Philipp Gelitz

Frühe Kindheit
verstehen

Pädagogik im Waldorfkindergarten

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Zu diesem Buch

Eine Individualität kommt an

Gehen, Sprechen, Denken

Vorbild und Nachahmung

Die drei Etappen der frühen Kindheit

Die Entfaltung der Sinne

Die Verankerung der Vitalfunktionen

Salutogenetische Erziehung

Der atmende Tag des kleinen Kindes

Medien und kleine Kinder

Keine Intellektualisierung der frühen Kindheit

Die Kinder lieben die Welt

Die Welt ist gut

Anmerkungen

Impressum

Leseprobe

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Zu diesem Buch

Der Entwicklungsweg vom Säugling zum Schulkind ist ein Weg der Eroberung. Sowohl die Möglichkeiten des eigenen Körpers als auch die Handhabung der Umwelt werden in unablässiger Übung und Wiederholung in kleinen Schritten errungen. Zunächst ergreift das Kind langsam seinen Körper. Erst lernt es laufen, dann sprechen und schließlich gedanklich die Dinge in der Welt zu verknüpfen. Und irgendwann kann es dann eine Gabel benutzen, es kann rückwärts auf einem Bein hüpfen und Murmelbahnen im nassen Sand bauen.

Dabei ist von Anfang an für alle Entwicklungsschritte des Kindes entscheidend, ob es spielen darf.1 Alles, was ein kleines Kind «lernt», erringt es sich durch freies, unangeleitetes Spiel. Nichts lernt es dadurch, dass es auf die Erklärungen seiner Umgebung hört, sie erinnert und versteht – vielmehr eignet es sich alles spielend an. Dabei greift es nachahmend auf, was es in seiner Umgebung sieht oder hört.

Dieser Prozess, die Möglichkeiten des eigenen Körpers selbst zu erringen und über die sinnlichen Erfahrungen im Spiel mit der Welt bekannt zu werden, ist aber heute durch viele Einflüsse von außen potenziell gefährdet. Es gilt daher, das gesunde Ergreifen des Körpers und die spielende Eroberung der Welt zu unterstützen. Denn schließlich geht es um nichts weniger als darum, dass eine Individualität auf der Erde ankommen darf. Der Mensch muss sich in der Welt beheimaten dürfen, muss sich körperlich, seelisch und geistig gesund entfalten können, seine eigenen Intentionen finden, und er muss auf diesem Weg geschützt werden. Einem solchen Ansatz fühlt sich die Pädagogik im Waldorfkindergarten verpflichtet.

Es ist das Anliegen des vorliegenden Buches, für diesen Entwicklungsweg des Kindes ein Verständnis zu wecken. Und es will vor diesem Hintergrund aufzeigen, wie eine Pädagogik der frühen Kindheit in Waldorfkindergärten praktisch aussieht und begründet wird. Dafür werden im Folgenden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, aus denen heraus das kleine Kind und seine Umgebung betrachtet wird. Es geht hier nicht darum aufzuzeigen, wann ein Kind was können sollte, sondern sich mit den Bedingungen zu beschäftigen, die eine gesunde Bildung und Erziehung ermöglichen. Wird Bildung in der frühen Kindheit nicht als möglichst früher Wissenserwerb verstanden, sondern als Aufgabe, einen Raum zu schaffen, in dem sich das einzelne Kind selbst heranbildet, so ist es auf einmal viel weniger wichtig, Bildungsstandards zu definieren und Vorgaben für eine optimale Förderung zu machen. Vielmehr müssen wir als Erwachsene dem Kind einen Entwicklungsraum bereitstellen, in dem es sich angenommen, wahrgenommen und aufgehoben fühlt, um seinen eigenen Weg – sein eigenes Schicksal – gehen zu können.

Ein Entwicklungsraum, der das Kind schützt, es aber in seiner individuellen Entfaltung freilässt und unterstützt, ist gar nicht so einfach zu realisieren. Äußere Zwänge und unreflektierte eigene Vorstellungen vom Kindsein stehen Eltern und Erziehern trotz redlicher Bemühungen nicht selten im Weg. Eine Beschäftigung mit einigen Grundmotiven der frühen Kindheit kann hier helfen, den Blick auf das Kind nicht zu verlieren. Dies ist umso wichtiger, als der meist gut gemeinte Rat der Verwandtschaft, der Freunde und Nachbarn und nicht zuletzt auch die vielen Tipps und Empfehlungen unzähliger Ratgeber, wie man am besten mit kleinen Kindern verfährt, zu einer großen Verunsicherung führen können.

Die folgenden Gesichtspunkte sind aus der praktischen Erfahrung im Waldorfkindergarten entstanden; aus ihr heraus werden verschiedene Themen der frühen Kindheit betrachtet.

Das Buch ist daher keine abstrakte systematische Einführung in die Waldorfpädagogik der ersten sieben Jahre, sondern eine praktische Einführung in die Grundmotive eines Waldorfkindergartens. Es legt den Schwerpunkt auf einige Aspekte, die sich in der Praxis als wesentlich erwiesen haben. Und es will bei Eltern, Pädagogen und Studierenden ein Verständnis von Vorschulerziehung und -bildung aus dem Blickwinkel der Waldorfpädagogik wecken. Der rote Faden durch alle Abschnitte hindurch ist die Bemühung, in einer kindgerechten räumlichen, zeitlichen, emotionalen und sozialen Umgebung die Gesundheit der Kinder leiblich, seelisch und geistig zu fördern und sie vor Überforderungen zu schützen. Dieser Bemühung fühlen sich Waldorfkindergärten seit vielen Jahrzehnten verpflichtet.

Die erste Waldorfschule nahm 1919 in Stuttgart ihre Arbeit auf. Die erste Waldorfkindergartengruppe entstand erst 1926 an eben dieser Stuttgarter Schule. Rudolf Steiner (1861  1925) hatte als Begründer der Waldorfpädagogik zwar immer wieder auf die Bedeutung der frühen Kindheit hingewiesen, erlebte diese von ihm ersehnte Ausweitung der Waldorfpädagogik «nach unten»2 aber selbst nicht mehr mit.

In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Waldorfpädagogik gerade auch im vorschulischen Bereich immer weiter ausgebreitet, sie findet auf der ganzen Welt Unterstützer und Förderer. Aktuell gibt es in Deutschland 570 Waldorfkindergärten, in der Schweiz 60 und in Österreich 34. Weltweit sind es über 1800 Einrichtungen3 – Tendenz steigend.

Welche Grundmotive führen immer wieder so viele Menschen im Rahmen der Waldorfpädagogik zusammen?

Eine Individualität kommt an

Wenn ein Kind geboren wird, stellen sich bei den Eltern und den Menschen in der Umgebung bei näherer Betrachtung eigentlich immer zwei einander gegensätzliche Wahrnehmungen ein.

Die eine Wahrnehmung ist die eines vollkommen hilflos zappelnden Säuglings, der ganz auf äußere Hilfe und Pflege angewiesen ist. Er besitzt lediglich ein paar Reflexe, die ihm das Überleben sichern, die ihn atmen, saugen und greifen lassen. Ansonsten kann ein Neugeborenes vieles noch gar nicht. Es kann seine Körpertemperatur nicht halten, es kann nichts ordentlich verdauen, es kann seine Ausscheidungen nicht kontrollieren, und es kann weder kontrollierte Bewegungen vollführen noch sprechen oder gar denken. In allen Bereichen des Lebens braucht ein Säugling liebevolle und schützende Pflege, er braucht Umhüllung und Unterstützung.

Die andere Wahrnehmung hingegen ist die einer einzigartigen Individualität, die neu ins Leben tritt. Jeder ist in der Umgebung eines neugeborenen Kindes andächtig, behutsam und auch etwas leiser. Diese Achtung vor der Einzigartigkeit und der Würde des kleinen Menschen ist für uns alle eine Selbstverständlichkeit, und zwar unabhängig von unserer Weltanschauung, ob wir nun gläubig oder atheistisch sind, und auch unabhängig von unserer Kultur oder unserer Religionszugehörigkeit. Das Individuum hinter der zunächst hilflos zappelnden Erscheinung wird von jedem geachtet und beschützt.

Das sieht bei einem Erstklässler dann schon ganz anders aus. Behutsamkeit und Andacht ihm gegenüber sind bei den meisten Erwachsenen nun nicht mehr anzutreffen, und es gesellen sich zu dem Bestreben, das Kind so wahrzunehmen und anzunehmen, wie es ist, auch immer mehr Erwartungen an den heranwachsenden Menschen hinzu. Er soll gewisse Kulturtechniken erlernen, er soll lesen, schreiben und rechnen können, ordentlich sprechen und anständig essen. Und auch das Kind hat sich entscheidend verwandelt. Es entwickelt Vorstellungen, die es umzusetzen versucht, es ist geschickt und wendig, es kann fehlerfrei sprechen, es will üben, es kann sich erinnern, und es will vor allem eines: lernen.

Es ist, als ob das Wesen hinter der Erscheinung des hilflosen Säuglings über die Jahre von der Peripherie in einen immer geschickter gewordenen Körper eingezogen ist, aus dessen Augen einem dann die Individualität des jungen Schulkindes entgegenstrahlt, als wollte sie sagen: Hier bin ich jetzt angekommen – was gibt es zu erforschen?

Wir brauchen ein inneres Bild vom Kind

Wenn heute von Bildung im frühen Kindesalter gesprochen wird, kann man mitunter innerlich zusammenzucken, weil man schon zu Beginn des Diskurses ahnt, dass es wieder und wieder um das frühe Lernen gehen wird. Förderung heißt das dann wohlmeinend, und es klingt scheinbar gut. Doch betrachten wir den Bildungsbegriff einmal etwas genauer: Bildung bedeutet in den Jahren vor der Schule etwas ganz anderes als ein Ausnutzen von Ressourcen oder ein Anhäufen von Fertigkeiten und Wissen. Hirnforscher, Bindungsforscher, Entwicklungspsychologen und Erziehungswissenschaftler kennen alle die Grundbedingungen für eine in späterer Zeit gelingende Bildung im herkömmlichen Sinne. Diese Grundbedingungen lauten: liebevolle Wahrnehmung des Kindes, das Ermöglichen unreflektierter Sinneserfahrungen sowie Verlässlichkeit für das Kind in seiner zeitlichen, emotionalen und sozialen Umgebung.4

Dabei brauchen wir ein lebendiges inneres Bild vom Wesen kleiner Kinder, um sie nicht wie kleine Erwachsene zu behandeln, sondern altersentsprechend umhüllen und anregen zu können.

Alles ist offen

Die neuronale Vernetzung ist zwar in den ersten zwei bis drei Jahren des Kindes am stärksten, das heißt, es «lernt» am meisten, mit seinem seelisch-geistigen Vermögen und seinen körperlichen Möglichkeiten muss ein Kind aber fast ohne angeborene Kompetenzen ins Leben starten. Tiere kommen da viel kompetenter zur Welt: Kein Fisch muss ein Jahr «lernen», um schwimmen zu können, kein Pferd muss monatelang sich drehen, robben und krabbeln, bis es endlich frei stehen kann, und keine Kuh muss jahrelang behutsam an die ihr gemäße Nahrung herangeführt werden.

Trotz dieses anfänglichen Unvermögens in Bezug auf ganz allgemein menschliche Fähigkeiten umweht jedes Neugeborene, wie wir eingangs festgestellt haben, dieser ungeheure Zauber. Da ist nämlich mehr. Hier will sich eine Persönlichkeit in einem nicht festgelegten, in einem nach allen Möglichkeiten hin offenen Körper beheimaten. Und das nehmen wir eben auch wahr, wenn wir einen Säugling sehen. Wenig ist hier schon vorherbestimmt, fast alles ist noch offen. Und während ein Pferd im Verlaufe seiner Entwicklung eben nicht besonders viel «pferdiger» werden kann, kann sich ein Kind noch in viele Richtungen hin entwickeln. Es ist viel weniger von der Vererbung determiniert als jedes Tier. Daher kann es auch zahllose Fähigkeiten noch hinzugewinnen.

Und so sehen wir im Säugling immer auch die Potenz des zukünftig Möglichen. Wir sehen sein menschliches Potenzial, wir sehen die werdende Person! Das Wort Person leitet sich übrigens vom lateinischen Wort «personare» (= durchtönen) ab – welch eine Perspektive!

Angekommen im Leib

Betrachten wir noch einmal das Kind, wie wir es sieben Jahre später erleben: Es läuft Stelzen, kann seilspringen, schwimmt im kalten See und ist danach sofort wieder warm. Es kann alles essen, einwandfrei sprechen, erkennt Buchstaben wieder und beherrscht den Zahlenraum bis zwanzig sicher, oft bereits darüber hinaus. Kaum jemand kommt nun noch auf die Idee, auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer zu gehen oder leiser zu sprechen. Im Zusammenhang mit dem Kind treten freudige und sorgenvolle Gedanken gleichermaßen auf, und eine besondere Rücksichtnahme ist eigentlich kaum noch auszumachen.

Wie wir festgestellt haben, scheint da über die Jahre etwas in die Leiblichkeit eingezogen zu sein. Das Kind ist mehr und mehr direkt ansprechbar. Die Persönlichkeit ist zu Beginn der Schulzeit fest im Körper angekommen. Sie hat sich selbst beheimatet. Sie tönt nun anders durch die Erscheinung hindurch.

Ein Kerngedanke der Waldorfpädagogik und der ihr zugrunde liegenden Anthroposophie ist dabei, dass das Kind nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt. Es inkarniert sich aus einem vorirdischen Dasein, es bringt seinen Geist ins Fleisch hinein. Große Fragen nach Freiheit und Schicksal werden hierdurch aufgeworfen.

Dem Kind seinen ganz eigenen Schicksalsweg zu ebnen, der mehr mit ihm selbst als mit den Erwartungen der Umgebung zu tun hat, ist hierbei ein Leitmotiv der Waldorfpädagogik. Diesem Motiv dienen letztlich auch alle anderen Themen: das freie Spiel für eine altersentsprechende Entfaltung der Persönlichkeit, die Pflege der Sinne durch natürliche Spielmaterialien, ein rhythmischer Tageslauf, der Verzicht auf elektronische Medien usw.

Hüllen für die Entwicklung

Dieses Ankommen im Leib beginnt aber natürlich bereits in der Schwangerschaft. Auch wenn hier die Embryonalentwicklung nicht ausführlich besprochen werden soll, kann doch ein bestimmter Aspekt dieser Thematik helfen, eine gesunde Pädagogik für die Zeit der frühen Kindheit zu gestalten.

Dieser wesentliche Gesichtspunkt ist die Tatsache, dass sich im Mutterleib zunächst hauptsächlich die Hüllen für den sich bildenden Leib gestalten und erst danach die Differenzierung des Leibes die Oberhand gewinnt. Zuerst treten nämlich in den ersten Tagen nach der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter ganz besonders das Amnionbläschen und der Dottersack in Erscheinung. Diese beiden Hüllen umgeben in der zweiten Woche nach der Befruchtung den eigentlichen Körper des Kindes, die sogenannte Keimscheibe, wie zwei Ballons, bevor sie dann ab der dritten Woche teilweise wieder in den sich differenzierenden Körper hineingenommen werden. Die zwischen den Hüllen liegende und relativ zur Gesamtgröße recht kleine Keimscheibe differenziert sich erst ab der dritten Woche langsam aus. Zunächst ist die Hüllenbildung vorherrschend! Außerdem tritt neben diesen beiden Hüllen um den eigentlichen Körper besonders die Entwicklung der Plazenta hervor. Im Verlauf der embryonalen Entwicklung gewinnt dann zwar der Fötus im Verhältnis zu seinen Hüllen stark an Größe, dennoch schwimmt er bis zur Geburt im Fruchtwasser unter der schützenden Haut der Fruchtblase und bleibt auch bis zuletzt über die Nabelschnur mit der Plazenta verbunden, die vom Beginn bis zum Ende der Schwangerschaft den kleinen Leib ernährt und viele Schadstoffe filtert.

Der Start ins Leben findet also unter schützender Umhüllung statt, in einer pflegenden Hülle, die die Natur im Mutterleib bereitstellt.5

Nach der Geburt sind wir als Erziehende, als Eltern oder Pädagogen, aufgefordert, altersentsprechend zu pflegen, zu schützen und zu umhüllen – und im rechten Moment loszulassen, was geboren werden will. Das Ankommen auf der Welt hängt davon ab, wie wir als Erwachsene nun eine pflegende Hülle um das Kind herum gestalten. Jetzt nicht mehr von Natur aus, sondern aus einem Bewusstseinsprozess für einen gesunden Start ins Leben, sozusagen von Kultur aus.

Da Reizüberflutung, Hektik, Ungeduld und intellektuelle Ansprache die Begleiterscheinungen unseres gegenwärtigen Lebens sind, kommt den Hüllen um das kleine Kind, durch die wir es vor Überforderungen schützen, eine zentrale Rolle zu.

Die folgenden Kapitel sollen einige grundlegende Motive auf diesem Weg des Ankommens aufzeigen.

Aus der Praxis

In fast jedem Waldorfkindergarten hängt ein Druck der Sixtinischen Madonna von Raffael. In diesem Gemälde ist der Weg des Ankommens besonders treffend ins Bild gebracht. Für Kinder und Eltern ist hier täglich der Inkarnationsweg des Menschen vom Himmel auf die Erde zu betrachten. Auf dem Bild ist der Vorhang zwischen irdischer Welt und geistiger Welt geöffnet. Hinter der Mutter mit dem Kind sind schemenhaft Gesichter in der Welt hinter dem Vorhang zu sehen. Und im Vordergrund warten die Repräsentanten der irdischen Welt nicht etwa mit Bildungseifer und Schulbüchern auf das Kind, sondern mit Ehrfurcht und Zurückhaltung.

In vielen Waldorfkindergärten wird zudem immer wieder zum Geburtstag eines Kindes ein kleines Kreisspiel, ein sogenannter Reigen, gespielt, der von dem Weg des Kindes vom Himmel auf die Erde handelt. Teil dieses Reigens ist vielerorts der Vers:

Aus dem Licht sind wir geboren,

aus den weiten Himmelshöhen,

kommen hernieder auf die Erde,

um auf ihr recht fest zu stehen.

In den meisten Waldorfkindergärten wird an einem Geburtstag auch immer wieder eine Geschichte erzählt, die folgendermaßen (oder so ähnlich) beginnt:

«Vor nunmehr fünf (oder vier oder sechs) Jahren trug es sich zu, dass ein Engel in den größten Himmelssaal gesandt wurde – dort, wo die vielen kleinen Kinder spielen. Er ging umher, bis er das eine fand, und nahm es behutsam mit sich. Als die Mitternachtsstunde gekommen war, schaute das Kind hinunter bis auf die Erde: Und es sah Steine und Berge, Blumen und Bäume, die Seen, Flüsse und Meere, die vielen Tiere und die Menschen. Und über alles breitete die Sonne ihre warmen Strahlen aus. Und unter den Menschen sah das Kind eine Mutter und einen Vater, die wünschten sich so sehr ein Kind. Sie hatten auch schon alles vorbereitet. Da stand ein Bettchen, und das Kind konnte sehen, dass das Bettchen noch leer war. Es lagen Hemdchen und Höschen im Schrank bereit und Windelchen, und das Kind wünschte sich sehnlichst dorthin. – ‹Dort möchte ich wohnen›, sprach es zum Engel, und der nickte und sagte: ‹Dann musst du mir folgen …›»

Auch in dieser Geschichte wird deutlich, wie sehr die Waldorfpädagogik die spirituelle Seite des Menschen einbezieht. Der Mensch hat nicht nur eine leibliche Herkunft, sondern auch eine seelisch-geistige Heimat.

Gehen, Sprechen, Denken

Mit den ausschließlich menschlichen Fähigkeiten des Gehens, Sprechens und Denkens erhebt sich der Mensch über das Tierreich. Sie sind ihm aber nicht von Natur aus mit der Geburt gegeben, sondern müssen in der frühen Kindheit mühsam entwickelt werden.6

Nach der Geburt sind zunächst alle Vitalfunktionen im Organismus auf die Pflege von außen angewiesen, das Kind kann sinnliche Erlebnisse über Auge, Ohr, Nase und Mund noch nicht einordnen, und es kann sich, wie wir festgestellt haben, weder aussprechen noch fortbewegen. Noch sind alle Bewegungen unwillkürlich oder folgen angeborenen Reflexen. Das Saugen, das Schlucken, das Greifen, aber auch andere Bewegungen, zum Beispiel der Schreitreflex oder gewisse Bewegungsabläufe bei bestimmten äußeren Reizen, sind leibliche Automatismen, die mit menschlicher Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung nicht im Geringsten zu tun haben. Trotzdem «sehen» wir durch die unvollkommene Erscheinung hindurch immer die Individualität, die sich in den kommenden Jahren zu den allgemeinen menschlichen Fähigkeiten und zu ihren ganz persönlichen individuellen Begabungen hin entwickeln wird.

Gehen

Im ersten Lebensjahr spielt sich zunächst eine rasante Bewegungsentwicklung ab. In den ersten drei Monaten ist dabei beim Kind das Vorherrschende im Kopfbereich wahrzunehmen: Die Augen lernen das Fixieren, und es entsteht das Vermögen, den Kopf allein, ohne stützende Hand des Erwachsenen, halten zu können. Auch das erste Lächeln fällt in diese Zeit.

Im zweiten Vierteljahr entwickelt sich vor allem das Spiel mit den Händen vor dem eigenen Brustkorb in Rückenlage, und die unermüdlichen Drehbewegungen kommen hinzu. In Bauchlage «hängen» die Beine des Kindes im Wachzustand interessanterweise oft noch in der Luft. Die Hauptaktivität liegt bei Armen und Händen sowie der Bauch- und Rückenmuskulatur.

Bis zum neunten, zehnten Monat wird der Körper dann meist bis zu den Knien ergriffen. Das Kind stützt sich mit dem gesamten Oberkörper ab und kommt so in den Vierfüßlerstand. Auch wenn von nun an die zeitliche Entwicklung immer individueller wird, kann man doch feststellen, dass am Ende dieser Phase das Sitzen und das Robben auftreten.