Leben ist Liebe

Ressourcen der Seele

Herausgegeben von Jean-Claude Lin

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Widmung

Ressourcen der Seele

Vorwort des Herausgebers

Ruth Ewertowski

«Vertrauen, dieses schwerste ABC»

Jean-Claude Lin

Selbsterkenntnis

Dieter Hornemann

Mit dem Atem der Erde

Ruth Ewertowski

Lebenskraft Glaube

Jean-Claude Lin

Leben ist Liebe

Jörg Ewertowski

Hoffnung, Tod und Sinnerfahrung

Andreas Laudert

Selbstlosigkeit – oder Vom Du

Frank Berger

Leichtigkeit

Andreas Altmann

Freundlichkeit

Walther Streffer

Willenskraft

Brigitte Werner

Bäume

Arnica Esterl

Märchenweisheit

Jean-Claude Lin

Erfahrungen mit dem Zeitpunkt des Todes

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Leseprobe

Impressum

Newsletter

Im Andenken an

Susanne Katharina Wege Lin

19.8.1956  19.6.2014

Ressourcen der Seele

Vorwort des Herausgebers

«Der Mensch muss seine ganze Kraft aus dem Nichts heraus finden.» Das bemerkte Rudolf Steiner am 30. Oktober des Jahres 1920 inmitten der gesellschaftlichen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg, als keine hergebrachte Ordnung zu halten schien und alle Träume über den schönen Fortschritt der menschlichen Zivilisation geplatzt waren. Der Band, in dem die Bemerkung festgehalten wird, trägt den zukunftsweisenden Titel Die neue Geistigkeit und das Christus-Erlebnis des zwanzigsten Jahrhunderts. Was aber auf der großen Bühne der Geschichte immer wieder zu erleben ist, und während und nach dem Ersten Weltkrieg in einem bis dahin unvorstellbaren Maße, findet sich wieder im Kleinen in jeder menschlichen Biografie. Wir stehen dann vor einem Nichts und wissen nicht weiter.

Zu einer uns gestellten Aufgabe fällt uns nicht die schöpferische Lösung ein. Dem Unternehmen, in dem man arbeitet, ereilt Schlag auf Schlag eine Widrigkeit nach der anderen. Bei einem uns nahe stehenden Freund wird eine schwere Krankheit diagnostiziert. Oder der mit uns seit über vierunddreißig Jahren in Liebe verbundene Mensch stirbt. Die Einzelfälle der Ratlosigkeit oder gar Verzweiflung sind so vielfältig wie das Leben. Sie müssen aber nicht immer so dramatisch sein. Es genügt ein lustlos, kraftlos, ideenlos erlebter Tag, um die Frage wachzurufen: Wo, wie finde ich die Ressourcen meiner Seele wieder?

In punkto Einfallslosigkeit hat Rudolf Steiner im Jahr 1909 in einigen deutschen Städten – zunächst für Mitglieder der damaligen Theosophischen Gesellschaft in Karlsruhe am 18. Januar, dann aber öffentlich in Berlin am 11. Februar, und vor allem in Nürnberg am 13. Februar – über einige «Gegenmittel» gesprochen. Genauer und positiv gewendet: Er hat insbesondere in den zwei öffentlichen Vorträgen «drei Zaubermittel» zur praktischen Ausbildung des Denkens dargestellt.1

Das erste Zaubermittel ist, «Interesse für die Gegenstände und Tatsachen des Lebens» zu entwickeln, «in jedem Augenblicke die Dinge als Individualitäten zu nehmen und uns zu sagen, sie haben uns immer etwas zu sagen». Wenn ich beispielsweise beobachte, dass mein Nachbar etwas in seinem Garten oder an seinem Haus macht, was sich mir nicht unmittelbar erschließt, dann kann ich mir Gedanken darüber machen und später überprüfen, inwieweit meine Gedanken zutreffend waren oder nicht. – Nur von Selbstlob sollte man absehen, wenn man richtig lag, denn das verdirbt die positive Entwicklung eines den Tatsachen und Vorgängen der Welt angemessenen Denkens.

Das zweite Zaubermittel für die praktische Ausbildung des Denkens ist die Lust und Liebe zu allem, was man tut. Jedes Mal, wenn wir nur gleichgültig, pflichtgemäß oder gar widerwillig etwas tun, vergeben wir eine Chance, uns mit der Welt und ihren Vorgängen zu verbinden. Sind unsere alltäglichen Handgriffe und Betätigungen dagegen «beherrscht» von Lust und Liebe, so vereinigen wir uns mit der Welt – und die Welt bedankt sich bei uns immer wieder mit den für sie richtigen Einfällen.

Das dritte Zaubermittel ist die innere Befriedigung am eigenen Denken, das wir bewusst selbst ausführen in der inneren, nicht von außen bestimmten Reflexion. Wir können etwa fünf Minuten am Tag damit verbringen, über einen einfachen Gegenstand wie einen Bleistift oder eine Schere nachzudenken, ohne dabei abschweifende Gedanken zuzulassen. Oder wir können uns am Ende eines Tages fragen: Was hast du heute erlebt, das wesentlich war, das etwas enthält, was von Dauer ist? Immer wieder habe ich bei mir beschämt feststellen müssen, dass mir das schwerfiel, dass zunächst gar nichts mir als wesentlich, Zeit überdauernd erschien.

Nach diesen Ausführungen zu den drei Zaubermitteln zur praktischen Ausbildung des Denkens weist Rudolf Steiner noch auf die Bedeutung der Nacht hin: wie wichtig es sei, manches Problem, wenn es einmal in Gedanken bewegt worden ist, durch die Nacht zu nehmen. In der Nacht reift das Denken weiter – ja: «Für vieles, was der Mensch verdirbt an seiner Gedankenkraft, wird der Ausgleich geschaffen dadurch, dass der Mensch schläft.» Und dann kommt der überraschendste Hinweis: «Es wird das Denken aber viel wesentlicher gefördert, wenn der Mensch sich entschließt, nicht zu denken, obwohl er wach ist. Die Augenblicke des Nichtdenkens sind die größten erzieherischen Mittel für das Denken.»

Womit wir wieder beim Nichts sind: «Der Mensch muss seine ganze Kraft aus dem Nichts heraus finden.» Aber dieses Nichts muss durch kräftiges Tun erst ermöglicht werden! Das ist der Unterschied. Unser Bewusstsein ist meist mit allerlei unwillkürlichen Gedanken erfüllt oder gar besetzt. Um dahin zu kommen, dass wir uns den Gegenständen und Tatsachen des Lebens ganz ohne Vorurteile hingeben können, bedarf es der selbstbestimmten, geübten eigenen Tätigkeit des Denkens. Aber dann muss das eigene Denken schweigen und leer sein können, um etwas Neues zu empfangen.

Neben dem Vertrauen, das einem geschenkt wird, der Selbsterkenntnis, die wir uns mühsam erringen, dem Atem der Erde, mit dem wir leben, dem Glauben, der Liebe, der Hoffnung, die uns zuteil werden; neben der selbstlosen Hinwendung zum Du, der Leichtigkeit in der Musik eines Debussy, der Freundlichkeit oder der monumentalen bildschaffenden Willenskraft eines Michelangelo; neben dem Trost der Bäume, der Weisheit der Märchen oder der Romane von Charles Dickens – gibt es unzählige Ressourcen der Seele. Sie sind so vielfältig wie die einzelnen Menschen, die sich dem Wunder des Lebens zuwenden.

Stuttgart, 6. 11. 2016   Jean-Claude Lin

The Pickwick Papers, Charles Dickens’ erster Roman, erschien in Fortsetzung von April 1836 bis November 1837 20-teilig in 19 monatlichen Folgen.

Geboren am 7. Februar 1812 in Portsmouth, war Charles Dickens erst 24 Jahre alt, als er mit den «Pickwickier» begann; bis dahin war er Journalist und parlamentarischer Berichterstatter, der unter dem obskuren Pseudonym «Boz» seine Artikel schrieb.

Mit Mr. Samuel Pickwick, Sam Weller und den anderen Protagonisten seines ersten Romans schuf er einige der beliebtesten Gestalten der Mythologie der englischen Kultur und wurde in die Gesellschaft der hoch gefeierten Schriftsteller Englands katapultiert. «Einer zweiten Sonne gleich» kommt Mister Pickwick, unsere trüben Tage zu erheitern.

Charles Dickens: Die Pickwickier

Ins Deutsche übertragen von Gustav Meyrink

2. Kapitel, Diogenes Verlag, Zürich 1986

Mr Pickwick

«Die Sonne, die pünktliche Allerweltdienerin, war eben aufgegangen und begann mit ihren Strahlen den Morgen … zu erhellen, als sich Mr. Samuel Pickwick, einer zweiten Sonne gleich, von seinem Lager erhob, das Fenster seines Schlafgemachs öffnete und auf die Welt zu seinen Füßen hinabblickte.»

Ruth Ewertowski

«Vertrauen, dieses schwerste ABC»

Je mehr davon die Rede ist, desto weniger ist es da. Je dringender man es haben will, umso mehr entzieht es sich. Das ist nicht nur das Zeichen der Krise, sondern liegt sachgemäß im Wesen des Vertrauens, ohne das doch nichts geht.

Wenn man Vertrauen hat wie ein Kind und lächeln kann wie ein Kind, ist es ganz einfach; wenn man es aber verloren hat und es wieder haben will, das Schwerste. Politik und Finanzmärkte singen derzeit ein Lied davon und werben um Vertrauen, doch tönt das schräg. Je mehr man den Missklang darin hört, umso besser. Denn wo Vertrauen selbst zum Kapital degradiert wird, das die Märkte beruhigen soll, wird eine der wertvollsten und unerlässlichsten Bedingungen unseres Daseins instrumentalisiert und damit missbraucht. Natürlich ist Vertrauen auch da nötig, wo’s ums Geld geht. Wenn es aber mit ihm gleichgesetzt wird, hat man die Namen der Dinge verwirrt: Vertrauen kann uns nie so gehören wie Geld und offenbart sich gerade deshalb als das Wertvollere. Es ist die Basis menschlicher Existenz und wird, anders als Geld, nicht weniger durch seinen Gebrauch, im Gegenteil: es pflanzt sich fort. Die Metaphorik, die ihm angemessen ist, ist eine pflanzliche. Hingegen läuft die immer wieder bemühte ökonomische Rede, etwa auch vom «Sozialkapital», dem Vertrauen zuwider, weil sie im Grunde nur auf eine lineare Erhaltung und Steigerung sinnt, während das Wachstum des Vertrauens den vegetativen Charakter des Zyklischen hat. Es ist Same und Frucht zugleich, d. h. Vertrauen befähigt einen anderen zu dem, was ihm zugetraut wird, macht ihn zuverlässig und ehrlich, schöpferisch und fähig, über sich hinauszuwachsen. Logisch gesehen erzeugt es damit erst das, was seine Bedingung ist. Denn Vertrauen schafft die Vertrauenswürdigkeit des anderen, die eigentlich der Grund des Vertrauens ist. So geht aus der Frucht der neue Same hervor, der wieder Frucht bringen kann.

Daraus aber eine Strategie zu machen, weil statistisch gesehen Vertrauen in der Hauptsache wiederum Vertrauen und Misstrauen nur Misstrauen hervorruft, hieße auf einen Placeboeffekt bauen. Der führt, sobald er erkannt ist, nur wieder in einen Vertrauensschwund. Strategisches Vertrauen ist ein Widerspruch in sich. Es ist unglaubwürdig wie alle vertrauensbildenden «Maßnahmen». Darin liegt eine Tragik, aber auch eine Schönheit und eine Souveränität.

In den Angelegenheiten unserer Seele gehört es zu den schwierigsten, aber wichtigsten Fragen, wie wir wieder in den Zirkel des Vertrauens hineinkommen können, wenn wir einmal aus ihm herausgefallen sind. Und jeder Mensch fällt, wenn alles seinen normalen Gang geht, doch irgendwann aus ihm heraus. Denn zum einen gibt es kein Leben ohne Enttäuschungen, und zum anderen führt schon allein das Nachdenken über das Vertrauen in das Magnetfeld des Misstrauens. Wenn man nach Gründen sucht, ist es schon nicht mehr, was es einmal als ein Fragloses war. Wir fallen aus ihm heraus, weil wir rechnen oder Angst haben, weil die Gewalt einbricht oder unsere Welt so völlig unübersichtlich geworden ist und wir nicht mehr wissen, wo’s langgeht. Wie kann es da wiederkommen?

Eine sehr feinsinnige Antwort auf diese Frage hat einmal Hilde Domin in ihrem Gedicht Lied zur Ermutigung II gegeben (siehe S. 23).

Wenn man etwas verloren hat, kann man es wiederfinden oder auch nicht. Findet man es, dann ist das wie ein Geschenk. So wird auch nicht selten und zu Recht vom Vertrauen gesprochen: Es ist eine Gabe, eine Gunst, die uns von anderswoher gewährt werden muss. Unsere eigentliche Aktivität ist dann die, dass wir die Gabe weitergeben. Ja, man hat Vertrauen nur, wenn man es weiterschenkt.

Dass man Vertrauen aber auch lernen können soll wie das ABC, also wie Lesen und Schreiben, ist anders: schwer, aber doch irgendwie machbar. Wenn wir Vertrauen noch anfänglich lernen könnten ohne die Erfahrung der türlosen Mauern, des Ausgesperrt- und Auf-der-Flucht-Seins, so anfänglich wie ein Kind das Grundvertrauen und die Sprache im Zusammensein mit Mutter und Vater lernt, dann wäre es einfach. Da es aber ein Verlorenes ist, ist es das «schwerste ABC».

Die Sprache ist das Beziehungen stiftende Medium schlechthin. In ihr liegt die Sphäre des Vertrauens. Sie schließt die Welt auf, und zwar so, dass wir an ihr beteiligt sind. Dazu aber muss man sie wohl immer wieder von neuem lernen und dabei die Bedeutungen wie Beziehungen sachgemäß stiften. Das ist ein kreativer Akt, der im Gedicht Zeichensetzung und Selbstfindung zugleich ist. Denn in den ersten beiden Strophen ist das Ich sich selber fremd, was sich darin ausdrückt, dass es sich mit Du anspricht. Dennoch: es ist unterwegs zu sich, denn seine Rede gilt der Vergangenheit und steht im Passiv: «Lange wurdest du …» Die Flucht und das Wegwerfen der verwirrten Namen der Dinge ist aktive Gegenwart, vielleicht der Nullpunkt, aber zugleich der Anfang eines Hinter-sich-Lassens.

Ein Nullpunkt, der den Begriff des Vertrauens selbst betrifft, ist sein Missbrauch als Kapital zur Geldvermehrung. Darin haben sich für uns heute die Namen der Dinge verwirrt. In jedem Babel, das einen Turm baut, herrscht Sprachverwirrung, Unverständnis und Misstrauen. Zu anderen Zeiten sind die Namen der Dinge anders verwirrt und verfälscht worden, immer aber ist der Wortbruch ein Vertrauensbruch und führt dazu, dass wir die Welt nicht mehr verstehen. Verstehen aber führt zu Vertrauen. Und das Verstehen kann man lernen und üben. Man kann z. B. dieses Gedicht zu verstehen suchen und dabei die Spur zu einem Vertrauen finden, an dem man selbst schöpferisch beteiligt ist. Das lyrische Ich setzt ein Zeichen in die Luft da, wo das neue Vertrauen beginnt.

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