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Vorwort

Fast siebzig Jahre nach seinem Tod ist Erwin Rommel nach wie vor der bekannteste Soldat der Deutschen Wehrmacht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden Bücher über ihn geschrieben, Bücher, die von den Heldentaten des jungen Offiziers im kaiserlichen Heer an der Isonzo-Front erzählen, von den Schlachten des »Wüstenfuchs’« um Tobruk oder vor El Alamein, von den Bemühungen des Feldmarschalls, Hitler für einen Separatfrieden im Westen zu gewinnen und schließlich vom tragischen Tod eines gebrochenen Mannes durch das Gift, das der Diktator ihm im Oktober 1944 überbringen ließ.

»Rommel – Das Ende einer Legende« ist keine weitere Biographie. Das vorliegende Buch bündelt vielmehr die wichtigsten und zugleich umstrittensten Fragen zum Thema Rommel in fünf Kapiteln. Eine solche Darstellung ermöglicht es gegenüber der chronologisch weit gestreckten Lebensschilderung, dem zeitgeschichtlich interessierten Leser Zusammenhänge deutlicher zu machen und somit ein schärfer konturiertes Bild Rommels zu zeichnen. Im Nachfolgenden sollen Antworten gegeben werden auf die Fragen nach dem Verhältnis Rommels zum Nationalsozialismus, nach dem Stellenwert seiner nordafrikanischen Operationen in Hitlers Strategie, nach seiner Bedeutung in der Kriegspropaganda, aber auch nach seiner Zugehörigkeit zum militärischen Widerstand. Ein Buch über Rommel wäre freilich unvollständig, beschäftigte es sich nicht auch mit dem Zustandekommen von Mythos und Legende, die sich seit 1945 um den Feldmarschall ranken.

Bei all dem geht es nicht so sehr darum – wie der Untertitel des Buches suggerieren mag –, ein militärisches Denkmal vom Sockel zu stoßen. Es soll auch nicht moralisierend der Zeigefinger gehoben werden, nach den Maßstäben von heute schon gar nicht. Solches wäre ebenso wohlfeil, wie das inzwischen gängige Unterfangen, Geschichte, besonders wenn es sich um die des Dritten Reiches handelt, vom Ende her zu betrachten und dieses als zwangsläufige Folge des Anfangs anzusehen. Damit mag man Vorurteile oder gar Weltanschauungen untermauern, historischen Figuren gerecht wird man damit nicht.

In diesem Buch soll nüchtern berichtet werden, wie es gewesen ist, stets geleitet von dem Bewußtsein, daß die Protagonisten der Geschichte und ihr Handeln immer nur aus ihrer Zeit heraus verstanden werden können. Auch Rommel ist ein Kind seiner Epoche, das Produkt seiner Generation und den Denk- und Verhaltensmustern der damaligen militärischen Führungsschicht verhaftet. Dies bedingte Zwänge, die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar sind, aber dennoch existierten und Entscheidungen mitunter zur inneren Zerreißprobe machten. Und es gibt noch etwas, das nicht übersehen werden darf: Die dem Menschen eigene Unzulänglichkeit, seine Widersprüche, aber auch seine Träume und Illusionen, seine Verführbarkeit und Selbsttäuschung.

Ralf Georg Reuth

Berlin, im Sommer 2012

1. Kapitel

Hitlers General

Es war im Spätsommer des Jahres 1934, als Rommel erstmals Hitler begegnete. Der »Führer« war anläßlich des Reichsbauerntages nach Goslar gekommen, wo Rommel als Kommandeur eines Jägerbataillons diente. Auf dem Platz vor der alten Kaiserpfalz schritten sie nebeneinander die von Rommels Bataillon gestellte Ehrenformation ab: der Offizier mit der strengen Dienst- und Pflichtauffassung und sein Oberbefehlshaber, ein Vabanque spielender Besessener, hinter dessen vordergründiger Revisionspolitik sich wahnwitzige, rassenideologisch motivierte Welteroberungspläne verbargen. So verschieden Rommel und Hitler auch sein mochten, so gab es doch auch viel Verbindendes im Leben beider Männer, die an jenem Tag gewiß nicht ahnten, wie nahe sie das Schicksal noch zusammenführen sollte.

Die Weltkriegsteilnehmer

Der Major und der Reichskanzler gehörten ein und derselben Generation an. Als Jahrgang 1891 beziehungsweise 1889 waren sie in eine Zeit hineingeboren worden, in der Europa ganz im Banne eines überbordenden Nationalismus stand. Überall bekannten sich die Menschen leidenschaftlich zu ihrer nationalen Identität, suchten nach ihren gemeinsamen Wurzeln und überhöhten sich als völkische Gemeinschaften. Am ausgeprägtesten war dies zwangsläufig dort, wo man wie in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie mit vielen Völkerschaften in einem Staatsverbund hatte leben müssen. Wohl auch deshalb träumte Hitler schon in Wiener Jahren von einem großen Nationalstaat aller Deutschen, das hieß von einem Zusammenschluß Deutsch-Österreichs mit dem Deutschen Reich, das 1871 von Bismarck aus einem Flickenteppich deutscher Staaten – darunter auch Württemberg, die Heimat Rommels – zusammengeführt worden war.

Neben dem Nationalismus prägte der Imperialismus die Zeit, in der Rommel und Hitler aufwuchsen. Anders als die durch ihr Vielvölkerproblem anachronistisch gewordene Habsburgermonarchie, die nur noch um die Aufrechterhaltung ihrer kontinentaleuropäischen Großmachtrolle rang, unterließ das vor Kraft strotzende Deutsche Reich keine Anstrengung, um in die Reihe der imperialen Mächte aufzurücken. Entsprechend hoch war auch der Stellenwert alles Militärischen. Nachdem vom Heer der Weg zur Reichsgründung erkämpft worden war, sollte – als Wilhelm II. das Ruder in die Hand genommen hatte – eine starke Überseeflotte Deutschlands »Platz an der Sonne« sichern, den andere, wie etwa Großbritannien oder Frankreich, schon längst besaßen.

Mitzuwirken bei der Verwirklichung dieses Ziels, dessen verspätete Reklamation durch eine regelrechte Sendungsideologie von der Überlegenheit des »deutschen Wesens« kompensiert zu werden schien, wurde von den allermeisten Deutschen als patriotische Pflicht empfunden. Der Traum vom deutschen Imperium, der die übrigen Mächte auf einen unversöhnlichen Kurs gegen das Reich bringen sollte, wirkte wie Opium für die Nation und übertünchte den latent schwelenden Konflikt zwischen dem Obrigkeitsstaat mit seinem überlebten Drei-Klassen-Wahlrecht und den arbeitenden unterprivilegierten Massen.

Wie im Rausch taumelte dann die Nation im August 1914 in den Krieg. Was von den Mächtigen in den europäischen Hauptstädten – auch in Berlin – letztendlich niemand wollte, was durch einen tödlichen Automatismus von Mobilmachung auf Mobilmachung in Gang gesetzt worden war und was sich schließlich zu einem Weltkrieg auswuchs, wurde von den Menschen als Erlösung empfunden. Das Deutsche Reich würde nun seine Ketten sprengen, würde sich aus seiner einengenden europäischen Mittellage befreien und zu nie gekannter Größe emporsteigen, glaubte man in der Gewißheit eines kurzen siegreichen Krieges. Romantische Vorstellungen von unvergänglichem Schlachtenruhm und Heldentum, wie sie aus den weit zurückliegenden Waffengängen des Krieges 1870/71 herrührten, verstellten den Blick auf das Kommende, auf Vernichtung und Massensterben, wie sie der Krieg in der inzwischen technisierten und industrialisierten Welt mit sich bringen würde.

So zog eine ganze Generation letztendlich nichts ahnender, erlebnishungriger junger Männer – gefeiert von der Heimat – in einen alle Vorstellungskraft sprengenden Krieg, der sie entscheidend prägen sollte. Zu ihnen gehörte der junge Leutnant und Zugführer Rommel, dessen Infanterieregiment »König Wilhelm I.«, Nr. 124, im oberschwäbischen Weingarten stationiert war. »Das ist ein Leuchten vor Freude, Begeisterung und Tatendrang in all den jungen Gesichtern. Gibt es etwas Schöneres, als an der Spitze solcher Soldaten gegen den Feind zu ziehen«, beschrieb Rommel die Stimmung in der Kaserne am 1. August, ehe er den Auszug seiner Musketiere schilderte: Am darauffolgenden Abend sei das Regiment mit »klingendem Spiel und strammem Tritt aus der Garnisonsstadt zur Verladung nach Ravensburg (marschiert). Zu Tausenden geht die Bevölkerung mit. Endlose Militärzüge rollen bereits mit kurzen zeitlichen Abständen der bedrohten Westgrenze zu. Unter nicht enden wollenden Hurrarufen fährt das Regiment bei einbrechender Nacht ab.« [1]

Mit dabei war auch der ehemalige Obdachlosenasylbewohner Hitler, dem der Krieg zur willkommenen Möglichkeit wurde, sein gescheitertes Leben hinter sich zurückzulassen. Trotz seiner österreichischen Staatsangehörigkeit war es ihm gelungen, als Freiwilliger ins 16. Bayerische Infanterieregiment aufgenommen zu werden, mit dem er in der zweiten Oktoberhälfte 1914 an die Westfront verlegt wurde. Die »unvergeßlichste und größte Zeit seines irdischen Lebens« hätte nun begonnen, meinte Hitler, der davon überzeugt war, daß gegenüber den Ereignissen dieses »gewaltigen Ringens« alles Dagewesene in »schales Nichts« zurückgefallen sei. [2]

Mit welcher naiven Erwartungshaltung, mit welchem Idealismus junge Männer wie Rommel und Hitler ins Feld zogen, zeigen ihre weiteren Selbstzeugnisse. Rommel berichtete, daß er befürchtet habe, zum ersten Gefecht zu spät zu kommen. Hitler schrieb in Mein Kampf von seiner erwartungsfrohen Zugfahrt mit begeisterten bayerischen Infanteristen den Rhein entlang und dann gen Westen: »Eine einzige Sorge quälte mich in dieser Zeit, mich wie so viele andere, ob wir nicht zu spät zur Front kommen würden. Dies alleine ließ mich oft und oft nicht Ruhe finden (…).« [3]

Die Konfrontation jenes Idealismus mit der grausamen Wirklichkeit des Krieges, wie sie im aufopfernden und ebenso verlustreichen Einsatz der deutschen Studentenregimenter auf dem Schlachtfeld von Langemarck zum Symbol werden sollte, verschweißte Millionen Soldaten zu einer Schicksalsgemeinschaft. Das elementare Erleben des Krieges, der allgegenwärtige Tod, ob von Rommels Kameraden beim Vormarsch seiner Weingartener Musketiere in Richtung Maas im Herbst 1914 oder in dem »Stahlgewitter« der ersten Ypernschlacht, die Hitler durchlitt, entrückten Klassenschranken und gesellschaftlichen Dünkel zu Ritualen einer anderen Welt. Nur noch in der Gemeinschaft war man stark, brachte man leichter die Todesverachtung auf, wenn etwa beim Sturmangriff über Flanderns Feldern, wie Hitler im Nachhinein schrieb, die »eisernen Grüße über unsere Köpfe uns entgegenzischten« [4].

Beide Männer hielten jedoch nicht nur durch, ja bewährten sich Jahr für Jahr. Mehr noch: Sie legten eine außerordentliche Tapferkeit an den Tag – und dies, obwohl zunächst nichts darauf hinzudeuten schien. Hitler – so hatte die K. und K.-Musterungskommission in Salzburg im Februar 1914 festgestellt – sei »zum Waffen- und Hilfsdienst untauglich« [5]. Und auch die militärische Laufbahn des im schwäbischen Heidenheim als Sohn eines Oberrealschullehrers geborenen Erwin Eugen Rommel hatte weiß Gott nicht vielversprechend begonnen. Nur widerstrebend, auf Veranlassung seines strengen Vaters hin, hatte sich der 18 Jahre alte Schüler des Realgymnasiums Schwäbisch Gmünd beim kaiserlichen Heer, bei Artillerie, Pionieren und Infanterie beworben. Artillerie und Pioniere lehnten ab, die Infanterie nahm ihn. Mitte Juli 1910 trat er in das Weingartener Infanterieregiment ein. Im März des darauffolgenden Jahres wurde er zur Königlichen Kriegsschule in Danzig abkommandiert, wo er während der folgenden neun Monate einen Offizierslehrgang absolvierte. Der ihn zum Abschluß beurteilende Ausbildungsleiter glaubte, in Erwin Rommel einen »durchschnittlichen« Soldaten vor sich zu haben. »Militärisch brauchbar« und »geistig genügend veranlagt« sei er, hieß es in seinem Abgangszeugnis lapidar. Was jedoch schon den Ausbildern an der Kriegsschule auffiel, waren sein Eifer, seine »strenge Dienstauffassung« und insbesondere seine immer wieder in seinen Beurteilungen hervorgehobene »große Willenskraft«. [6]

Diese Willenskraft war es auch, die Rommel im Weltkrieg als einen hervorragenden Truppenoffizier ausweisen sollte. Schon als Zugführer tat er sich bei den erbitterten Kämpfen in den Argonnen hervor, in denen sich die württembergischen Regimenter unter General Mudra einen besonderen Ruf erwarben. In seinen in den dreißiger Jahren niedergeschriebenen und schließlich als Buch unter dem Titel Infanterie greift an veröffentlichten Gefechtsberichten schilderte Rommel den erbitterten Kampf – und seine unverbrüchliche Entschlossenheit, »niemals« vor dem Feind zu weichen. So schrieb er über ein Gefecht, das Ende September 1914 in der Nähe von Varennes stattfand: »Ein Häuflein meiner ehemaligen Rekruten prescht mit mir durchs Unterholz. Wieder schießt der Feind wie rasend. Da – endlich! – sehe ich kaum zwanzig Schritt vor mir fünf Franzosen. Sie schießen stehend freihändig. Im Nu liegt mein Gewehr an der Backe. Zwei hintereinanderstehende Franzosen stürzen, als mein Schuß kracht. Ich schieße wieder. Der Schuß versagt. Rasch reiße ich die Kammer auf. Sie ist leer. Zum Laden ist angesichts des nahen Gegners keine Zeit, eine Deckung ist in unmittelbarer Nähe nicht vorhanden. Zurückweichen kommt nicht in Frage. Die einzige Möglichkeit sehe ich im Bajonett. (…) Als ich vorstürme, schießen die Gegner. Von einer Kugel getroffen überschlage ich mich und liege nun ein paar Schritt vor den Füßen der Feinde. Ein Querschläger hat mir den linken Oberschenkel zerfetzt. Blut spritzt aus einer faustgroßen Wunde. Jede Sekunde erwarte ich einen Schuß oder den Todesstoß. Minutenlang liege ich zwischen den Fronten. Endlich brechen meine Männer erneut mit Hurra durchs Gebüsch, der Feind weicht.« [7]

Im Oktober 1915 trat Rommel als Kompanieführer zu dem neu aufgestellten württembergischen Gebirgsbataillon, das in den Hochvogesen gegen französische Alpenjäger seine Feuertaufe erhielt und in der Folgezeit überall dort eingesetzt wurde, wo im Gebirgskrieg die Angriffskraft dieser Elitetruppe gebraucht wurde: im Sommer 1917 in den Waldkarpaten, wo Rommel und seine Männer am Gebirgszug des Cosna gegen die Rumänen kämpften, und schließlich im Oktober desselben Jahres an der Isonzofront. In elf blutigen Schlachten, die dort seit dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 stattgefunden hatten, war es dem Gegner gelungen, die Österreicher langsam aber stetig zurückzudrängen. In einer zwölften Isonzoschlacht sollte nun eine neu aufgestellte deutsche Armee die Italiener wieder über die Reichsgrenze bis Tagliamento zurückwerfen.

Seine »heroische Lebensauffassung«, wie sie ihm attestiert wurde, ließ Rommel spätestens in diesem Kampf zum Kriegshelden werden. Schon Anfang 1914 hatte er als erster Leutnant im Regiment das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten. Nun zeichnete ihn der Kaiser mit dem Pour-le-Mérite aus. Infolge der siegreichen Durchbruchsschlacht bei Tolmein im Oktober 1917 hatte Rommel, der mit seinen Gebirgsschützen eine der Angriffsspitzen des Deutschen Alpenkorps bildete, nämlich in einer gewaltigen Willensleistung zwei Tage nach Beginn der Offensive das beherrschende 1600 Meter hohe Massiv des Monte Matajur südwestlich Caporetto erobert. In ununterbrochenem Kampf in vorderster Linie überwand die Abteilung Rommel – »schwere MG auf den Schultern tragend – einen Höhenunterschied von 2400 m hangaufwärts und 800 m hangabwärts und legten eine Strecke von 18 km Luftlinie durch eine einzigartig feindliche Bergfestung zurück« [8]. Die nur vier Kompanien zählende Kampfgruppe überwältigte dabei – stets unter Ausnutzung des Überraschungseffekts – fünf italienische Regimenter, ehe sie den strategisch wichtigen Gipfel erreichte. »Um 11.40 Uhr des 26. Oktober 1917«, so schrieb Rommel in seinem Buch, »verkünden drei grüne und eine weiße Leuchtkugel, daß das Matajurmassiv gefallen ist.« [9]

Kurz darauf schnitt er zurückweichenden italienischen Verbänden den Weg ab und nahm an der Spitze eines Stoßtrupps das operativ wichtige Piave-Dorf Longarone. Bei der Attacke hatte er mehr als 8000 italienische Gefangene eingebracht und sich einmal mehr als kühn entschlossener, aber auch kluger Truppenführer unter Beweis gestellt. Rommel sei von einer »leuchtenden Tapferkeit« gewesen, schrieb einer seiner Offizierkameraden. »Er besaß trotz größter Strapazen scheinbar unerschöpfliche Kraft und Frische (…), eine Einfühlungsfähigkeit in das Wesen des Gegners und seine mutmaßliche Reaktion. Seine Planungen waren oft überraschend, intuitiv, spontan und nicht ohne weiteres durchsichtig (…). Gefahr schien es für ihn nicht zu geben.« [10]

Von einem Stab im Reich aus verfolgte Rommel als Oberleutnant ab Januar 1918 die kriegsentscheidenden Schlachten an der Westfront. An dieser kämpfte der Gefreite Hitler, dessen außerordentlicher Wagemut schon früh seinen Vorgesetzten aufgefallen war, bei Montdidier-Nayons im Zuge der letzten deutschen Offensive zwischen Soissons und Reims, die die kaiserlichen Truppen noch einmal bis 60 Kilometer vor Paris brachte. Im August wurde der Meldeläufer auf Vorschlag eines jüdischen Offiziers mit dem für Mannschaftsdienstgrade seltenen Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Im Regimentsbefehl wurde lobend erwähnt, daß er in einer besonders schwierigen Situation wichtige Meldungen vom Regimentsgefechtsstand nach vorne zur Truppe gebracht hatte.

Vier Jahre entbehrungsreichstes Leben lagen zu diesem Zeitpunkt hinter dem Gefreiten, der 1916 an der Somme-Schlacht, 1917 an der Frühjahrsschlacht bei Arras teilgenommen und im Herbst desselben Jahres am verbissen umkämpften Chemin des Dames südlich von Ypern gekämpft hatte. Wie auch Rommel hatte der »ruhige, etwas unmilitärisch aussehende« Mann, dem der Soldatenrock »das heiligste und teuerste« [11] war, dabei einen unbändigen Willen aufgebracht, sein Dasein als Meldegänger mit der so geringen Lebenserwartung zu bewältigen. Wie auch Rommel hatte ihm der allgegenwärtige Tod jene Schicksalsgläubigkeit vermittelt, die den pathetischen Irrationalismus der Generation prägte.

Beider Mut und Kaltschnäuzigkeit, mit denen sie sich in heftigstem Feuer bewegten, hatten ihnen unter den Kameraden eine Art Nimbus eingebracht. Rommel hielten die Kameraden für kugelfest. Sie führten dies auf sein »Fingerspitzengefühl« zurück, auf seinen sechsten Sinn, genau im voraus zu wissen was der Gegner tun würde. Vom Gefreiten Hitler andererseits pflegten seine Kameraden sogar zu sagen, »ist Hitler dabei, passiert uns nichts« [12].

Rommel und Hitler wiederum hatten aus der Erfahrung der Kriegsjahre, während derer sie zwar mehrmals verwundet worden waren, aber Dutzende Male nur um Haaresbreite dem Tod entgingen, für sich den Schluß gezogen, irgendwie unter dem Schutz des Allmächtigen stehen zu müssen. Bei Hitler gründeten hierin die Triebkräfte seines späteren Sendungsbewußtseins, bei Rommel eine in Ansätzen irrationale Überbewertung taktischer Möglichkeiten als Truppenführer. Gemeinsam war ihnen die trügerische Erfahrung, daß der Wille letztendlich alles entscheidend sei. Das Fronterlebnis hatte sie demnach zu dem gemacht, was sie waren. Kurzum: Der Krieg war ihr Leben. Und das Heer ihre Heimat. »Ohne das Heer wären wir alle nicht da«, schrieb Hitler einmal.

Die Folgerungen

Jäh war für Soldaten wie Hitler und Rommel der Schock, als im November 1918 der Krieg so plötzlich mit der Niederlage des Reiches und der Revolution endete. Nach vier Jahren Kampf fiel die so »ruhmreiche Armee«, in der sie gedient hatten und die ihnen zur Heimat geworden war, auseinander. Nichts schien von jener großen vaterländischen Solidarität übriggeblieben zu sein, wie sie im Schützengraben über Klassenschranken hinweg erlebt und gelebt worden war. Statt dessen standen die Männer, deren Auszeichnungen jetzt nicht mehr als das Blech wert zu sein schienen, aus dem sie gestanzt worden waren, vor der niederschmetternden Erkenntnis, daß alles vergeblich gewesen war. »Es war also alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, und vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben«, hatte Hitler in Mein Kampf geschrieben und damit die Empfindung einer ganzen Generation wiedergegeben. [13]

Etwas Ungeheuerliches, etwas Unbegreifliches mußte geschehen sein, standen doch die deutschen Armeen noch tief im Feindesland, als die allmächtigen Militärs die Verantwortung der Politik übertrugen und mit Matthias Erzberger ein Vertreter der neuen Reichsregierung im Wald von Compiègne einen schmachvollen Waffenstillstand unterzeichnete, der einer Kapitulation gleichkam. Man hatte sich nicht eingestehen können, daß die Überlegenheit des Feindes nach dem Kriegseintritt Amerikas erdrückend geworden war. Und man hatte auch nicht wahrgenommen, daß die Widerstandskraft der Heimatfront fast erloschen war und die dort herrschende Not den alten, verdeckten Klassenkonflikt – aufgeheizt durch die Revolution in Rußland – in aller Schärfe hatte aufbrechen lassen.

Besonders diejenigen, die jahrelang an den Fronten hatten ausharren müssen und nun in eine ihnen fremdgewordene, vom Bürgerkrieg heimgesuchte und in scheinbarer Auflösung befindliche Welt zurückkehrten, standen vor dem Nichts. Wie die Betrogenen suchten sie nach dem Schuldigen. Das Heer, in dem sie gedient hatten, konnte es nicht sein, weil es nicht sein durfte. Sie fanden diesen Schuldigen schließlich in den roten Revolutionären, aber auch in den demokratischen Kräften, also in denen, die die alte monarchische Ordnung beseitigt und – was noch gewichtiger war – den Stellenwert des Heeres herabgewürdigt hatten. Daß dabei die Mehrheitssozialdemokraten eine erbitterte Auseinandersetzung mit denen führten, die ihr Ziel darin sahen, aus Deutschland eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild zu machen, kümmerte aus diesem Blickwinkel recht wenig. Dem undifferenzierten Vorurteil vieler Zurückkehrender, aber auch Millionen anderer national gesinnter Deutscher zufolge war es schlicht deren gemeinsamer Verrat gewesen, der in die Katastrophe geführt hatte. Der »Dolchstoß in den Rücken der Front«, den es nie gegeben hatte, wurde für Hitler früh zu einer seiner »letzten Wahrheiten«, die – nachdem sie im rechten Lager zum Gemeingut geworden war – auch den politisch uninteressierten Rommel erreichte.

Für beide Männer – wie für ihre ganze Generation – wirkte der vermeintliche Verrat und die tatsächliche Zerrissenheit des Volkes traumatisch nach, insbesondere auch deshalb, weil die Republik, die der Mehrheitssozialdemokrat Scheidemann ausgerufen hatte, von vornherein den verderblichen Spaltpilz in sich zu tragen schien. Aus dem Blickwinkel des Erlebens der Schützengrabengemeinschaft kämpfte in dieser Republik jeder gegen jeden. Die Bürgerkriegswirren der unmittelbaren Nachkriegszeit schienen dies auch Rommel und Hitler nachhaltig unter Beweis zu stellen. Dies war um so mehr der Fall, da beide diese aus unmittelbarer Nähe erlebten. Rommel führte 1919 seine Kompanie in einen unblutig verlaufenden Einsatz gegen Rote Räte in Lindau. Später wurde er vorübergehend auch ins Ruhrgebiet entsandt, wo eine Rote Armee für Unruhen sorgte. Hitler erlebte als Angehöriger der Münchner Garnison die erste und zweite Bayerische Räterepublik und deren Niederschlagung durch Reichswehr und Freikorps. Die Geschlossenheit der Nation wurde daher nicht nur für diese beiden Männer zum entscheidenden Vermächtnis des Weltkrieges – ein Vermächtnis, das Rommel noch im Jahre 1944 beschwor, als er zu einem Kameraden meinte, daß dafür Sorge getragen werden müsse, daß sich die Spaltung der Nation in der neuerlichen Niederlage nicht wiederholen dürfe.

Im Revolutionsjahr 1919, als die Siegermächte des Weltkrieges dem Reich mit dem Versailler Vertrag Gebietsabtretungen und maßlose Reparationen auferlegten, als der Bolschewismus einer Krake gleich von Osten her nach Mitteleuropa auszugreifen schien und sich in der notleidenden deutschen Bevölkerung die Untergangsstimmung ausbreitete, begann Hitlers Weg in die Politik, die für ihn nichts anderes War als die Fortsetzung des Weltkrieges. Unter dem Einfluß und der Steuerung völkischer Sektiererzirkel, die als »Drahtzieher« hinter Bolschewismus und Revolution, aber auch hinter dem Versailler Diktat das »Internationale Judentum« auszumachen glaubten, sollte er sich fortan mit dem gleichen Willen, den er bereits an der Front unter Beweis gestellt hatte, diesem Kampf gegen den »globalen Feind« verschreiben. Dessen Ziel sollte es sein, Deutschland, ja Europa und letztendlich den ganzen Erdkreis vor der »jüdischen Weltverschwörung«, die aus seiner Sicht das Reich ins Unglück gestürzt hatte, zu retten. Seine rassenideologische Obsession wurde schließlich zur Triebfeder eines Mitte der zwanziger Jahre konzipierten politischen Programms, das er in zwei Bänden seines »Kampf-Buches« und einer weiteren, nie veröffentlichten Schrift zu Papier brachte.

Auf der Grundlage des während des Weltkrieges und der Zeit danach Erfahrenen schrieb Hitler von einer eng verschweißten Volksgemeinschaft, in der es keinen gesellschaftlichen Dünkel mehr geben sollte und in der sich jeder Volksgenosse mit dem Vaterland identifizieren konnte. Dem lag nicht zuletzt auch die Erkenntnis zugrunde, daß es die alte Ordnung des Kaiserreiches gewesen war, die sich als überlebt erwiesen hatte. Die aristokratische Führungsschicht, die ebenso überheblich wie ahnungslos auf ihre althergebrachten Positionen beharrte, hatte spätestens im Weltkrieg versagt. »Ich würde für diese Gefallenen ihre Führer verantwortlich machen«, hatte Hitler hie und da schon gegenüber verblüfften Kameraden im Schützengraben gesagt. [14]

Eine »moderne«, dem Räderwerk einer Maschine ähnelnde, gleichgeschaltete Gesellschaft aus reinrassischen, dem Daseins- und »Rassenkampf« gegen den »jüdischen Weltfeind« gewachsenen, nordischen Menschen wollte Hitler an die Stelle des Alten setzen. Diese »moderne Gesellschaft«, in der für Schwache, »Unwerte« und vor allem für Juden kein Platz mehr sein sollte, galt es nach einem festen Programm in die Lage zu versetzen, Deutschland einen der vordersten Plätze unter den Nationen im »ewigwährenden Völkerringen« zu erkämpfen. Denn auch hier gaben die Evolutionsgesetze seiner Auffassung zufolge dem Starken das »Recht«, auf Kosten des Schwächeren zu expandieren. Auch die Konkretisierung dieser künftigen Expansion nach Osten gegen die Sowjetunion war eine Folgerung aus den Fehlern des Kaiserreiches, als dessen schwerwiegendsten er den Aufbau einer starken Kriegsflotte und der damit einhergehenden Rivalität zu Großbritannien ansah, das er sich zum Partner wünschte.

Von jenem Konstrukt des österreichischen Weltkriegsgefreiten hatte Rommel in den zwanziger Jahren so gut wie nichts erfahren. Hitler war aus der Sicht des Bürgertums und der Reichswehrkreise einer der völkisch-antisemitischen Sektierer, die man nicht ernst nahm. Entsprechend unbeachtet blieb auch dessen Kampf-Buch, das Rommel zeit seines Lebens nicht gelesen haben dürfte. Zwar hatte auch er die Demütigungen der Nation infolge der Niederlage verinnerlicht – insbesondere das als »Schmach für das Vaterland« empfundene »Diktat von Versailles«, das mit seinem Kriegsschuldartikel der einst so ruhmreichen Armee die moralische Integrität absprach und diese obendrein auf einen Torso von 100 000 Mann reduziert hatte.

Die exaltierte Zuspitzung, die Verschwörungstheorie, wie sie dem manischen Wesen Hitlers eigen schien, war Rommels Sache nicht. Er gehörte auch nicht zu den hoffnungs- und perspektivlosen Habenichtsen, die sich von dem Mann mit dem Oberlippenbart Heil und Erlösung versprachen. Rommel war ja Soldat geblieben und ihm blieb damit der Kampf ums Durchkommen erspart. Im Oktober 1920 – ein halbes Jahr nachdem Hitler aus dem Heer ausgeschieden war – übernahm er eine Schützenkompanie des 13. Infanterieregiments in Stuttgart, deren Chef er bis 1929 blieb. In der Abgeschiedenheit des soldatischen Lebens und fernab jeglicher Politik zehrte der stille und bescheidene Mann von seinen Erinnerungen an den Weltkrieg, von Kameradschaft, Sieg und persönlicher Karriere. Im Jahre 1927 hatte er mit seiner Frau Lucie, die er im Kriege geheiratet hatte, noch einmal die Schlachtfelder an Isonzo und Piave, die Orte seiner Heldentaten, besucht.

Die Welt vor dem Kasernentor war nicht die seine. Er befand sich damit ganz und gar in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der Reichswehr. Nach dem Willen ihrer Führung unter dem Chef der Heeresleitung, von Seeckt, hatte eine Auseinandersetzung mit den Strömungen der Zeit ohnehin nicht stattzufinden. Seeckt hielt eine eisige Distanz zum Parteienstreit und strebte eine disziplinierte, unpolitische Armee preußischer Tradition an. Eine politische Betätigung jeder Art war den Soldaten daher strikt untersagt. Politische Kämpfe innerhalb der Reichswehr würden sich weder mit dem Geist der Kameradschaft noch mit der Disziplin vertragen und könnten die militärische Ausbildung nur schädigen, hatte von Seeckt im April 1920 in seinem ersten Tagesbefehl als Chef der Heeresleitung an das Offizierskorps geschrieben. Dahinter verbarg sich freilich auch die Haltung, daß der Staat, der 1918 dem Offizier die Achselstücke von den Schultern gerissen hatte, nicht der Staat des deutschen Soldaten war.

Doch auch Hauptmann Rommel hatte seine Lehren aus dem verlorenen Weltkrieg gezogen. Da er die Schlachtfelder und Kasernenhöfe nie verlassen hatte, beschränkten sich diese Lehren ganz auf das Militärische. Man habe ein militärisches Dogma bis ins geringste Detail durchkonstruiert – schrieb er – und dies »für die Spitze aller militärischen Weisheit« gehalten. »So wertvoll auf dem Gebiet der soldatischen Ethik die Anknüpfung an Traditionen ist, so sehr ist eine solche in der militärischen Führung abzulehnen, denn es bleibt in unseren Tagen nicht nur den militärischen Führern überlassen, neue Methoden zu ersinnen und damit andere wertlos zu machen, sondern die Möglichkeiten der Kriegführung werden laufend vom technischen Fortschritt verändert.« [15] Die in den Fragen der Heeresorganisation dem Althergebrachten verpflichtete Denkart des aristokratischen Offizierskorps blockierte, nach Rommels Auffassung, eine zeitgemäße Umsetzung der Weltkriegserfahrungen.

Überhaupt störte ihn die dominierende Rolle des Adels, jener Männer, die – seiner Auffassung zufolge – oft nur durch bloße Herkunft und weniger durch Leistungen auf dem Schlachtfeld in die Generalstäbe gelangt waren. Im ersten industrialisierten Kriege demotivierten, nach Rommels Ansicht, ihre Privilegien den gemeinen Soldaten oder den bürgerlichen Offizier, denen die höchsten Sprossen der militärischen Karriereleiter versperrt geblieben waren. Im modernen Krieg kam es jedoch auf jeden einzelnen an. Erst das reibungslose Zusammenwirken von Führern und Geführten konnte den Erfolg bescheiden. Um dies zu gewährleisten, bedurfte es – wovon Rommel überzeugt war – einer sozialen Mobilität im Heer, die es im Ersten Weltkrieg so nicht gegeben hatte.

Den Aristokraten, denen es gelungen war, ihre Privilegien vom Heer des Kaiserreiches in das der Republik hinüberzuretten – jeder vierte Angehörige der Reichswehr war von Adel –, gab Rommel deshalb neben dem vermeintlichen Verrat der »Heimatfront« eine Teilverantwortung für die Niederlage im Weltkrieg. Entsprechend ablehnend stand er jenen Kreisen gegenüber – eine Haltung, die in dem dreißig Jahre währenden Briefwechsel mit seiner Frau immer wieder zum Ausdruck kam.

Neben dem Nationalismus auf Modernität und Sozialismus gründete demnach nicht nur die politische Programmatik des in Deutschland zunehmend bekannter werdenden Hitler, sondern auch Rommel sah in der Übertragung jener Denkkategorien die Voraussetzung für eine schlagkräftige und damit zukunftsfähige deutsche Armee. Zu diesen Übereinstimmungen, die die spätere Annäherung besonders der jüngeren, nicht aristokratischen Weltkriegsoffiziere der Reichswehr an Hitler erleichterte, kam noch die scheinbar gleiche revisionistische Zielsetzung, die zusätzlich verband: die Revanche für 1914/18.

Daß diese große Revanche eines fernen Tages kommen würde, davon ging Rommel wie viele seiner Kameraden aus. Dies war um so verständlicher, als für das Offizierskorps Krieg die Abwesenheit von Politik war. Der Krieg war für sie also legitim, allemal wenn es um die Zukunftssicherung der Nation ging, die durch den Diktatfrieden ein Siebtel ihres Hoheitsgebietes und sämtliche Kolonien verloren hatte, der massive Eingriffe in ihre wirtschaftlichen Lebensgrundlagen nicht erspart geblieben waren und – was weitaus schwerer nachwirkte – die gedemütigt worden war. Im Schlußwort seines Buches Infanterie greift an schrieb Rommel über die Verpflichtung, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergab. Einem Appell gleich heißt es dort, daß »die deutschen Schützen, die den Weg treuester Pflichterfüllung für Volk und Heimat bis zum bitteren Ende gegangen sind«, stets »uns Überlebende und die kommenden Geschlechter (mahnen), ihnen nicht nachzustehen, wenn es gilt, Opfer zu bringen für Deutschland.« [16]

Die Annäherung

Als Hitler und seine NSDAP in den frühen dreißiger Jahren der Macht entgegenstrebte, diente Rommel im Range eines Hauptmanns als Taktiklehrer der Dresdener Infanterieschule. Auch der unpolitische Offizier sah seine Vorurteile gegenüber dem ungeliebten Parteienstaat bestätigt, denn dieser würde mit den Herausforderungen der Zeit, wie sie sich mit Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit stellten, nicht fertig werden. Wie schon nach 1918 riß die Polarisierung der Politik einen tiefen Graben in der Gesellschaft auf. Wieder drohte das Schreckgespenst des Bürgerkrieges, den die sich häufenden Bluttaten zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten bereits anzukündigen schienen. Längst war Seeckts Reichswehr der Republik entglitten. Die sich zunehmend selbst isolierende, teilweise wehrfeindliche Sozialdemokratie, die nur noch Brüning, den Kanzler der Präsidialkabinette, tolerierte, hatte sie nach rechts gestoßen. Das Hunderttausend-Mann-Heer und der von ihm vielverehrte alte Feldmarschall des Weltkrieges, der Reichspräsident von Hindenburg, wähnten sich jedoch zu schwach, »um die verfassungsmäßige Ordnung gegen Nationalsozialisten und Kommunisten aufrechtzuerhalten und die Grenzen zu schützen«, wie es in einer Heeresstudie hieß. [17] Infolge finsterer Intrigen wollten es ein übertölpelter greiser Reichspräsident und die Reichswehrführung mit einem »eingerahmten« Hitler, mit dem Gefreiten, auf den sie herabsahen, dann doch einmal versuchen.

Dessen Ankündigung, eine »autoritäre Staatsführung« errichten, den »Krebsschaden der Demokratie« beseitigen und den Marxismus mit »Stumpf und Stiel« ausrotten zu wollen, stieß, nachdem ihm die Macht übergeben worden war, in der Reichswehr auf uneingeschränkte Zustimmung. Mit Genugtuung war dort aber vor allem Hitlers erneut bekräftigte Absicht registriert worden, Versailles revidieren und das Reich nach der Schmach von 1918 wieder zu alter Größe führen zu wollen. Die angekündigte Revisionspolitik bedingte nämlich die erneute »Wehrhaftmachung« Deutschlands. Unter dem Beifall führender Militärs, darunter der des Reichswehrministers von Blomberg, der von Anfang an Hitler große Sympathien entgegenbrachte, hatte dieser bereits am 3. Februar 1933 emphatisch erklärt, daß es sein innigster Wunsch sei, der Armee wieder den ihr zustehenden Ehrenplatz im Staat einräumen zu wollen. Er versicherte, daß Heer und Marine mit größeren Mitteln und ungehinderter als je zuvor an der Entfaltung der militärischen Stärke des Deutschen Reiches würden arbeiten können. »Niemals war die Wehrmacht identischer mit den Aufgaben des Staates«, zitierte der Völkische Beobachter [18] die Auffassung des Chefs des Reichswehr-Ministeramtes, des Obristen von Reichenau. In ihm und in von Blomberg hatte Hitler das Einfallstor in die Wehrmacht gefunden. Umgekehrt sahen beide in dem Weltkriegsgefreiten und den neuen Leuten nichts anderes als die Anführer einer Massenbewegung, die sie für die Machtstellung der Armee sowie für die des Landes einzusetzen gedachten.

Jahre der Entscheidung[19]