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Thomas Hobbes zur Einführung

Wolfgang Kersting

Thomas Hobbes zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung zur 5. Auflage

Vorbemerkung zur 2. Auflage

Vorwort

1. Einleitung

Politischer Aristotelismus und Naturrecht

Machiavelli – ein Vorläufer von Thomas Hobbes?

Das Titelbild des Leviathans

2. Die Philosophie des Thomas Hobbes

Die theoretischen Grundlagen: Methode, Erkenntnis, Wissenschaft

Einheitsmethode

Philosophie als Friedenswissenschaft

Analytische Methode und generativer Erkenntnisbegriff

Vernunftrechnen

Verum et factum convertuntur

Dynamischer Materialismus

Verbindlichkeitstheoretische Radikalität

Die Anthropologie: Natur, Vernunft, Macht

Gedankenexperiment: Staatsauflösung

Materialistisches Menschenbild

Psychologistische Ethik

Sozialer Atomismus

Vernunft und Klugheit

Machtwettbewerb

Modernes Glück

Machtverhältnisse

Das Macpherson-Problem

Die politische Philosophie

Das kontraktualistische Argument

Der Naturzustand

Naturzustand und Gefangenendilemma

Subjektives Recht und natürliche Gesetze

Naturzustand als Lernprozeß

Der Vertrag

Vertrag und Rechtsverzicht

Autorisierung

Staat und Gott

Politische Einheit und identitäre Repräsentation

Souveränitätsschema, Herrschaftserrichtung und Gewalt

Souveränitätsrechte und Bürgerpflichten

Die Verbindlichkeit des positiven Rechts

Absolute Macht und Letztinstanzlichkeit

Die Gerechtigkeit des Leviathans

3. Exkurs: Carl Schmitt und Thomas Hobbes

4. Hobbes’ Wirkungen

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorbemerkung zur 5. Auflage

In dieser Auflage habe ich am Schluß der Darstellung der Hobbesschen Philosophie einen Exkurs eingefügt, der sich kritisch mit der Hobbes-Interpretation von Carl Schmitt beschäftigt. Damit wird ein wichtiges Kapitel der spezifisch deutschen Hobbes-Rezeption beleuchtet. Zugleich werden in dieser Gegenüberstellung von politischem Existentialismus und konstruktiv-rationalem Liberalismus die wesentlichen Züge der Hobbesschen Theoriekonzeption noch einmal abschließend und zusammenfassend dargestellt.

Wolfgang Kersting

Vorbemerkung zur 2. Auflage

Anläßlich der zweiten Auflage habe ich den Text durchgesehen und erweitert. Dabei haben insbesondere das Problem der kontraktualistischen Begründung von normativer Verbindlichkeit in einer physikalischen Welt der Tatsachen und die Frage nach Hobbes’ Verhältnis zu Naturrecht und Rechtspositivismus eine genauere Darstellung erfahren. Auch ist deutlicher herausgearbeitet worden, daß Thomas Hobbes der Ahnherr des modernen Liberalismus ist.

Wolfgang Kersting

Vorwort

Die politische Philosophie der Neuzeit hat sich nicht allmählich aus dem Hintergrund der politischen Philosophie des Altertums und des Mittelalters herausgelöst. Die politische Philosophie der Neuzeit ist das Ergebnis einer Denkrevolution, die mit einem Schlag die Grundlagen und den Denkstil der traditionellen politischen Philosophie zerstört, die politische Reflexion auf ein völlig neues philosophisches Fundament stellt und die Wahrnehmung der politischen Dinge in gänzlich veränderte Begriffsformen gießt. Die politische Philosophie der Neuzeit entwickelt neue Fragestellungen und neue Argumentationsstrategien, der Gang ihrer Gedanken, die Ausprägung ihrer Leitkonzepte und Orientierungsbegriffe wird durch neuartige Problemsichten bestimmt.

Die revolutionäre Neubegründung der politischen Philosophie in der Neuzeit ist das Werk des englischen Philosophen Thomas Hobbes. Die von seinem wissenschaftlich-philosophischen System herbeigeführten Umwälzungen der traditionellen philosophischen Grundlagen des politischen Denkens, die gewandelten Problemstellungen und neuartigen Argumentationsformen, die seine Werke, vor allem den ingeniösen Leviathan von 1651, prägen, bezeugen eine außergewöhnliche konstruktive Begabung, die eine stupende intellektuelle Phantasie mit einer wirklichkeitsaufmerksamen und veränderungssensiblen politischen Wahrnehmung verknüpft.

Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie sind keine absoluten geistesgeschichtlichen Ereignisse; sie finden nicht abgeschnitten von den Veränderungen in anderen ideengeschichtlichen Bereichen und losgelöst von allen realgeschichtlichen Entwicklungsprozessen statt. Zumal die politische Philosophie steht in einem engen Zusammenhang mit der komplexen politischen Realität, den Methoden und Fragestellungen der Nachbarwissenschaften und der grundsätzlichen systematischen Selbstverständigung der Philosophie als solcher. Und aufgrund dieser methodischen und sachlichen Interdependenzen haben signifikante realgeschichtliche Veränderungen und methodische Neuorientierungen in Philosophie und Wissenschaft immer auch Auswirkungen auf die Problemstellungen und Lösungsstrategien der politischen Philosophie. Hobbes’ revolutionäre Neubegründung der politischen Philosophie steht daher sowohl mit den Veränderungen der zeitgenössischen Metaphysik und Wissenschaft als auch mit der für den Beginn der Neuzeit charakteristischen tiefgreifenden Umgestaltung der Sozialwelt und des politischen Raums in enger Verbindung.

Seine politische Philosophie ist durch den neuen szientistischen Denkstil geprägt; ihre erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen sind durchgehend von den methodischen Vorstellungen und den Genauigkeitsidealen der modernen mathematischen Naturwissenschaften bestimmt. In ihren Begriffsformen, Problemstellungen und Lehrstücken spiegeln sich deutlich die Veränderungen einer zunehmend verbürgerlichenden Sozialwelt, drücken sich bereits machtvoll die expandierenden ökonomischen, sozialen und politischen Modernisierungsprozesse aus. Ihr Beweisprogramm steht im Schatten des konfessionellen Bürgerkriegs, reflektiert die Erfahrungen des Zerfalls der einen kohärenzstiftenden absoluten praktischen Wahrheit in eine mörderische Konkurrenz vieler wahrheitsbeanspruchender Ideologien. Aufgrund dieser Orientierung am naturwissenschaftlichen Vorbild ist Hobbes auch der Philosoph, der zum ersten Mal und wiederum gleich mit unüberbietbarer Radikalität das für die Neuzeit charakteristische Programm des Reduktionismus im Theoretischen wie im Praktischen in seine Theoriekonzeption aufgenommen hat. Sowohl der Physikalismus, der jede Eigenständigkeit geistiger Wirklichkeit leugnet, als auch der Ökonomismus, der Moralphilosophie in eine Theorie kluger Vorteilsmaximierung auflöst, müssen ihre Geschichte mit Hobbes beginnen.

Thomas Hobbes ist der Begründer der politischen Philosophie der Neuzeit. Er hat die philosophische Reflexionsform der politischen Moderne geprägt. Die von ihm ausgearbeitete individualistische vertragstheoretische Staatsrechtfertigung ist bis heute das vorherrschende legitimationstheoretische Modell in der politischen Philosophie; die in ihm logisch verknüpften Elemente des Naturzustandes und des Vertrags bestimmen nachhaltig die gegenwärtige rechtfertigungstheoretische Diskussion in der politischen Philosophie, in der Rechts- und der Moralphilosophie. Trotz der dreieinhalb Jahrhunderte, die uns von dem Erscheinungsjahr des Hobbesschen Meisterwerks, des Leviathans, trennen, ist seine politische Philosophie für unsere eigene politisch-philosophische Selbstverständigung immer noch fruchtbar. Weil Hobbes aufgrund seiner denkerischen Radikalität die soziale, ökonomische und politische Neuartigkeit der Moderne gleich zu Anfang klar erfaßt, die ordnungspolitischen und legitimationstheoretischen Implikationen der modernitätsspezifischen Desillusionierung nüchtern entfaltet, sind seine Problemstellungen noch die unsrigen; und weil seine Lösungskonzeptionen auf die neuartige gesellschaftliche und politische Lage kreativ reagieren, modernitätsadäquat sind und auf jeden Rückgriff auf traditionelle Ordnungs- und Legitimationsmodelle verzichten, können wir noch heute unsere Lösungsvorschläge mit Hilfe seines Alphabets der individualistischen und kontraktualistischen Vernunft buchstabieren. Im Rahmen neuzeitlicher politischer Philosophie ist politische Herrschaft prinzipiell legitimierungsbedürftig und nur insofern und insoweit legitimierbar, wie sie sich zurückführen läßt auf die vernünftige Zustimmung der Individuen, wie sich Staat und Verfassung kontraktualistisch, als Ergebnis eines vertraglichen Zusammenschlusses von Individuen begreifen lassen.

Hobbes hat das radikale Programm der Herrschaftslegitimation in die politische Philosophie eingeführt; er ist der Erfinder des reinen Staatsbeweises und der Begründer der prozeduralistischen Rechtfertigung, die den Prinzipienobjektivismus des Naturrechts durch konstruktive Einigungsverfahren ersetzt. In seiner politischen Philosophie tritt zum ersten Mal der Protagonist der modernen praktischen Begründungstheorie auf: das ungebundene, rational seine Zwecke verfolgende Individuum, dessen souveräner rationaler und vernünftiger Wille alleinige Geltungsgrundlage staatlicher Herrschaft und politischer Ordnung ist. Mit strenger Konsequenz hat Hobbes den Politikbegriff entfaltet, der diesem Individualismus korrespondiert. Die Welt der gesellschaftlichen und politischen Institutionen erscheint als eine künstliche, der Natur entgegengesetzte Welt, als ein System rationaler Erfindungen und Artefakte, als kollektiv entwickeltes Instrument zur Sicherung und Koordination individueller Interessenverfolgung.

Und auch die politische Herausforderung des moralischen, religiösen, kulturellen und ideologischen Pluralismus, die immer drückender wird, je moderner die Zeiten werden und je weiter die modernitätstypische Individualisierung und gesellschaftlichkulturelle Heterogenisierung fortschreiten, wird in der Hobbesschen politischen Philosophie bereits bedacht. Seine absolutistisch-etatistische Befriedung des Bürgerkriegs, seine Leviathan-Antwort auf das Behemoth-Problem, enthält bereits das Muster aller späteren Neutralisierungsstrategien des modernen politischen Pluralismusmanagements: Nur dann haben staatliche Friedensstiftung und politischer Einheitswille eine Chance, wenn sich der Staat gegenüber den konkurrierenden moralischen und religiösen Wahrheitsansprüchen neutral verhält und sich gegenüber allen Wahrheiten in eine Haltung der Äquidistanz begibt. Diese politische Entschärfung der moralischen und religiösen Wahrheit führt zu deren Privatisierung und schafft einen wahrheitsfreien öffentlichen Raum. Die hier anfallenden Begründungsforderungen müssen folglich auf einer neutralen Grundlage jenseits aller divergierenden Wahrheitsansprüche, gleichwohl aber auf allgemein zustimmungsfähige Weise erfüllt werden. Daher setzt die Strategie der politischen Neutralisierung in den Individuen die Bereitschaft voraus, den politischen Raum als den Geltungsbereich einer eigentümlichen, wahrheitsentlasteten Legitimation zu begreifen. Wenn Hobbes den Legitimationsgrund staatlicher Herrschaft und damit die Wurzel der politischen Obligation der Bürger in dem sich vertraglich verbindenden Selbsterhaltungsinteresse der Individuen erblickt, läßt er sich genau von dieser Einsicht in die Notwendigkeit wahrheitsentlasteter politischer Begründung leiten.

Die politische Philosophie der Gegenwart teilt den Hobbesschen Szientismus nicht. Auch wird sich in unseren demokratischen Zeiten niemand für das Hobbessche Argument von der Notwendigkeit absoluter, uneingeschränkter und ungeteilter staatlicher Macht begeistern können. Es vermochte schon die Zeitgenossen nicht zu überzeugen. Die Geschichte des modernen Staates ist nicht die Geschichte seiner absolutistischen Selbstbehauptung, sondern die Geschichte der Einschränkung, Bindung und Teilung seiner Macht. Die Geschichte des modernen Staates ist die Geschichte der Zähmung des Leviathans – durch Menschenrechte und Vernunftrecht, durch Gesetzesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungsstaatlichkeit, durch Gewaltenteilung und Demokratie.

So groß aber auch immer der Abstand zwischen der Philosophie des absoluten Staates und den späteren Konzeptionen vernunft- und menschenrechtlicher Herrschaftslimitation sein mag, Thomas Hobbes hat der politischen Philosophie der Neuzeit die Sprache gegeben. Und diese Sprache spricht sie immer noch; sei sie Rechtsstaats- und Sozialstaatsphilosophie, sei sie Demokratietheorie oder Marktphilosophie. Ihre Selbstverständigung stützt sich immer noch auf die Grammatik politischer Selbstreflexion, die Thomas Hobbes in Absetzung vom politischen Aristotelismus und vom stoischen und christlichen Naturrecht entwickelt hat. Mit vollem Recht und klarem Blick für die revolutionären Implikationen und das demokratische Telos seiner rechtfertigungstheoretischen Erfindung des Gesellschaftsvertrags hat Carl Ludwig von Haller Hobbes in den Rang eines »Ahnvaters aller Jakobiner« erhoben.1 Was den Erzkonservativen bewogen hat, den Etatisten Hobbes zum Stammvater der Revolution zu erklären, war vor allem der normative legitimationstheoretische Individualismus, der jede staatliche Herrschaftsausübung und jede institutionelle Freiheitseinschränkung an die rechtfertigende Zustimmung der Betroffenen bindet, und die daraus resultierende Künstlichkeit, der darin begründete Artefaktcharakter von Gesellschaft und Staat. Ebendieser normative Individualismus, dem das Sozialmodell des menschenrechtlichen Egalitarismus eingeschrieben ist und der die anfallenden moralischen und politischen Begründungen einem fairen Verfahren übertragen muß, bildet die verbindliche rechtfertigungstheoretische Plattform der gesamten neuzeitlichen politischen Philosophie bis zur Gegenwart. Manche, allen voran Carl Schmitt, haben sich von dem sinistren Absolutismus Hobbes’ täuschen lassen, seinen Machtrationalismus romantisiert und ihn als Gewährsmann eines politischen Existentialismus und schneidigen Dezisionismus benutzt. Schaut man jedoch hinter die Fassade des Hobbesschen Staatsabsolutismus, betrachtet man seine legitimationstheoretischen Wurzeln, dann zeigt sich, daß der moderne Liberalismus in Thomas Hobbes seinen Gründungsvater feiern kann.

Diese knappe philosophiegeschichtliche Ortsbestimmung macht deutlich, daß ein zufriedenstellendes Verständnis der politischen Philosophie Hobbes’ dreierlei verlangt. Zum einen ist ein zumindest kurzes Porträt der traditionellen politischen Philosophie erforderlich, die angesichts der Modernisierung aller menschlichen Lebensverhältnisse veralten mußte und durch die revolutionäre moderne politische Philosophie Hobbes’ verdrängt wurde. Diese Skizze wird den kontrastierenden Hintergrund liefern, vor dem die Hobbessche Philosophie schärfere Kontur gewinnt, so daß ihre Neuartigkeit deutlicher hervortreten kann. Zum anderen muß eine kritische Darstellung der politischen Philosophie Hobbes’ gegeben werden, die ihre methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ausbreitet, ihre grundlegenden Konzepte und wichtigen Lehrstücke nachzeichnet und vor allem ihren zentralen Argumentationsgang rekonstruiert und bewertet. Und drittens schließlich muß ein kurzer Blick auf die Wirkungsgeschichte der politischen Philosophie Hobbes’ geworfen werden, ist ihre Rolle in der gegenwärtigen Debatte der politischen Philosophie darzustellen und der Frage nach ihrer Aktualität nachzugehen.

Diese Aufgabenbeschreibung ist auch für eine Einführung in die Hobbessche Philosophie verbindlich, die sich an ein breiteres Lesepublikum wendet und weder besondere philosophische Kenntnisse noch eine größere Vertrautheit mit der Theorie Thomas Hobbes’ voraussetzen will. Daher gliedern sich meine folgenden Ausführungen in drei Teile. Der Einleitungsteil wird mit einer äußerst gedrängten Darstellung des politischen Aristotelismus und des christlichen Naturrechts beginnen und damit die paradigmatischen Formen des traditionellen politischen Denkens vorstellen, die von der Hobbesschen Philosophie entmachtet worden sind. Sodann gehe ich dem Verhältnis Machiavelli – Hobbes nach und mache in einer knappen Gegenüberstellung deutlich, daß zwar das politische Denken Machiavellis bereits bemerkenswerte Modernitätssignaturen ausweist, eine Neubegründung der politischen Philosophie jedoch erst durch Hobbes geleistet worden ist. Abschließend werde ich dann im Rahmen einer Betrachtung des berühmten Titelkupfers der Erstausgabe des Leviathans von 1651 die wichtigsten Grundzüge der politischen Philosophie Hobbes’ benennen.

Im Zentrum dieser einführenden Darstellung steht die genaue Nachzeichnung des systematischen Aufbaus der politischen Philosophie von Thomas Hobbes. Zuerst werden ihre theoretischen Grundlagen entfaltet, ihre methodologischen und erkenntnistheoretischen Fundamente und das Systemverständnis des Philosophen behandelt. Sodann folgt ein Grundriß der Hobbesschen Anthropologie und seiner damit eng verbundenen Sozial- und Moraltheorie. Systematisches Herzstück der Hobbesschen politischen Philosophie ist das kontraktualistische Argument und die in ihm entwickelte argumentationslogische Verschränkung von Naturzustandskonzeption, Vertragsbegriff und absolutistischem Staat. Daher wird meine Darstellung hierauf auch das Hauptgewicht legen. Denn auch eine Einführung muß Hobbes’ Philosophie in ihrem argumentativ-diskursiven Anspruch ernst nehmen. Sie darf weder Gedankennacherzählung sein noch ihren Gegenstand durch wolkige Interpretationsthesen vernebeln, sondern sie muß dem Zug der philosophischen Argumentation nachdenklich und mit Sorgfalt folgen.

Der dritte Teil gibt einen knappen Einblick in die Hobbessche Wirkungsgeschichte und unterscheidet zwei Rezeptionsstränge, gleichsam eine »weiße« Hobbes-Rezeption, die im Rahmen der internen Entwicklung der neuzeitlichen politischen Philosophie wirksam geworden ist und in den gegenwärtigen Bemühungen um eine Neuformulierung der politischen Philosophie des Liberalismus ihren systematisch anspruchsvollsten Ausdruck findet, und eine »schwarze« Hobbes-Rezeption, die eine entschieden liberalismuskritische und etatistische Lesart vertritt, von einem großen ordnungspolitischen Interesse motiviert ist, folglich den Begriffen des Ausnahmezustandes, des Dezisionismus und der Ordnungsstiftung eine überragende sowohl theoretische als auch praktisch-politische Bedeutung zumißt und in Carl Schmitt ihren einflußreichsten Vertreter besitzt.

1. Einleitung

Politischer Aristotelismus und Naturrecht

Der politische Aristotelismus prägt das alteuropäische Verständnis des Menschen und seiner sozialen und politischen Lebensverhältnisse. Die von Aristoteles in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. entwickelten Lehrstücke von der politischen Natur des Menschen, von dem Unterschied zwischen Haus und Polis, von den verschiedenen Sozialformen und Herrschaftsarten und von den richtigen und den politisch mißratenen Verfassungen wurden in der gesamten antiken und mittelalterlichen Welt als verbindliche Philosophie des Menschen und der menschlichen Angelegenheiten betrachtet. Im gesellschaftlich und politisch zurückstehenden, von den ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozessen des westlichen Europas abgeschnittenen Deutschland bildete der politische Aristotelismus gar bis Ende des 18. Jahrhunderts, bis zur Ausbreitung der Rechts- und Moralphilosophie Kants, die unbezweifelte Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Selbstverständigung in Philosophie und Wissenschaft.

»Anthropos zoon politikon physei estin«2 – der Mensch ist ein politisches Lebewesen von Natur aus: Dieser Grundsatz enthält den politischen Aristotelismus in nuce. Die klassische Politik betrachtet den »bios politikos«, die politische Existenzform, das Leben des Bürgers mit seinesgleichen in der politischen Gemeinschaft, der »koinonia politike«, als einzig naturangemessene Lebensweise des Menschen. Der Mensch ist von Natur aus auf den Bürger ausgelegt. Nur in der Gemeinschaft der Bürger lassen sich die den Menschen ausmachenden natürlichen Fähigkeiten, seine Vernünftigkeit, Sprachfähigkeit und Handlungsfähigkeit, entwickeln. Im tätigen Polisleben allein, in der gemeinschaftlichen Sorge um das Allgemeinwohl, kann der Mensch seiner Bestimmung gerecht werden. Jeder Mensch muß um des schlichten Überlebens, um seiner Selbsterhaltung willen die Gemeinschaft mit anderen Menschen suchen; außerhalb der gesellschaftlichen Solidarität würden Menschen zugrunde gehen. Jedoch gründet der politische Aristotelismus nicht im Selbsterhaltungsinteresse der Menschen, führt keinen existentiellen, keinen biologischen Notwendigkeitsbeweis des Politischen. Die Politik ist für ihn vielmehr der Bereich der Verwirklichung und Vollendung der menschlichen Natur. Historisch gesehen ist die politische Ordnung um des Überlebens willen entstanden, aber der nur durch Wesenserkenntnis erfaßbaren Sache nach besteht sie »um des vollkommenen, des sittlich guten Lebens willen«3. Insofern sich der Einzelne als politisches Lebewesen nicht unabhängig von der politischen Gemeinschaft erfassen kann, nur als Bürger die vollkommene Form menschlicher Existenz finden kann, kommt der Polis ein sowohl ontologischer als auch sittlicher Vorrang vor dem Einzelnen zu, ist die Polis, wie Aristoteles sagt, »ursprünglicher als der Einzelne«4.

Der politische Aristotelismus trennt das politische Leben strikt von der privaten und ökonomischen Welt. Polis – Stadt, Öffentlichkeit, Allgemeinheit – und Oikos – Haus, Privatheit, Besonderheit – stehen in einem nicht zu schlichtenden Gegensatz. Die im Oikos geltenden Bestimmungen dürfen auf den Bereich des Politischen nicht übertragen werden. Wird die Polis jedoch unter die Kategorien des Oikos gebracht, wird die Herrschaftsart des Hauses gewaltsam der Stadt übergestülpt, wird das ökonomische Interesse in der Politik dominant, dann wird die politische Sphäre korrumpiert. Für den politischen Aristotelismus ist das Eindringen von Oikos-Kategorien in die Welt des Politischen ein untrügliches Anzeichen der Zersetzung des Politischen. Die im Haus anzutreffenden Herrschaftsbeziehungen – die paternalistische Beziehung zwischen Vater und Kindern, das eheliche Verhältnis, die despotische Beziehung zwischen Herrn und Sklave, zwischen Herrn und Knecht – sind asymmetrische Verhältnisse, Verhältnisse zwischen Ungleichen. Die für das Politische geltende und es definierende Herrschaftsbeziehung hingegen ist eine Beziehung zwischen Gleichen. Diese Differenz zwischen Oikos und Polis darf nicht eingeebnet werden. Politische Herrschaft darf nicht nach dem paternalistischen, darf nicht nach dem despotischen Muster organisiert werden. Denn eine solcherart Oikos-Strukturen in die politische Sphäre verpflanzende Herrschaftsorganisation nimmt dem Menschen die Möglichkeit, seiner Bestimmung gerecht zu werden und als Bürger zu leben, zwingt ihn zu einer naturwidrigen Existenz.

Aus der aristotelischen Perspektive betrachtet werden sich Hobbes’ Konzeptionen von Staat und Bürger als zutiefst unpolitisch erweisen. Hobbes’ bürgerlicher Zustand basiert auf dem Tausch von Schutz und Gehorsam und läßt für eine politische Selbstbestimmung der Bürger keinen Raum. Der aristotelische Bürger kann im hobbesschen Staat kein Bürgerrecht erhalten, weil der Leviathan ein Bürgerrecht nicht zuläßt. Das, was in der aristotelischen Welt die politische Gemeinschaft war, legt sich in der hobbesschen, in unserer modernen Welt in Staat und Gesellschaft auseinander. Die Gesellschaft ist ein Aggregat von Individuen, deren Handlungen durch das Recht äußerlich koordiniert werden. Und der Staat ist die gesellschaftsjenseitige Herrschaftsinstanz, die das Recht setzt und durchsetzt und damit das friedliche Zusammenleben der Bürger ermöglicht. Hier ist kein Raum mehr für emphatische Gemeinschaftlichkeit, objektives Glück und allgemeinverbindliche Vorstellungen von einem guten Leben. Hier gibt es nur autonome Individuen und Privatleute, die unter dem Dach der rechtlichen Zwangsordnung ihren Geschäften nachgehen und nach eigener Façon glücklich zu werden versuchen. Freilich haben auch sie eine politische Funktion. Diese erschöpft sich aber bei Hobbes in der gleichen Beteiligung aller an dem legitimatorischen Akt der Staatskonstitution. Die Menschen sind die Schöpfer der politischen Welt, die sie aber sogleich nach ihrer Entstehung dem staatlichen Leviathan überlassen; sie selbst ziehen sich in ihr Privatleben zurück.

Die zentrale Frage der klassischen Politik galt immer der Qualität der politischen, den öffentlichen Raum organisierenden Herrschaft, nie der Herrschaftslegitimation als solcher. Da der Mensch immer schon als politisches Lebewesen, als auf politische Gemeinschaft hin angelegt begriffen wurde, kam er nie als die Instanz in den Blick, vor der sich Herrschaft überhaupt rechtfertigen müßte. Der Programmpunkt der Herrschaftsrechtfertigung gehört in den von Hobbes entwickelten Aufgabenkanon der neuzeitlichen politischen Philosophie, die von einer Anthropologie des unpolitischen Menschen ausgeht und daher mit dem Problem konfrontiert ist, wie der Übergang von einem Ensemble unpolitischer Lebewesen zu einer herrschaftlich organisierten Gemeinschaftsform erklärt und, da unweigerlich mit Freiheitseinschränkungen verbunden, gerechtfertigt werden kann. Für den politischen Aristotelismus, der den Menschen immer schon als durch gesellschaftlich-politische Kontexte bestimmt begreift, kann es nur um die Frage der sittlichen Beschaffenheit der politischen Welt, um die Frage der ethischen Qualität der Herrschaftsorganisation gehen. In Beantwortung dieser Frage entwickelte Aristoteles eine Verfassungstypologie, in der gute und schlechte Verfassungen unterschieden wurden. Differenzkriterium ist der Begriff des Politischen, der Gegensatz zwischen Polis und Oikos. Gute Verfassungen zeichnen sich durch Gerechtigkeit, Gemeinwohlorientierung und Bürgerfreundlichkeit aus; schlechte Verfassungen hingegen schaden der Gemeinschaft, zerstören alle Bürgerlichkeit, setzen Willkür an die Stelle der Gesetze und mißbrauchen die Macht zur Befriedigung partikularer Interessen. Gute Verfassungen sind politische Verfassungen, Bürgerlichkeit ermöglichende Verfassungen, schlechte Verfassungen sind unpolitische Verfassungen, die die Herrschaftsstrukturen der häuslichen Gemeinschaft imitieren und sich oikostypisch der Durchsetzung des Partikularen verschreiben.

Inkarnation des politisch Schlechten, das politische Summum malum, ist die Tyrannei. Der Tyrann ist für die klassische Politik die Negation des Politischen schlechthin. Der Tyrann ist der Oikosdespot, der Hausherr, der die Polis in ein Haus verwandelt und die Bürger wie Gesinde und verfügbares Eigentum behandelt. Ihm Widerstand zu leisten, sich seiner mit allen Mitteln zu entledigen ist legitim, sittlich geboten und ein Dienst an der Bürgergemeinschaft. Der politische Aristotelismus steht auf Seiten Brutus’, nicht Cäsars. Der politische Hobbesianismus hingegen ist ein entschiedener Anhänger Cäsars. Für die von Hobbes begründete neuzeitliche politische Philosophie ist nicht mehr der Tyrann das politische Erzübel, sondern der Ordnungszerfall, die Anarchie. Hobbes ersetzt die für den politischen Aristotelismus charakteristische normative Opposition zwischen guter und schlechter Herrschaft durch den fundamentaleren Gegensatz zwischen Anarchie und Herrschaftsordnung. Die Tyrannei avanciert damit vom Summum malum zum kleineren Übel – sofern man überhaupt noch über eine unterscheidungsfähige politische Ethik jenseits einer generellen Legitimationstheorie staatlicher Herrschaft verfügt, die eine differenzierende normative Beurteilung verschiedener Weisen staatlicher Herrschaftsausübung erlaubt.

Es ist für die Radikalität der Hobbesschen Staatsphilosophie kennzeichnend, daß für sie der Begriff der Tyrannis keiner wissenschaftlichen Klärung mehr zugänglich ist. Für Hobbes ist dieser Begriff eine Denunziationsvokabel aus dem Sprachschatz des Bürgerkriegs, ein Intellektuellenbegriff, hinter dem sich umstürzlerische Pläne verbergen: Wird ein Herrscher als Tyrann bezeichnet, dann sagt das objektiv über sein Regiment nichts aus, sondern wirft nur ein deutliches Licht auf die politisch verwerflichen Absichten des Kritikers. Brutus wird zum Staatsfeind erklärt. Hobbes betrachtet die Widerstandslehre der klassischen Politik als »aufruhrstiftende Theorie«, die die politisch gefährliche Krankheit der »Tyrannophobie oder Furcht vor einer strengen Regierung« verbreitet, und rät, die »politischen und historischen Schriften der alten Griechen und Römer« in den Giftschrank zu legen und unter Verschluß zu halten, denn die durch ihre Lektüre herbeigeführte politische Vergiftung sei durchaus »mit dem Biß eines tollwütigen Hundes zu vergleichen«5.

Die klassische Politik ist Bestandteil der Ethik. Sie ist Lehre vom guten und gerechten Leben. Ein gutes und gerechtes Leben politikabgewandt, als Privatmann, führen zu können ist für den politischen Aristotelismus unvorstellbar. Eine Moralphilosophie, die wie die Kants einen Bezirk der gesinnungsstarken Innerlichkeit außerhalb aller sozialen und institutionellen Kontexte etabliert und die moralische Qualität des Handelns allein an der motivationalen Lauterkeit des Gewissens mißt, ist der Sittlichkeitskonzeption des politischen Aristotelismus diametral entgegengesetzt. Sitte, Gesetz und Charakterbildung sind für ihn nicht zu trennen. Moralität in ihrer neuzeittypischen legalitäts- und sittlichkeitspolemischen Ausrichtung ist ihm unbekannt. Im Republikanismus der klassischen Politik konvergieren die individuelle sittliche Lebensqualität und das Glück des Gemeinwesens. Das Heil der eigenen Seele unabhängig von dem Heil der Polis zu suchen und für wertvoller als das politische Schicksal des Gemeinwesens zu erachten konnte keinem Anhänger der klassischen Politik, keinem Politen oder Republikaner einfallen. Der einzelne Mensch nimmt sich nicht im Gegensatz zur Gemeinschaft wahr, setzt nicht auf seine eigene Vernunft, auf sein eigenes Gewissen im Gegensatz zu den Geltungsansprüchen der Sitten, des Brauchtums, des Üblichen, des lebensweltlichen Ethos, der sozialen Institutionen. Der einzelne Mensch stellt auch nicht sein ökonomisches Interesse über die Erfordernisse des Allgemeinen, sondern das Individuum des politischen Aristotelismus ist ein politischer Mensch, ein Gemeinschaftsmensch; es definiert sich durch die Teilhabe an der Gemeinschaft und verwirklicht sich in der Gemeinschaft, durch die engagierte Mitarbeit am politischen Leben, an der gemeinsamen Praxis. Der Bürger des politischen Aristotelismus ist kein Erwerbsbürger, kein Bourgeois, kein Warenproduzent, der einzig am guten Gang seiner Geschäfte interessiert ist und sich der Politik nur zuwendet, weil sie entweder sich selbst als einträglich erweist oder weil sich mit ihrer Hilfe die Erwerbsbedingungen vorteilhafter gestalten lassen. Sozial eingebettet, ist ihm auch die Autonomie fremd, die sich Menschen zumuten müssen, wenn die Kontingenz über sie hereinbricht, ihnen aller metaphysische und institutionelle Außenhalt verlorengeht. Mag das moderne Individuum als Rationalitätsvirtuose und Homo oeconomicus begriffen oder als autonomes, nur durch eigene Regeln verpflichtbares Selbst verstanden werden, der Bürger des politischen Aristotelismus steht zu allen Gestalten moderner Individualität in gleichem Gegensatz.

Ebensowenig wie der Polisbürger ein Homo oeconomicus oder ein autonomes Selbst ist, ebensowenig ist die Polis dem modernen Staat gleichzusetzen. Die Polis ist weder Staat noch Gesellschaft im modernen Sinn; sie ist eine Gemeinschaft um des guten Lebens aller Bürger willen. Staat und Gesellschaft sind komplementäre Systeme, die erst entstehen konnten, als die soziale Welt, die im politischen Aristotelismus ihren verbindlichen begrifflichen Ausdruck gefunden hatte, zerfallen war, als sich die ökonomische Reproduktion der Gesellschaft veränderte und kapitalistische Produktionsverhältnisse entstanden. Der moderne Staat ist nur in Relation zur modernen, marktförmigen Gesellschaft von Privatleuten zu verstehen. Dieses Gegenüber von marktförmiger Gesellschaft und marktbeaufsichtigendem Staat ist der klassischen Politik und ihrer hauswirtschaftlichen Selbstversorgungsökonomie fremd. Sie kennt nur das Gegenüber von Haus und Polis, von subsistenzsichernder Hauswirtschaft und politischer Gemeinschaft von Freien und Gleichen, die ihr ganzes, von ökonomischer Reproduktion freigestelltes Leben der gemeinsamen, der öffentlichen Sache, der Res publica widmen.

Man muß sich hüten, Aristoteles’ Preislied der bürgerlichen Lebensform als Lob auf den demokratischen Egalitarismus mißzuverstehen. Aristoteles ist der uns selbstverständliche normative Universalismus in all seinen Spielarten gänzlich fremd. Freiheit und Gleichheit sind im politischen Aristotelismus ungleich verteilte politische Qualitäten, nicht universalistische menschenrechtliche Prädikate. Die alteuropäische politische Gemeinschaft ist partikularistisch: Nicht alle Menschen erreichen das in ihre metaphysische Natur teleologisch eingeschriebene Vollendungsstadium der politisch-bürgerlichen Existenz, vielen ist schon von vornherein aufgrund kontingenter natürlicher Eigenschaften die Teilhabe am Politischen versperrt. Der aristotelische Bürger ist der Hausherr, der Vorstand der ökonomischen Selbstversorgungseinheit des Hauses: Frauen, Kinder, ökonomisch Abhängige, Sklaven, Knechte und Mägde besitzen in der traditionellen »koinonia politike« keine Bürgerqualität, gelten als Unfreie und Ungleiche. Auch Handwerker und Händler gehören nicht zur politischen Elite. Der politische Aristotelismus ist die politische Reflexionsform einer übersichtlichen und kompakt-immobilen Klassengesellschaft, in der die Klasse der Bürger die Menge der Nichtbürger repräsentiert und aufgrund ihrer allseits anerkannten und in einem ohne jeden Vorbehalt zugestandenen überlegenen Wissen um die Zwecke der Gemeinschaft und die Wege zu einem guten Leben begründeten politischen und kulturellen Autorität als Integrationskern einer die Gesellschaft der Ungleichen umfassenden politischen Einheit des guten Lebens fungiert.

Die Freiheit des aristotelischen Bürgers ist wesentlich die Freiheit von der Arbeit, von der Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten der Natur. Sie basiert auf der Exklusion der Mehrheit vom politischen Leben. Damit die einen Bürgerqualität erlangen und ihre menschliche Natur kultivieren können, müssen sie andere mit Gewalt von dem politischen Raum individuell-ethischer und kollektiv-politischer Selbstsorge fernhalten. Ein gutes, sittlich und politisch glückendes Leben ist nur möglich, wenn der Bürger die erforderlichen Auseinandersetzungen mit den Notwendigkeiten des Lebens an andere delegiert; so kann er sich den erforderlichen Freiraum für Selbstentwicklung und Selbstvervollkommnung schaffen. Diese anderen werden dadurch zu einem ausschließlich körperlichen und sittlich inferioren Dasein verurteilt. Sie werden der Freiheit der Bürger geopfert. Sie bilden den passiven Körper der politischen Gemeinschaft, der sich dem Stoffwechsel der Natur eingliedert und die fällige, zur Erhaltung unerläßliche Arbeit für alle übernimmt.6

Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die zuerst im Medium der Hobbesschen Philosophie sich in ihrer Neuartigkeit zu begreifen beginnt, ist hingegen universalistisch. Sie basiert auf strikter menschenrechtlicher Gleichheit und den Egalisierungseffekten des Marktes. Die Ablösung des teleologischen, zweckgerichteten normativen Fundaments durch ein deontologisches, sich an den Komplementärbegriffen von Recht und Pflicht orientierendes Fundament gibt dem Gedanken eines perfektionistischen Finalstadiums menschlicher Existenz keinen Raum mehr. Eine Hierarchisierung menschlicher Lebensformen nach Maßgabe ihres Abstandes von der menschlichen Vollendung ist in der Moderne undenkbar. Auf menschenrechtlicher Grundlage kann es keine Politik im Dienst der Erreichung des metaphysischen Entwicklungsziels mehr geben, nur noch eine Politik der Bereitstellung eines sozioökonomischen Milieus, in dem die im menschenrechtlichen Gedanken eingelassene individuelle Autonomie gedeihen kann und der Selbstverwirklichungserfolg gefahrlos vor die Sorge für das Allgemeine treten kann.

Die Selbstauslegung der modernen politischen Gemeinschaft steht im Horizont des normativen Universalismus. Sie ersetzt die kulturelle Autorität der privilegierten Wenigen durch die Autorität der prozeduralen Rationalität des konstruktiven Universalismus und des sich dem demokratischen Diskurs aussetzenden und in ihm bestehenden Arguments. Die Freiheit der bürgerlichen modernen Gesellschaft ist abstrakt: Es ist die gleiche Freiheit aller. Die Freiheit der politischen Gemeinschaft der Tradition ist konkret und asymmetrisch: Sie tritt immer im Verein mit der Unfreiheit anderer auf, ist immer die Freiheit zur politischen und kulturellen Bevormundung anderer, ist immer die Freiheit der Wenigen neben der Unfreiheit der Vielen. Die strikt egalitaristische Vertragsgemeinschaft der kontraktualistischen Naturzustandstheorie bildet einen Verfassungsgrundriß der bürgerlichen Gesellschaft und der in ihr begründeten modernen politischen Gemeinschaft. In der politischen Philosophie Hobbes’ ist dieser Verfassungsgrundriß zum ersten Mal ausgezogen worden.

Der politische Aristotelismus stützt sich auf eine metaphysische Naturauffassung. Die Natur, von der im Zoon-politikon-Axiom die Rede ist, ist nicht die Natur der neuzeitlichen Naturwissenschaften, ist nicht die empirische Natur des Tatsachenblicks, ist nicht die zum Verfügungsobjekt, zur Ware verdinglichte Natur. Es ist eine teleologisch verfaßte, den Lebewesen Zwecke einschreibende Natur. Jedes Lebewesen besitzt dieser spekulativen Naturauffassung zufolge von Natur aus eine Art normativer Verfaßtheit, die das ihm Zuträgliche, seine Bestimmung, sein Recht, festlegt, die die Zielprojektion gelungener Lebensentwicklung enthält. Ein angemessenes Leben ist ein solches, das diese in die Wesensverfassung eingeschriebene Zielprojektion realisiert. Natürliches Leben wird in dieser teleologischen Perspektive zu einem von menschlichem Handeln nur noch graduell – und nicht, wie dann in der Neuzeit: prinzipiell – unterschiedenen Prozeß. In Hinsicht auf den Menschen, auf seine wesensmäßig politische Natur heißt das, daß eben nur in der politischen Gemeinschaft der Mensch ein seiner Naturbestimmung angemessenes Leben führen kann. Natur und politisches Leben sind also im politischen Aristotelismus aufgrund der fundierenden metaphysischen Naturteleologie aufeinander verwiesen und unauflöslich miteinander verknüpft. Die Polis ist das metaphysische Biotop des Menschen. Die Polissittlichkeit und die sie tragenden institutionellen Formen sind selbst in die Naturverfassung des Menschen als dessen teleologische Ziel- und Zweckbestimmung eingelassen. Das für die neuzeitliche politische Philosophie charakteristische feindliche Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft gilt für die klassische Politik nicht. Die Polis ist vor dem Hintergrund der teleologischen, vorszientistischen Naturkonzeption ja selbst als Naturzustand zu begreifen, als Zustand einer erfüllten Natur. Hingegen konstituieren sich Gesellschaft und politische Welt in den politischen Reflexionsformen der durch ein physikalistisches Naturkonzept geprägten Neuzeit in ausdrücklicher Entgegensetzung zu allem Natürlichen erst jenseits des Naturzustandes.

Dieser teleologische Naturbegriff liegt auch dem stoischen Naturrecht zugrunde, das in der hellenistischen Zeit entstanden ist, den Niedergang der klassischen griechischen Stadtkultur spiegelt und die parochiale Polissittlichkeit durch eine allgemeine Kosmosverfassung, durch ein kosmosweit gültiges Normensystem ersetzt. Die Grundelemente der Naturrechtskonzeption, der ersten stoischen, aber auch jeder späteren geschichtlichen Gestalt naturrechtlichen Denkens, können gut dem folgenden Naturrechtsporträt aus Ciceros De re publica entnommen werden: »Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft, die mit der Natur in Übereinstimmung steht, allen zuteil wird und ständig gleichbleibend und ewig ist. Sie befiehlt die Erfüllung der Pflicht und schreckt durch Verbote vom Bösen ab […]. Die Gültigkeit dieses Gesetzes einzuschränken ist Frevel; es duldet keinerlei Aufhebung und Abschaffung, es ist unantastbar. Kein Senatsbeschluß und keine Volksabstimmung kann seine Verbindlichkeit für uns lösen und außer Kraft setzen. Es braucht keinen Erklärer und keinen Ausleger […]. Es ist dasselbe in Rom und Athen, dasselbe jetzt und später. Für alle Völker und für alle Zeiten wird es unveränderlich und ewig gelten.«7

Auch das stoische Naturrecht ist eine Lehre der gerechten Herrschaft. Es lehrt, daß in der Naturordnung die unveränderlichen und objektiv gültigen Prinzipien der Gestaltung eines gerechten Gemeinwesens enthalten und für die menschliche Vernunft zweifelsfrei erkennbar seien. Naturrecht, das meint: Recht der Natur, im Gegensatz zum veränderbaren und fehlbaren menschengemachten Recht; das meint aber auch eine Naturordnung,