Bauer2.jpg

Detlef Bauer

 

Mit siebzig in die Wanten

 

Ein Rentner macht jedes Jahr etwas, das er noch nie im Leben gemacht hat

 

Lichtwerck Verlag

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Ereignisse in diesem Buch habe ich so beschrieben, wie ich sie erlebt und in Erinnerung habe. Die Namen aller Firmen und Hotels sind geändert; geänderte Namen von Personen sind bei der ersten Nennung durch ein Sternchen gekennzeichnet.

Detlef Bauer

Erste Auflage 2016

ISBN 978-3-920793-01-6 (epub)

ISBN 978-3-920793-02-3 (mobi)

Copyright © Lichtwerck Verlag

ein Imprint der Ruhland Verlag GmbH, Bad Soden 2017

Detlef Bauer, Mit siebzig in die Wanten

Lektorat: Gabriele Pässler, Görwihl, www.g-paessler.de

Alle Rechte vorbehalten.

Printed in Germany with love by CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

www.lichtwerck-verlag.de

 

Für Moritz

Moritz, dieses Buch habe ich für dich geschrieben. Du bist mein erstes und bisher einziges Enkelkind.

Jetzt bist du klein, und du kannst natürlich noch nicht lesen. Wenn du es eines Tages aber gelernt hast, wirst du sehen, dass man sich nicht davor fürchten muss, alt zu werden.

Du bist dann nicht weg vom Fenster, nein
– da geht noch was!

 

Prolog

„Unsere Beziehung ist zu Ende!“

Meine Frau stand mit ihrem Rollkoffer vor der Tür und weinte. Sie kam von der ersten Kur ihres Lebens, einer psychosomatischen, und mit diesen Worten begrüßte sie mich.

Manu* war gerade fünfzig, das erste Kind aus dem Haus, und beim zweiten würde es auch nicht mehr lange dauern. Da kam man als Frau wohl an einen kritischen Punkt, fragte sich: „Und jetzt? Wo bleibe ich?“ Deshalb diese Kur.

Jahre später erzählten mir Freunde, ich hätte das doch wissen müssen, so eine Kur sei wie Gehirnwäsche: Man komme völlig verändert zurück. So war es auch bei Manu – von einem Tag auf den anderen hatte sie vom Stubenhocker zur Partymaus mutiert.

War sonst Fernsehen und Lesen ihre Lieblingsbeschäftigung, am liebsten gleichzeitig, so zog sie jetzt jede Nacht durch irgendwelche Bars. Den Kontakt zu alten Freunden brach sie ab und suchte sich neue.

Einmal hatte sie vergessen, Fotos von einem Ausflug von unserem Computer zu löschen; als ich die sah, traf mich der Schlag. Was für eine illustre Gesellschaft. Die hätte sie in ihrem alten Leben nicht mit dem Hintern angesehen. Einer der Männer sah aus wie Jesus, allerdings unmittelbar nach der Kreuzigung.

Und die Frauen erst – eine Emanzenriege wie aus dem Bilderbuch. Die waren mit Sicherheit alle Singles, und zu Recht. Auf diesen Fotos sah Manu völlig deplatziert aus, sie passte überhaupt nicht dazu.

Zunächst hatte ich ja mit dem Gedanken gespielt, aus mir ebenfalls einen anderen Menschen machen zu lassen. Vielleicht auch so eine Kur? Aber als ich das sah, war mir klar, dass ich meine alten Freunde behalten wollte. So etwas wie das da wollte ich auf keinen Fall.

Aber was wollte ich denn? Oder besser: Was sollte ich jetzt tun?

 

 

Ich war noch nie …
an Weihnachten fort

Ich war sechzig Jahre alt und gerade Rentner geworden. Nach der Kur wollten wir eigentlich unsere Silberhochzeit feiern; das kam jetzt natürlich nicht mehr infrage.

Was nun? Ich musste auf jeden Fall weg. Ich brauchte Zeit und Abstand, um mir darüber klarzuwerden, wie mein Leben jetzt weitergehen sollte. Ich tippte „Langzeiturlaub“ in die Suchmaschine und fand ein Hotel in der Türkei, in der Nähe von Side: drei Monate All-inclusive-Urlaub zu günstigen Konditionen. Damit wäre auch das Problem „Weihnachten“ gelöst gewesen, denn ich wollte auf keinen Fall in der Verwandtschaft als Notfall-Weihnachtsgast landen.

Also buchte ich die drei Monate Türkei. Bevor ich losfuhr, fasste ich gute Vorsätze für diese Zeit: möglichst keinen Alkohol, nicht mehr rauchen und auf keinen Fall etwas mit Frauen anfangen.

Nichts davon hat funktioniert.

Für die ersten zwei Wochen kam Schwager Michi mit. Er machte sich große Sorgen um mich und wollte sehen, wie ich das alles verkraftete. Es lief ganz gut, wir machten einen typischen Sonnenurlaub im Süden, mit langen Strandspaziergängen, Ausflügen im Mietwagen, und wir aalten uns in der Sonne.

Schon ungewöhnlich, im Dezember in der Sonne zu liegen. Skurril war auch, bei strahlendem Sonnenschein in T-Shirt und Shorts an der Weihnachtsdekoration im Hotel vorbeizugehen.

Silvester fuhren wir mit ein paar jungen Leuten in die Disco in Side. Ein sehr gemischtes Publikum, extrem laute Musik, und neben vielen jungen Einheimischen jede Menge Touristen, darunter auch die eine oder andere faltige Lady, die mit ein bisschen Geld einen hübschen jungen Türken geangelt hatte und sich jetzt mit peinlichen Verrenkungen auf der Tanzfläche abmühte.

Plötzlich rumorte es hinter uns, wir waren mitten in einer Schlägerei: Ein paar Jugendliche gingen aufeinander los und schlugen sich gegenseitig mit Barhockern die Köpfe ein. Na ja, all-inclusive eben.

Wir waren zu zweit, deshalb hatten wir zu den anderen Hotelgästen kaum Kontakt. Das änderte sich erst, als Michi abgereist war.

Zuerst lernte ich Anke kennen. Anke, die Kühle aus dem Norden. Sie kam aus Heide in Holstein und war nicht zu übersehen: Jeden Morgen saß sie an derselben Stelle in der Lobby und strickte. Der Platz erlaubte ihr, jeden zu sehen: Egal ob er aus dem Fahrstuhl kam, die Treppe herunterstieg oder das Hotel betrat, er musste an Anke vorbei. Sie kannte jeden und alle kannten sie.

Ich merkte sehr schnell, dass sie „die Mutter der Kompanie“ war. Denn man setzte sich gern auf einen kleinen Plausch zu ihr, und sie beanstandete auch – wenn nötig – das Erscheinungsbild der alleinreisenden älteren Herren. So manchen schickte sie wieder zurück aufs Zimmer, damit er das fleckige Hemd tauschte. Manchmal erbarmte sie sich auch und ließ sich das Hemd zum Bügeln geben.

Aber Anke war nicht nur nett und freundlich. War ihr jemand unsympathisch, konnte sie ihm das unmissverständlich klarmachen. Anke war eben eine ehrliche Haut, bei ihr wusste man immer, woran man war.

Für viele war sie Lebensberater und manchmal auch die Tonne für den Seelenmüll. Obwohl – oder weil? – sie selbst auch kein leichtes Leben gehabt hatte, fand man bei ihr immer ein offenes Ohr.

Und ihre Erscheinung … Anke war groß und breit wie ein Kerl, in ästhetischer Hinsicht nicht gerade hübsch. Wenn sie zum Strand ging, mit breitkrempigem Hut, kurzem Hemd und Rucksack, aus dem die Fliegenklatsche herausragte, und einer riesigen Tasche mit allem, was man so braucht, dachte man an eine Walküre. Das war auch ihr heimlicher Spitzname; die Kinder machten respektvoll einen Bogen um sie.

Am Strand angekommen, legte sie drei Liegen übereinander, weil man dann leichter aufstehen konnte. Diese drei Liegen wurden im Laufe der Jahre zum Wahrzeichen: Wussten wir, dass Anke zur Überwinterung im Lande war, suchten wir am Strand die drei Liegen und fanden so ihr Hotel.

Anke überwinterte bis zum Schluss hier. In allerletzter Minute konnte ich sie noch zum Flughafen bringen, und zu Hause starb sie dann.

Komme ich heute in ein Hotel, in dem ich vor Jahren Anke getroffen habe, lege ich zum Andenken am Strand drei Liegen übereinander. In memoriam Anke.

Das Hotel war nicht voll, aber doch gut besucht. Ich kam mir vor wie in einer Senioren-Residenz: überwiegend alte, meist noch ganz fitte Leute, die – wie ich – hier Langzeiturlaub machten. Viele kamen schon seit Jahren und kannten einander. Der Altersdurchschnitt wurde gedrückt durch junge Kurzurlauber, die nur ein, zwei Wochen blieben.

Bei den Alten fiel auf, dass es vor allem alleinreisende Frauen waren. Es gab zwar auch Ehepaare, aber die meisten waren allein unterwegs. Die Stimmung war gut; wir brauchten keine Animateure und haben unsere Abende selber gestaltet – das war meist viel besser.

Ein bisschen fühlte es sich an wie auf Klassenfahrt. Oft saßen wir in kleinen Gruppen zusammen, es war immer lustig, und die jungen Kurzurlauber gesellten sich gern dazu. So fanden sie schnell Kontakt, und wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Wir sangen und tranken einen und manchmal wurde auch spontan getanzt, ob in der Lobby, an der Bar oder in dem kleinen Glashaus, in dem abends immer das Kaminfeuer brannte.

Einmal kam eine nicht unattraktive Frau Mitte vierzig an, ihr Sohn war vielleicht fünfundzwanzig. Gleich am ersten Abend setzte sie sich zu uns, und wurde angebaggert von einem viel jüngeren Mann, der mit seiner Freundin für eine Woche gekommen war. Am nächsten Tag sagte ihr Sohn zu mir: „Du musst unbedingt meine Mutter anbaggern, sie findet dich gut und ich will nicht, dass der andere Typ etwas mit ihr anfängt.“

Was war das denn? Wird man jetzt schon von den Kindern instrumentalisiert? Ich musste den jungen Mann leider enttäuschen, ich wusste gar nicht mehr, wie man das überhaupt machte – viel zu lange verheiratet gewesen und völlig aus der Übung.

Ein paar Tage später kamen zwei junge Frauen um die dreißig. Auch sie fanden sehr schnell den Weg zu uns und meinten, bei uns sei es viel lustiger als bei den jungen Leuten. Am nächsten Abend spielte ich Karten in der Nähe der Bar; die beiden Damen saßen etwas abseits mit zwei alten Knackern zusammen und tranken, lachten und sangen.

Sie waren schon ziemlich angetrunken, und ich beobachtete mit wachsendem Unmut, wie die Alten mit ihnen herumschäkerten: Küsschen hier, Küsschen da, und wenn sie gelegentlich ihren Arm um die Frau legten, rutschten die Finger auch schon mal über den Busen. Versehentlich natürlich.

Die Männer achteten darauf, dass die Gläser immer gefüllt waren, und die jungen Frauen wurden immer betrunkener. So langsam kam mir die Galle hoch, ich hörte auf zu spielen, setzte mich dazu, und nach einiger Zeit sagte ich kurzerhand zu den Mädels: „So, jetzt ist es genug, ich bringe euch nach Hause!“

Die „Kavaliere“ protestierten zwar, aber ich schnappte mir die sturzbetrunkenen Damen, hakte eine links, die andere rechts ein und marschierte mit ihnen zum Nachbarhaus, wo sie ihr Zimmer hatten. Ich half ihnen noch, die Tür aufzuschließen, weil sie den Schlüssel partout nicht ins Schloss bekamen, und drehte mich um, wollte mein Zimmer aufsuchen.

Da packten die beiden mich bei den Armen und zogen mich in ihr Zimmer. Tür zu. Jetzt, mit ein paar Jahren Abstand, kann ich sagen: Seit ich im Rentenalter bin, wurde ich von so vielen Frauen angebaggert wie nie zuvor in meinem Leben, auch nicht in der Jugend. Eine flüsterte mir beim Tanzen sogar ihre Zimmernummer ins Ohr.

Ich habe diese Angebote allerdings meist nicht wahrgenommen, denn einerseits hatte ich ja den guten Vorsatz, nichts mit Frauen anzufangen; andererseits hatte ich wohl auch ein bisschen Angst, denn ich war in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe nie fremdgegangen, und es wäre mir schon sehr merkwürdig vorgekommen, mit einer fremden Frau ins Bett zu steigen. Manchmal gefielen sie mir auch einfach nicht.

Durch Anke bekam ich nicht nur sehr schnell Kontakt zu den anderen Überwinterern, ich lernte auch Manni und Helmut kennen. Sie kamen aus dem Ruhrgebiet, und ihr Humor war mir nicht nur sympathisch, sondern dem meinen sehr ähnlich. Wir hatten miteinander viele lustige Erlebnisse und wurden inzwischen Freunde. Nicht nur trafen wir uns ab und zu beim Überwintern, auch in Deutschland besuchten wir uns gegenseitig.

Wie ich war Manni ein leidenschaftlicher Skatspieler, und das nutzten wir weidlich aus. Helmut war rund zehn Jahre älter als ich und schon Rentner, seit er fünfzig war; als ehemaliger Bergmann hatte er die typische Kumpel-Krankheit Staublunge.

Als wir uns kennenlernten, war Helmut schon seit Jahren Witwer; er erzählte mir, langsam wäre es Zeit, wieder eine Frau zu haben, und deshalb war er immer auf der Suche. Auch Manni (geschieden) baggerte andauernd Frauen an. Wir nannten es „Er arbeitet an seiner Zukunft“; das tut er bis heute, und nach wie vor ohne Erfolg.

Ich konnte da nicht mitreden und wollte auch gar nicht mitmachen, denn ich hatte nun gelernt, mein Single-Leben zu genießen, und ich wollte das auf keinen Fall ändern.

Außerdem hatten mir die Erfahrungen aus meiner ersten Überwinterung Klarheit verschafft, wie es jetzt mit mir weitergehen konnte: Ich wollte von nun an den Winter irgendwo im Süden verbringen und unbedingt jedes Jahr etwas machen, was ich noch nie im Leben gemacht hatte.

 

 

Ich habe noch nie …
jemanden verkuppelt

Helmut war also immer auf der Suche nach einer passenden Frau. Bei jener Überwinterung war er auch erfolgreich, jedenfalls schien es so, denn bald stellte sich heraus, dass sie nicht die Richtige war.

Die Bürgermeisterin aus einem Dorf in Ostdeutschland gabelte sich nämlich gleichzeitig einen jungen türkischen Masseur auf, der ihr Bett über und über mit Rosenblättern bedeckte. So romantisch war Helmut nicht, da konnte er nicht mithalten, außerdem gefiel es ihm überhaupt nicht, dass er für sie nur „zweite Wahl“ war.

Im Sommer rief er mich an – ob ich nicht Lust hätte, im Herbst mit ihm nach Inzell zu fahren? Er ist dort immer in der Nachsaison in einem Apartment-Hotel, das einem Verwandten gehört, und deshalb muss er nur die Reinigungskosten bezahlen.

Natürlich hatte ich Lust. Ich fuhr also mit meinem Auto hin, und wir machten Ausflüge. Es lag sogar schon ein bisschen Schnee.

Einer der Ausflüge führte uns zu einer Bob-Bahn. Hier trainierten Bobteams aus verschiedenen Ländern, und man konnte bis direkt an die Bahn. In der Nähe des Starts saßen ein paar junge Leute, die offensichtlich ihr Pensum für heute schon geschafft hatten. Ein Zuschauer näherte sich ihnen, da streckte ihm einer aus der Gruppe die Hand entgegen und rief: „Give me five, Saupraiss Kanadischer!“

Aha, Preußen ist groß, zumindest wenn man Bayer ist.

Abends wollte Helmut unbedingt tanzen gehen. Ganz in der Nähe gab es ein Restaurant mit einem riesigen Saal und Bühne, da hatten gut fünfhundert Gäste Platz. Die wurden am Wochenende mit Bussen angekarrt.

Auf der Bühne saß eine kleine Musiker-Truppe, und manchmal traten dort auch bekannte Schlagerstars auf. Die hatten dann sogar ihren Fan-Club dabei, der saß im Publikum an reservierten Tischen.

Das war nun wirklich nicht meine Welt und auch nicht meine Musik, aber aus Freundschaft ging ich mit.

Kaum ertönte die Musik, war Helmut zum Tanzen verschwunden. Irgendwann kam er wieder und meinte, er habe eine ganz tolle Frau kennengelernt, die sei mit ihrer Freundin da, und wir sollten uns mal zu ihnen an den Tisch setzen. Na ja, die waren wie die Musik: Nicht mein Geschmack. Beide so um die Siebzig, Helmuts Favoritin war ziemlich Schmuck-behangen. Es stellte sich heraus, dass sie nicht weit von ihm entfernt wohnte, so tauschten sie Telefonnummern aus.

Als wir dann wieder zu Hause waren, erzählte Helmut, er habe sich mit ihr getroffen und sie überredet, für vier Wochen mit zur Überwinterung zu kommen. Ich meinte nur, für mein Empfinden sei sie nicht die Richtige für ihn, er solle sich lieber keine so großen Hoffnungen machen.

Bei den Schwiegereltern meiner Schwester wurde gerade ein Zimmer renoviert, und ich hatte angeboten zu tapezieren. Am ersten Tag erschien Friedel, eine Freundin der Schwiegermutter, um die Gardinen aufzuhängen. Als ich sie sah, stieg ich von der Leiter, packte sie an der Schulter und stellte mich vor sie hin: „Du bist genau die Richtige!“

Verdattert meinte sie: „Die Richtige – für was?“

„Für Helmut, es passt von der Größe her und auch sonst, du bist es!“ Ich erklärte ihr, dass ich in der Türkei überwintern würde, und dort sei auch mein Freund, der schon länger eine passende Frau suche, und sie wäre genau die Richtige. Aber Friedel lachte nur und lehnte dankend ab.

Am Abend rief ich Helmut an: „Ich habe genau die richtige Frau für dich gefunden, sie heißt Friedel, ist genauso klein wie du, auch Witwe und ein paar Jahre jünger. Das passt, glaub mir.“

Er meinte nur, jetzt hätte er schon die aus Inzell und die käme doch auch mit in die Türkei.

„Vergiss es“, sagte ich, „das ist die Falsche.“

In den nächsten Tagen hatte ich jeden Tag Gelegenheit, Friedel zu bearbeiten, und ein paar Wochen später rief sie mich an und erzählte mir, sie habe tatsächlich vier Wochen in unserem Hotel gebucht. Besser hätte sie es wohl kaum machen können: Ihre Ankunft wäre genau zwei Tage, nachdem die Dame aus Inzell abgereist sein würde. Super Timing!

Es kam dann, wie ich es vorhergesagt hatte. Vier Wochen lang bemühte Helmut sich sehr um die Inzell-Lady, und als sie nach Hause flog, sagte sie ihm zum Abschied, dass es wohl nicht passen würde mit ihnen. Er war ein bisschen enttäuscht, aber ich konnte ihn beruhigen: „Mach dir keine Sorgen, übermorgen kommt Friedel. Alles wird gut.“

Als Friedel dann ankam, führte ich sie zu Helmut, stellte sie vor – und von Stund an wich er ihr nicht mehr von der Seite.

Zwei Jahre später, die beiden hatten sich in der Zwischenzeit oft besucht und waren schließlich sogar zusammengezogen, trafen wir uns in Tunesien. Sie wohnten in einem anderen Hotel als ich, und ich besuchte sie dort. Sie zeigten mir die Hotelanlage, und dann gingen wir auf ihr Zimmer.

Was machen wir hier, dachte ich, aber dann sagte Helmut: „Ach, ich hab noch was vergessen!“, zog eine Schublade auf und drückte mir einen Briefumschlag in die Hand. Darin war ein Foto von den beiden und eine Karte, darauf stand: „Wir sind verheiratet!“

 

Ich war noch nie …
in der Oper

Schon mal was von der Elbphilharmonie in Hamburg gehört? Na klar, die ewige Baustelle an der Elbe, das Millionengrab, manche nennen sie auch Geldphilharmonie oder Elbdisharmonie.

In der Zeitung stand, dass auf dem Vorplatz der Baustelle unserer Elbphilharmonie ein public viewing stattfinden sollte: eine Oper aus der Wiener Staatsoper auf Großbildleinwand. Sozusagen Opern-Air, und das kostenlos. Also nichts wie
hin!

Damals war noch völlig unklar, wann unser Prestigeobjekt fertig würde und ob es überhaupt jemals dazu käme, aber die Ösis zeigten, wie es ging: Zackzack bauten sie aus Pappe die Front ihres Opernhauses auf, hängten eine Großbildleinwand hinein und übertrugen eine Oper live aus Wien.

Und alles super organisiert: Man kam an und bekam eine Teppichfliese, damit man auf den kalten Steinen sitzen konnte, dazu ein Programmheft.

Rings um den Platz waren ein paar Zelte aufgebaut, da kann man Ösi-Wein und Kaiserschmarrn „Sissi“ (mit Zwetschgen) oder „Franzl“ (mit Vanilleeis) kaufen. Und sie hatten auch noch eine österreichisch sprechende Moderatorin geschickt, die uns etwas über die Oper erzählte und uns erklärte, dass das absolute Premiere sei, diese Live-Übertragung zu einem Open-Air-Act.

Als ich sie so reden hörte, fiel mir ein, dass ich vor einiger Zeit gelesen hatte, dass Deutschland und
Österreich durch die gemeinsame Sprache verbunden seien. Aber die Sprache trenne uns auch. Manche Worte kannte ich wirklich nicht – wie kommt man nur darauf, statt Sahne „Obers“ zu sagen?

Jedenfalls meinte sie, dass die Oper „Liebestrank“, die wir gleich sehen würden (auch die kannte ich nicht), die fröhlichste Oper überhaupt sei, und quasi eine Zweitbesetzung, denn bei der Uraufführung achtzehnhundertirgendwas habe der Komponist nur drei Wochen Zeit gehabt zum Schreiben; eigentlich hätte eine andere namhafte Oper aufgeführt werden sollen, aber die sei nicht fertig geworden.

Ich nickte verständnisvoll: Wir in Hamburg waren ja auch noch nicht fertig. Offiziell hieß diese Oper „L’elisir d’amore“, und sie war von Gaetano Donizetti.

Ich suchte mir mit meinem Teppich auf den Steintreppen einen Platz und schaute mich ein bisschen um. Wie erwartet bestand das Publikum überwiegend aus älteren Damen, viele ohne Begleitung; daneben gab es auch ein paar Männer, die offensichtlich mitkommen mussten.

Die wenigen Jüngeren waren deutlich zu erkennen, denn sie waren geradezu unvorbereitet da, hatten sozusagen nichts dabei. Die Älteren dagegen, die waren Open-Air-Profis, sie hatten ihr ganzes Equipment dabei: Klappstühle, Kissen, Decken, Regenjacken, Getränke und ein kleines Fresspaket. Eben alles, was man zum Überleben braucht.

Vor mir saßen vier ältere Damen, sie mussten irgendwie zusammengehören. Das war zum einen daran zu erkennen, dass sie miteinander redeten und Getränke austauschten, zum anderen wiegten sie ihre Körper gleichmäßig im Dreivierteltakt, sobald die Musik begann – wie das Groupies eben so machen. Wobei man meine Vor-Sitzenden eher als Grufties bezeichnen konnte.

Ich war – wie die Jungen – auch einfach nur so gekommen und ärgerte mich, dass ich mir nicht wenigstens ein Glas Wein geholt hatte. Jetzt, wo es rings um mich ziemlich voll war, konnte ich nicht mehr so einfach durch die Reihen klettern. Ich hatte aber gelesen, dass die Oper zwei Akte hat, es musste also eine Pause geben.

In der Pause stellte ich mich in die Schlange, die nicht so lang war wie befürchtet. Plötzlich tauchte neben mir eine kleine, aparte, blonde Frau auf, lächelte mich an und sagte: „Hat sie sich schon wieder vorgedrängelt, das macht sie immer so, unmöglich.“

Sie redete mit ihrer Freundin, die hinter mir stand, und ich dachte: „Hä? Wie vorgedrängelt? Was meint sie? Die hat sich doch hintergedrängelt?“ Und sagte dann so etwas Einfallsloses wie: „Ja, das hat sie mit mir schon ein paarmal gemacht, ich habe sie gleich wiedererkannt“. Au weia, wie blöd man sein
kann.

Da kam meine Bestellung, ich nahm meinen Wein und ging zu einem Stehtisch ein wenig abseits.

Hatte die mich angebaggert? Es war wahrscheinlich zu kalt, meine Synapsen funktionierten nicht. Natürlich hatte sie mich angebaggert. Warum hatte ich nicht gleich zwei Gläser geholt? Echt blöd.

Aber irgendwie kam mir das bekannt vor – ich hatte es nie gemerkt, wenn jemand mit mir flirtete. Bei mir musste man da mit dem Vorschlaghammer kommen. Aber – womöglich war das doch schon die Vorschlaghammer-Methode?

Mann, ich wurde alt … Und wo war sie denn nun? Natürlich war sie inzwischen weg.

Naja, dann eben nicht.

Ich beobachtete die Leute um mich her. Es störte mich nicht im Geringsten, allein unter vielen Menschen zu sein. Ich empfand das nicht so, und ich machte mir allerlei Gedanken: über die Menschen, die mir auffielen – wie sie sich gaben, wer sie wohl waren, was sie möglicherweise bewegte.

Dann nahm ich ein Gespräch an dem Stehtisch neben mir wahr, da hatten sich zwei ältere Paare um eine Flasche gruppiert. Der große Grauhaarige jammerte: „Das ist mir viel zu kalt hier, ich will mir doch keine Erkältung holen!“

Um das zu unterstreichen, hüstelt er leicht.

So kalt war es nun nicht, ich hatte meine Jacke noch nicht mal zugemacht.

Vielleicht hatte es zu Hause noch geheißen: „Wir gehen in die Oper“, aber ohne zu sagen, dass es draußen war und eigentlich vor die Oper heißen müsste.

Die vier verließen den Tisch und gingen nach Hause, und jetzt stand auf dem leeren Tisch neben mir eine halbe Flasche Rotwein. Es wäre ja eine Sünde, den wegzugeben. Ich schenkte mir also erst mal nach.

Oh, da war ja sogar ein Barhocker mit Lehne. Von hier aus könnte man die Oper auch gut verfolgen. Außerdem würde es ziemlich komisch aussehen, wenn ich da mit einer ganzen Flasche Wein auf meinem Teppich ankommen würde, inmitten der älteren Damen, die mich glatt als Alk einstufen würden.

Ich blieb also.

Während des zweiten Aktes trank ich gemütlich die Flasche aus und war am Ende ein wenig angetütert, wie man in Hamburg so schön sagt.

Auf dem Weg zur S-Bahn grinste ich ständig vor mich hin (ein bisschen kam das wohl auch vom Wein) und ließ mir die Erlebnisse des Abends nochmals durch den Kopf gehen. Schon witzig, was ich so erlebt hatte – und es ging grade weiter:

Neben mir saß ein junger Mann, Anfang zwanzig, ihm gegenüber eine junge Dame im gleichen Alter. Sie waren beide büromäßig angezogen und mussten ständig gähnen. Gut, es war schon spät und sie kamen wohl von einer gemeinsamen Fortbildung. Oder so.

Sie war schlank und wirklich sehr hübsch. Wobei, ich glaubte, jetzt, wo ich in Würde alt geworden war, fand ich alle jungen Mädchen hübsch. Früher, als ich selbst noch jung war und quasi dazugehörte, da hatte ich wohl noch Unterschiede wahrgenommen, aber jetzt waren sie alle irgendwie hübsch. Das mochte auch daran liegen, dass ich jetzt nicht mehr so gut sah.

Jedenfalls lächelte sie ihn manchmal an und man konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Es kam aber nichts. Er wusste nicht, was er sagen oder wie er ein Gespräch beginnen sollte.

Plötzlich sagte er doch etwas: „Wann musst du denn morgen zum Sport?“

„Um sieben“, antwortet sie.

„Und wann musst du im Büro sein?“

„Um sieben.“

Nichts. Er fragte nicht weiter.

Da konnte man doch jetzt anknüpfen, dachte ich. Hinter seiner Stirn arbeitete es wieder. Aber es kam nichts.

Nach einer endlos langen Zeit sagt er: „Meinst du, dass es falsch war, oder ist Büro und so das Richtige für dich, und macht es dir auch ein bisschen Spaß?“

„Ja, so in etwa kann man das sagen.“

Stille. Hey, dachte ich, du machst mich ganz verrückt, das war doch jetzt eine Entweder-oder-Frage, da kann man doch aber wirklich mal nachhaken. Aber er sagte wieder nichts. Und es arbeitete immer noch in ihm.

In Altona stand sie auf, und sie sagten beide „Tschüss, bis morgen“.

Ich dachte mir, so, wenn die gleich draußen ist, dann wirst du ihm mal ein paar Takte erzählen und ihm vor Augen führen, was da alles falsch gelaufen ist und wie einfach das eigentlich war, und was er hätte sagen können.

In dem Moment tauchte vor meinem geistigen Auge die kleine aparte blonde Frau auf, die ihre Freundin imaginär vordrängeln ließ, und ich kam zu folgendem Schluss: Alter, du bist gerade der Richtige, um irgendwelchen Leuten irgendeinen Rat zu geben, kehr du lieber erst mal vor deiner eigenen Tür und sei ganz bescheiden.

Also hielt ich lieber meinen Mund, auch wenn es in mir brodelte.