MANFRED MAI

LENA
LIEST UMS LEBEN

ROMAN FÜR KINDER

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Copyright Text: © 2017 by Manfred Mai

Copyright Umschlagillustration: © Quint Buchholz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Lektorat: Elmar Klupsch, Stuttgart

Umschlaggestaltung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg, unter Verwendung einer Illustration von Quint Buchholz, Im Land der Bücher © 2013 Carl Hanser Verlag München

Herstellung: Fabulus-Verlag, Fellbach

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-944788-45-6

 

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.fabulus-verlag.de

 

»Lesen ist ein großes Wunder.«

MARIE VON EBNER-ESCHENBACH

Zu schnell gedreht

»Papa!«, ruft Lena freudig und läuft ihm in die Arme.

Er fängt sie auf und dreht sich mit ihr im Kreis, bis sie das Gefühl hat, ihre Beine würden wegfliegen; und nicht nur die Beine, auch die Gedanken. Lena wollte ihn fragen, warum er denn so spät komme. Aber beim Kreisen kann sie nicht denken und nicht sprechen. Sie hat auch keine Ahnung, wie oft sie gekreist sind, als Papas Bewegungen langsamer, weicher und torkeliger werden. Er verliert die Kontrolle über seine Beine und sackt wie in Zeitlupe zu Boden.

»Papa, nicht!«, ruft Lena, weil sie glaubt, er spiele einen Betrunkenen.

Sie macht sich los, kniet neben ihn und sucht seinen Blick. Doch der geht ins Leere. »Papa?«, sagt sie unsicher und rüttelt an seinem Arm.

Auf dem Rücken liegend murmelt er: »Keine Angst, mein Schatz, es ist nichts passiert, ich fahre nur ein wenig Karussell. Das ist gleich vorbei.«

Lena steht auf und streckt ihm beide Hände entgegen. »Komm, ich helf dir hoch!«

»Einen Augenblick noch«, sagt er.

Lena steht über ihm und spürt ein dumpfes Ziehen im Magen. »Komm jetzt«, sagt sie, weil sie ihren Papa nicht so hilflos am Boden liegen sehen möchte.

Papa gibt ihr eine Hand, und Lena zieht mit aller Kraft daran.

»He, nicht so doll, du reißt mir ja den Arm aus!« Er hebt den Oberkörper und will sich auf die Knie drehen, wobei ihn die zerrende Lena mehr behindert, als dass sie ihm hilft.

»Lass mich mal los, sonst komme ich nicht hoch!«

Nur zögernd gibt sie seine Hand frei, weil sie befürchtet, er könnte wieder nach hinten kippen. Dann beobachtet sie, wie er sich umständlich aufrichtet und schließlich auf wackeligen Beinen steht.

»Geht schon wieder«, sagt er und lächelt.

Sie nimmt seine Hand und führt ihn ins Haus.

»Gut, dass ich eine so große Tochter habe, die ihren alten Vater stützt.«

»Du bist doch nicht alt!«, widerspricht Lena energisch.

»Alt? Dein Papa?«, sagt Mama, die die letzten Sätze gehört hat. »Der wird nie alt. Ich bin sicher, er bleibt immer der gleiche Kindskopf wie vor zwanzig Jahren.«

»Und warum hast du diesen Kindskopf geheiratet?«, fragt Papa.

»Weil ich ihn liebe«, antwortet Mama und gibt ihm einen Kuss.

Lena schaut hoch. Sie freut sich, dass ihre Eltern sich küssen. Die Eltern ihrer Freundin Sophie küssen sich nicht mehr; ihr Papa ist zu Hause ausgezogen. Deswegen ist Sophie oft traurig.

»Komm erst mal richtig rein«, sagt Mama nach dem Begrüßungskuss.

Papa geht in den Keller und zieht seine Arbeitsklamotten aus, damit nicht die ganze Wohnung nach Holz, Leim und Farbe riecht. Dann duscht er und schlüpft in seinen Jogginganzug, in dem er sich am wohlsten fühlt. Auch in diesem Punkt sind sich die Eltern einig. Mama riecht zwar nicht nach Computer und Akten, wenn sie von der Arbeit kommt. Aber weil sie in der Bank immer schick angezogen sein muss, trägt sie zu Hause wie Papa am liebsten bequeme Schlabberklamotten.

»Frisch geduscht und im bequemen Jogginganzug ist man doch gleich ein ganz anderer Mensch«, sagt Papa, als er sich an den gedeckten Abendbrottisch in der Essecke setzt.

»Jetzt riechst du auch nicht mehr nach Schreiner, jetzt riechst du viel besser und viel mehr nach Papa«, meint Lena.

»Jetzt bin ich auch nicht Schreiner, jetzt bin ich Papa.« Er beugt sich über den Tisch und streichelt Lena zärtlich.

»Was war denn vorhin?«, möchte Mama wissen. »Lena hat gesagt, dir sei wieder schwindelig geworden.«

Papa guckt Lena an. »Aber Lena, du sollst mich doch nicht verpetzen«, sagt er mit gespieltem Ernst.

»Ich hab nicht gepetzt«, wehrt sich Lena. »Ich hab Mama nur gesagt …«

»Dass ich mich mit dir ein wenig zu schnell und zu lang im Kreis gedreht habe«, bringt Papa den Satz zu Ende. »Das war alles. Und jetzt hab ich einen Bärenhunger.«

Beim Essen fragt Mama: »Warum bist du denn so spät gekommen?«

»Wir mussten noch die Einbauschränke und die Türen für das Zehnfamilienhaus verladefertig machen, damit wir am Montag gleich losfahren können«, antwortet er. »Die müssen wir nächste Woche einbauen. Deswegen sind wir dann die ganze Woche weg.«

»Wie weg?«, fragt Lena.

»Wir fahren nicht jeden Tag hin und her, sondern übernachten in einer Pension.«

»Die ganze Woche?!«

»Mir gefällt das auch nicht, mein Schatz«, sagt Papa, »aber ich bin froh, dass mein Chef den großen Auftrag bekommen hat. Der hat uns für einige Zeit Arbeit gebracht. Das ist heutzutage sehr wichtig.«

Lena zieht eine Schnute.

»Eine Woche ist schnell vorüber«, versucht Mama sie zu trösten.

»Und jetzt bin ich ja noch hier«, sagt Papa, »das ganze Wochenende.« Er viertelt eine Tomate, bestreut die Stücke mit Salz, schiebt eines davon in den Mund, kaut kurz und schluckt es runter. »Wisst ihr was? Wir könnten morgen oder am Sonntag mal wieder in die Wilhelma gehen. Was haltet ihr davon?«

Von einer Sekunde zur anderen verwandelt sich Lenas Schnute in ein strahlendes Gesicht. Sie springt von ihrem Stuhl auf, läuft um den Tisch und schlingt die Arme um Papa. »Ich freu mich schon auf die Affen und auf die Löwen und auf die Seehunde und … und … überhaupt auf alle Tiere!«

»Du musst erst noch Mama fragen, ob sie einverstanden ist.«

Lena schaut Mama erwartungsvoll an.

»Natürlich bin ich einverstanden; im Zoo ist es …«

Weiter kommt sie nicht, dann ist Lena schon bei ihr und drückt sich an sie. »Danke, Mamilein!«

Mama drückt ihr einen schmatzenden Kuss auf die Backe.

Papa isst die restliche Tomate, dann räumen sie zusammen den Tisch ab.

Der geheimnisvolle Erfinder

Lena sitzt mit Mama und Papa vor dem Fernseher. Wenn »Wer wird Millionär?« kommt, darf sie bis Viertel nach neun aufbleiben. Sonst muss sie um neun ins Bett.

Günther Jauch unterhält sich mit dem älteren Kandidaten gerade über dessen erstes Auto, einen Ford Taunus 12M. Beide schwelgen in Erinnerungen, und Günther Jauch scheint völlig vergessen zu haben, dass der Kandidat eine Frage beantworten soll:

Wie nennen die Polen Deutschland?

A)  Jerman

B)  Saksa

C)  Allemagne

D)  Niemcy

»Wenn es um Autos geht, will der Jauch immer sein Wissen zeigen«, sagt Papa.

»Da ist er eben wie andere Männer«, gibt Mama zurück und kneift ihn leicht in die Backe.

»Du willst mich doch wohl nicht mit dem vergleichen!«

Mama schmunzelt. »Vergleichen schon, aber den Vergleich gewinnst du.« Sie beugt sich über die zwischen ihnen sitzende Lena hinweg und küsst ihn.

In diesem Augenblick kündigt das Signal aus dem Hintergrund das Ende der Sendung an.

»Oh, jetzt haben wir uns ganz schön verquatscht«, sagt Günther Jauch. »Aber bevor ich Sie vom Stuhl lasse, müssen wir noch wissen, ob sie mit 16.000 nach Hause gehen, oder ob Sie am Montag mit 32.000 weiter machen. Also, wie lautet Ihre Antwort?«

»Nun sag schon D«, rät Papa dem Kandidaten.

»Ich schwanke zwischen A und B«, murmelt dieser Kandidat.

»Dann bist du draußen«, sagt Papa.

»Zum Schwanken haben wir jetzt keine Zeit mehr«, drängt Günther Jauch den Kandidaten.

»B«.

Ohne noch ein Wort zu sagen, lässt Günther Jauch die Antwort B einloggen. »Dann gratuliere ich Ihnen zu 16.000 Euro!«, ruft er. »Denn D wäre richtig gewesen.«

Papa nickt. »Hab ich doch gesagt.«

»Wieso weißt du so viel?«, fragt Lena.

Er grinst. »Ich bin eben ein kluges Kerlchen.«

»Du bist doch kein Kerlchen!«

»Was bin ich denn dann?«

»Ein Spinner«, antwortet Mama für Lena.

»Was!« Blitzschnell greift Papa nach Mama und kitzelt sie, dass sie lacht und kreischt.

»Hör auf!«, keucht sie.

Er lässt von ihr ab und sagt: »Einmal am Tag richtig lachen, bringt den Kreislauf auf Touren. Also hab ich dir jetzt etwas Gutes getan.«

»Ich sag’s ja, du bist ein Spinner.«

»Aber ein kluger Spinner«, ergänzt Lena.

»Danke!«

»Und warum bist du so klug?«

»Ich weiß nicht, ob ich klug bin«, antwortet Papa jetzt ernster. »Ich lese gern, und wer viel liest, weiß eben manches.«

»Ich lese auch gern, aber ich weiß längst nicht so viel wie du.«

Papa wuschelt Lena durchs Haar. »Du hast ja auch noch ein bisschen Zeit, bis du so alt bist wie ich.«

Mama schaltet den Fernseher aus. »Und jetzt ist es erst mal Zeit fürs Bett.«

»Papa, du musst mir aus dem Buch vorlesen, das ich heute in der Bücherei ausgeliehen habe!«

»Zu Befehl, Euer Majestät!«, sagt er und legt die Hand an die Stirn wie ein grüßender Soldat.

»Spinner«, sagt Mama tonlos.

Wenig später sitzt Papa auf dem Vorlesestuhl an Lenas Bett, schlägt das Buch auf und liest:

Der geheimnisvolle Erfinder

1. Kapitel

Seit einem halben Jahr wohnte er in dem alten Haus am Ortsrand von Seedorf, und in dieser Zeit hat es sich sehr verändert. Zuvor war es einige Jahre unbewohnt gewesen, was dazu geführt hatte, dass Haus und Garten ziemlich verwahrlost aussahen. »Eine Schande für das ganze Dorf«, sagten die Leute.

Dann kaufte Martin Maier das kleine Haus samt Garten und dazugehörender Scheune für einen Spottpreis. Beim Einzug staunten die Leute, weil die Möbelpacker nicht viel ins Haus, in die Scheune dafür aber umso mehr trugen. Fünf Mal fuhr der Möbelwagen rückwärts vor das Scheunentor, fünf Mal schleppten die Möbelpacker schwere Kisten hinein.

Die Leute fragten sich, was in den Kisten stecken könnte und was der neue Dorfbewohner wohl für ein Mensch sei.

Gleich am ersten Tag nach dem Einzug trug er eine Holzfigur aus der Scheune und stellte sie am Gartentor auf. Die Figur ähnelte indianischen Totemköpfen und starrte die Vorbeigehenden mit großen dunklen Augen an. Dann arbeitete er zwei Wochen im Haus und ging anschließend daran, es außen herzurichten. Dazu bestellte er keine Handwerker, wie die Leute erwartet hätten, sondern machte alles selbst. Zuerst besserte er alle Schäden am Putz und am Holz aus. Dann begann er, das Haus anzustreichen. Der Giebel zur Straße wurde rot, der nach hinten grün. Eine Seite strich er gelb, die andere blau. Die Fensterläden bemalte er mit lachenden Gesichtern auf der Vorderseite und maskenhaften Fratzen hinten. Aus der schwarzen Haustür schien ein weißer Arm mit einer großen Hand herauszuwachsen. Und neben die Tür hängte er ein Wurzelwesen, das gnomenhafte Züge hatte.

Als die Leute das alles sahen, stand ihr Urteil schnell fest: Der Neue spinnt!

Wie es im Haus aussah, wussten sie zwar nicht, aber sie stellten es sich lebhaft vor. Und bald war von eigenartigen Stimmen, Geräuschen und Düften die Rede, von unheimlichen Gestalten und bösen Geistern. Das kleine Haus wurde zum Hexenhaus, Martin Maier zum Hexer, vor dem die Eltern ihre Kinder warnten.

»Bleibt mir ja weg von dem Hexenhaus«, sagte auch Herr Breitmeier zu seinen beiden Kindern.

»Mir hat er gestern ein Bonbon geschenkt«, murmelte Florian und zog den Rotz hoch.

»Was?!«, riefen die Eltern und vergaßen vor lauter Schreck, ihren Sohn zu ermahnen, er solle den Rotz nicht hochziehen, sondern die Nase putzen.

»Und dann?«, fragte der Vater.

»Dann hab ich es gelutscht.«

»Ich meine, was er gesagt und gemacht hat.«

»Er hat auch ein Bonbon gelutscht und gesagt: Schmeckt prima, was?«

»Und dann?«

»Dann ist er mit seinem Fahrrad weggefahren«, antwortete Florian.

Die Eltern schauten sich an, als wüssten sie nun Bescheid.

»Du lässt dir von dem nichts mehr schenken«, sagte der Vater. »Und du auch nicht. Habt ihr mich verstanden!«

Franziska und Florian nickten.

Ähnliche Gespräche gab es auch in anderen Familien, was dazu führte, dass die Kinder Martin Maier aus dem Weg gingen.

Die Erwachsenen verhielten sich ihm gegenüber mehr und mehr feindselig. Dabei war Martin Maier immer freundlich. Wenn er mit seinem Fahrrad zum Einkaufen ins Dorf fuhr, pfiff er stets ein Lied vor sich hin und grüßte alle, die ihm begegneten. Doch das betrachteten die Seedorfer nur als scheinheiliges Getue, hinter dem er seine wirklichen Absichten verstecken wollte.

Zu all dem kam noch, dass Martin Maier nicht zur Arbeit ging. Anfangs dachten die Seedorfer, er wolle erst mal Haus und Hof in Ordnung bringen, bevor er eine Arbeitsstelle suchte. Aber er suchte keine, jedenfalls nicht im Dorf. Er war den ganzen Tag zu Hause, verbrachte viele Stunden in der Scheune, und niemand wusste, was er dort tat.

Auch in der Schule wurde über Martin Maier geredet und geschimpft.

»Mein Papa sagt, den Hexer sollte man zum Teufel jagen!«, rief Johannes in die Klasse.

»Und meiner hat gesagt, das Hexenhaus gehört mitsamt ihm angezündet«, setzte Paul noch eins drauf.

»Aber Kinder«, sagte Frau Dingel, »so etwas darf man doch nicht tun. Auch wenn der Mann anders ist als wir, hat niemand das Recht, ihn anzugreifen. Er hat doch keinem etwas getan.«

Die Kinder hörten nicht auf die Worte ihrer Lehrerin. Ein paar von ihnen näherten sich in der Dunkelheit dem Haus von Martin Maier und warfen mit Steinen zwei Fensterscheiben ein.

Am nächsten Tag prahlten Johannes, Paul und Frieder auf dem Schulhof damit, sie hätten »dem Hexer« einen Denkzettel verpasst.

Franziskas Freundin Nasrin fand das gemein. Ihr Vater hat ihr nämlich erzählt, wie es war, als er vor zwanzig Jahren nach Seedorf kam. Er war damals der erste Türke im Dorf und wurde anfangs oft beschimpft und bedroht. Es hat lange gedauert, bis die Leute merkten, dass er kein schlechter Mensch ist, nur weil er aus der Türkei kommt. Trotzdem hatte er immer das Gefühl, dass es den Seedorfern lieber gewesen wäre, er würde wieder verschwinden. Dieses Gefühl hat er sogar heute noch manchmal.

»Aber der … der Mann im Hexenhaus ist wirklich ein wenig komisch«, meinte Franziska. »Das musst du zugeben.«

»Deswegen brauchen die ihm doch nicht die Scheiben einzuwerfen«, sagte Nasrin.

»Ja, schon …« Franziska wusste nicht recht, was sie denken sollte. Und bevor sie ihren angefangenen Satz zu Ende bringen konnte, sah sie Martin Maier auf seinem Rad angefahren kommen.

»Da kommt er«, flüsterte sie. »Los, wir laufen weg!«

»Warum?«

»Weil … weil …« Ihr fiel so schnell nichts ein.

Es war ohnehin zu spät zum Weglaufen. Martin Maier näherte sich ihnen schon. Er machte ein ernstes Gesicht und pfiff auch nicht wie sonst ein Lied vor sich hin.

Franziska drückte sich an den Zaun, als Martin Maier vorbeiradelte. »Der ist wütend«, murmelte sie.

»Oder traurig«, sagte Nasrin.

»Das war das erste Kapitel«, sagt Papa und klappt das Buch zu. »Was meinst du, ist Martin Maier wirklich ein Hexer, wie ihn die Leute nennen?«

»Lies weiter, dann wissen wir’s.«

»Mach ich morgen«, entgegnet Papa. »Aber ich möchte jetzt schon von dir wissen, was du denkst.«

»Ich glaube nicht.« Lena nimmt ihrem Papa das Buch aus der Hand und liest den Rückentext: »Der neue Nachbar ist ganz schön merkwürdig. Er streicht sein Haus kunterbunt an und stellt unheimliche Holzskulpturen in seinem Garten auf. Schnell sind sich die Dorfbewohner einig: Der Neue spinnt, vielleicht ist er sogar gefährlich. Franziska, Nasrin und Fabrizio sind neugierig und beschließen, das Geheimnis des neuen Dorfbewohners zu lüften.«

»Das klingt ziemlich spannend«, sagt Papa.

»Deswegen habe ich das Buch auch ausgeliehen. Lies doch bitte weiter!«

Papa schüttelt den Kopf. »Und das Buch nehme ich mit, nicht dass du heimlich weiter liest. Du musst nämlich jetzt schlafen.« Er beugt sich über Lena und gibt ihr einen Kuss.

Auf in die Stadt!

Am Samstagmorgen kurz nach zehn steigen sie ins Auto und fahren nach Stuttgart. Papa wäre lieber am Sonntag gefahren, Mama war für Samstag, um den Besuch in der Wilhelma mit einem kleinen Einkaufsbummel in der Stadt zu verbinden. Papa und Lena waren von dieser Idee nicht besonders begeistert, aber damit Mama zufrieden ist, stimmten sie zu.

Nach einer knappen Stunde Fahrt sind sie in Stuttgart, wo Papa ins Kaufhof-Parkhaus fährt. »Damit du gleich an der Quelle bist und wir nicht unnötig Zeit verlieren«, sagt er ein wenig spitz.

»Merk du dir lieber, wo wir stehen, damit wir das Auto nicht wieder suchen müssen wie letztes Mal und dabei unnötig Zeit verlieren!«, kontert Mama.

»War das vielleicht nur meine Schuld?«

»Du bist …«

»Ihr sollt jetzt nicht streiten!«, fällt Lena ihrer Mama ins Wort.

»Hast recht«, sagt sie, »dazu ist der Tag doch viel zu schön.«

Sie gehen ins Kaufhaus, wo Mama durch verschiedene Abteilungen schlendert, gefolgt von Mann und Tochter, denen deutlich anzusehen ist, dass sie lieber woanders wären. Mama probiert vier Hosenanzüge, kann sich jedoch für keinen entscheiden. Mann und Tochter werfen sich vielsagende Blicke zu.

Bei einem Abstecher in die Herrenabteilung entdeckt Mama ein rotbraunes Sakko. »Das würde dir gut stehen«, meint sie.

»Ich brauche nichts Neues zum Anziehen«, wehrt er ab.

»Was heißt schon brauchen? Man muss sich auch mal etwas gönnen, selbst wenn man es nicht unbedingt braucht.«

»Du darfst dir ja etwas gönnen, aber verschone mich bitte damit.«

Ohne das Thema auszudiskutieren, verlassen sie den Kaufhof und stehen auf der Königstraße, wo es von Leuten nur so wimmelt.

Papa schaut auf die Uhr und macht Mama einen Vorschlag: »Lena und ich gönnen uns jetzt irgendwo ein Eis, und um halb eins treffen wir uns wieder hier.«

Mama ist einverstanden und zieht sofort los, um keine Zeit zu verlieren. Papa und Lena kaufen am nächsten Stand zwei Eis, setzen sich damit auf eine Bank und lassen es sich schmecken.

»Schau dir mal die Leute an«, sagt Papa. »Die sind alle heute Morgen nach Stuttgart gekommen, um Dinge einzukaufen, die sie nicht wirklich brauchen. Und solche Einkaufsstraßen gibt es ja nicht nur hier in Stuttgart, sondern in jeder Stadt. Stell dir mal vor, wie viele Leute heute Morgen in Deutschland Dinge einkaufen, die sie nicht brauchen. Wahnsinn! Das ist der absolute Wahnsinn!«

»Ich geh nicht gern zum Einkaufen«, sagt Lena.

Papa legt den Arm um sie und drückt sie an sich. »Du bist eben meine Tochter.«

Sie beobachten die Leute, kichern hinter vorgehaltener Hand über manche und gehen dann zurück zum Kaufhof, wo sie nach Mama Ausschau halten. Acht Minuten nach halb eins kommt sie angehetzt. »Entschuldigt bitte, aber an der Kasse bei Breuninger war der Teufel los, sonst wäre ich pünktlich gewesen.«

»Hauptsache, du hast etwas gefunden«, sagt Papa nur und marschiert los.

Die Fahrt durch die Stadt bis hinaus zur Wilhelma zieht sich, weil die Straßen verstopft sind.

»Morgen würden wir hier ohne Stau durchkommen«, kann sich Papa nicht verkneifen anzumerken.

»Aber dann hätte ich keinen so tollen Hosenanzug«, gibt Mama zurück.

»Ich bin gespannt, ob wir überhaupt einen Parkplatz finden«, brummt er.

Sie finden sogar einen sehr guten, weil genau in dem Moment, als sie ins Parkhaus fahren, gleich vorn einer frei wird. Das tut der angespannten Stimmung gut. Und als sie etwas später den Affenbabys zuschauen, können alle drei schon wieder lachen.