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Fachbereich

THEORETISCHE PHILOSOPHIE

Die Wirklichkeit des Abstrakten

Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ

In dieser zweiten Folge in der Serie über die Metaphysik wollen wir uns mit dem Universalienproblem beschäftigen oder dem Problem der abstrakten Entitäten. Der Gesamtaufbau dieser sechsstündigen Vorlesung über die Metaphysik ist folgendermaßen, dass wir nämlich zwei grundlegende Fragen stellen.

Erstens: Was gibt es überhaupt, was sind die grundlegenden Arten von Entitäten? Und die zweite Frage: Was ist die Stellung des Menschen im Ganzen der Welt? In der zweiten Hälfte dieser Vorlesungsreihe werden wir dieser zweiten Frage nachgehen und uns die Frage stellen: Was ist Willensfreiheit, was ist personale Identität und was ist das Leib-Seele-Problem, das Verhältnis von Körper und Geist?

Im ersten Teil dieser sechsteiligen Vorlesung fragten wir uns: Was ist Metaphysik? Jetzt: Was sind abstrakte Entitäten? Und in der folgenden Vorlesung: Was sind konkrete Entitäten?

Damit sind wir eigentlich schon bei unserem Thema: Was sind überhaupt abstrakte Entitäten? Also Seiende, die abstrakt sind. Das heißt zunächst mal, dass sie von irgendetwas abstrahieren. Der abstrakte Kreis beispielsweise hat keinen bestimmten Radius, aber jeder konkrete Kreis hat einen bestimmten Radius. Wenn etwa der Geometer in der Mathematik über den Kreis an sich als abstraktes Objekt nachdenkt, dann kann man nicht sagen, dass der Kreis an sich einen Radius von 12 cm hat oder 24, sondern er hat einen beliebigen, das heißt keinen bestimmten Radius.

Das typische Charakteristikum solcher abstrakten Entitäten ist, dass sie weder im Raum lokalisierbar noch in der Zeit datierbar sind. Einen bestimmten Kreis können Sie im Raum lokalisieren und sagen, er befindet sich 1 m von mir entfernt. Sie können einen bestimmten Kreis, einen konkreten Kreis auch in der Zeit lokalisieren. Sie können sagen, er wurde gestern gezeichnet und morgen wird er wieder ausgelöscht.

Der abstrakte Kreis, mit dem sich die Mathematik beschäftigt, der Kreis an sich als mathematisches Objekt, ist weder lokalisierbar noch datierbar. Sie können nicht sagen, der abstrakte mathematische Kreis befindet sich 5 m rechts vom mathematischen Dreieck. Oder Sie können auch nicht sagen, der abstrakte mathematische Kreis ist drei Jahre älter als das Dreieck. Die Lokalisierung im Raum und die Datierung in der Zeit von abstrakten Entitäten ergibt keinen Sinn. Sie sind damit der Gegenbegriff zu den sog. konkreten Entitäten, die nämlich in Raum und Zeit lokalisierbar und datierbar sind.

In der ersten Vorlesung über die Frage, was ist überhaupt Metaphysik, hatten wir uns bei der Beschäftigung mit dem metaphysischen Realismus bereits die Frage gestellt: Was sind die Wahrmacher mathematischer Aussagen. Am Beispiel von der Vermutung Goldbachs, dass jede gerade Zahl größer als 4 die Summe zweier Primzahlen ist, hatten wir uns gefragt, was diese Aussage wahr macht.

Nehmen wir nun eine andere beliebige mathematische These. Eine ganz einfache. Zum Beispiel, jemand behauptet, irgendwo in der Zahl ϖ kommt eine Sequenz von sieben 7ern hintereinander vor. Also 7 x 7 hintereinander. Nehmen wir an, bei den bisherigen Berechnungen der Zahl ϖ hätten wir das nicht gefunden, eine Stelle, in der 7 x 7 hintereinander kommt.

Was ist nun der Wahr- oder Falschmacher dieser Aussage, wenn jemand behauptet, in der Zahl ϖ gibt es eine Sequenz von sieben 7ern. Nach der realistischen Auffassung ist der Wahrmacher dieser Aussage die unabhängig von uns existierende Realität der mathematischen Entitäten. Und die sind natürlich abstrakt, denn sie sind nicht lokalisierbar im Raum. In dem Fall könnten Mathematiker anstatt mit Gedankenexperimenten auch mit Teleskopen arbeiten. Die Entitäten sind auch nicht datierbar in der Zeit.

Die antirealistische Auffassung ist, dass die These, dass es in der Zahl ϖ 7 x 7 hintereinander gibt, solange weder wahr noch falsch ist, wie sie nicht entweder konstruktiv bewiesen oder konstruktiv widerlegt wurde. Die Grundfrage ist also, existieren Zahlen geistunabhängig oder machen wir selbst die Zahlen. Und wenn wir selbst die Zahlen machen, dann ist diese Frage, ob es solche 7 x 7 hintereinander in der Zahl ϖ gibt, solange unentschieden, wie wir das nicht festgelegt haben. Ganz offensichtlich, wenn die Zahlen unabhängig von uns existieren, dann sind sie abstrakte Entitäten, denn, wie jeder einsieht, wäre es ein Kategorienfehler zu sagen: Die Zahl 7 ist 3 mm lang und 15 Jahre alt.