image

Ralph Sauer

Sternbilder des Lebens

Ralph Sauer

STERNBILDER
DES LEBENS

Authentische Christen im Porträt

image

Inhalt

Vorwort

Das Fest Allerheiligen

Heilige der Unscheinbarkeit

Augustinus (354–430)

Bischof und Kirchenlehrer

Benedikt von Nursia (ca. 480–547)

Ordensgründer und Vater des abendländischen Mönchtums

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)

Märtyrer und evangelischer Theologe

Don Bosco (1815–1888)

Patron der Jugend und der Jugendseelsorge

Dom Hélder Câmara (1909–1999)

Bischof der Armen

Bartolomé de Las Casas (1474/1484–1560)

Historiker und Apostel der Indianer

Madeleine Delbrêl (1904–1964)

Mystikerin und Sozialarbeiterin

Alfred Delp (1907–1945)

Märtyrer

Dominikus (1170–1221)

Ordensstifter

Nikolaus von Flüe (1417–1487)

Einsiedler und Friedensstifter

Charles de Foucauld (1858–1916)

Eremit und Ordensstifter

Franz von Assisi (1181/2–1226)

»Der kleine Arme« und Ordensstifter

Clemens August Graf von Galen (1878–1946)

»Der Löwe von Münster«

Nikolaus Groß (1898–1945)

Arbeiterführer und Widerstandskämpfer

Dag Hammarskjöld (1905–1961)

Politiker und Mystiker

Hildegard von Bingen (1098–1179)

Mystikerin und erste Naturforscherin

Franz Jägerstätter (1907–1943)

Landwirt – Kriegsdienstverweigerer – Märtyrer

Maximilian Kolbe (1894–1941)

Märtyrer

Johannes vom Kreuz (1542–1591)

Mystiker und Dichter

Karl Leisner (1915–1945)

Jugendführer und Märtyrer

Bernhard Lichtenberg (1875–1943)

Märtyrer

Ignatius von Loyola (1491–1556)

Ordensgründer und Patron der Exerzitien

Die Lübecker Märtyrer (1943)

»Sag niemals drei, sag immer vier«

Thomas Merton (1915–1968)

Kontemplativer Mystiker und Schriftsteller

Thomas More (1478–1535)

Märtyrer aus Gewissensgründen

Philipp Neri (1515–1595)

Patron der Humoristen

John Henry Newman (1801–1890)

Kirchenvater des 19. Jahrhunderts

Florence Nightingale (1820–1910)

Pionierin der modernen Krankenpflege und Reformerin des Sanitätswesens

Ruth Pfau (1929)

»Der Engel von Karachi«

Óscar Arnulfo Romero (1917–1980)

Blutzeuge für die Armen und Unterdrückten

Albert Schweitzer (1875–1965)

»Urwalddoktor« und Kämpfer für den Weltfrieden

Roger Schutz (1915–2005)

Gründer und Prior der ökumenischen Bruderschaft von Taizé

Bernadette Soubirous (1844–1879)

Seherin

Edith Stein (1891–1942)

Mystikerin – Philosophin – Märtyrerin

Niels Stensen (1638–1686)

Naturforscher und Bischof

Teresa von Ávila (1515–1582)

Mystikerin und Ordensreformerin

Mutter Teresa (1910–1997)

»Die Ikone des Samariters«

Theresia von Lisieux (1873–1897)

Heilige in tiefer Glaubensnot

Simone Weil (1909–1943)

Welt-Mystikerin

Zum Autor

Vorwort

Jahrhundertelang war man in der Kirche der Überzeugung, dass die Weitergabe des christlichen Glaubens am besten mit Hilfe des Katechismus erfolgen müsse. Dieser Ansicht huldigten noch die Väter des II. Vatikanischen Konzils, die im 1993 erschienenen »Katechismus der Katholischen Kirche« »den Bezugstext für eine … erneuerte Katechese« erblickten. In der Gegenwart erweist sich dieses Instrument aber als nicht mehr wirksam, in der Praxis des Religionsunterrichtes und der Katechese wird es daher nicht mehr verwendet. Seine Zeit ist zu Ende. Daran ändert auch die abgespeckte jugendgemäße Variante des »Youcat« nichts. Er ist jedoch als Informationsquelle für das Verständnis des jeweiligen Glaubensgutes weiterhin hilfreich. Wenn Glaube ein Vertrauensglaube ist und nicht in erster Linie ein Fürwahrhalten von Glaubenswahrheiten, dann kann seine Aneignung nicht mit Hilfe des Katechismus ermöglicht werden, er verlangt vielmehr einen personalen Bezug. Der Glaube wird durch das Glaubenszeugnis eines überzeugenden Glaubenszeugen »gezeugt«, wenn wir einmal vom Geschenkcharakter des Glaubens absehen.

Authentische Glaubensvermittlung ereignet sich in der Regel durch das gelebte Zeugnis von Person zu Person. Der selige John Henry Kardinal Newman hat dies auf die Formel gebracht: »Die christliche Wahrheit hat sich in der Welt nicht als System, nicht durch Bücher erhalten, sondern durch den persönlichen Einfluss jener Menschen, die zugleich Lehrer und Vorbilder der Wahrheit sind.« Und Papst Benedikt schrieb in seiner Enzyklika über die Hoffnung: »Auf dem oft dunklen und stürmischen Meer der Geschichte halten wir Ausschau nach Gestirnen. Die wahren Sternbilder unseres Lebens sind die Menschen, die recht zu leben wissen. Sie sind Lichter der Hoffnung.«

In der heutigen Orientierungslosigkeit, wo alles zu gehen scheint und die Wahrheitsfrage ausgeklammert wird, kann uns am Beispiel von glaubenden Menschen der Sinn des Lebens aufleuchten. Wenn Erwachsene heute um das Sakrament der Taufe bitten und damit Glied der Kirche werden wollen, dann waren es fast immer Menschen, die durch ihren authentischen Lebensstil, durch ihre Überzeugung in ihnen den Wunsch geweckt haben, dieser Glaubensgemeinschaft ebenfalls angehören zu wollen. Die heute so weit verbreiteten Medien können nicht den Zugang zum Glauben erschließen, ihnen fehlt die personale Dimension. Sie können den anfanghaft vermittelten Glauben vertiefen, aber sie ersetzen nicht das personale Gegenüber. Wenn Martin Buber sagt: »Ich werde am Du«, dann gilt dies im höchsten Maße für die Glaubensaneignung, die auf personale Vermittler angewiesen ist.

Schon seit Platon sind Vorbilder nicht unumstritten, so dass er vor schlechten Vorbildern warnen musste. Seit der Aufklärung steht man einer Vorbildpädagogik skeptisch gegenüber. Und diese Skepsis hat sich in der Gegenwart noch verstärkt. Lange Zeit ist daher das Vorbild aus der Pädagogik »ausgewandert«. Es hat erst in den neunziger Jahren wieder an Ansehen gewonnen, gerade bei Heranwachsenden, die in unserer unübersichtlichen Gesellschaft nach Leuchttürmen Ausschau halten, die ihnen den Weg zu einem gelingenden Leben weisen können.

Um der Gefahr der bloßen Nachahmung des Vorbildes zu entgehen – da sie ja dazu führen kann, die eigene Freiheitsentscheidung einzuengen –, spricht man heute lieber vom »Lernen am Modell«. Das Modell zwingt mich dazu, mich mit der fremden Person kritisch auseinanderzusetzen, und bewahrt mich davor, unkritisch in seinen Bann zu geraten. Die leidvollen Erfahrungen mit totalitären Systemen haben uns hellhörig gemacht. Bei einem Modell muss ich mich mit den von der anderen Person vorgelebten Werten auseinandersetzen, ich muss mich fragen: Wie weit kann ich sie in mein eigenes Leben übersetzen, wo liegen hier die Grenzen, was muss ich modifizieren? Oft werde ich nur Teilaspekte des anderen Lebensentwurfes übernehmen und sie abgewandelt in meine Persönlichkeit integrieren. Das erfordert Kreativität und Freiheit. Mit Hilfe des Modells muss der Einzelne sein Ich herausbilden. Das Modell hat folglich vor allem Aufforderungscharakter. Während Vorbilder in der Gefahr stehen, dass sie unreflektiert übernommen werden, wollen Modelle dem Menschen zeigen, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten kann. Da aber die Situationen sich immer wieder verändern, kann ich die Vorbilder nicht einfach imitieren. So kann man etwa die Schöpfungsfrömmigkeit des heiligen Franziskus nicht einfach auf die heutigen, ganz anders gelagerten ökologischen Probleme übertragen. Ihr Aufforderungscharakter bleibt dabei jedoch erhalten.

In der aktuellen religionspädagogischen Diskussion beherrscht der Begriff »biographisches Lernen« die Diskussion, er versteht sich als eine Weiterentwicklung der Vorbildpädagogik. Man spricht vom »Lernen an Biographien«. Im Umgang mit fremden Biographien soll sich die eigene Biographie herausschälen. Dabei sollen die Schüler eigene Positionen beziehen bzw. sich erarbeiten. Sie eröffnen sich auf diese Weise Möglichkeitsräume. Dabei kann die fremde Biographie behilflich sein. Durch die Auseinandersetzung mit den Lebenserfahrungen anderer kann man versuchen, sie nachzuvollziehen, kann man das Angebot, das in ihnen durchscheint, für plausibel erachten oder auch nicht. Durch die Beschäftigung mit Fremdbiographien lässt sich der eigene Denkhorizont erweitern. Die Begegnung mit anderen Biographien ist immer auch mit Emotionen verbunden und bildet ein Korrektiv zu einseitig kognitiven Lernprozessen.

Bei der Beschäftigung mit großen Heiligen besteht die Gefahr, dass der normale Mensch sich überfordert fühlt und schnell frustriert wird. Er gibt es auf, dem als Vorbild Hingestellten ähnlich zu werden. In diesem Fall kann es hilfreich sein, sich zunächst mit den »Helden des Alltags« zu beschäftigen oder, wie Romano Guardini sie bezeichnet hat, mit den »Heiligen der Unscheinbarkeit«. Sie leben nebenan, teilen unsere Lebenssituation und bemühen sich zugleich, über den eigenen Tellerrand zu schauen, und haben ihren Blick nach oben gerichtet. Sie leben unter den gleichen Lebensbedingungen wie wir und unterscheiden sich doch von uns, indem sie bereit sind, gegen den gesellschaftlichen Strom zu schwimmen und gegen Ungerechtigkeit und Gewalt zu protestieren. Sie schöpfen aus einer tieferen Quelle als der gewöhnliche Durchschnittsmensch und fühlen sich vor dem größeren Gott verantwortlich. Dabei haben auch sie ihre Fehler und Schwächen, aber sie stehen dazu und erliegen nicht der Gefahr, sie zu beschwichtigen. Diese »Lokalhelden« fordern uns heraus, uns in ähnlichen Situationen ebenso gewissenhaft zu verhalten wie sie. Gleichwohl können sie die großen Glaubenszeugen nicht ersetzen, so dass wir uns auf einer nächsten Stufe auch mit ihnen auseinandersetzen müssen. Sie dürfen nicht der Vergessenheit anheimfallen, denn sie sind ein unabdingbarer Bestandteil der christlichen Erinnerungskultur. Sie wirken wie Leuchttürme in einer immer dunkler werdenden Landschaft.

In diesem Band stelle ich eine Reihe von exemplarischen Gestalten des Glaubens vor, an denen wir ablesen können, wie der Christ in der Spur Jesu wandeln, wie er seine Verantwortung vor Gott und den Menschen wahrnehmen kann. Jede Auswahl ist subjektiv, und das gilt auch für die vorliegende. Ich habe Glaubenszeugen dargestellt, die mir lieb und teuer geworden sind. Darunter finden sich einige, die nicht denselben Bekanntheitsgrad haben wie die großen Glaubenszeugen unserer Tradition. Zudem habe ich die engen konfessionellen Grenzen überschritten und auch Frauen und Männer vorgestellt, die in der evangelischen Kirche beheimatet waren. Daher spreche ich auch nicht von Heiligen, sondern von authentischen Christen. Hier gibt es wie bei den Lübecker Märtyrern eine Ökumene des Glaubens. Einige der authentischen Christen stehen an der Schwelle zum christlichen Glauben, sie waren fasziniert von der Person des Nazareners.

Bei den Porträts habe ich kein geschöntes Bild entworfen, ich habe die Fehler und Unvollkommenheiten der exemplarischen Frauen und Männer nicht verheimlicht. Auf diese Weise rücken sie uns näher und bleiben für uns nicht unerreichbar. Ich habe jeweils nur einige Aspekte ihres Wirkens herausgehoben, um nicht zu weitschweifig zu werden. Wer sich in die Biographie dieser ungewöhnlichen Menschen vertieft, fühlt sich tief beschämt und wird sehr demütig. Er muss feststellen, was ihn von ihnen trennt, wie unvollständig sein Christsein doch ist. Gleichwohl kann er sich an ihnen orientieren und versuchen, an ihnen Maß zu nehmen. Die Frage des heiligen Augustinus verfolgt ihn auf Schritt und Tritt: »Wenn diese, warum nicht auch ich?«

Ein besonderer Dank gilt meinem Kollegen Karl Josef Lesch von der Universität Vechta für seine hilfreichen Korrekturvorschläge und Frau Gerda Büssing, die in bewährter Manier für die Endgestalt des Manuskriptes gesorgt hat.

Ralph Sauer

Das Fest Allerheiligen

Am Fest Allerheiligen gedenken wir nicht nur der Christen, die zur Ehre der Altäre erhoben worden sind als Selige oder Heilige. Wir schließen in unser Gedenken auch die unzählig vielen unscheinbaren und namenlosen Heiligen der Vergangenheit, aber auch unserer Gegenwart mit ein. Zur Heiligenverehrung sind wir nicht verpflichtet; schon das Konzil von Trient hatte im 16. Jahrhundert festgestellt, dass es gut und nützlich sei, Heilige zu verehren, aber es stelle keine strenge Pflicht dar. Die Heiligenverehrung ist für unser Heil nicht notwendig. Gleichwohl gehören die Heiligen zum Grundbestand unseres Glaubens. Wir können uns eine katholische Frömmigkeit nicht ohne die Gestalt der Heiligen vorstellen; das Gleiche gilt auch für die orthodoxe Kirche. Anders die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, die aus Sorge um die Heilsmittlerschaft Jesu den Heiligen keinen großen Platz einräumen. Davon kann man sich schon bei einem Besuch einer evangelischen Kirche überzeugen; vergebens sucht man hier nach Heiligengestalten. Im Höchstfall trifft man auf ein Bild von Martin Luther; er ist der einzige ihnen verbliebene Heilige. Und dann werden hier die Heiligen nicht um deren Fürsprache angerufen, sondern sie gelten nur als Vorbilder gelebten Glaubens. Aber auch in unserer katholischen Kirche des Westens wird der Heiligenverehrung keine allzu große Bedeutung mehr beigemessen. Das zeigt sich schon bei der Wahl eines Namens für das neugeborene Kind. Ganz im Unterschied zu den romanischen und südamerikanischen Ländern, wo der Heiligenkult ungebrochen blüht. Wir haben damit manchmal unsere Schwierigkeiten.

Worin liegt nun der Nutzen der Heiligenverehrung? Fragen wir uns: Was ist überhaupt ein Heiliger? Zunächst ist er ein Mensch aus Fleisch und Blut, der seinen Glauben sehr ernst nimmt und sich zugleich in der Welt engagiert; er legt Protest ein gegen ungerechte Strukturen in Politik, Wirtschaft und Kirche. Er scheut den Konflikt mit den Mächtigen in Staat und Kirche nicht. Dabei hat er oft sein Leben aufs Spiel gesetzt, wie das Beispiel des Erzbischofs von San Salvador, Óscar Romero, gezeigt hat, der sich auf die Seite der unterdrückten Armen gestellt hatte. Das musste er mit seinem gewaltsamen Tod bezahlen. Die Heiligen haben immer Gottes- und Nächstenliebe in eins gesehen. Die Gottesliebe ist nicht von der Nächstenliebe zu trennen, sie bilden eine Einheit. So zeichnet sich der Heilige durch seine intensive Hinwendung zum Nächsten und Fernsten aus; sie geht so weit, dass sie auch den Feind miteinbezieht. Der Heilige verkörpert in seiner Existenz das Dasein der Kirche für andere, er geht ganz auf in der liebenden Hinwendung zum Schwachen und Armen. Das haben in unseren Tagen Mutter Teresa und der französische Abbé Pierre vorbildlich gezeigt. Sie erblickten im Notleidenden und Ausgegrenzten ihren Herrn und Meister Jesus Christus.

Gerade in einer Zeit, da der Glaube an einen persönlichen Gott im Schwinden begriffen und an seine Stelle ein vager Begriff von einer höheren Macht getreten ist, bedarf es Menschen, die uns zeigen, welche Kraft und Hoffnung man aus der Beziehung zum absoluten Du Gottes schöpfen kann. Befragt man heute Menschen nach ihrem persönlichen Glauben, dann kann man oft hören: »Es muss doch etwas Höheres geben.« Ein solcher Glaube hat keine prägende Kraft, er verpflichtet zu nichts, er macht aus dem Menschen kein verantwortliches Wesen. Ganz anders dagegen die Haltung der Heiligen. Sie haben aus dem Gebet und der Betrachtung Kraft geschöpft, sie haben sich in das Evangelium des Lebens vertieft und waren bemüht, nach den Weisungen Gottes ihr Leben auszurichten. Sie sind ein »lebendiger Kommentar zu den Evangelien«. Und der heilige Franz von Sales umreißt ihre Vorbildfunktion mit den Worten: »Das Evangelium ist eine Partitur, die Heiligen sind die klingende Musik«, das heißt, sie bringen diese göttliche Musik zum Klingen. Schauen wir auf die Heiligen, dann können wir erkennen, wie umwandelnd und Hoffnung weckend das Wort Gottes sein kann, wie es uns in eine Richtung weist, die zu einem gelingenden Leben verhilft. Dabei will der Heilige uns nicht den Weg zu Jesus Christus bzw. zum dreifaltigen Gott versperren. Er kann uns aber auf diesem Weg begleiten und ermutigen, wider alle Hoffnung zu hoffen. Ein Kind hat einmal treffend gesagt: »Ein Heiliger ist ein Spiegel Gottes.« Schöner kann man nicht ausdrücken, was ein Heiliger ist.

Die Heiligen sind Menschen aus Fleisch und Blut, das heißt, sie sind auch mit Fehlern und Schwächen behaftet wie wir alle. Sie sind keine Wundertiere, die man bestaunt, weil sie so abgehoben gelebt haben. Sie hatten Ecken und Kanten, die erst im Laufe ihres Lebens abgeschliffen werden mussten. Im Unterschied zu uns waren sie sich aber ihrer Schwächen und Unvollkommenheiten bewusst. Sie litten unter dieser Erkenntnis und waren sich bewusst, dass sie auf die größere Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Immer wieder kann man aus dem Mund von Katholiken hören: »Warum soll ich beichten? Ich habe doch keinen umgebracht, keine Bank ausgeraubt. Ich habe meine Pflichten als Staatsbürger und Glied der Kirche erfüllt.« Dabei haben sie vergessen, dass wir nach dem Maß unserer Gottes- und Nächstenliebe gemessen werden. Und wer von uns kann schon behaupten, dass es auf diesem Gebiet nicht Defizite in seinem Leben gibt? Wir sind vom Unschuldswahn befallen, der alle Schuld von sich weist und dafür andere zu Sündenböcken abstempelt. Hier kann uns der Heilige mit seiner Demut beschämen und zur Besinnung anspornen. Papst Franziskus betont immer wieder: »Ich bin ein großer Sünder.« Welcher Papst hat diesen Mut schon besessen, das vor aller Welt zu bekennen? So können die Heiligen durch ihr Beispiel uns von dem fehlenden Sündenbewusstsein befreien.

Zeitlebens waren die Heiligen unbequeme Zeitgenossen, gerade auch für die Verantwortlichen in der Kirche. Ihre prophetische Stimme wurde nicht gern gehört; denn sie hielten ihnen unerschrocken den Spiegel vor Augen. Im Stile alttestamentlicher Propheten haben sie den Zeitgenossen die Leviten gelesen. Sie sind ein Pfahl im Fleisch einer verbürgerlichten Christenheit, die sich hier auf Erden gut eingerichtet hat und der Welt gleichförmig geworden ist.

Der Heilige ist aber mehr als nur ein Vorbild für ein Gott wohlgefälliges Leben, er legt auch für uns Fürsprache beim Herrn ein. Diese Funktion wird von unseren evangelischen Schwestern und Brüdern abgelehnt, weil sie befürchten, auf diese Weise würde die Heilsmittlerfunktion Jesu in Frage gestellt. Wenn wir einander aber schon auf Erden um einen Gebetsbeistand bitten, warum sollte dieser dann hier auf Erden sein Ende finden? Wir gehören zur Gemeinschaft der Heiligen, in der einer für den anderen eintritt. Schon hier auf Erden und erst recht im Himmel. Unsere Glaubensgemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern endet nicht an der Todesschwelle, sondern setzt sich bei Gott fort. So können wir mit gutem Gewissen die Heiligen um ihren Beistand im Himmel anrufen.

Heilige wollen aber nicht nur als leuchtende Vorbilder angestaunt werden; wir sollen in ihre Fußstapfen treten. Augustinus schärft uns ein: »Diese und jene konnten heilig sein, dann kannst auch du es.« Er hat diesen Schritt selbst vollzogen und ist ein großer Heiliger geworden. Auch wir sind zur Heiligkeit berufen. So ergeht auch an uns die Aufforderung eines alten Hausspruches:

Nur die Heiligen heilen die Welt.

Durch die Eiligen wird sie entstellt.

Durch die Hassenden wird sie zerstört.

Durch die Prassenden eitel entleert.

Die nur Tüchtigen retten sie nicht.

Und die Süchtigen löschen das Licht.

Die still Tragenden bauen das Haus.

Die Entsagenden schmücken es aus.

Die Gott Dienenden segnen die Zeit.

Und die Sühnenden tilgen das Leid.

Dich zu beteiligen bist du bestellt.

Tritt zu den Heiligen. Heile die Zeit, heile die Welt.

Vertiefende Literatur:

W. Nigg, Die großen Heiligen, Zürich 1946

Heilige der Unscheinbarkeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Vorbilder in der Pädagogik verpönt, allzu sehr waren sie in Misskredit geraten durch ihre Indienstnahme durch die Nazis für ihre menschenverachtende Ideologie. Den Todesstoß versetzte der Vorbildpädagogik die 68er-Kulturrevolution; sie stand ganz im Zeichen der Emanzipation und Selbstbestimmung, da konnte ein Vorbild nur ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstwerdung sein. 1986 konnte daher ein Erziehungswissenschaftler feststellen: »Das Vorbild ist diskreditiert.« Siegfried Lenz lässt seinen 1973 erschienenen Roman »Das Vorbild« bezeichnenderweise in diesen Jahren spielen. Aber Totgeglaubte leben bekanntlich länger. So setzte in der Mitte der 90er-Jahre auch unter den Jugendlichen eine Rückbesinnung auf Vorbilder ein. In der Shell-Jugendstudie 2002 gaben 56 Prozent aller Jugendlichen an, sich an Vorbildern zu orientieren. In der postmodernen Gesellschaft, in der alles möglich und nichts wahr zu sein scheint, erwachte die Sehnsucht nach einem festen Halt und einer wegweisenden Orientierung. In diesem Zusammenhang erlangte das lange verpönte Vorbild wieder neue Anziehungskraft.

Aber der Charakter des Vorbildes hatte sich inzwischen gewandelt, man akzeptierte nicht mehr die Idealisierung herausragender Gestalten der Geschichte, betrieb keinen Heldenkult mehr. Vielmehr hielt man nun Ausschau nach Vorbildern, vornehmlich aus dem Nahbereich, die sich im Leben bewährt hatten. Sie dürfen nun durchaus unvollkommen und fehlerhaft sein, man spricht von »kritisch gebrochenen Vorbildern«. Man möchte jetzt auch nicht mehr alle Eigenschaften des Vorbildes zum Maßstab machen, sondern greift nur bestimmte Verhaltensweisen und Charaktereigentümlichkeiten heraus. Zu diesen Vorbildern aus dem Nahbereich zählen an erster Stelle die Mutter, aber auch der Vater und die Großeltern, Lehrer, Pfarrer und Jugendleiter. In einer Befragung der Zeitschrift »Der Stern« aus dem Jahr 2003 nach den Idolen der Deutschen führt die Rangliste der 200 Idole »meine Mutter« an, dicht gefolgt von »mein Vater«. Vorbilder aus dem Fernbereich fehlen bei der Aufzählung dann nicht, wenn sie dem modernen Lebensgefühl Orientierung verleihen können.

Auch die Heiligen als exemplarische Gestalten des Christseins sind Vorbilder des Glaubens; darin stimmen evangelische und katholische Christen überein. Im Neuen Testament werden alle an Christus Glaubenden als »berufene Heilige« (Röm 1,7) bezeichnet. Hier meint das Wort Heilige alle, die an Jesus Christus glauben, getauft sind und sich bemühen, in seiner Spur zu wandeln. Für Paulus ist ein Heiliger der Mensch, der sich vom Heiligen Geist ergreifen lässt; denn heilig ist der Heilige Geist. Schon früh setzt die Verehrung besonders herausragender Christen als Heilige ein, sie nimmt Gestalt an in der Märtyrerverehrung, deren erstes Zeugnis aus dem Jahr 160 stammt. Die Märtyrer waren bereit, für Christus und sein Reich ihr Leben hinzugeben. Als Freunde Gottes konnten sie um Fürsprache angerufen werden. Erst im Mittelalter bildete sich dann der Begriff des Heiligen als eines ungewöhnlichen Menschen heraus, der all seine Kräfte für den Glauben eingesetzt hat und aus der Schar der normalen Christen weit herausragt. In der Neuzeit verbindet sich mit dem Heiligen dann noch die Vorstellung hoher Sittlichkeit; daher gehört zum offiziell von der Kirche anerkannten Heiligen ein hoher Tugendgrad. Dagegen war der mittelalterliche Heilige eine zutiefst religiös geprägte Gestalt.

Wenn wir heute vom Heiligen sprechen, dann stehen uns große leuchtende Gestalten des Christentums vor Augen wie der heilige Augustinus, der Ordensstifter Benedikt, die heilige Teresa von Ávila und in der Neuzeit die kleine Theresia und Mutter Teresa. Sie werden in der kirchlichen Heiligenverehrung oft auf ein hohes Podest gestellt, weit abgerückt vom normalen Christen, und bewegen sich in schwindelerregenden Höhen, so dass sie vom Normalchristen nicht eingeholt werden können. Das macht es heutigen Christen so schwer, sofern sie überhaupt noch ein Verhältnis zu Heiligen pflegen, in ihnen ein erstrebenswertes Vorbild zu erblicken. Dies ist aber das Ziel der Lebensbeschreibungen, wie sie uns in den gegenwärtig gebräuchlichen Religionsbüchern entgegentreten. Heilige gehören zum unverzichtbaren Kanon religionspädagogischer Erziehung. Immer noch werden diese Christen idealisiert und in ein helles Licht gestellt. Ihre dunklen Seiten werden weitgehend ausgeblendet und damit sind sie für kritische Jugendliche uninteressant, weil als Vorbild unerreichbar. Was wir brauchen, sind »problematische Heilige«, die auch in ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten anschaulich geschildert werden. Sie müssen in ihrer Zeitbedingtheit und ganzen Menschlichkeit vor Augen gestellt werden. Man hat sie daher auch als »aufgeschlossene Sünder« bezeichnet.

Noch mehr vermögen Menschen aus ihrem Nahbereich die Aufmerksamkeit der nachwachsenden Generation zu wecken, wenn diese unspektakulär sich bemühen, in ihrem Alltag Christus nachzufolgen, indem sie sich selbstlos anderen Hilfsbedürftigen zuwenden, und sei es nur den eigenen Familienangehörigen. Romano Guardini bezeichnet sie als »Heilige der Unscheinbarkeit«. Er betont: »Der Heldenmut der Heiligen deutet sich bereits in der Liebe des alltäglichen Menschen an, der sich bemüht, um Christi willen seine Selbstsucht zu überwinden. Wenn der Glaubende sich vom Gang des Tages zutragen lässt, was er tun soll, darin den Willen des Vaters erkennt und mit Ihm in das Einverständnis des Vertrauens und des Gehorchens kommt, dann ist das ›der Weg‹ einfachhin, die Weisheit des Evangeliums selbst …«

Übersehen wir nicht die große Zahl der »kleinen« Heiligen des Alltags, die oft unerkannt neben uns leben und doch so segensreich wirken. Das kann eine Mutter sein, die ihren alltäglichen Pflichten nachkommt, die treu zu ihrem Auftrag steht. Sie nimmt die Plagen und Kümmernisse des Alltags auf sich, ohne zu klagen und zu jammern. Sie verweilt stundenlang am Bett ihres kranken Kindes. Wenn nötig opfert sie, ohne viele Worte zu verlieren, ihre Nachtruhe oder pflegt aufopferungsvoll ihren schwerkranken Ehemann. Sie erwartet dafür keine große Dankbarkeit, das ist für sie selbstverständlich. Hier begegnen einander die allgemeine gegenwärtige Vorbildorientierung und eine neue Sichtweise auf den Heiligen in unserer Zeit. Der französische Schriftsteller Victor Hugo (1802–1885) spricht einmal von einer alten Frau, die über die Straße geht. Sie hat Kinder erzogen und Undank geerntet, hat gearbeitet und lebt im Elend; sie hat geliebt und ist allein geblieben. Aber sie ist frei von allem Hass und hilft, wo sie kann. Jemand sieht sie ihren Weg gehen und sagt: »Das muss ein Morgen haben.« Er meint damit, dass dies Leben Folgen für die Frau haben wird, dass es nicht vergeblich gewesen ist.

Dabei behalten die großen Heiligen weiterhin ihre Bedeutung; sie werden für viele Christen auch in Zukunft ein entscheidender Orientierungspunkt sein, aber die vielen unscheinbaren Heiligen, die nie zur Ehre der Altäre erhoben werden, verlieren damit nicht ihre Daseinsberechtigung, sie bereichern vielmehr die Zahl der Heiligen. Durch sie wird das Spektrum der Heiligkeit erweitert, die unübersehbare Schar der Heiligen wird vielfältiger und bunter. Das kann für uns zum Ansporn werden, in ihrer Spur zu wandeln – sind wir doch alle zur Heiligkeit berufen.

Vertiefende Literatur:

H. Mendl, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren, Stuttgart 2015

Augustinus (354–430)

Bischof und Kirchenlehrer

Menschen, die nach langem Suchen und vielen Umwegen in Jesus Christus den Weg, die Wahrheit und das Leben entdeckt haben, nennen wir Konvertiten. Sie gehörten vorher oft einer anderen Religion, Konfession oder Weltanschauung an, von der sie sich abgewandt haben. Der berühmteste Konvertit des Christentums ist kein Geringerer als der heilige Paulus, der vom fanatischen jüdischen Verfolger der Christen zum glühenden Christusanhänger wurde. Aus dem Saulus wurde vor Damaskus Paulus, der Völkerapostel. Ein berühmter Konvertit der Neuzeit ist der englische Theologe John Henry Newman. Er hatte auf Grund seiner kirchengeschichtlichen Studien über die Kirchenväter entdeckt, dass nicht die anglikanische, sondern die katholische Kirche die Treue zur apostolischen Tradition bewahrt habe. Das veranlasste ihn, zur katholischen Kirche überzutreten. Er hat seinen Glaubensweg in der Schrift »Verteidigung des eigenen Lebens« festgehalten. Später wurde er zum Kardinal erhoben und seliggesprochen. So gibt es eine lange Ahnengalerie von bedeutenden Konvertiten beiderlei Geschlechts.

An Ostern 2015 sind in Frankreich knapp 4.000 Erwachsene in die katholische Kirche aufgenommen worden. Die Hälfte dieser religiös interessierten Personen ist zwischen 20 und 35 Jahre alt. In den letzten zehn Jahren haben die Erwachsenentaufen um ein Drittel zugenommen, etwas, das wir in Deutschland nicht erreichen. Das ist eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, wie stark die Säkularisierung und Entchristlichung in Frankreich vorangeschritten ist. Die Kirche führt dort ein Randdasein in der Gesellschaft. Auch unter diesen Neugetauften dürfen wir eine große Anzahl von Menschen vermuten, die erst auf Umwegen über andere Weltanschauungen und Religionen zum katholischen Glauben gelangt sind. Denn im Zeitalter des religiösen Pluralismus werden wir mit einer unübersehbar großen Zahl von Sinnangeboten konfrontiert, zwischen denen wir auswählen müssen. Sie machen uns die Entscheidung nicht einfach.

Einer der bedeutendsten Konvertiten der Kirchengeschichte war der heilige Augustinus, der das abendländische Denken nachhaltig geprägt hat. Bis heute ist sein Einfluss auf Theologie und Philosophie unübersehbar, er ist eine überragende theologische Autorität geworden. Seine Bedeutung wird allerdings kontrovers diskutiert. Er hat sein Suchen und Ringen um die Wahrheit in den berühmten »Confessiones«, zu Deutsch: »Bekenntnisse«, festgehalten, die zum Bestand der Weltliteratur gehören. Augustinus wurde 354 in Thagaste (heute Algerien) geboren, sein Vater war Heide, seine Mutter eine fromme Christin. Der Sohn wurde nicht getauft, in seiner Jugendzeit führte er ein ausschweifendes Leben. Er nahm sich eine Konkubine zur Frau, mit der er ein uneheliches Kind zeugte. Nach seinem Studium in Karthago wurde er Rhetorikprofessor. Dem Christentum stand er ablehnend gegenüber, vor allem der Bibel. Er trat einer Sekte bei, die eine strenge Trennung zwischen Gut und Böse lehrte. Die Herkunft des Bösen erklärten ihre Anhänger durch einen kosmischen Kampf zwischen einem göttlichen und einem widergöttlichen Prinzip. Doch auf die Dauer genügte diese Sekte seiner Wahrheitssuche nicht.

In Mailand, das damals die Hauptstadt des römischen Reiches war, wandelte sich sein Leben. Er trennte sich auf Betreiben seiner Mutter von seiner Geliebten und vertiefte sich in neuplatonische Schriften, die auf Platon zurückgingen, und begann, das Christentum geistig zu erfassen. In Mailand begegnete er dem großen Bischof Ambrosius, dessen Predigten ihn begeisterten. Er wird aufmerksam gemacht auf den Wüstenvater Antonius, der in jungen Jahren der Welt entsagt hatte und in der ägyptischen Wüste ein Leben der Gotteshingabe führte. Dieses Beispiel beschämte ihn und zwang ihn zum Nachdenken über sein eigenes Leben. Über seine Hinkehr zu Christus und der Bibel berichtet er in seinen berühmten »Confessiones«. Er schreibt: »Je brennender ich sie (die Beispielgestalten christlicher Enthaltsamkeit) lieben musste, mit umso größerem Abscheu hasste ich mich, wenn ich mich mit ihnen verglich.«

In diesem verzweifelten Zustand stürzt er eines Tages in den Garten des von ihm bewohnten Hauses und legt sich unter einen Feigenbaum. Plötzlich vernimmt er die Stimme eines Kindes aus dem Nachbarhaus: »Nimm und lies es, nimm es, lies es.« Er schlägt das Neue Testament mit den Seiten des Römerbriefes auf, das er auf einen Tisch hingelegt hatte, und las dort: »Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste.« Weiter wollte er nicht lesen, weiter war es auch nicht nötig. »Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand.« Sein sich über zwölf Jahre erstreckendes Ringen um die Wahrheit war ans Ziel gelangt. Seine Mutter Monika ist überglücklich, »sie jubelt und frohlockt«. Wie hatte sie doch inständig für die Bekehrung ihres Sohnes gebetet! Und ihr Gebet wurde erhört. Ein Bischof hatte sie getröstet und zu ihr gesagt: »So wahr du lebst, es kann nicht sein, dass der Sohn solcher Tränen verloren gehe.«

Rückblickend bekennt er: »So habe ich dich geliebt, Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt! Du warst drinnen, und ich war draußen, und dort draußen suchte ich dich, und missgestaltet warf ich mich der Wohlgestalt in die Arme, die du geschaffen. Du warst in mir, und ich war nicht bei dir.« Augustinus lässt sich mit seinem Sohn Adeodatus (zu Deutsch: von Gott gegeben) von Ambrosius taufen. Als Getaufter beschließt er ein neues Leben. Nach Haus in Afrika heimgekehrt, verschenkt er all seine Habe, er behält nur das Elternhaus, hier führt er mit seinen Gefährten ein klosterähnliches Leben, sie widmen sich der Kontemplation und leben nach den Evangelischen Räten wie in einem normalen Kloster. Sehr bald wird er in Hippo, der zweitgrößten Stadt Afrikas, gegen seinen Willen zum Priester geweiht und schließlich Bischof von Hippo.

Dieses Amt nahm er sehr ernst, er betrachtete es als »eine heilige Bürde«. Neben seinen seelsorglichen Aufgaben war er auch noch für die Rechtsprechung zuständig. In dieser Zeit entstehen die meisten seiner großen Werke, die bis heute mit seinem Namen verbunden sind. Im Zeitraum von ungefähr 45 Jahren hat er über 100 Werke, 218 Briefe und fast 600 Predigten veröffentlicht. Man fragt sich, wie er das alles noch neben seinen bischöflichen Verpflichtungen hat erledigen können. Es standen ihm zwar Schreiber zur Verfügung, denen er seine Gedanken diktiert hat. Aber das erklärt nicht die unvorstellbare Leistung. Unter diesen Werken befinden sich Abhandlungen, die bis heute die Gemüter der Philosophen und Theologen beschäftigen und heftige Kontroversen ausgelöst haben. Herausragend sind seine Schriften über die heilige Dreifaltigkeit, über den freien Willen, über den Gottesstaat, eine Deutung der Menschheitsgeschichte, und die schon erwähnte Autobiographie. Letztere Schrift kann auch heute noch mit großem Gewinn gelesen werden. Sie schildert offenherzig seinen wechselvollen Lebensweg bis zu seiner Taufe.

All diese Schriften haben Theologen und Philosophen bis heute nachhaltig beschäftigt und vielfältige Wirkungen ausgelöst. Augustinus geht es um das Ganze des christlichen Daseins; daher unterscheidet er auch nicht zwischen Theologie und Philosophie, zwischen theologischen Spekulationen und der Lebenslehre. Er hat Schriften über die christliche Erziehung verfasst, ja selbst eine musiktheoretische Schrift. Er war ein Universalgenie.

Bei so viel Genialität bleibt es nicht aus, dass ihm auch tiefgreifende Irrtümer unterlaufen sind, die viel Schaden angerichtet und eine lange Wirkungsgeschichte in der Kirche nach sich gezogen haben. Da wäre als Erstes seine Erbsündenlehre zu nennen; er wird der »Vater der Erbsündenlehre« genannt. Er ist der Überzeugung, dass die Sünde der Welt durch den Geschlechtsverkehr weitergegeben werde. Dahinter verbirgt sich seine Sicht von der menschlichen Geschlechtlichkeit, die für ihn negativ besetzt ist. Die Sexualität ist für ihn das Einfallstor für das Teuflische. Er trägt mit daran Schuld, dass in der Kirche über Jahrhunderte sich eine bedenkliche Leibfeindlichkeit ausgebreitet hat und die Sexualität nicht als Gabe Gottes betrachtet wurde. Auf Augustinus geht auch die Lehre von der doppelten Vorherbestimmung des Menschen zurück. Danach bestimmt Gott den einen zum Heil, den anderen zur Verdammnis. Welch ein düsteres Gottesbild wird damit vermittelt! Er ist überzeugt, dass nur eine Minderheit der Hölle entgehen werde. Dafür gibt es in der Schrift aber keine Anhaltspunkte. Heute wird genau das Gegenteil betont, aber auch das ist eine leichtsinnige Behauptung, die alles Mühen des Menschen um sein Heil von vornherein als unnötig erachtet. »Wir kommen alle in den Himmel«, heißt es in einem populären Karnevalsschlager.