlussfolgerte, dass ihm der Holzstoff, das Lignin, die Sicht auf seinen Feind verwehrte. Doch ohne starke Säuren war dem Lignin nicht beizukommen. So ging das nicht, war sich Lämmel bewusst. Das Linoleum würde Schaden nehmen und er auch. Die kleine Frau mochte Beschädigungen nicht.

Seufzend erhob er sich. Der Schaden musste eingegrenzt werden, sich in ein notwendiges Minimum fügen. Vor allem aber blieb nicht viel Zeit. Der weiße Renault musste schon auf dem Heimweg sein. Lämmel hastete in sein Büro, fuhr den Rechner hoch und gab als Suchwort Handstreich in die Enzyklopädie ein.

„Ein Handstreich wird aus der Bewegung heraus geführt. Dabei sind das Überraschungsmoment und eine schlagartige Ausführung für den Erfolg des Handstreiches wesentlich. Dadurch können auch zahlenmäßig unterlegene Kräfte zum Erfolg kommen. Sinn und Zweck des Handstreichs ist, den Gegner zu überraschen, eine zeitliche und räumliche Überlegenheit herzustellen, ihn zu vernichten, oder ihm Verluste zuzufügen und sich vom Gegner anschließend zu lösen, bevor dieser Gegenwehr leisten kann.“1

Lämmel fand, das war die konkrete Anleitung zum Handeln. Diese Taktik sollte sein weiteres Vorgehen bestimmen. Vor allem das Überraschungsmoment und die schlagartige Ausführung des Handstreichs. Alles andere war wünschenswert, doch vorerst nicht kalkulierbar.

Lämmel verließ das Haus und eilte in den Schuppen. Er griff nach der Stabtaschenlampe und klemmte sie in den Rückenbereich seines Hosengürtels. Er hakte die Schlagbohrmaschine von der Wand, entnahm dem Wandschrank den Fünf-Zentimeter-Lochbohraufsatz und spannte ihn in die Maschine.

Ein Verlängerungskabel, das wusste er, lag im unteren Fach des Küchenschrankes. Auf dem Weg durch den Garten zum Haus wurde ihm bewusst, dass er die Bohrmaschine wie eine Maschinenpistole trug. ‚Aus größerer Distanz empfiehlt sich ein Feuern in Garben. Die Waffe ist über den gewünschten Zielpunkt hinweg von unten nach oben zu führen, wobei der Druck der führenden Hand am Schaft der Waffe dem Ausbrechen nach oben entgegenwirkt‘, erinnerte er sich.

„Ich trauere nicht um die Vergangenheit“, murmelte Lämmel, „ich betrauere den Ballast des durch sie angehäuften Wissens. Heute jedoch nicht.“

In der Küche handelte er schnell. Er verband die Schlagbohrmaschine mit dem Verlängerungskabel und dieses mit der Wandsteckdose. Dann ließ er sich auf den Boden fallen und setzte den Lochbohrer an die Fußleiste an. Knirschend fraß sich der Sägekranz ins Holz. Wölkchen aus brandigem Dampf stiegen auf. Die Maschine heulte und drehte frei. Ein schwarzes Loch von gut fünf Zentimeter Durchmesser klaffte in der Leiste. Lämmel legte die Schlagbohrmaschine neben sich und zog die Taschenlampe aus dem Gürtel. Jetzt würde der Feind ein Gesicht erhalten. Der Lichtschein der Lampe sprang in die Dunkelheit, doch erhellte sie nicht. Rauchfähnchen drehten sich am Rand des Bohrloches, spiralten auf Lämmel zu, verdichteten sich zu einem schwefelhaltigen, stinkenden, beißenden Rauch. Lämmel ließ die Lampe fallen und robbte zurück. Doch der bösartige Atem des Bohrloches folgte ihm, drang in ihn ein. Er presste die Lippen aufeinander und mühte sich, mit seinen Händen Nase und Augen abzudecken, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er griff sich an den Hals, verstrickte sich im Kabel der Bohrmaschine und erbrach sich auf den Fußboden. Als er das Bewusstsein verlor, lief ein dünner Faden gelblichen Speichels aus seinem Mund und in seinen Ohren dröhnten die derben Flüche des Dom Alfonso.

„Merda!“ (Verdammte Scheiße!), „Filho da puta!“ (Hurensohn!)

Wenig später fand ihn die kleine Frau. Ihr Entsetzen brachte Lämmel wieder zu Bewusstsein. Die kleine Frau zog die Schlagbohrmaschine unter ihm hervor, schaltete die Taschenlampe aus und beseitigte das Erbrochene. Lämmel schaute ihr zu und verschwieg ihr das Schreien in seiner Brust. Er löste das kreisrunde Segment aus dem Bohrer und drückte es in das klaffende Loch der Leiste.

Da bemerkte er den Widerspruch in seinem Verhalten. Es war die Taschenlampe. Er hätte sie nicht gebraucht.

Montag, 24. November

Die Tage gingen. Der November verblasste. Wenn Lämmel morgens in der Küche stand und das Frühstück für sich und die kleine Frau bereitete, zügelte er das Unbehagen, die Wut, die ihm den Hals schnürte und nach einem Ausbruch verlangte.

Lämmel kämpfte gegen den Drang, die Fußleiste mit einem einzigen gezielten Fußtritt zu zertrümmern. Doch er beherrschte sich. Er konnte darin auf lebenslange Übung zurückgreifen. Seinen Mitmenschen galt Lämmel als ein ausgeglichener und umgänglicher Typ. Nur die kleine Frau, die ihn durch die Jahre begleitete, ahnte wohl, wie viel Kraft es ihn kostete, sein eigentliches Wesen zurückzuhalten.

Lämmel hatte den Schaden in der Fußleiste mit einem Papierkreis überklebt und grauweiße Tünche aufgetragen. Strikt vermied er es, den eingesetzten Kreis zu berühren. Er hatte ihn nicht eingeklebt, wie es handwerklich angezeigt gewesen wäre. Denn er versuchte sich einzureden, dass er trotz seiner Niederlage einen entscheidenden Sieg errungen hatte. Der Feind sei angreifbarer geworden. Ein schneller, gezielter Schlag und das papierne Tor zur Festung würde brechen und der Feind wäre einer erneuten und diesmal erfolgreichen Attacke preisgegeben.

Doch Lämmel kannte sich selbst besser als ihm lieb war. Der wahre Grund für die halbherzige Ausführung der Reparaturen war ein anderer. Lämmel war nicht nur wütend, er hatte auch Angst.

Doch nun erinnerte er sich an Gottharts Auftrag zur Telefon­akquise. Seit der gemeinsamen Aktion vor dem Supermarkt in der Schlossstraße waren annähernd zwei Wochen vergangen, und nach Gottharts Auffassung war das die Schmerzgrenze des Vergessens. Der potentielle Kunde musste noch eine Erinnerung an das Gespräch haben, das Lämmel mit ihm auf dem Parkplatz geführt hatte. Auch sollte noch eine belastbare Erinnerung existieren an die Möglichkeit, ein Präsent, einen Gewinn zu erhalten. Neugier und Gewinnstreben, das waren die Schimmel, die Lämmel gesattelt hatte. Jetzt musste er sie auch reiten.

Er ging in sein Büro und betrachtete das Druckerpapier. Dann riss er sich zusammen, ordnete seine Unterlagen, und legte die Reihenfolge seiner Telefonate fest. Er atmete tief durch und wählte die Nummer von Mandy Hoffmann. Lämmel hörte die Wahlzeichen piepen, wartete, dachte an den Zahlendreher in Hoffmanns Nummer und auch an ihre Nacktheit und fand dann ihre Stimme angenehm, geprägt von abwartender Aufmerksamkeit. Das erleichterte die Geschäftsanbahnung. Lämmel spulte sein Programm ab, stieß auf keinerlei Widerstand und stellte deshalb schon bald die klassische Alternativfrage: „Was ist Ihnen lieber? Treffen wir uns morgen 16 Uhr oder doch lieber erst 19 Uhr zu einem kurzen Gespräch? Dann also 19 Uhr, ja. Danke und bis bald.“

Lämmel dehnte sich. War es doch eine gesicherte Erkenntnis in diesem Geschäft, dass auch der längste Weg mit dem erfolgreichen ersten Schritt begann.

Während Lämmel sich in positiven Gedanken erging, tütelte das Telefon. Er vermutete einen schnellen Rückruf von Mandy Hoffmann, eine Terminverschiebung, eine bedauernde Absage und hob ab.

„Traidor miserável! Você queria matar-me!“ (Elender Verräter! Du wolltest mich töten!)

Lämmel hörte sich hinein in die vertraute fremde Sprache, in das Zischen und Spreizen der Konsonanten und fragte kühl und beherrscht: „Was wollen Sie?“

„Quero um contrato!“ (Ich will einen Vertrag!)

„Warum?“

„Keiner von uns kann gewinnen.“

„Gut“, antworte Lämmel, „finden wir einen Kompromiss. Was schlagen Sie vor?“

„Einen Waffenstillstand.“

„Und danach?“

„Erzählen Sie mir Geschichten!“

„Geschichten?“, fragte Lämmel erstaunt. „Warum sollte ich das tun?“

„Wer redet, schießt nicht. Außerdem langweile ich mich.“

„Das interessiert mich nicht. Sie sollen einfach verschwinden!“

„Wenn mir Ihre Geschichten gefallen, dann verlasse ich dieses Haus. Es ist ohnehin ein ungastlicher Ort.“

„Stopp!“, sagte Lämmel, „Hier liegt der Hund begraben. Was Sie da vorschlagen, ist nicht akzeptabel. Ein Narr wäre ich, würde ich mich darauf einlassen.“

„Porquê?“ (Warum?)

„Ich erbringe meinen Teil der Abmachung und dann werden Sie erklären, dass meine Geschichten Ihren Ansprüchen nicht genügen und Sie bleiben einfach in meinem Haus, ungastlich oder nicht.“

„Was schlagen Sie demnach vor?“