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Sex neu erfinden

»Die Wahrheit ist: Niemand versteht Sex.«

[William Masters in Masters of Sex]

2013 schrieb Cindy Gallop im Rookie Magazine einen Text mit dem Titel »The Invention of Sex«, worin sie die These ausführte, Sex sei etwas, das man jedes Mal neu erfinden könne. Etwas, das man nie »richtig« machen würde, nur weil man bestimmten Ratschlägen folge, wie sie gerne und oft in Frauen- und Männerzeitschriften dargeboten werden. Etwas, das man, so gesehen, auch erst einmal nicht falsch machen könne, denn man selbst sei stets und ständig und auch immer wieder aufs Neue die Erfinderin / der Erfinder des eigenen Sex, und dieser sei wandelbar und eben immer wieder neu zu entdecken.

Dieser Gedanke hat mir sehr gefallen. Deswegen möchte ich mit meinem Buch ein paar Werkzeuge an die Hand geben, die dabei helfen sollen, Sex neu zu erfinden. Das sind keine Werkzeuge im Sinne von »Sexspielzeug«, auch sind hier keine speziellen Tricks und Kniffe zu finden, wie Sie Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner am besten den Kopf verdrehen. Es sind vielmehr Denkwerkzeuge. Hinter allem steht die Frage: »Was wäre, wenn …?« Dabei spielt es, wie ich finde, eine ebenso wichtige Rolle zu fragen, »was bisher geschah«.

Wir waren alle einmal Kinder, wir sind Menschen und als solche mit einer Geschichte ausgestattet, und derzeit leben wir in einer Welt, in der die einen keusch unter Schleiern verborgen werden und die Steinigung droht, wenn sie fremdgehen, während die anderen 24 Stunden lang die härtesten und explizitesten Pornos schauen können, die sie sich ansehen wollen. Während manche ein Leben lang nur den einen oder die eine »untenrum« erforschen, geben sich bei anderen die Tinder-Dates die Klinke in die Hand. Und zwischen all diesen Geschichten und Menschen steht bis heute die eine Frage wie der sprichwörtliche Elefant im Raum: Ist das jetzt richtig oder falsch?

Weil diese Frage gemein und schwierig ist und die Antworten die Betroffenen verletzen können, geht dieses Buch die Sache anders an und legt weder vorgefertigte Regeln oder Lösungen vor, noch gibt es ein »richtig« oder »falsch«. Alles, was es für mich gibt, sind Liebe, Respekt und Bildsamkeit.

Unerotisch

»Mami, wie werden eigentlich die Kinder gemacht?« – Ich glaube, viele Eltern denken, dass der Moment, in dem die lieben Kleinen diese oder ähnliche Fragen stellen, das erste Mal ist, dass sie sich mit dem Thema Sexualität beschäftigen. Ich befürchte, dass die meisten Eltern, ob ihnen das bewusst ist oder nicht, glauben, dass enorm viel davon abhängt, dass sie, die Eltern – die lieben Großen – jetzt bloß nichts Falsches sagen. Ich sehe, wie aus diesem Grund ein enormer Druck auf vielen Eltern lastet, die jetzt ganz bedacht darauf sind, ihrem Kind zu einer wie auch immer gearteten »guten« Sexualität zu verhelfen. Aber wie kann das gelingen?

Was eine »gute Sexualität« eigentlich ausmacht, das kann individuell enorm verschieden aussehen: Die einen wollen lieber, dass Sexualität etwas Verborgenes bleibt, etwas, das man Kindern nur so weit als nötig erklärt und vor dem man sie ansonsten so weit es geht bewahrt – solange man kann. Je nach Kultur und Religion bedeutet diese Ansicht vielleicht, dass »Kein Sex bis zur Ehe« daraus resultiert. Eine weit verbreitete Regel.

Das krasse Gegenteil davon ist die Einstellung, wie man sie zum Beispiel in der Kinderladen-Szene im wilden Frankfurt der siebziger Jahre vorfand: Kinder wurden als offen und sexuell angesehen, man freute sich, wenn sie sich für Doktorspiele in ihre Zimmer einschlossen, man fragte nicht, was sie da taten, und man fand es nur natürlich, wenn sie einem an die eigenen Geschlechtsteile gingen, auch wenn es völlig fremde Kinder waren. Was die einen abartig fanden, war für die anderen ganz natürlich, und was die anderen verklemmt fanden, war für die Nächsten das höchste Glück.

Auch wenn diese Zeiten vorbei sind, die Frage bleibt zeitlos: Sollen wir unsere Kinder aufklären? Und wenn ja, in welchem Alter und mit welchen Worten? Wie auch immer sich Eltern entscheiden: die Möglichkeit besteht, dass ihre Kinder mit einem ziemlichen Knacks aus der Sache herauskommen (und damit meine ich nicht die tragischen Fälle von Missbrauchten! Hier nur von einem Knacks zu sprechen, wäre mehr als unangebracht). Oder anders ausgedrückt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie und ich einen Knacks haben – irgendeinen, suchen Sie sich einen aus! –, ist nicht gerade gering. Diese Sache will ich gar nicht weiter dramatisieren – denn sie ist so normal in unserer Gesellschaft, dass sie kaum Anlass zur Beunruhigung bieten sollte. Wir haben alle einen kleinen Knacks, wenn es um Sex geht, ich glaube fest, dass es nur ein paar wenige Glückselige gibt, die mit einem blauen Auge davongekommen sind. Persönlich kenne ich aber keinen.

Deswegen würde ich gerne mit der Sexualität beginnen, die wir schon haben, bevor Erwachsene anfangen, uns alles erklären zu wollen. Da sind einerseits die vielen bunten und lustigen Fragen, die Kinder sich und uns stellen, etwa »Ist die Perle schon bei Mädchen da?« oder »Warum haben Jungs hinter dem Pimmel Säke?« oder »Warum krikt mann einen steifen Penis wen man über sex redet?«: Diese und andere echte Kinderfragen (und mit all diesen falschen Schreibungen) hat ein wunderschönes Kinderbuch gesammelt und ernsthaft beantwortet: Klär mich auf. 101 echte Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema – Fragen, auf die man erst einmal ruhig und entspannt, aber respektvoll und umsichtig Antworten finden muss! Wir wissen heute, dass schon Föten im Mutterleib sexuelle Reflexe haben, genau genommen wissen wir das seit den Achtzigern. Schon Masters und Johnson haben damals beobachtet, dass bei vielen völlig unverfänglichen Zuneigungsbekundungen, die Eltern ihren Babys schenken – zum Beispiel dadurch, dass das Baby beim Stillen mit den Lippen die Brust der Mutter berührt –, Signale in das Hirn des Babys gelangen, die sich in sexuellen Reflexen äußern können. Natürlich hat das noch rein gar nichts mit der Sexualität und dem Begehren eines erwachsenen, geschlechtsreifen Menschen zu tun. Es sind angeborene Reaktionen, und sie sind, wenn man so will, »unschuldig«.

Ich spreche im Zusammenhang mit Kindern vorerst von »Unschuld«, auch wenn dieses Wort im Sprachgebrauch rund um Sexualität problematisch ist, denn es impliziert, dass es auch das Gegenstück dazu, nämlich »schuldig«, gibt. Ich benutze es hier nur, weil ich glaube, dass viele Menschen exakt diese Assoziation haben, wenn sie an einem Baby oder einem Kleinkind eine Erektion sehen oder bemerken, dass es sich im Genitalbereich reibt.

Kinder sind sexuelle Wesen, aber …

Viele Kinder unterschiedlicher Altersstufen spielen schon mehr oder weniger oft an sich herum: Sie streicheln oder reiben ihre Klitoris und ihre Vulva, sie massieren ihre Penisse, manche finden es schön, sich einen Finger in den Po zu stecken, und all das sind Ausdrucksformen ihrer Sexualität. Kinder sind sexuelle Wesen! An dieser Stelle muss betont werden: Aber natürlich ganz anders als Erwachsene! Es ist ein Irrtum, dass Kinder eine natürliche Sexualität wie Erwachsene hätten und deswegen eine sexuelle Beziehung mit ihnen genauso legitim sei wie die zwischen zwei Erwachsenen – und dieser Irrtum hatte in den 70er Jahren viele Anhänger. Die Bewegung der Pädophilen, also jener Menschen, die sich von Kindern sexuell angezogen fühlen, hatte damals zum Ziel, analog zur Lesben- und Schwulen-Bewegung das Stigma von solchen »Beziehungen« abzuschütteln. Bis heute werden manche rastlosen Geister nicht müde, diesen Vergleich zu bemühen und die Gesellschaft zu beschuldigen, mit der Unterdrückung pädophiler Neigungen genauso ein Verbrechen zu begehen wie lange Zeit mit der Stigmatisierung, Verfolgung und letztlich auch Bestrafung homosexueller Neigungen und Taten. Aber sie irren heute genauso wie damals.

Eine Frage von Macht und Verantwortung

Kinder sind kleine Menschen, aber keine kleinen Erwachsenen! Die Kindheit ist eine ganz eigene Lebensphase. Diese Erkenntnis wird auch »Entdeckung der Kindheit« genannt und fällt grob ins 18. Jahrhundert, in die Zeit, als Jean-Jacques Rousseau seinen Emile schrieb und Wilhelm von Humboldt begann, sich als »Bildungsreformer« anzudienen, der sehr gründlich über Fragen der Erziehung und Bildung nachdachte. Das ist noch nicht lange her, davor liefen Kinder als kleine, etwas dumme, aber sonst nicht weiter zu dramatisierende Halberwachsene nebenher, mussten arbeiten und möglichst früh zu dem befähigt werden, was auch die Eltern taten. Kindheit als eigenständige und von allen anderen Lebensphasen völlig verschiedene – das ist ein junger Gedanke. Aber so wichtig, um zu verstehen, warum Kinder und Erwachsene in Sachen Sex miteinander keine ebenbürtige Beziehung eingehen können, wie zwei Erwachsene es miteinander im besten Fall tun. Es ist eine Frage von Macht und Manipulation. Und ebendieser mysteriösen »Unschuld«, für die wir schleunigst ein anderes Wort brauchen.

Ein Wort zu Missbrauch: Sexuelle Gewalt und Missbrauch finden häufig in den Familien oder im nahen Umfeld der Kinder statt. Betroffen sind Kinder aller sozialer Schichten! Geben Sie auf Notsignale acht und schauen Sie nicht weg!

Zusammen mit der Opferschutzorganisation informiert die Polizei über sexuelle Gewalt an Minderjährigen und vermittelt wichtige Informationen über Täterstrategien oder Anzeichen für Missbrauch. Ein erster, aber ungemein wichtiger Schritt: Missbrauch bei der Polizei anzeigen.

www.missbrauch-verhindern.de

Vorschlagen möchte ich »unerotisch«. Denn die Sexualität der Kinder hat in den ersten Jahren mit erotischer Erregung rein gar nichts zu tun. Sie sind sexuell, sie sind aber keine ›erotisch denkenden‹ Wesen. Sie nutzen die Reize, die unsere Nervenzellen in unseren Genitalien senden und verarbeiten, um sich schöne Gefühle zu machen, und auch andere Reize, wie Schmusen und Küssen und allgemeine Geborgenheit können in sexuelle Gefühle münden, aber diese sind völlig unerotisch.

Sexualität, nicht Erotik

Sexualität und Erotik zu trennen macht uns bereit, zu den frühen Anfängen unserer eigenen Sexualität zurückzureisen, an Erinnerungen heranzukommen und entspannter mit ihnen umzugehen: Sich an die eigene Mutter kuscheln und dabei bestimmte, sensible Körperregionen reiben, Wohlgefühle erzeugen und darauf entweder mit einem Anschwellen des Penis oder der Klitoris reagieren – all das ist unerotisch gewesen, aber zugleich sexuell. Wenn Eltern sich diesen Unterschied bewusst machen, können sie vielleicht entspannter damit umgehen, wenn Kinder ihre eigene Sexualität haben und nicht verstecken, und: die Grenze zwischen Erwachsenem und Kind wird sichtbar, wenn man diesen Unterschied begreift. Bis hinein in die Phase, in der die Erotik sich zu entwickeln beginnt, funktionieren Kinderkörper und Erwachsenenkörper anders.

Erotik (von griechisch eros: Liebe, Lust, Verlangen) ist eine Bezeichnung für alle mit der Geschlechtsliebe zusammenhängenden Vorstellungen und Handlungen. Laut dem Sexualforscher Ernest Bornemann ist Erotik eine kultivierte Form der Sexualität, die ein biologisches, vorwiegend triebhaft gesteuertes Verhalten repräsentiert.

Je früher Eltern, weil sie unbewusst von sich und ihrer eigenen Erotik auf andere schließen, in diesem Fall auf ihr Kind, anfangen sich einzumischen und zu steuern, je weniger sie dabei von der unerotischen Sexualität ihres Kindes verstehen, desto schwieriger kann es werden. Ein Junge, der an sich herumspielt und von der Kindergärtnerin deswegen gescholten wird, ein Mädchen, das seine Klitoris reibt und dessen Hand man davon wegnimmt, weil man Angst vor »sexueller Frühreife« hat – beide werden sich an diese Ereignisse als etwas erinnern, das man nicht macht, das schmutzig ist, nicht »unschuldig«.

Manchmal ist Kindern so etwas ›wurschtegal‹. Manchmal aber tragen sie das in Zukunft mit sich herum, und es ist der Anfang eines Unbehagens, das sie mit Sexualität verbinden und das aufgrund verschiedener weiterer Erfahrungen wachsen kann. Kindern ihre Sexualität zu lassen, diese nicht mit der eigenen erotisierten Sexualität zu verwechseln und sie ihnen nicht austreiben zu wollen – das wäre der erste Schritt, den jeder Mensch, der Kinder hat oder mit Kindern arbeitet, tun kann und sollte.

Im zweiten Schritt erst zählt die Antwort auf die Frage: »Wo kommen eigentlich die Kinder her.« Auch hier muss man aufpassen, dass man nicht zu »erwachsen« antwortet, sondern Stück für Stück erklärt – und zwar darauf achtend, was beim Kind ankommt und was es wirklich wissen will. Manchmal wollen sie nur kleine Stücke und basteln sich den Rest erst einmal selbst zurecht. Das ist völlig normal, denn so entdecken Kinder ihre Welt immer, und wenn es nicht gerade um Sex geht, bewundern wir sie gerne dafür und erfreuen uns an ihrer lebhaften Fantasie.

Jan-Uwe Rogge erzählt in seinem Büchlein Von wegen aufgeklärt! von vielen Situationen, in denen Kinderwelt und Erwachsenenwelt zusammenprallen: Wenn Kinder ihre ersten Worte aufschnappen und die Erzieherin fragen, ob sie »ficken« will. Wenn Kinder in das Elternschlafzimmer kommen und die dortigen Handlungen interpretieren als »Papa will Mama umbringen«, wenn Kinder mit anderen Kindern Doktorspiele spielen und die Erwachsenen sich fragen, ob das verantwortbar sein kann (SPOILER: ja, kann es! Das Wichtige ist, dass Kinder von uns Großen beigebracht bekommen, immer die Grenzen der anderen zu respektieren und nichts zu tun, was andere eigentlich nicht wollen).

Viele Eltern sind verunsichert, und wenn Kinder fragen oder etwas aufschnappen, dann schieben manche lieber einen Riegel vor, als sich zu öffnen und auf die durcheinandergeratenen Fetzen von Wissen über Sexualität und das Kinderkriegen Antworten zu geben. Zumal die Konfrontation fast immer überraschend kommt und auf eine Art und Weise, wie sie nun einmal nicht »ideal« ist. Etwa, wenn ein Mädchen seinen Vater bittet, mit ihr genauso »mit den Händen zu zaubern«, wie eines Nachts mit Mutti auf dem Sofa … Cool bleiben, gelassen bleiben – das ist das Wichtigste. Kinder sind keine sexsüchtigen, brutalen Monster! Sie sind Kinder, sie reimen sich in ihrem magischen Denken Dinge zusammen, sie fragen – und wer nicht fragt, bleibt dumm. Sexuell dumm. Ihre Neugier ist etwas Gutes – genau so müssen wir auch mit ihrer Neugier umgehen, wenn die Sexualität ihr Gegenstand ist: Sie ist wertvoll, sie ist gut, und wenn wir nicht ausrasten, haben wir eine Chance, dass vielleicht wenigstens aus unseren Kindern einmal Menschen werden, die ein entspanntes Verhältnis zu ihrer Sexualität haben. Kinder sind nämlich ziemlich cool und entspannt von sich heraus – zumindest die kleineren unter ihnen. Das mit dem Gekicher und der Scham kommt früh genug, und so manchen Knacks haben wir – seien wir ehrlich – auch nicht von unseren Eltern, sondern von gemeinen, übergriffigen und sexuell tollpatschigen Gleichaltrigen mitbekommen.

Hormonlotto

Was ist es, das stimuliert? – Eine Frage, die oft eher oberflächlich behandelt wird. Gefühlt kommen in 90