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JonathanCuller

Literaturtheorie

Eine kurze Einführung

Aus dem Englischen übersetzt
von Andreas Mahler

Reclam

 

2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN: 978-3-15-960427-5

ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-017684-9

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

1 Was ist Theorie?

2 Was ist Literatur und ist sie wichtig?

3 Literatur und Kulturwissenschaft

4 Sprache, Bedeutung und Interpretation

5 Rhetorik, Poetik und Lyrik

6 Erzählen

7 Performative Sprache

8 Identität, Identifikation und das Subjekt

9 Ethik und Ästhetik

Anhang: Theoretische Schulen und Strömungen

Literaturhinweise

Personen- und Sachregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

[7] Vorwort

Viele Einführungen in die Literaturtheorie beschreiben eine Anzahl kritischer ›Schulen‹. Dabei wird Theorie so behandelt, als gehe es ihr um eine Reihe miteinander rivalisierender ›Ansätze‹, von denen jeder einzelne über seine eigene theoretische Position und seine eigenen Interessen verfügt. Allerdings haben die jeweiligen theoretischen Strömungen, die in solchen Einführungen vorkommen – Strukturalismus, Dekonstruktion, Feminismus, Psychoanalyse, Marxismus und New Historicism – vieles miteinander gemein. Aus diesem Grund spricht man auch von ›Theorie‹ im Allgemeinen und nicht bloß von bestimmten Theorien. Für eine Einführung in den Bereich der Theorie empfiehlt sich also eher eine Diskussion gemeinsamer Fragestellungen und Grundannahmen als ein Überblick über einzelne Schulen. Dementsprechend erweist es sich als günstiger, wichtige Einzeldebatten nachzuzeichnen, die nicht eine ›Schule‹ einer anderen gegenüberstellen, sondern bereits enorme Unterschiede innerhalb einzelner Strömungen verdeutlichen. Eine als Revue rivalisierender Ansätze und Interpretationsmethoden konzipierte Darstellung geht an einem Großteil des Interesses und des Impetus zeitgenössischer Theoriebildung, der sich einerseits aus der umfassenden Infragestellung des gesunden Menschverstands und andererseits aus den Fragen nach Verfahren der Bedeutungsbildung und Identitätsstiftung speist, vorbei. Stattdessen habe ich es vorgezogen, nach bestimmten Themen zu gliedern und mich auf wichtige Fragen und damit verbundene Debatten wie auch auf das meiner Meinung nach daraus Gelernte zu konzentrieren.

Gleichwohl hat jeder, der eine Einführung in die Literaturtheorie liest, auch ein Recht darauf, Begriffe wie ›Strukturalismus‹ und ›Dekonstruktion‹ erklärt zu bekommen. Knappe Skizzen der wichtigsten literaturtheoretischen Schu[8] len oder Strömungen finden sich im Anhang; man kann sie zu Beginn oder zum Schluss oder auch als ständige Begleitung lesen. Viel Vergnügen!

Für die vorliegende Neuausgabe habe ich einige Darstellungen revidiert, die Bibliographien auf den letzten Stand gebracht und ein neues Kapitel mit dem Titel »Ethik und Ästhetik« hinzugefügt.

* * *

Dieses Buch ist in vielem den Teilnehmern der von mir an der Cornell University abgehaltenen Kurse zur Einführung in die Literaturtheorie zu Dank verpflichtet. Die Fragen und Einwände der Teilnehmer haben mir über die Jahre hinweg zunehmend ein Gefühl dafür vermittelt, was man in einer Einführung sagen sollte und was nicht. Es ist mir eine besondere Freude, Cynthia Chase, Mieke Bal und Richard Klein Dank zu sagen für ihre Lektüre und die Kommentare zum Manuskript, die mich veranlasst haben, Verschiedenes zu überdenken und neu zu formulieren. Robert Baker, Leland Deladurantaye und Meg Wesling haben auf unterschiedliche Weise Hilfe geleistet; Ewa Badowska, die mir ganz wesentlich dabei geholfen hat, Literaturtheorie zu lehren, trug entscheidend zu einer ganzen Reihe von Bereichen des vorliegenden Projekts bei. Für die vorliegende Neuausgabe bin ich Diskussionen mit Studierenden der School of Criticism and Theory an der Cornell University und den Vorschlägen Martin Hägglunds, Seth Perlows, Jessica Metzlers und insbesondere Avery Slaters zu Dank verpflichtet.

[9] 1 Was ist Theorie?

In der heutigen Literatur- und Kulturwissenschaft ist seit geraumer Zeit viel von Theorie die Rede – wohlgemerkt nicht von Literaturtheorie, sondern nur von Theorie. Dem Außenstehenden muss ein solcher Wortgebrauch ziemlich merkwürdig erscheinen. »Theorie wovon?«, wird man sich fragen. Mit einer Antwort hierauf tut man sich überraschend schwer. Weder geht es um die Theorie irgendeines besonderen Teilbereichs noch um eine umfassende Theorie von Dingen im Allgemeinen. Manchmal erscheint Theorie überhaupt weniger als Darstellung irgendeines Gegenstandbereichs, sondern viel eher als Tätigkeit – als etwas, das man tut oder nicht tut. Theorie kann man betreiben, man kann sie lehren und lernen, man kann sie hassen oder auch fürchten. Doch nichts davon erweist sich als recht hilfreich, will man verstehen, was Theorie eigentlich ist.

›Theorie‹, so heißt es, habe die Literaturwissenschaft radikal verändert. Eine solche Rede meint allerdings nicht eine Theorie der Literatur, also die systematische Untersuchung des Wesens der Literatur und der Methoden ihrer Analyse. Wer darüber klagt, dass in der Literaturwissenschaft heutzutage zu viel Theorie betrieben wird, der meint nicht ein Zuviel an systematischen Überlegungen über Literatur im Allgemeinen oder ein Zuviel an Debatten über die besonderen Eigenschaften des literarischen Sprachgebrauchs. Weit gefehlt. Die Klagen zielen auf etwas anderes.

Sie zielen möglicherweise genau darauf, dass viel zu viel Nicht-Literarisches zur Diskussion steht, viel zu viele allgemeine Fragestellungen debattiert werden, deren Verbindung zur Literatur kaum ersichtlich ist, und viel zu viel psycho[10] analytische, politische und philosophische Texte gelesen werden. Theorie ist ein ganzes Bündel von (zumeist ausländischen) Namen; Theorie heißt etwa Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan, Judith Butler, Louis Althusser, Giorgio Agamben oder Gayatri Spivak.

Der Begriff ›Theorie‹

Also, was ist nun Theorie? Ein Teil des Problems liegt bereits im Begriff ›Theorie‹ selbst, der in zwei unterschiedliche Richtungen weist. Denn einerseits sprechen wir etwa von so etwas wie der ›Relativitätstheorie‹ und meinen damit einen unverrückbaren Satz von Aussagen. Andererseits aber benutzen wir das Wort ›Theorie‹ immer auch in seiner alltäglichsten Bedeutung.

»Warum haben sich Laura und Michael getrennt?«

»Also, meine Theorie ist, dass ... «

Was bedeutet ›Theorie‹ in diesem Fall? Zunächst einmal signalisiert das Wort so etwas wie ›Spekulation‹. Doch eine Theorie ist nicht dasselbe wie eine Vermutung. »Also, ich vermute mal, dass ...« würde nämlich implizieren, dass es eine richtige Antwort gibt, die ich bloß zufällig nicht weiß: »Also, ich vermute mal, dass Laura das ständige Genörgel von Michael nicht mehr ertragen konnte, aber den wahren Grund hören wir ja, wenn ihre Freundin Mary da ist.« Demgegenüber ist eine Theorie eine Art Spekulation, die von dem, was Mary sagen wird, gänzlich unbeeinträchtigt bleiben kann, sie ist ein Erklärungsversuch, dessen Wahrheitsgehalt möglicherweise schwer zu beweisen, aber auch ebenso schwer zu widerlegen ist.

Darüberhinaus signalisiert »Also, meine Theorie ist, dass ...«, dass die gegebene Erklärung nicht offensichtlich [11] ist. Es wäre ungewöhnlich, wenn der Betreffende fortfahren würde: »Also, meine Theorie ist, dass sie sich getrennt haben, weil Michael eine Affäre mit Samantha gehabt hat.« So etwas würde man nicht als Theorie bezeichnen. Man braucht kaum großen theoretischen Scharfsinn, um zu schließen, dass eine Affäre zwischen Michael und Samantha Konsequenzen für Lauras Haltung zu Michael gehabt haben könnte. Interessant ist allerdings, dass, wenn der Betreffende sagen würde: »Also, meine Theorie ist, dass Michael mit Samantha eine Affäre gehabt hat«, die Affäre selbst den Status einer bloßen Mutmaßung bekommt, nicht mehr unbezweifelbar ist und folglich zu einer möglichen Theorie wird. Um aber allgemein als Theorie zu gelten, darf ein Erklärungsversuch nicht nur nicht offensichtlich sein; er braucht auch ein gewisses Maß an Komplexität: »Also, meine Theorie ist, dass Laura insgeheim eigentlich immer nur ihren Vater geliebt hat und es Michael nie richtig gelungen ist, sie zufrieden zu stellen.« Das heißt also: Eine Theorie muss mehr sein als eine bloße Hypothese; sie darf nicht von vornherein offensichtlich sein; sie besteht aus komplexen Beziehungen mehr oder weniger systematischer Art zwischen einer Anzahl von Faktoren; und sie ist weder leicht zu bestätigen noch leicht zu widerlegen. Behalten wir all diese Bedingungen im Auge, wird es leichter fallen, zu begreifen, was gegenwärtig alles unter dem Begriff ›Theorie‹ läuft.

Theorie als Gattung

Theorie in der Literaturwissenschaft meint also weder eine Erkundung des Wesens der Literatur noch ihrer Untersuchungsmethoden (auch wenn solche Fragen Teil der Theoriebildung sind und hier, vor allem in den Kapiteln 2, 5 und 6, behandelt werden). Theorie meint vielmehr eine Anzahl [12] von Überlegungen und Texten, deren gemeinsame Grenzen äußerst schwer bestimmbar sind. Der Philosoph Richard Rorty hat diesbezüglich von einer Mischgattung gesprochen, deren Anfänge im 19. Jahrhundert liegen: »In der Zeit Goethes, Carlyles, Macaulays und Emersons begann sich eine neue Art des Schreibens herauszubilden, die weder Literaturkritik noch Geistesgeschichte, weder Moralphilosophie noch Gesellschaftsanalyse ist, sondern all dies zusammen in einer neuen Gattung.«1 Der Begriff ›Theorie‹ hat sich einfach als bequemste Bezeichnung für eine solche Mischgattung erwiesen, und zwar als Etikett für all jene Schriften, denen es gelingt, das Denken auf anderen, offenbar auch wesensfremden Feldern herauszufordern und in neue Bahnen zu lenken. Dies ist die einfachste Erklärung für das, was heutzutage gemeinhin als Theorie gilt. Werke, die man als Theorie betrachtet, wirken über ihre angestammte Disziplin hinaus.

Diese einfache Erklärung ist zwar als Definition unbefriedigend, doch scheint sie in der Tat genau das zu erfassen, was seit den 1960er-Jahren passiert ist: Schriften aus anderen Forschungsgebieten haben gerade deshalb bei Literaturwissenschaftlern Anklang gefunden, weil ihre sprachlichen, geistesgeschichtlichen, historischen oder auch kulturspezifischen Analysen neue und überzeugende Erklärungsmuster für textspezifische wie kulturelle Fragen geliefert haben. In diesem Sinn also ist Theorie nicht zu verstehen als fester Satz methodischer Grundüberlegungen für das Studium der Literatur, sondern eher als loses Bündel von Schriften über Gott und die Welt, von den abstraktesten Problemen universitärer Philosophie bis hin zum Wandel sprachlicher wie gedanklicher Vorstellungen des Menschen von seinem Körper. Die Textgattung ›Theorie‹ umfasst Werke aus der Anthropologie, Filmwissenschaft, Geschlechterdifferenz, Kunstgeschichte, Philosophie, Politikwissenschaft, [13] Psychoanalyse, Sozial- und Geistesgeschichte, Soziologie, Sprachwissenschaft und aus der Wissenschaftstheorie. Die in Frage kommenden Werke sind dabei zunächst an die Argumentation des jeweiligen Fachs gebunden, werden aber zu Werken der ›Theorie‹, weil ihre Entwürfe oder Argumente gerade für diejenigen reizvoll oder produktiv geworden sind, die nicht in diesem Fach arbeiten. Werke, die zu ›Theorie‹ werden, liefern fachfremden Forschern nützliche Erklärungsmuster für Fragen etwa nach dem Wesen von Bedeutung, nach dem Gegensatz von Natur und Kultur, der Wirkweise der Psyche, dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre wie nach dem Zusammenhang von Geschichtlichkeit und individueller Erfahrung.

Wirkungen der Theorie

Definiert man Theorie über die von ihr erzielte Wirkung, also über einen Wandel in der Einstellung, eine veränderte Einschätzung der Untersuchungsgegenstände und der damit verbundenen Vorgehensweise, dann stellt sich die Frage nach der Art dieser Wirkungen.

Der Haupteffekt der Theorie liegt darin, dass sie den so genannten ›gesunden Menschenverstand‹ in Frage stellt: also vermeintlich vernünftige Ansichten über Dinge wie Bedeutung, Schrift, Literatur oder Erfahrung. Theorie hinterfragt etwa

– die Vorstellung, dass die Bedeutung einer Äußerung bzw. eines Texts dem entspricht, was sich der Autor ›dabei gedacht hat‹,

– den Gedanken, dass die Schrift nur der Ausdruck von etwas ist, dessen Wahrheit anderswo zu suchen ist, nämlich in einer von ihr lediglich wiedergegebenen Erfahrung oder einem Sachverhalt,

[14] – die Idee, dass Wirklichkeit das ist, was zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden, also ›präsent‹ ist.

Theorie präsentiert sich oftmals als hartnäckige Kritik solcher Vorstellungen des gesunden Menschenverstands; darüberhinaus als Versuch zu zeigen, dass das, was wir als unmittelbar einsichtig und vernünftig akzeptieren, nichts anderes ist als ein historisches Konstrukt, eine bestimmte Theorie, die uns im Lauf der Zeit so geläufig geworden ist, dass wir sie nicht einmal mehr als solche erkennen. Als Kritik des gesunden Menschenverstands und Erkundungsraum alternativer Sichtweisen heißt theoriebewusstes Arbeiten, alle wesentlichen Prämissen und Grundannahmen literaturwissenschaftlicher Analyse in Frage zu stellen, all das, was man bislang für selbstverständlich gehalten hat, auseinander zu nehmen, also etwa: Was ist Bedeutung? Was ist ein Autor? Was heißt ›lesen‹? Was versteht man unter einem schreibenden, lesenden, spielenden ›Ich‹ bzw. Subjekt? In welchem Verhältnis stehen Texte zu ihren Entstehungsbedingungen?

Was ist ein Beispiel für ›Theorie‹? Statt allgemein über Theorie zu reden, stürzen wir uns doch lieber mitten in einige nicht ganz einfache Texte von zwei der renommiertesten Theoretiker, um zu sehen, was wir damit anfangen können. Ich schlage zwei miteinander in Verbindung stehende, aber höchst unterschiedliche Beispiele vor, die gängige Vorstellungen von ›Sexualität‹, ›Schrift‹ und ›Erfahrung‹ einer deutlichen Kritik unterziehen.

Foucault über Sex

In seinem Buch Sexualität und Wahrheit stellt der französische Ideengeschichtler Michel Foucault Überlegungen an zu dem, was er die ›Repressionshypothese‹ nennt, die gemein[15] hin akzeptierte Vorstellung nämlich, dass Sexualität etwas sei, das frühere Epochen, vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, unterdrückt hätten, während sich die Moderne für seine Befreiung eingesetzt habe. Sexualität, behauptet Foucault, sei nicht etwas Natürliches, das unterdrückt worden sei, sie sei vielmehr ein komplexes Bündel von Vorstellungen, das sich aus einer Reihe gesellschaftlicher Praktiken, Untersuchungen, Äußerungen und Texten ergebe – kurz: aus ›Diskursen‹ oder ›diskursiven Praktiken‹ –, die alle im 19. Jahrhundert zusammengekommen seien. All die Äußerungen – von Ärzten, Klerikern, Romanautoren, Psychologen, Moralisten, Fürsorgevertretern und Politikern –, die wir mit der Vorstellung von der Unterdrückung der Sexualität in Verbindung bringen, erweisen sich so als Teilelemente eines Prozesses, in dem das, was wir ›Sexualität‹ nennen, erst erschaffen wurde. Foucault schreibt:

Der Begriff der Sexualität ermöglichte es, anatomische Gegebenheiten, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Gefühle und Lusterfahrungen in einer künstlichen Einheit zusammenzufassen; und er versetzte seine Benutzer zugleich in die Lage, von dieser fiktiven Einheit wie von einem Kausalprinzip, einem allgegenwärtigen Sinn, einem überall zu entdeckenden Geheimnis Gebrauch zu machen.2

Natürlich leugnet Foucault nicht, dass es den physischen Akt des Geschlechtsverkehrs gibt oder dass Menschen eine biologisch begründete Sexualität und Geschlechtsorgane haben. Vielmehr behauptet er, dass das 19. Jahrhundert neue Wege gefunden hat, unter einer einzigen Kategorie (›Sexualität‹) eine weite Spanne von Dingen zusammenzufassen, die potentiell ganz unterschiedlich sind: gewisse Handlungen, die wir sexuell nennen, biologische Unterschiede, Körperteile, psychologische Reaktionen und vor allen Dingen [16] gesellschaftliche Bedeutung. Die Art, wie die Menschen über solche Verhaltensweisen, Gefühle und biologische Funktionen sprachen und mit ihnen umgingen, schuf etwas Neues, eine künstliche Einheit, die mit dem Begriff ›Sexualität‹ bezeichnet und im Laufe der Zeit als grundlegend für die Identität des Individuums angesehen wurde. Dann wurde jedoch durch eine entscheidende Drehung dieses ›Sexualität‹ genannte Phänomen als der Grund für die Vielzahl der Erscheinungen angesehen, die zunächst zusammengefasst worden waren, um die Vorstellung allererst zu erschaffen. Dieser Prozess gab der Sexualität ein neues Gewicht und eine neue Funktion, da er sie zum Geheimnis der Natur eines jeden Individuums machte. Wenn wir über die Wichtigkeit des ›Sexualtriebs‹ und unserer ›geschlechterbestimmten Natur‹ sprechen, haben wir, bemerkt Foucault, den Punkt erreicht,

wo wir davon ausgehen, dass sich unser Selbstverständnis auf etwas gründet, das über viele Jahrhunderte hindurch als Wahnsinn galt, [...] und unsere Identität auf etwas, das als unbenannter Trieb wahrgenommen wurde. Hieraus erklärt sich die Wichtigkeit, die wir der Sexualität zuschreiben, die ehrfürchtige Scheu, mit der wir sie umgeben, die Sorge, mit der wir uns um ihre Kenntnis bemühen. Hieraus erklärt sich auch die Tatsache, dass sie uns wichtiger geworden ist als unsere Seele.3

Ein anschauliches Beispiel dafür, wie Sexualität zum Geheimnis für das Wesen des Individuums, zu einem entscheidenden Schlüssel für das Verständnis seiner Identität gemacht wurde, ist die im 19. Jahrhundert beobachtbare Erschaffung ›des Homosexuellen‹ als Typ, ja gar als ›Spezies‹. In früheren Epochen waren sexuelle Handlungen (wie etwa die Sodomie) zwischen gleichgeschlechtlichen Individuen [17] gesellschaftlich geächtet, doch nun ging es nicht mehr um Handlungen, sondern um Identität, nicht darum, ob jemand verbotene Dinge getan hat, sondern darum, ob er homosexuell ›ist‹. Die Sodomie war ein Akt, schreibt Foucault, aber »der Homosexuelle war von nun an eine Spezies«.4 Früher gab es homosexuelle Handlungen, die Menschen praktizieren konnten oder nicht; jetzt ging es eher um einen geschlechtlichen Kern oder eine Essenz, von der man annahm, dass sie das wahre Wesen des Individuums bestimme: Ist es homosexuell?

In Foucaults Darstellung wird ›Sexualität‹ durch Diskurse konstruiert, die mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen verbunden sind: mit der Art, wie Ärzte, Kleriker, Beamte, Fürsorgevertreter und selbst Romanciers mit Phänomenen umgehen, die sie als geschlechtliche ansehen. Aber diese Diskurse stellen Sexualität als etwas dar, was den Diskursen selbst vorausgeht. In der Moderne hat man diese Vorstellung weitgehend akzeptiert und deshalb den Diskursen und gesellschaftlichen Praktiken vorgeworfen, dass sie die Sexualität, die sie eigentlich erst konstruieren, kontrollieren und unterdrücken wollen. Indem sie diesen Prozess umdreht, behandelt Foucaults Analyse Sexualität eher als eine Wirkung denn als Ursache, als Produkt von Diskursen, denen es darum geht, menschliche Handlungen zu analysieren, zu beschreiben und zu regulieren.

Foucaults Analyse ist ein Beispiel für eine Argumentation aus dem Bereich der Geschichte, die ›Theorie‹ geworden ist, weil sie Menschen in anderen Bereichen inspiriert und zum Weiterdenken veranlasst hat. Sie ist keine Theorie der Sexualität im Sinne einer Anzahl von Grundsätzen, die Anspruch auf universale Geltung erheben. Sie behauptet, die Analyse einer bestimmten historischen Entwicklung zu sein, doch hat sie deutlich weitere Implikationen. Sie bringt [18] einen dazu, gegenüber dem, was als natürlich, als gegeben gilt, misstrauisch zu sein. Aber wäre es andererseits nicht auch möglich gewesen, dies über Expertendiskurse herzustellen, über Praktiken, die mit Wissensdiskursen verbunden sind, von denen behauptet wird, dass sie gerade solches beschreiben? In Foucaults Darstellung zeigt sich, dass gerade der Versuch, die Wahrheit über den Menschen herauszufinden, dazu geführt hat, dass ›Sexualität‹ zum Geheimnis der menschlichen Natur gemacht wurde.

Schritte der Theorie

Ein charakteristisches Merkmal von Gedanken, die zu Theorie werden, besteht darin, dass sie auf entscheidenden ›Schritten‹ beruhen, die man auch beim Nachdenken über andere Gegenstandsbereiche durchführen kann. Ein solcher Schritt ist Foucaults Vorschlag, den vermeintlichen Gegensatz zwischen einer natürlichen Sexualität und den sie unterdrückenden gesellschaftlichen Kräften (der ›Macht‹) eher als Komplizenverhältnis zu sehen: Die gesellschaftlichen Kräfte erschaffen allererst das Phänomen (›Sexualität‹), das sie allem Anschein nach kontrollieren. Ein weiterer Schritt – ein Zusatz, wenn man so will – besteht dann darin, zu fragen, was durch die Verschleierung dieser Komplizenschaft zwischen der Macht und der durch sie angeblich unterdrückten Sexualität bewirkt wird. Was wird bewirkt, wenn diese gegenseitige Abhängigkeit als Gegensatz und nicht als gegenseitige Abhängigkeit gesehen wird? Foucault meint, dies diene dazu, die Allgegenwart der Macht zu kaschieren: Man denkt, dass man, wenn man sich für Sexualität stark macht, der Macht Widerstand leistet, während man in Wirklichkeit vollständig in dem Rahmen agiert, den die Macht gesetzt hat. Mit anderen Worten: solange das Phänomen [19] ›Sexualität‹ außerhalb der Macht zu liegen scheint – als etwas, das die gesellschaftlichen Kräfte vergeblich unter Kontrolle zu bringen versuchen –, so lange sieht die Macht begrenzt und gar nicht sehr machtvoll aus (sie kann die Sexualität nicht zähmen). In Wirklichkeit aber ist die Macht allgegenwärtig; sie ist überall.

Die Macht ist für Foucault nicht etwas, über das jemand verfügt, sondern ›Macht/Wissen‹: Macht in der Form von Wissen oder Wissen als Macht. Was wir über die Welt zu wissen glauben – der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir dazu gebracht werden, uns Gedanken über die Welt zu machen –, übt große Macht aus. So hat Macht/Wissen beispielsweise die Situation geschaffen, in der jeder über seine Sexualität definiert ist. Macht/Wissen hat die Situation geschaffen, die eine Frau als eine Person definiert, deren Erfüllung angeblich in einer geschlechtlichen Beziehung mit einem Mann liegt. Die Vorstellung, dass Sexualität außerhalb und in Opposition zur Macht steht, verschleiert die Reichweite von Macht/Wissen.

Zu diesem Theoriebeispiel sind einige wichtige Anmerkungen zu machen. Theorie ist hier bei Foucault analytisch – die Analyse eines Konzepts –, aber sie ist auch notwendig spekulativ in dem Sinne, dass es keinen zitierbaren Beleg gibt, der zeigen könnte, dass dies in Bezug auf Sexualität die richtige Hypothese ist (es gibt eine Menge Belege, die seine Darstellung als plausibel erscheinen lassen, aber eben keinen entscheidenden Beweis). Foucault nennt diese Art von Untersuchung ›genealogische‹ Kritik: eine Darlegung, wie vermeintliche Grundkategorien wie ›Sexualität‹ durch diskursive Praktiken hergestellt werden. Eine solche Kritik will uns nicht sagen, was Sex wirklich ist, sondern sie sucht zu zeigen, wie eine bestimmte Vorstellung davon entstanden ist. Es fällt auch auf, dass Foucault hier überhaupt nicht über Literatur spricht, auch wenn sich diese Theorie für Literaturwissenschaftler als äußerst interessant erwiesen hat. Zum einen geht es in der Literatur um Sexualität; Literatur [20] ist einer der Orte, an denen eine solche Vorstellung von Sexualität konstruiert wird, wo wir den Gedanken propagiert finden, dass die zutiefst innerste Identität eines Menschen an das Begehren gebunden ist, das er für einen anderen empfindet. Foucaults Darlegung ist sowohl für Wissenschaftler wichtig gewesen, deren Forschungsgebiet der Roman ist, als auch für solche, die in den Gay and Lesbian Studies und allgemein in der Geschlechterforschung arbeiten. Foucault hat sich überhaupt im Erfinden neuer Gegenstände der Geschichtsschreibung als besonders einflussreich erwiesen: von ihm stammen Dinge wie ›Sexualität‹, ›Strafe‹ und ›Wahnsinn‹, von denen wir zuvor nie angenommen hätten, dass sie eine Geschichte haben. Seine Werke behandeln diese und ähnliche Untersuchungsgegenstände als historische Konstruktionen und bringen uns dazu, zu fragen, wie wohl die diskursiven Praktiken einer Epoche, einschließlich der Literatur, die Dinge erst geformt haben, die wir für selbstverständlich halten.

Derrida zur Schrift

Als weiteres Beispiel für Theorie – ebenso einflussreich wie Foucaults Revision einer Geschichte der Sexualität, doch mit Merkmalen, die innerhalb des ›Theorie‹-Bereichs auch einige Unterschiede verdeutlichen –, ließe sich die Analyse einer Erörterung von Schrift und Erfahrung in Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnissen anführen, die der zeitgenössische französische Philosoph Jacques Derrida unternommen hat. Rousseau ist ein Autor aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts, dem man in Bezug auf die Entstehung der modernen Vorstellung vom Subjekt als Individuum des Öfteren entscheidende Geburtshilfe zugesprochen hat.

Doch zunächst einige Bemerkungen zum Hintergrund. [21] In der Tradition der abendländischen Philosophie gibt es die Unterscheidung zwischen ›Sein‹ und ›Schein‹, zwischen den Dingen selbst und ihren Repräsentationen wie zwischen dem Gedanken und den Zeichen, die den Gedanken ausdrücken. In dieser Sicht sind Zeichen oder Repräsentationen nichts anderes als ein Weg, um zur Wirklichkeit, zur Wahrheit oder zu den Vorstellungen zu gelangen, und sollten deshalb so transparent wie möglich sein; d. h., sie sollten sich nicht quer stellen und den von ihnen wiedergegebenen Gedanken bzw. die Wahrheit weder verändern noch beeinträchtigen. Innerhalb dieses Rahmens erschien die Rede lange Zeit als unmittelbare Wiedergabe von Gedanken, als deren Präsenz, während die Schrift, die in der Abwesenheit des Sprechers wirkt, als künstliche und abgeleitete Repräsentationsform von Rede galt, als potentiell irreführendes Zeichen eines Zeichens.5

Rousseau folgt dieser Tradition, die in den gesunden Menschenverstand eingegangen ist, wenn er schreibt: »Sprachen sind dazu da, gesprochen zu werden; die Schrift dient nur als Supplement der Rede.« Hier greift Derrida ein und fragt: »Was ist ein Supplement?« Webster's Dictionary definiert ›Supplement‹ als »etwas, das vervollständigt oder hinzufügt«. Ist es nun so, dass Schrift durch Hinzufügung von etwas Wesentlichem, das zuvor gefehlt hat, Rede vervollständigt, oder ist es eher so, dass sie lediglich etwas hinzufügt, ohne das Rede genauso gut funktionieren würde? Rousseau charakterisiert die Schrift wiederholt als bloße Hinzufügung, als unwesentliches Extra, ja sogar als »Krankheit der Rede«: Die Schrift bestehe aus Zeichen, die die Möglichkeit des Missverstehens allererst eröffneten, weil sie in Abwesenheit des Sprechers gelesen würden, der weder erklärend noch korrigierend eingreifen könne. Doch obwohl er die Schrift als unwesentliches Extra bezeichnet, [22] behandeln seine Werke sie in Wirklichkeit so, als würde sie etwas, das in der Rede fehlt, vervollständigen oder ergänzen: Schrift wird wiederholt dazu eingesetzt, Mängel der Rede – wie etwa die Möglichkeit des Missverstehens – zu kompensieren. So schreibt Rousseau beispielsweise in seinen Bekenntnissen,6 einem Werk, das erstmals die Vorstellung vom Ich als einer der Gesellschaft unzugänglichen inneren Wirklichkeit artikuliert, dass er sich entschlossen habe, seine Bekenntnisse niederzuschreiben und sich dabei vor der Gesellschaft verborgen zu halten, weil er sich in ihr »nicht bloß hilflos [zeigen würde], sondern grundlegend anders als der, der ich bin. [...] Wenn ich in ihr präsent geblieben wäre, hätten die Menschen nie erfahren, was ich wirklich wert bin.« Für Rousseau ist sein ›wahres‹ inneres Ich anders als das Ich, das sich in Gesprächen mit anderen offenbart, und er braucht die Schrift, um die irreführenden Zeichen seiner Rede zu supplementieren. Die Schrift stellt sich als wesentlich heraus, weil die Rede über Merkmale verfügt, die zuvor der Schrift zugesprochen wurden: wie die Schrift besteht sie aus Zeichen, die nicht transparent sind, nicht automatisch die vom Sprecher beabsichtigte Bedeutung vermitteln, sondern einer Interpretation offen stehen.

Die Schrift ist ein Supplement der Rede, aber die Rede ist bereits selbst ein Supplement: Kinder, schreibt Rousseau, lernen schnell, Rede zu gebrauchen, um »ihre Schwäche zu supplementieren [...], denn es braucht nicht viel Erfahrung, um herauszufinden, wie angenehm es ist, mit den Händen anderer zu agieren und die Welt dadurch in Bewegung zu setzen, dass man bloß die Zunge bewegt«. In einem für Theorietexte typischen Schritt nimmt Derrida diesen Einzelfall als Beispiel für eine allgemeine Struktur bzw. für eine zugrunde liegende Logik: eine ›Logik der Supplementarität‹, die er in Rousseaus Werken entdeckt. Diese Logik besteht [23] in einer Struktur, in der der supplementierte Gegenstand (die Rede) sich seinerseits als supplementbedürftig erweist, weil sich herausstellt, dass er über dieselben Eigenschaften verfügt, die man ursprünglich nur dem Supplement (der Schrift) zumessen wollte. Ich werde versuchen, dies zu erklären.

Rousseau braucht die Schrift, weil Rede missverstanden wird. Allgemeiner gesagt, braucht er Zeichen, weil die Dinge selbst nicht befriedigen. In den Bekenntnissen beschreibt Rousseau seine Liebe als Heranwachsender zu Madame de Warens, in deren Haus er lebte und die er ›Maman‹ nannte:

Ich würde nie zu einem Ende kommen, wenn ich in allen Einzelheiten all die Verrücktheiten beschreiben sollte, die mich die Erinnerung an meine liebe Maman begehen ließ, als ich mich nicht mehr in ihrer Nähe befand. Wie oft habe ich mein Bett geküsst in der Erinnerung, dass sie darin geschlafen hat, meine Vorhänge und all die Möbel im Zimmer, weil sie ihr gehörten und weil ihre schöne Hand sie berührt hatte, und sogar den Boden, auf dem ich mich der Länge nach ausstreckte in der Vorstellung, dass sie auf ihm gegangen war.

Die verschiedenen Gegenstände fungieren in Mamans Abwesenheit als Supplemente oder Substitute für ihre Anwesenheit. Aber es stellt sich heraus, dass selbst in ihrer Anwesenheit die gleiche Struktur, das gleiche Bedürfnis nach Supplementen besteht. Rousseau fährt fort:

Manchmal beging ich sogar in ihrer Anwesenheit außergewöhnliche Verrücktheiten, die nur die allerheftigste Liebe herbeizuführen können scheint. Eines Tages, als wir bei Tisch saßen und sie gerade einen Bissen in ihren Mund gesteckt hatte, rief ich aus, dass ich ein Haar darauf gesehen hätte. Sie legte den Bissen zurück auf ihren Teller; begierlich ergriff ich ihn und schluckte ihn hinunter.

[24] Ihre Abwesenheit wird zunächst, wenn er mit Substituten oder Erinnerungszeichen auskommen muss, zu ihrer Anwesenheit in Opposition gesetzt. Doch stellt sich heraus, dass auch ihre Anwesenheit keinen Moment der Erfüllung, des unmittelbaren, ohne Supplemente oder Zeichen auskommenden Zugangs zur Sache selbst darstellt; auch in ihrer Anwesenheit bleibt die Grundstruktur, das Bedürfnis nach Supplementen, dieselbe. Deshalb der groteske Zwischenfall, wo er den von ihr schon in den Mund gesteckten Bissen herunterschluckt. Und die Kette der Substitutionen lässt sich fortsetzen. Selbst wenn Rousseau Maman, wie man so sagt, ›besäße‹, würde er immer noch meinen, dass sie sich ihm entzöge und nur erahnt und erinnert werden kann. Und ›Maman‹ selbst ist ein Substitut für die Mutter, die Rousseau nie gekannt hat – eine Mutter, die auch nicht vollauf genügt hätte, sondern, wie alle Mütter, Wünsche offengelassen und ein Bedürfnis nach Supplementen geweckt hätte.

»Aus dieser Reihe von Supplementen«, schreibt Derrida, »erwächst ein Gesetz: das Gesetz einer endlos miteinander verbundenen Serie, in der sich die Supplemente, die jeweils eine Ahnung von dem vermitteln, was sie eigentlich aufschieben, nämlich den Eindruck von der Sache selbst, von einer unmittelbaren Präsenz bzw. einer originären Wahrnehmung, immer weiter vervielfältigen. Unmittelbarkeit ist also abgeleitet. Alles beginnt mit dem Intermediären.« Je mehr solche Texte uns über die Wichtigkeit der Anwesenheit eines Dings an sich sagen wollen, umso mehr zeigen sie uns die Notwendigkeit von Vermittlern. In der Tat sind solche Zeichen oder Supplemente für das Gefühl verantwortlich, dass es etwas gibt, das man (wie Maman) begreifen kann. Was wir aus solchen Texten lernen, ist, dass die Idee des Originals aus Kopien geschaffen wird und dass das Original immer aufgeschoben bleibt – nie begreifbar wird. Daraus folgt, dass sich unsere alltägliche Vorstellung von der Wirklichkeit als etwas Anwesendem wie auch vom Original [25] als etwas, das einmal anwesend war, als unhaltbar erweist: Erfahrung ist immer über Zeichen vermittelt, und das ›Original‹ wird als ein Effekt von Zeichen, von Supplementen hergestellt.

In Derridas Sicht machen Rousseaus Texte wie viele andere deutlich, dass dem Leben nicht Zeichen und Texte beigefügt sind, die es nachträglich darstellen, sondern dass wir uns vielmehr das Leben selbst schon als zeichendurchtränkt vorstellen müssen, als etwas, das durch Bedeutungsprozesse zu dem gemacht wird, was es ist. Texte mögen zwar so tun, als sei Wirklichkeit der Bedeutungsbildung vorgeordnet, doch zeigen sie stattdessen, dass, wie Derrida einprägsam als »il n'y a pas de hors-texte«7 formuliert, es nichts außerhalb des Texts gibt: Immer, wenn man meint, aus den Zeichen und dem Text herauszugelangen in die ›Wirklichkeit‹ selbst, findet man nichts anderes vor als noch mehr Text und noch mehr Zeichen, Ketten von Supplementen. Derrida schreibt:

Was wir, indem wir dem Leitfaden des ›gefährlichen Supplements‹ gefolgt sind, zu zeigen versucht haben, ist, dass das, was wir das wahre Leben von Wesen aus ›Fleisch und Blut‹ nennen, [...] nie etwas anderes gewesen ist als Schrift, nie etwas anderes als Supplemente und substituierende Bedeutungen, die nur in einer Abfolge von differentiellen Relationen entstehen konnten. [...] Und dies immer so weiter, ohne Ende, denn wir haben im Text gelesen, dass die absolute Präsenz, die Natur, das, was durch Wörter wie ›wahre Mutter‹ bezeichnet wird etc., immer schon entzogen ist, dass es sie nie gegeben hat; das, was Bedeutung und Sprache in Gang setzt, ist die Schrift als das Verschwinden der natürlichen Präsenz.

Dies bedeutet nicht, dass es keinen Unterschied zwischen der Präsenz von ›Maman‹ und ihrer Absenz oder zwischen [26] einem ›wirklichen‹ Ereignis und einem fiktiven gibt. Vielmehr bedeutet es, dass sich ihre Präsenz als eine bestimmte Form der Absenz erweist, die stets Vermittlungen und Supplemente benötigt.

Was die Beispiele zeigen

Foucault und Derrida werden beide oft als ›Poststrukturalisten‹ klassifiziert (s. Anhang), doch weisen die zwei ›Theorie‹-Beispiele deutliche Unterschiede auf. Das Beispiel Derridas bietet eine Lektüre oder Textinterpretation und entdeckt eine im Text wirksame Logik. Die Behauptungen Foucaults hingegen sind nicht auf Texte gestützt – er zitiert erstaunlich wenige zeitgenössische Dokumente bzw. Diskurse –, sondern sie eröffnen einen generellen Rahmen, in dem man allgemein über Texte und Diskurse nachdenken kann. Derridas Interpretation zeigt das Ausmaß, in dem literarische Werke wie beispielsweise Rousseaus Bekenntnisse selbst theoretisch sind: Sie erörtern explizit und spekulativ Themen wie Schrift, Begehren, Substitution oder Supplementierung und steuern dabei das Denken über solche Themen auf eine Art und Weise, die sie unausgesprochen lassen. Demgegenüber geht es Foucault nicht darum, zu zeigen, wie tiefgründig oder klug Texte sein können, sondern darum, inwieweit die Diskurse von Ärzten, Wissenschaftlern, Romanciers und anderen die Sachverhalte, die sie zu analysieren vorgeben, erst schaffen. Derrida zeigt, in welchem Maß literarische Werke theoretisch, Foucault, in welchem Maß Wissensdiskurse kreativ und produktiv sind.

Darüber hinaus scheint es einen Unterschied hinsichtlich des Anspruchs zu geben, den beide erheben, wie auch hinsichtlich der Fragen, die daraus resultieren. Derrida behauptet, uns mitzuteilen, was Rousseaus Texte sagen bzw. zei[27] gen; also stellt sich die Frage, ob das, was Rousseaus Texte sagen, auch wahr ist. Foucault behauptet, einen bestimmten historischen Augenblick zu analysieren; also stellt sich hier die Frage, ob seine weitreichenden Verallgemeinerungen auch für andere Zeiten und andere Orte Geltung beanspruchen können. Indem wir solche Folgefragen stellen, geraten wir nunmehr selbst in den Bereich der ›Theorie‹ und ihrer Anwendungen.

Beide Theoriebeispiele zeigen, dass Theorie immer auch ein Ausmaß Spekulation beinhaltet, also etwa Darstellungen des Begehrens, der Sprache und so weiter, die überkommene Ideen (dass es etwas Natürliches gibt, das ›Sexualität‹ genannt wird; dass Zeichen vorgängige Wirklichkeiten wiedergeben) hinterfragen. Dadurch regen sie dazu an, auch die Kategorien selbst zu überdenken, mit denen man über Literatur nachdenkt. Beide Beispiele illustrieren zudem die Hauptstoßrichtung jüngerer Theoriebildung, der es darum geht, all das, was man für natürlich hält, kritisch zu durchleuchten und den Beweis zu liefern, dass das, was man als natürlich ansieht oder als solches ausgibt, in Wirklichkeit nichts anderes ist als das Ergebnis eines historischen, kulturellen Prozesses. Dies lässt sich durch ein ganz anderes Beispiel veranschaulichen. Wenn Aretha Franklin eine Zeile singt wie: »You make me feel like a natural woman«, dann scheint sie darüber glücklich, durch die Art, wie ein Mann sie behandelt, in einer ›natürlichen‹, vorkulturellen Geschlechteridentität bestätigt zu werden. Aber ihre Formulierung »You make me feel like a natural woman« suggeriert, dass die vermeintlich natürliche bzw. gegebene Identität eine kulturell geprägte Rolle ist, ein Effekt, der innerhalb der Kultur produziert worden ist: Sie ist keine ›natürliche Frau‹, sondern muss dazu gebracht werden, sich wie eine solche zu fühlen. Die natürliche Frau ist ein kulturelles Produkt.8

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