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In herzlicher Freundschaft für

Karl Dietrich Gräwe, Dieter Hauer und Klaus Stadler –

treue Wegbegleiter durch so viele Sendungen und Bücher …

… et bien amicalement pour Michel, MaJo et Kim.

ISBN 978-3-492-97715-9

Februar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH,

München/Berlin 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

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Douze Études (biographiques)
d’exécution transcendante

Vorwort

1885, irgendwo zwischen Rom, Weimar und Budapest. Irgendwo in Europa. Ein alter, vom grauen Star fast erblindeter, von Krankheit und Alkohol gezeichneter Mann schlurft in zerschlissenen Pantoffeln durch eine Wohnung, in der es nach kaltem Zigarrenrauch und schalem Cognac riecht. Immer wieder lässt ihn ein quälender Hustenanfall innehalten; leise stöhnend stützt er sich an einem Sessel ab. Seit einem Treppensturz vor ein paar Jahren bereitet jeder Schritt seinen von der Wassersucht aufgedunsenen Beinen Mühe und Schmerzen, und die Erkältung will und will nicht besser werden. Das immer noch dichte, schlohweiße, schulterlange Haar fällt auf den Kragen einer nachlässig zugeknöpften Soutane. Um die Schultern hat er ein Tuch gelegt: Er friert. Auf dem Tisch im Salon liegen einige Zeitungen und Journale: Berlin, Leipzig, Paris, die Neue Freie Presse aus Wien, der Pester Lloyd. Das Übliche: feindselige Verrisse und gehässiger Spott. Erfolg und Anerkennung? »Ich kann warten«, hat er immer wieder seinen Schülern erklärt. Warten … Seufzend setzt er sich an den Schreibtisch, um die tägliche Korrespondenz zu erledigen: Briefe an die Tochter, die ihm ganz und gar entfremdet ist, an die frühere Geliebte, die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, an Bittsteller, an Freunde.

»Alle sind gegen mich. Die Katholiken, weil sie meine Kirchenmusik profan finden, die Protestanten, weil sie finden, dass meine Musik katholisch ist, die Freimaurer, weil sie meine Musik als klerikal empfinden; für die Konservativen bin ich ein Revolutionär, für die ›Zukunftsapostel‹ ein falscher Jakobiner. Was die Italiener betrifft, trotz Sgambati: Wenn sie Anhänger Garibaldis sind, hassen sie mich als Frömmler, wenn sie auf Seiten des Vatikan stehen, klagen sie mich an, den Venusberg in die Kirche gebracht zu haben. Für Bayreuth bin ich kein Komponist, sondern bloß ein Werbeträger. Die Deutschen verabscheuen meine Musik als französisch, die Franzosen als deutsch, für die Österreicher schreibe ich Zigeunermusik, für die Ungarn fremdartige Musik. Und die Juden hassen mich und meine Musik ohne jeden Grund.«1

Dieser späte Brief Franz Liszts an seinen ungarischen Freund Ödön Mihalovich ist ein erschütterndes Dokument: Lebensresümee eines vereinsamten, verkannten und verletzten Künstlers, dem doch einmal ganz Europa zugejubelt und zu Füßen gelegen hatte. Wie konnte aus dem glamourösen Pop- und Superstar, der mit seinem Klavierspiel die Massen zu hysterischer Begeisterung hinriss, dieser alte Mann werden, der sich bitter beklagt, dass alle gegen ihn und seine Musik sind? Wie konnte sein Genie derart ins Abseits geraten? Diese Fragen zu beantworten ist eines der Hauptanliegen dieses Buches.

*

»Es ist ganz erstaunlich, daß sich ein erheblicher, ich möchte sagen der überwiegende Teil der Musiker trotz der Neuartigkeit und Großartigkeit der Musik Liszts so wenig mit ihr anfreunden kann«2, stellte Béla Bartók 1911 in einem Aufsatz zum 100. Geburtstag des Komponisten fest. Und daran hat sich auch heute – 100 Jahre später – nicht viel geändert. Tatsächlich gibt es kaum einen bedeutenden Komponisten des 19. Jahrhunderts, der so wenige Freunde zu haben scheint. »Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege«, verteidigte sich der Pianist Alfred Brendel 1976 in einem Plädoyer für den Geächteten. Die Vorurteile gegen seine Musik, die Brendel aufzählt – »bombastische Äußerlichkeit, billige Sentimentalität, Formlosigkeit, Wirkung um der Wirkung willen«3, – sind heute so lebendig wie eh und je. In Deutschland kommt noch ein spezifisches Kainsmal hinzu, das Liszt anhaftet: seine Vereinnahmung als »Volksgenosse«4 durch die Nationalsozialisten und der Missbrauch seiner Symphonischen Dichtung Les Préludes als musikalisches Signet für Sondermeldungen der Wehrmacht im Rundfunk. Kein Wunder, dass sich die Musikforschung vor allem in Deutschland schwertut mit Liszt. Nach den beiden großen Monografien von Lina Ramann5 und Peter Raabe6 ist in Deutschland seit 80 Jahren keine umfassende Darstellung seines Lebens und seiner Musik mehr erschienen. Von Ernst Burger7 gibt es zwei edle Bildmonografien, aber größere deutschsprachige Biografien wie die von Wolfgang Dömling8, Adalbert Engel9, Reinhard Haschen10 oder Klára Hamburger11 bieten eher Kompilationen bekannter Fakten, Quellen und Texte, als dass sie das Bild des Komponisten grundlegend verändern würden. Die jüngste, englischsprachige Referenzmonografie des britisch-kanadischen Liszt-Forschers Alan Walker12 ist zwar ins Französische übersetzt worden, nicht aber ins Deutsche.

Trotz alledem: Franz Liszt ist weltberühmt. Seinen Namen kennen auch Menschen, die nicht unbedingt eine Affinität zur so genannten ›klassischen‹ Musik haben. Seine zweite Ungarische Rhapsodie zum Beispiel ist ein »Greatest Hit«, der es ebenso zum Zeichentrickfilm-Ruhm eines frühen Mickey-Mouse- (1929 in The Opry House von Walt Disney) und eines Tom-&-Jerry-Cartoons gebracht hat (1946 in The Cat Concerto von William Hanna und Joseph Barbera) wie zum Victor-Borge-Sketch in der Muppet Show.13 Der (1936 erstmals veröffentlichte) Roman Ungarische Rhapsodie von Zsolt Harsányi wird immer wieder neu aufgelegt. Das Hollywood-Melodram Song Without End von Charles Vidor und George Cukor (mit Dirk Bogarde) zeichnet 1960 Liszts Leben als kitschbuntes Rührstück nach, 1970 dreht der ungarische Regisseur Márton Keleti (mit Imre Sinkovits) unter dem Titel Szerelmi álmok (»Liebesträume«) ein fast dreistündiges Filmepos über seinen berühmten Landsmann, 1975 stilisiert der englische Regisseur Ken Russell in seinem Film Lisztomania den Komponisten zum ersten Popstar der Musikgeschichte (und besetzt die Titelrolle folgerichtig mit Roger Daltrey, dem Leadsänger der Rockband The Who, während der Ex-Beatle Ringo Starr als Papst Pius IX. auftritt). In verschiedenen Internet-Foren mit Listen der berühmtesten Komponisten rangiert Franz Liszt immer unter den ersten 20.

Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Popularität Liszts jedoch als eher fadenscheinig. Es sind höchstens zwei Dutzend Werke, denen man heute noch im Konzert begegnet: an Klavierwerken die h-Moll-Sonate, zwei oder drei der Ungarischen Rhapsodien (die Nummern 2, 6 und 15), die Funérailles aus den Harmonies poétiques et religieuses, der dritte Liebestraum und die erste der Consolations, das eine oder andere Stück aus den Années de pèlerinage, die beiden Franziskus-Legenden; für Tastenvirtuosen, die ›sich zeigen‹ wollen, kommen noch der erste Mephisto-Walzer, die Rigoletto-Paraphrase und die eine oder andere der Etüden hinzu, während der ›späte Liszt‹ gelegentlich mit den Nuages gris oder La lugubre gondola auf einem Klavierabend-Programm erscheint. (Zur Orientierung: Die Gesamtaufnahme der Klavierwerke von Liszt, die der australische Pianist Leslie Howard zwischen 1985 und 2001 für das englische Label Hyperion eingespielt hat, umfasst 97 CDs mit 1418 Tracks!) Das erste Klavierkonzert, ein, zwei Symphonische Dichtungen und ab und zu einmal die Faust-Symphonie sind alles, was von seinen Werken für und mit Orchester geblieben zu sein scheint, und ein paar Organisten haben noch Präludium und Fuge über den Namen BACH im Repertoire. Die Klavier- und Orchesterlieder, die Melodramen, die Kammermusik, die weltlichen und geistlichen Chorwerke, die beiden Oratorien Christus und Die Legende von der heiligen Elisabeth – sie alle scheinen aus der Mode gekommen zu sein, wie überhaupt der Großteil seines mehr als 800 Werke umfassenden Œuvres.

Dabei findet sich gerade unter den vergessenen Werken Liszts Musik von fundamentaler und epochaler Bedeutung. Der Beginn der sogenannten »Dante-Sonate« (Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata) aus dem zweiten Teil der Années de pèlerinage ist das erste Werk der abendländischen Musik, das mit einem unaufgelösten Tritonus beginnt. Das Melodram Der traurige Mönch nach Nikolaus Lenau ist nahezu vollständig auf Ganztonskalen und -harmonien aufgebaut. Das Lied Ich möchte hingehn (nach Georg Herwegh) nimmt zehn Jahre vor Wagner das berühmte Tristan-Motiv vorweg, so wie das Excelsior-Vorspiel zu der Longfellow-Vertonung Die Glocken des Straßburger Münsters den Parsifal vorausahnt. Und die quasi abstrakten Klangwelten jenseits der Dur/Moll-Tonalität, zu denen Liszt in Klavierstücken wie Schlaflos. Frage und Antwort, R. W. Venezia oder Unstern. Sinistre. Disastro. vordringt, weisen derart weit voraus ins 20. Jahrhundert, dass man sich kaum darüber wundert, dass diese Werke erst 1927 veröffentlicht wurden. »Im letzten Grunde stammen wir alle von ihm – Wagner nicht ausgenommen – und verdanken ihm das Geringere, das wir vermögen«14, schrieb 1920 Ferruccio Busoni.

Wie konnte es also zu dieser Verdrängung Franz Liszts aus dem musikalischen Bewusstsein kommen? Sie ist das Ergebnis einer systematischen Demontage, die bereits zu seinen Lebzeiten begann und für die – teils nacheinander, teils parallel – mehrere Personen und Personengruppen verantwortlich waren. Die erste, die ihm zum Verhängnis wurde, war ausgerechnet Marie d’Agoult: bis 1844 Liszts Lebensgefährtin und die Mutter seiner drei Kinder. Nach dem Ende ihrer Beziehung veröffentlichte sie 1846 unter dem Pseudonym »Daniel Stern« den Schlüsselroman Nélida, in dem Liszt (in der Gestalt des Malers »Guermann Régnier«) als kreativ impotent dargestellt wird. Dann war es (nach 1847) das breite Publikum, das es dem Klaviervirtuosen nicht verzieh, dem öffentlichen Konzertleben den Rücken gekehrt zu haben. Es fühlte sich gewissermaßen von ihm im Stich gelassen und verraten, um seine ›lisztomanische‹ Begeisterung betrogen. Es war der Pianist und Popstar Liszt gewesen, dem sie zugejubelt hatten – der Komponist und Dirigent interessierte sie nicht. Mit dem hingegen hatte das Weimarer Bürgertum seine Probleme. Die Werke der musikalischen Avantgarde, die Liszt ihm als großherzoglicher Kapellmeister seit 1849 ›zumutete‹ – Richard Wagners Tannhäuser und Lohengrin, Hector Berlioz’ Benvenuto Cellini oder Peter Cornelius’ Der Barbier von Bagdad –, waren ihm ein Graus. Als es Liszt dann auch noch wagte, eigene Orchesterwerke zur Aufführung zu bringen, brach ein Sturm der Entrüstung los, der weit über Weimar hinaus Wogen schlug. Seine Idee einer Verknüpfung von Musik und Poesie rief Robert und Clara Schumann, Johannes Brahms und andere konservative Gegner der Programmmusik auf den Plan, die ihn mit einer jahre-, wenn nicht jahrzehntelangen Pressekampagne als »Un-Musiker« diffamierten – allen voran der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick.

Und es waren nicht allein die Feinde der »Zukunftsmusik«, die Liszt mit ihrem Hass verfolgten. Der bewunderte Freund Wagner, der ohne die ideelle und vor allem materielle Unterstützung Liszts kaum die Jahre seines politischen Exils überstanden hätte, wandte sich von ihm ab, nachdem er in Ludwig II. von Bayern seinen königlichen Mäzen gefunden hatte: Zum einen, weil er nicht zugeben wollte, welchen Einfluss die Werke Liszts auf sein eigenes musikalisches Schaffen gehabt hatten, zum anderen, weil sich Liszt entschieden gegen die Beziehung seiner Tochter Cosima zu Wagner gestellt hatte; auch das (ohnehin problematische) Verhältnis Cosimas zu ihrem Vater drohte an diesen Spannungen vollends zu zerbrechen. Als dann jedoch 1876 die ersten Bayreuther Festspiele stattfanden, bemühten sich die Wagners, die Beziehung zu ihrem Vater und Schwiegervater wieder einzurenken. Liszt war immer noch eine europäische Berühmtheit und damit der ideale »Werbeträger« der Wagner’schen Musikdramen, wie er es so hellsichtig in seinem Brief an Mihalovich genannt hat: un agent publicitaire. Nach Wagners Tod verfolgte Cosima diesen Weg rücksichtslos weiter, um einen hohen Preis: Liszt wurde von ihr (bis hin zu seinem Tod und seiner Beisetzung in Bayreuth) so sehr zum Propheten Wagners stilisiert, dass seine eigene künstlerische Persönlichkeit und Leistung in Wagners Schatten bis zur Unkenntlichkeit verkümmerten. Und schließlich trug auch noch Liszts zweite große Liebe Carolyne von Sayn-Wittgenstein einen Teil der Schuld daran, dass sein Name schon zu Lebzeiten in Misskredit geriet: Er hatte ihr 1881 die Neuausgabe seines Buches Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie anvertraut, das die Fürstin eigenmächtig einer Revision unterzog und dabei mehrere Passagen einfügte, die Liszt in den (notabene völlig unberechtigten) Ruf eines Antisemiten brachten. Und was nach alldem noch von Liszts ›gutem Namen‹ übrig war, fiel dem Klatsch zum Opfer: Vor allem was seine erotische Ausstrahlung betrifft, ranken sich um kaum einen Musiker so viele Legenden und Anekdoten wie um Franz Liszt.

Warum nur hat sich Liszt selbst nicht gegen diese Demontage gewehrt, die doch schon zu seinen Lebzeiten begann? Auch das ist eine Frage, auf die dieses Buch versuchen will eine Antwort zu geben. Ihre Folgen wirken jedenfalls über seinen Tod hinaus bis heute fort. Selbst bei jenen, die bereit sind, seine musikhistorische Bedeutung anzuerkennen, hält sich hartnäckig ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber seiner Person. »Rollen, Kostüme, Verwandlungen« hat zum Beispiel Sigfried Schibli 1986 sein Liszt-Porträt15 genannt – und damit genau jenes Bild des »Schauspielers« bedient, gegen das Liszt zeit seines Lebens angekämpft hat. Bereits im Januar 1837 schrieb der 25-Jährige im zweiten seiner Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst an George Sand:

»Die Leute der Welt, die den Künstler zu hören kommen, haben keine Zeit, um an die Leiden des Menschen denken zu können. Ihr leichtes, sich ewig zwischen den beiden Kompaßzeigern ›Schicklichkeit und Wohlsein‹ bewegendes Leben begreift nichts von den Widersprüchen und Excentricitäten, wie sie aus einem Doppelleben wie das meine nothwendigerweise hervorgehen mußten. Von tausend wirren Neigungen gequält, mit dem Bedürfnis schrankenloser Ausdehnung, zu jung, um mir selbst zu mißtrauen, zu naiv, um mich in mich selbst zurückzuziehen, überließ ich mich gänzlich meinen Eindrücken, meiner Bewunderung, meinen Antipathien. Und weil ich mich gab, wie ich war: ein enthusiastisches Kind, ein warmfühlender Künstler, ein strenger Gläubiger, mit einem Worte alles, was man mit achtzehn Jahren ist, wenn man Gott und die Menschen mit heißer, glühender Seele liebt und unberührt ist von dem erstarrenden Hauche des socialen Egoismus, weil ich es nicht verstand Komödie zu spielen, kam ich in den Ruf – ein Schauspieler zu sein.«16

Es wäre Aufgabe der Musikwissenschaft gewesen, dieses Bild zurechtzurücken; doch die Aktivitäten der Liszt-Forschung geben nach außen ein alles andere als harmonisches Bild.

Parallel zu den verschiedenen Liszt-Gesellschaften in aller Welt wurde zwar 2009 – vorausblickend auf das Liszt-Gedenkjahr 2011 – in Budapest die »International Liszt Association« gegründet. Die 1950 von Humphrey Searle in England gegründete »Liszt Society«, die 1964 gegründete »American Liszt Society«, der 1969 gegründete »Franz-Liszt-Verein Raiding«, die 1973 gegründete »Ungarische Liszt-Gesellschaft«, die 1985 in Detmold eingerichtete und seit 1999 an der Musikhochschule Weimar beheimatete »Franz-Liszt-Forschungsstelle«, das 1997 gegründete »Istituto Liszt di Bologna« – sie alle scheinen eher nebeneinander her als miteinander zu arbeiten, und der Stand der Liszt-Forschung ist nach wie vor desolat: Das thematisch-chronologische Werkverzeichnis, an dem die ungarische Liszt-Forscherin Mária Eckhardt seit Anfang der 1980er Jahre arbeitet und das im Münchner Henle-Verlag erscheinen soll, ist noch immer nicht abgeschlossen, sodass weiterhin wenigstens vier verschiedene Verzeichnisse nebeneinanderher existieren. Von der kritischen Neuausgabe der Schriften Liszts, die seit 1989 von Detlef Altenburg betreut wird, liegen bei Breitkopf & Härtel (Wiesbaden) erst vier der geplanten neun Bände vor. Die Neue Liszt-Ausgabe seiner musikalischen Werke – 1970 als Gemeinschaftsprojekt der Editio Musica Budapest (EMB) und des Kasseler Bärenreiter-Verlags begonnen – wird seit 1985 von EMB allein fortgeführt und ist noch sehr, sehr weit von ihrem Ende entfernt. Und was die Korrespondenz betrifft, so ist es vielfach noch immer die mehr als 100 Jahre alte, alles andere als zuverlässige Ausgabe von La Mara17, an der sich die Liszt-Forschung orientieren muss; abgesehen von drei Auswahleditionen18 liegen immerhin die Briefwechsel mit Marie d’Agoult, Marie zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Olga von Meyendorff, Agnès Street-Klindworth und Richard Wagner vollständig und in kommentierten Neuausgaben vor.19

*

Und nun also dieses Buch. Es kann und will keine erschöpfende Biografie sein, die mit Alan Walkers Standardwerk wetteifert, dessen bis ins kleinste Detail recherchierte Daten- und Faktenfülle auf 1700 Seiten den aktuellen Stand der Liszt-Forschung widerspiegelt. Ebenso wenig kann und will es die oben aufgezählten Desiderata und Lücken füllen, mit denen sich die Liszt-Forschung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zweifellos beschäftigen wird. Es sind »Zwölf biografische Etüden in zunehmendem Schwierigkeitsgrad« – angelehnt an Liszts pianistisches Wunderwerk der Douze Études d’exécution transcendante: Studien, die anhand der Lebens-, Werk- und Wirkungsgeschichte (und auf der Grundlage zahlreicher Quellen) zum einen untersuchen, wer eigentlich dieser so widersprüchliche und faszinierende Franz Liszt war, an dem sich alle Geister scheiden; zum anderen aber soll diese Untersuchung Franz Liszts Bedeutung als eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musik auf ihrem Weg in die Moderne dokumentieren – und dass vielleicht gerade dieses visionäre Künstlertum der Grund dafür war, dass er so wenige Freunde hatte: Größe macht einsam.

Michael Stegemann
Herne und Paris, im April 2011