Periplaneta

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RICHARD WIEMERS: „BROSS. Endstation Hinterhof“
1. Auflage, Dezember 2016, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber
© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
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Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden.
Zitate: Charles Aznavour, Du lässt dich gehn, Single, Ariola 75228, 1962,
Caterina Valente, Mein Ideal, Single, Decca D 19 337, 1962
Peter Hille, Gesammelte Werke, 6 Bd., Essen 1984 (Ludgerus-Verlag),
Lektorat: Franziska Dreke (www.lektorat-texttaucher.de)
Cover: Holger Much (www.holgermuch.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)
print ISBN: 978-3-95996-015-1
epub ISBN: 978-3-95996-016-8

Richard Wiemers

Bross

Endstation Hinterhof


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„Wäre er nicht so ein guter Ermittler, wäre er längst Bundespräsident.“

Justizministerin Heike Maus

1

„Nachladen, Chef!“, rief Keule.

Bross feuerte in den Kugelhagel hinein, der auf ihn und seinen Assistenten einprasselte.

„Chef! Sie müssen nachladen!“, rief Keule durch den Lärm der Schüsse hindurch. Seine Waffe war längst leer. Vierzig Magazine hatte er durchgefeuert.

Wortlos blickte Bross zu Keule herüber, nur kurz, dann setzte er die nächste Salve. „Zeitverschwendung“, murmelte er. Die konnten sie sich jetzt nicht leisten. Außerdem hatte er das nicht nötig.

Unbeirrt feuerte er weiter, auf die schwarzen Limousinen, die sich vor dem Pub am Bahnhof aufgebaut hatten und zu einer Art Wagenburg aneinandergereiht worden waren. Hinter ihnen hatten sich schwarz gekleidete dunkelhaarige Männer verschanzt und beantworteten die Schüsse mit dichten Kugelsalven. Der Asphalt unter ihren Füßen war übersät mit Patronenhülsen und leergeschossenen Magazinen.

Sie waren zu fünft. Ihre Fahrzeuge waren durchsiebt von den präzis gesetzten Kugeln der Ermittler, die sich etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt in einem sicheren Hinterhalt befanden. Bross lauerte hinter einer blutjungen, schlanken Platane. Keule, sein Assistent, hatte in einer eisernen Mülltonne Schutz gefunden, aus der er für jeden Schuss einmal kurz emporschnellte, den losen Deckel auf dem Kopf haltend, um darauf sofort wieder in die Versenkung abzutauchen. Peitschend pfiff ihnen das Sperrfeuer der Verbrecher um die Ohren und trommelte auf Baum und Tonne ein, die sich freilich unbeeindruckt zeigten.

Alles hatte vor einigen Stunden begonnen. Zu der Zeit lag Kiefs Pub am Bahnhof noch verschlafen in der Mittagssonne, ab und zu fuhr ein Auto vorbei und eine Fliege krabbelte träge über den schmierigen Tresen. Plötzlich war eine zwielichtige Gestalt aufgetaucht. Der Mann trug einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte und schwarzem Hut. Kief, der Wirt des Pubs, ein Mann von sicherer Menschenkenntnis, brauchte nicht mehr als einen kurzen Augenblick, um zu wissen: Dieser Kerl führte etwas im Schilde.

Eigentlich hieß er Keith. Nach seiner Zeit bei der britischen Rheinarmee war er in Deutschland hängengeblieben. Bald übernahm er den Pub, wo es seinen Gästen zu anstrengend war, seinen Vornamen richtig auszusprechen, und für seinen Nachnamen interessierte sich sowieso niemand.

Für Bross war Kief jemand, bei dem er nicht nur ein gutes Guinness und ein anständiges Irish Stew bekommen konnte, sondern auch einen guten Rat. Vor allem schätzte er Kiefs offene Augen und Ohren, die manches aufschnappten, wo polizeiliche Ermittlungen versagten.

Der schwarz gekleidete Mann war hereingekommen, die Nasenlöcher bedrohlich gebläht, hatte sich langsam umgeschaut, im Vorbeigehen mit einem Fingerschnipsen an der Theke einen Espresso bestellt und sich dann an einen Tisch gesetzt. Dieser Tisch war ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Stück inmitten des ansonsten einheitlichen, an einen irischen Pub erinnernden Mobiliars. Für einen Dienst, den Kief ihm einmal erwiesen hatte, wollte ein Kunstschreiner sich dankbar zeigen und fertigte ihm einen Tisch für seinen Gastraum an. Der Mann war Anthroposoph, bevorzugte natürliche Materialien und reagierte auf rechte Winkel mit Verstörung. Für sein Projekt wählte er Lärchenholz und behandelte es mit Naturölen, deren Duft ihn selbst auch umgab, was sowohl seinen Produkten wie auch ihm eine völlige Fliegenfreiheit garantierte. Die Form des Möbelstücks ergab sich intuitiv von selbst, und zwar dadurch, dass rechte Winkel weiträumig umschifft wurden. „Unter Anwendung rhythmischer Prozesse hergestellt“, sagte er mild, als er Kief das Meisterwerk nicht ohne Stolz übergab. Der freute sich ehrlich, bewunderte das Bravourstück gebührend und wies ihm einen Ehrenplatz in seinen Räumlichkeiten zu. Später machten ihn seine Gäste darauf aufmerksam, dass die Umrisse des Tisches denen Deutschlands auf der Landkarte frappierend ähnelten.

Die exzellente handwerkliche Qualität des Möbelstücks kümmerte den undurchsichtigen Mann nicht weiter. Aber kaum hatte er sich gesetzt, weitete sich sein Blick. Mit der Hand fuhr er behutsam, fast zärtlich, an den Umrissen des Tisches entlang, fünfmal, sechsmal, vielleicht noch öfter. Mit jedem Mal verzog sich sein Gesicht weiter, bis sich darin schließlich ein verschlagenes Grinsen verfestigte. Er zog sein Handy hervor und rief jemanden an, dem er auf Italienisch etwas sagte, leise zwar und gedämpft, doch gleichzeitig erregt und deutlich genug, dass Kief keinen Zweifel an der Brisanz dieser Mitteilung hatte. Dann stand er auf, ohne seinen Espresso abzuwarten, zahlte ihn aber, und ging.

Kief zögerte keinen Moment, Bross anzurufen.

„Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Kommissar Bross. Immer im Dienst, immer im Auftrag. Sie haben diesen verdammten Anschluss gewählt, weil Sie ein verdammt schwieriges Anliegen haben, welches Sie verdammt noch mal nicht ohne mich lösen können. Damit eins von vornherein klar ist: Hier stelle ich die Fragen. Und ich habe genau zwei Fragen: Wer sind Sie und was wollen Sie?”

Selten hob Bross ab, wenn er zu Hause war, sondern ließ den AB durchlaufen. Nicht jeder sollte bei ihm durchkommen. Kief sprach auf das Band.

„Kief am Apparat. Hier ist etwas im Busch. Irgendwas passiert hier in nächster Zeit. Halt dich in Rufbereitschaft. Oder noch besser: Komm vorbei.“

Daraufhin hatte Bross Keule verständigt, und die beiden hatten einen Beobachtungsposten in der Nähe des Pubs bezogen, hinter der Platane und der Tonne. Von dort hatten sie den Vorplatz und den kleinen Biergarten im Blick und konnten unbemerkt auf alles reagieren, das sich zutragen würde.

Sie hatten keine zwei Stunden dort ausgeharrt, in einer tiefen Hocke, als fünf schwarze Limousinen vorfuhren und sich in einem leichten Bogen vor der Kneipe postierten. Jedem der Fahrzeuge entstiegen zwei Männer. Alle waren gleich gekleidet. Je einer der Männer stellte sich unauffällig vor sein Auto, breitbeinig, die Arme verschränkt, in der hochgehaltenen Rechten eine Pistole, entsichert und schussbereit. Die anderen fünf knöpften ihre Jacketts zu und betraten die Kneipe.

Für Bross stand es außer Frage, um wen es sich bei den Männern handelte. Schon lange hatte er darauf gewartet, sie alle an einem Ort zu treffen und stellen zu können. Nun war es so weit. Oder es schien zumindest so.

„Die Mafia“, raunte er Keule zu. „Abteilung Deutschland. Die fünf Familien. Diese hier sind die Gorillas, und drinnen sitzen die Bosse. Aber was zum Teufel brüten sie aus?“

Er hatte den Auslaut des letzten Wortes noch nicht beendet, da eröffneten die Wachposten das Feuer auf ihn und Keule und sprangen hinter ihre Fahrzeuge. Die beiden Ermittler erwiderten die Schüsse und trafen die Längsseiten der Autos.

Seit Stunden wütete die Schlacht. Bross und Keule steckten im Bleigewitter fest und ließen nicht locker. Doch auf einmal, wie auf ein Zeichen, verstummten die Kanonen der Mafiosi, und der Kugelhagel erstarb. Stattdessen hörte man nur ein Klicken, dann noch eins, erst einzeln, dann in dichter Folge, durchdrungen von aufgeregten Rufen der Männer.

„Sie fluchen“, sagte Keule durch den geschlossenen Deckel. Es klang hohl.

„Ja“, antwortete Bross. „Ihre Schießeisen sind leer. Das ist unsere Chance.“

„Okay. Was tun wir?“

„Du hältst sie in Schach. In der Zwischenzeit gehe ich rein und schnappe mir die Paten.“

„Aber Chef …“

„Was?“

„Ich habe auch keine Munition mehr!“

„Das müssen die Kerle ja nicht wissen.“

Damit war Bross verschwunden.

Keule fasste sich ein Herz, schnellte ein letztes Mal aus der komplett aus der Form geschossenen Mülltonne empor, den Deckel auf dem Kopf, hielt seine Pistole in der Hand und rief:

„Kommt raus, oder ich schieße. Die Flossen hoch! Aber ein bisschen schwungvoll! Und keine Mätzchen! Ich habe einen verdammt nervösen Zeigefinger!“

Im Innenraum der Kneipe standen die fünf Männer um den Tisch herum, den ihr Komplize ihnen Stunden zuvor beschrieben hatte. Sie hatten Zigarren auf den Lippen und feixten. Laut lachten sie auf, als sie alle ihre rechten Hände in die Mitte streckten, über den Tisch, um sie einander zu reichen. Sie waren sich einig geworden. Das Ende der Schießerei draußen hatten sie gar nicht wahrgenommen.

Da hörten sie eine Stimme und das Durchladen einer Pistole.

„Dezernat 12“, sagte Bross. Er war kühl bis ins Herz. „Hände hoch.“

Bross hatte die erstaunliche Fähigkeit des unbemerkten Ortswechsels, der unterhalb der zeitlichen Messbarkeitsgrenze lag.

Den Bossen verschlug es die Sprache. Wo kam dieser Mann jetzt her? Warum hatten sie nicht bemerkt, dass er hereingekommen war? Ihre Verwirrung hielt aber nur für die Winzigkeit eines Sekundenbruchteils. Dann reagierten sie und zogen ihre Waffen. Schnell. Sehr schnell.

Da fiel ein Sonnenstrahl durchs Fenster, und im selben Augenblick hörten sie einen Knall. Gleißend blitzte der Stahl ihrer fünf Pistolen im Sonnenlicht auf, als sie zu Boden fielen.

Der Knall stammte aus Bross´ Pistole. Ein wohlgesetzter Schuss, ein einziger, mit einer Platzierung, zu der nur er in der Lage war, hatte genügt, den Kerlen die Knarren aus den Händen zu schießen. Einen Schuss, mehr brauchte er dazu nicht.

„Hände hoch“, wiederholte Bross. „Sie sind umstellt.“

Sie wären nun, beim zweiten Mal, der Aufforderung doch gern nachgekommen, waren aber zunächst einmal damit beschäftigt, sich die schmerzenden Hände zu halten.

Die Kühle des Ermittlers hatte den zweistelligen Bereich der Minustemperaturen erreicht.

„Die ‚ehrenwerte Gesellschaft’, wie ich annehme“, sagte er. „Das war’s dann wohl.“

Er sah sich das Schauspiel an, das sich ihm bot. Die Bosse standen um den Tisch herum, in dem fünf Messer steckten, weit voneinander entfernt. Beim näheren Hinsehen entdeckte er, dass die Männer Linien in das Holz geschnitzt hatten, um Sektoren voneinander abzugrenzen, die nun durch die Messer markiert wurden. Die Einigung war wohl nicht ganz problemlos verlaufen, wie die Vielzahl der Schnitte verriet, die sich kreuz und quer über die gesamte Tischoberfläche zogen.

Das alles konnte nur eines bedeuten.

Sie hatten sich getroffen, um das Gebiet Deutschlands unter den fünf Familien aufzuteilen. Jede sollte die Kontrolle über einen angemessen großen Landesteil zugesprochen bekommen und würde im Gegenzug darauf verzichten, Ansprüche im übrigen Staatsgebiet geltend zu machen. Die uralten Fehden unter den Familien sollten damit ein für alle Mal begraben werden. Ihr Vorbote hatte die Form des Tisches erkannt und darauf die Bosse informiert, dass er eine Lokalität gefunden hatte, wo das Übereinkommen stilvoll stattfinden konnte: Kiefs Pub am Bahnhof.

Daraus wurde nun nichts mehr. Bross führte die konsternierten Paten nach draußen, wo mittlerweile ein Sondereinsatzkommando der Polizei eingetroffen war und den völlig geräderten Keule erlöste, der die Gorillas die ganze Zeit über heldenmütig in Schach gehalten hatte.

„Wacker, Keule, sehr wacker“, sagte Bross, als das SEK abgerückt war. „Den Deckel kannst du jetzt herunternehmen.“ Keule war schweißnass und zitterte am ganzen Leib. Und selbst, als sie den Ort des Geschehens längst verlassen hatten und auf der Heimfahrt waren, war Keule noch nicht beruhigt und auch noch nicht trocken.

Bross war das egal. Er zog sein Wangenfleisch ein und ließ es mit einem Plopp wieder hervorschnellen, bevor er mit einem Seitenblick auf seinen verstörten Assistenten wiederholte: „Wirklich, Keule. Äußerst wacker.“

2

Die Auswahl einer Sonnenbrille ist eine ernstzunehmende Angelegenheit, die nicht dem Zufall überlassen werden sollte. Wie leicht ist ein unverzeihlicher Fehler begangen, vom einfachen Fauxpas bis zum scheußlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit im Extremfall dramatischen Konsequenzen: Ehescheidung wegen protzigen Aussehens, Verhaftung wegen Gleichsetzung mit Kriminellen, Blattschuss mit Todesfolge wegen Verwechselung mit einem Stück heimischen Hochwilds.

Wichtigste Determinante ist die Gesichtsform. Für ein rundes Gesicht empfiehlt sich eine breite Brille mit klaren Kanten, während ein herzförmiges durchaus eine kleine Brille tragen kann. Zu manchen Gesichtern passen runde Retro-Modelle, anderen wiederum stehen hypermoderne, denen Farben, verzierte Bügel oder Branding noch den gewissen Biss verleihen.

Auch die Wahl der Farbe spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein dunkelhäutiger Mann im Afrolook wird mit Stirn-Bandana, schlabberigem Batik-T-Shirt und apathisch-fröhlichem Auftreten bei gesteigerter Zutraulichkeit schnell mal als Kiffer angesehen, wenn er eine große, gelbe Sonnenbrille trägt. Und ein beleibter Mittvierziger im vorn offenen Leoparden-Bademantel sollte nicht zu einer roten Sonnenbrille greifen, will er nicht für einen Pornofilm-Produzenten gehalten werden.

Niemandem waren diese ungeschriebenen Gesetze bewusster als Bross.

Doch modische Aspekte waren ihm fremd. Eine Sonnenbrille, das bedeutete für ihn, den Ermittlerprofi, ein Werkzeug. Nicht mehr und nicht weniger.

„Das ist sie. Massig. Rassig. Schwarz.“ Markig klangen seine Worte in den Ohren der blassen, überforderten jungen Optikergehilfin aus dem masurischen Hinterland, als er ihr seine Entscheidung für ein Modell mitteilte. „Bitte schön“, hauchte sie verschüchtert und zog sich eilends in die Hinterräume des Ladens zurück. Die Brille bedeckte mehr als die Hälfte seines Gesichtes. Die Bewegungen seiner Augen, sein Mienenspiel, das Zucken einer Augenbraue, ein Lächeln, das kurz aufleuchtet, um sofort wieder zu verschwinden – all das sollte von niemandem wahrgenommen werden, auch nicht von jemandem, der direkt unter ihm lag und zu ihm aufblickte. Ein Wesenszug von Ermittlungen ist, dass sie geheim verlaufen.

Nur sein rasierklingengeschärfter Blick war in der Lage, das undurchdringliche Schwarz der Gläser zu zerschneiden. Rein optisch, versteht sich. Von außen war nichts zu sehen. Die äußere Oberfläche der Gläser war spiegelnd – ein gerissener Schachzug. Dem Verbrecher, der ihm gegenüberstand, sollte seine eigene kriminelle Fratze entgegenstarren, verzerrt und überzeichnet durch die Wölbung der Gläser.

Abstand zwischen Sonnenbrillenoberkante und Hutunterkante: null Millimeter. Kein unnötiger Lichteinfall durfte seine Wahrnehmung trüben und die Analyse der Ergebnisse unzulässig verfälschen. Und schließlich sollte, musste er unbedingt inkognito bleiben. Somit war es zu vermeiden, dass ein Außenstehender Teile seiner Stirn oder seiner Brauen sehen und ihn daran möglicherweise identifizieren konnte.

Koketterien mit der Sonnenbrille? Nicht mit ihm. Niemals spielte er mit einem Bügel an seinen leicht geöffneten Lippen oder biss gar lasziv darauf herum. Nicht, dass er dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Weit gefehlt. Professionalität, zu jeder Zeit, das war es, was ihn auszeichnete und über die amorphe, graue Masse aller anderen Ermittler erhob. Die potenziell auf ihn einströmenden Frauen würden nur seine Ermittlungen behindern. Und die Brille hochschieben ins Haar, das ging schon gar nicht. Das war etwas für seine italienischen Kollegen. Auf der Fahrt hierher hatte er einen von ihnen gesehen, an einer Autobahnraststätte irgendwo im Nirgendwo. Braungebrannt, weitärmeliges weißes Hemd, drahtiges Brusthaar. Vermutlich ein sogenannter Commissario aus Neapel, der sich für einen Ermittler hielt. In Wahrheit waren sie alles andere, der da und seine Kollegen: Liebhaber, Frauenhelden, Casanovas, Womanizer. Essen, Autos, Frauen – das waren die Dinge, die sie bewegten. In dieser Reihenfolge. Im Gesicht trugen diese Männer die Brillen nur morgens und nur so lange, bis ihre Tränensäcke nach den Chiantiexzessen des Vorabends wieder auf Normalgröße geschrumpft waren.

Bross verabscheute diese Kerle.

Nun lag er auf die Ellbogen gestützt am Strand des Badesees inmitten der Großstadt. Seit mehr als drei Stunden in unveränderter Position. Der See war nicht viel mehr als ein kümmerlicher Tümpel von bräunlicher Farbe, von etwas Schilf gesäumt, vor allem aber von einer Skyline mittelhoher, grauer Industriebauten. Scheinbar unbewegt blickte Bross umher, auf den See, in das Blau des Himmels und am schmalen Streifen entlang, der sich hier Strand nannte. Bei dem sonnigen Wetter machte ihm das bisschen Regen, das über ihm niederging, nichts aus. Eher war er eine willkommene Abwechslung.

Die Menschen um ihn herum, die trotzdem ihren Badefreuden nachgingen, schenkten ihm weiter keine Beachtung. Nur einmal blieb ein kleines Mädchen bei ihm stehen und rief: „Papi! Mami! Guckt mal! Der weiße Mann da mit dem Hut und der Sonnenbrille! Der hat eine ganz haarige Brust! Und ganz haarige Beine!“ – „Komm weg da!“, zischten die Eltern, als Bross ihr langsam den Kopf zuwandte. „Das ist nichts für dich!“ – „Du Papi, warum hast du nicht so viele Haare?“, wollte sie wissen. „Komm jetzt“, zischte der Angesprochene und zog sie mit sich fort. ‚Ihr fehlt ein Schneidezahn’, dachte Bross. ‚Sehr früh für ihr Alter. Verdammt früh. Was hat das zu bedeuten?’

Bross war im Urlaub. Das war jedenfalls die offizielle Sprachregelung.

Kurz nach der Schießerei hatte sein Telefon geklingelt. Klingelton: Hollywood, fünfziger Jahre. Natürlich. Was sonst. Mit den allgegenwärtigen Pieps-Klingeltönen aus dem Internet hatte er nichts am Hut. Firlefanz. Er bevorzugte das Original, das jeden erschauern ließ, der an seiner Bürotür lauschte.

Das Telefon. Er erkannte die Nummer auf dem Display. Dezernat 12. Ausgerechnet. Jetzt. Nach einer der härtesten Ballereien in der jüngeren Kriminalgeschichte. Und nachdem er gerade eben aus dem Regen nach Hause gekommen war und das Wasser aus seiner Hutkrempe ausgeschüttet hatte. Die Zigarette, die auf seiner Unterlippe hing, war nass geworden, bevor er sie anzünden konnte. Die vordere Hälfte bog sich feucht und schlaff herunter.

Er war genervt. „Verdammt“, knurrte er. Und hob ab.

„Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Kommissar Bross. Sie –“

„Wer spricht da?“, fragte der Anrufer irritiert.

„Der Anrufbeantworter!“ Bross wollte den Hörer auf die Gabel knallen. Aber die gab es ja nicht. Und so hielt er in der Bewegung inne, kurz bevor die Hand mit dem Telefon auf dem Tisch aufschlug. Körperbeherrschung in Extremsituationen war eine seiner großen Stärken.

„Dezernat 12 hier. Hör mal, Bross, du bist mit den Nerven durch. Kein Wunder, nach der Geschichte. Du hast die komplette deutsche Mafia zerlegt. Die ist praktisch nicht mehr existent. Respekt, wirklich, dir gebührt allerhöchster Respekt. Und deswegen rufen wir auch an. Wir wollten dir sagen, du musst mal raus. Nimm dir eine Auszeit. Gönn dir was. Fahr eine Woche in die Berge zum Ausspannen.“

Was? Auszeit? Ausspannen? Er, der beste Mann beim Dezernat 12, der Abteilung für die ganz harten Sachen. Wenn er irgendetwas nicht brauchte, dann war es das. Das kam nicht infrage. Sie brauchten ihn. Seine Reife. Seine Abgeklärtheit. Seine Erfolgsquote. Denn die lag bei nicht weniger als einhundert Prozent. Präzise einhundert. Und das Verbrechen lauerte überall.

„Bross, jetzt sei vernünftig. Du tauchst jetzt eine Woche lang nicht mehr hier auf und fährst in die Berge. Oder an die Nordsee von mir aus. Lass dir den Wind um die Nase wehen und guck dir die Surfer an. Oder setz dich ins Promenadencafé, bestell dir ´nen schönen Cappuccino und ein Stückchen Sahnetorte und lass dich von ´ner Dame anquatschen. Von der, äh, kontaktfreudigen Sorte gibt es in so ´nem Kurort jede Menge, und attraktiv genug bist du ja … ähm … na ja …, okay, aber so übel siehst du doch wirklich nicht aus. Eine Woche Urlaub. Ist das klar?“

„Heißt das, ich bin suspendiert?“

„Sozusagen. Du willst es ja nicht anders. Leg dich an den Strand und guck aufs Meer. Oder hock dich auf die Alm und hör dir das Kuhglockengebimmel an.“

„Ich bin also suspendiert.“

„Ja, verdammt. Und geh da mal zu einem Kurarzt.“

„Ist das eine Dienstanweisung?“

„Jawohl, das ist es! Und wenn du nicht sofort aufhörst und verschwindest, suspendieren wir dich auf unbestimmte Zeit und ohne Dienstbezüge! Und kassieren deine Waffe ein!“

Es hatte keinen Zweck. Und so hatte er sich getrollt.

Kurarzt.

Nordsee.

Promenadencafé.

Und das passierte ihm.

Dem Mann, der immer im Dienst war. Und immer im Auftrag.

Er hasste Sahnetorte.

Nichts widerte ihn mehr an als parfümierte Damen von der kontaktfreudigen Sorte.

Urlaub.

Pah!

Nicht mit ihm.

Aber wenn schon suspendiert, dann dorthin, wo man ihn brauchen würde. Nicht in die Abgeschiedenheit der Küstengegend, hinein in das bedrückende Beige des Kurgastaufkommens. Nicht zwischen großnasige Almbauern und großbusige Kuhhirtinnen im feschen Dirndl. Sondern dorthin, wo sein Platz war. Hinein in das Auge des Sturmes, in das Epizentrum der Untat. Hinein in den Asphaltdschungel der Großstadt.

Kaum angekommen, suchte er sich zuerst eine Pension. Sie lag in einer Straße mit altem, unscheinbarem Häuserbestand. Ihm kam das sehr gelegen. Es musste tunlichst vermieden werden, dass sein Aufenthalt hier bekannt werden würde.

„Moin, moin“, begrüßte ihn der Hauswirt launig. „Ja, ein Zimmer hätten wir noch frei. Ui, Sie sind aber nass! Ach, leeren Sie Ihren Hut doch bitte draußen.“

Der Kerl gefiel Bross nicht. Irgendwas war faul an ihm.

„Was gibt es hier?“, fragte er ihn.

„Na, wenn Sie das nicht wissen“, antwortete der Mann. „Sie müssen doch wissen, warum Sie hierher gekommen sind. Hier ist jedenfalls nur Stadt, sonst nichts.“

„Das kann jeder behaupten“, bellte Bross zurück. „Können Sie das beweisen?“

Damit begann eine seiner gefürchteten, unerbittlichen Befragungen, die er noch eine Stunde fortsetzte.

„Sie werden vorerst die Stadt nicht verlassen“, sagte Bross, als er zum Ende kam. „Das ist eine Anordnung.“

„Ich werde gar nichts mehr tun, versprochen“, antwortete der Hauswirt entkräftet. „Ich kann nicht mehr.“

Sein Tonfall. Es war etwas in seinem Tonfall. Er würde ihn im Auge behalten.

Bross‘ erster Gang führte ihn zum Badesee, wo ihm eine Muschel auffiel. ‚Die hat nicht immer in dieser Position gelegen’, stellte er fest. ‚Das kann nur bedeuten, dass ein Mensch sie aufgehoben, eingesammelt, gekocht und wieder weggeworfen hat. Sehr merkwürdig.’ Dann suchte er eine geeignete Stelle, die etwas erhöht lag, um dort Posten zu beziehen. Kurze Risikoanalyse der Lokalität: Wind, Bodenbeschaffenheit, zu erwartende Bombeneinschläge. Keine Auffälligkeiten. Die leicht exponierte Lage erlaubte ihm, den gesamten Strandbereich souverän einzusehen, so dass ihm nichts entgehen würde.

Und es entging ihm nichts.

Nicht eine Kleinigkeit.

Nicht eine.

Keine.

„Du?“

Bross zuckte zusammen. Jemand hatte ihm auf die Schulter getippt. Er wandte den Kopf zur Seite. Neben ihm stand das Mädchen mit dem fehlenden Schneidezahn. Sie hatte sich von ihrem Vater losgerissen und war zu Bross zurückgelaufen.

„Bist du ein Geheimagent?“, fragte sie.

„Geheimagent? Wieso?“, entgegnete er.

„Die Sonnenbrille. Alle Geheimagenten tragen so eine Sonnenbrille. Damit man sie nicht erkennt. Und damit man nicht sehen kann, wen sie beobachten.“

Er antwortete nicht.

„Also bist du nun einer oder nicht?“

„Ähm … also …“

„Also ja. Ich hab’s gewusst! Wie aufregend! Ein richtiger Agent!“

Damit lief sie weg von ihm hinter ihren Eltern her und rief: „Papi! Mami! Ich hatte Recht! Er ist ein Geheimagent!“

Bross sah ihr einen Moment hinterher, dann riss er sich die Brille vom Gesicht und zertrat sie.

3

Argwohn ist das Kennzeichen des professionellen Ermittlers.

Das Verbrechen lauert überall.

Bross war suspendiert.

Drei gewichtige Gründe, vor Ort unverzügliche Ermittlungen aufzunehmen, und zwar konzentriert und konsequent. Wenn Dezernat 12 ihm die Mitarbeit bis auf Weiteres aufgekündigt hatte, bedeutete dies einen Sachzwang, einen gesteigerten Schwierigkeitsgrad, doch es durfte keine Entschuldigung für Untätigkeit sein. Wohl oder übel war er gezwungen weiterzumachen und die Sache allein durchzuziehen.

Auf eigene Faust.

Und ohne verräterische Brille.

Kurze Analyse der Sachlage. Seine Mobilität am Ort war gewährleistet. Keules Ford Mustang stand ihm zur Verfügung, was ihm nahezu alle notwendigen Optionen eröffnete: sicht- und unwettergeschützte Observation ganzer Straßenzüge, Verfolgen und Überholen unscheinbarer Fahrzeuge, Bildung eines Bollwerks gegen Schießattacken heranrückender Verbrecherbanden, gute Musik aus den High-End-Dolby-Surround-Boxen. Dann das Umfeld. In einer belebten Straße, wo der Einzelne in der Masse untertauchte, war das Wahren von Diskretion ein Leichtes. Ein Ermittler, der über Stunden in unveränderter Beobachtungsposition mitten auf der Straße stand, würde niemandem auffallen. Einziges Problem: Es könnte regnen. Dagegen stellte ihn eine weitgehend menschenleere Umgebung wie der abgelegene Winkel der Stadt, in dem er sich nun befand, vor ganz andere Herausforderungen. Blieb er dort bewegungslos auf der Straße stehen, konnte es passieren, dass ihn eines der etwa stündlich durchfahrenden Autos von hinten rammte und rücksichtslos überfuhr. Hier waren vom Ermittler nicht nur Beobachtungsgabe und Flexibilität gefordert, sondern vor allem eine wirksame Tarnung; für Bross keine Frage des Ob und des Inwiefern, sondern lediglich des Wann und des Wo. Wie kein Zweiter besaß er die Fähigkeit der Anpassung an seine Umgebung bis hin zum völligen Verschmelzen mit selbiger.

Jetzt gerade stand Bross in einer dieser entlegenen Straßen. Ein kurzer Rundumblick, dann entdeckte er eine Fichte direkt am Gehweg. Sie gehörte zu einem verlassenen, rot geklinkerten Haus. Gedankenschnell nutzte er die augenblickliche Menschenleere, schlängelte sich flink in Richtung Hauswand und stellte sich rücklings an sie, so dass ihm von hinten keine Gefahr drohte. Er krempelte seinen Mantelkragen hoch und blickte zu beiden Seiten über seine Schulter. Nichts. Wie er vermutet hatte. Er zog den Kopf ein, so dass er vollends im Kragen verschwand und der Hut auf ebendiesem zu sitzen schien, zog die Schultern hoch und huschte auf die Fichte zu, um im nächsten Moment in ihr zu verschwinden. Eine Zeitlang verharrte er darin, dann, urplötzlich und unvermutet, ergriffen zwei Hände von innen heraus einen Zweig und drückten ihn herunter. Darüber schnellte sein Kopf aus dem Geäst hervor. Sein erbarmungsloses Greifvogelauge öffnete sich und spähte in die Straße hinein. Zwei, drei Blicke genügten, dann hatte er genug gesehen und verschmolz wieder mit der Fichte.

Er brauchte nicht lange zu warten, dann überschlugen sich die Ereignisse. Ein grauer Mittelklassewagen bog langsam, fast vorsichtig von Nordwesten her in die Straße ein. In der Richtung lag das Stadtzentrum; es war also mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er von dort gekommen war. Der in langen Jahren geübte Blick des Ermittlers brauchte kaum mehr als eine Minute, um Fabrikat, Modell und Farbe des Wagens zu identifizieren: ein VW Golf, hellgrau. Baujahr: klar nach 1980. Die getönten Scheiben ließen keine präzise Einsichtnahme des Innenraums zu, doch so viel vermochte Bross zweifelsfrei zu erkennen: Am Steuer saß eine Person. Nicht auszuschließen war, dass sich eine weitere Person hinter dem Fahrersitz versteckt hielt und den Fahrer mit einer Waffe bedrohte, ihn womöglich in der Stadt zu einer Richtungsänderung gezwungen hatte. Eine Entführung? Ein Sexualdelikt? Ein Fall von kapitaler Wirtschaftskriminalität? Und wohin steuerte das Fahrzeug? Ihm war, als verlangsamte es sein Tempo vor einem Haus, das etwas zurückgesetzt lag. Schaute der Fahrer in den von einer doppelt mannshohen Hecke blickdicht gesäumten Garten hinein? Oder wandte er den Kopf, weil er spürte, dass eine Gefahr auf ihn zukam?

Bevor Bross diese Fragen belastbar beantworten konnte, war der Golf um die nächste Kurve gebogen und außer Sicht. Und mit ihm auch das Kennzeichen. Ein raffinierter Winkelzug: Die Kurve nehmen und im Auslauf beschleunigen, bevor Bross die Nummer notieren konnte. Ob der Fahrer ihn gesehen hatte? Ausgeschlossen. Bross’ Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, war unübertroffen. Instinktives Handeln des Fahrers, der etwas zu verbergen hatte? Oder gab es doch den ungebetenen Fahrgast, der den unschuldigen Mann am Steuer unter Androhung von Gewalt zu ungewollten Verhaltensweisen zwang?

Bross hatte den Faden aufgenommen, aber noch nicht zu Ende gesponnen, als sich nicht weit von seinem Standort entfernt ein Gartentor öffnete. Es gehörte zu dem etwas zurückliegenden Haus, zu dem der Fahrer geblickt hatte. Das Tor knarzte beim Öffnen und Schließen. Ein Tropfen Öl fehlte. Ein Mann trat aus dem Garten auf die Straße und blieb stehen. Er mochte mittleren Alters sein und war nicht sonderlich hochgewachsen. Das Außergewöhnliche an ihm war seine Kleidung. Die Füße steckten in hohen Lederstiefeln mit langen, harten Absätzen, die jeden Schritt zwischen den eng stehenden Häusern der Straße markig erschallen ließen. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Stetson, der einen breiten Schatten vor den Mann warf. Dazu passten ein weites Hemd in Weiß und eine stark ornamentierte Lederweste mit langen Fransen. Er wirkte wie ein Rodeoreiter. Doch Bross war niemand, der sich von äußeren Eindrücken leicht blenden ließ. Der Mann mochte ebenso gut Zirkusdirektor oder Karatelehrer sein.

Eben hatte er mit dem Routinevorgehen des erfahrenen Kriminalisten begonnen und Schritt eins eingeleitet, die Identitätsfeststellung des Mannes, per Augenschein zunächst, als dieser sich umdrehte und wieder ins Haus zurückkehrte. Bross musste abbrechen, auch weil er die Stimmen von zwei Frauen hörte, fern noch, aber deutlich als weiblich identifizierbar. Und kein Zweifel, sie näherten sich. Er tauchte noch tiefer in die Fichte hinein, verharrte und lauschte. Sie kamen näher, direkt auf ihn zu, und blieben vor dem Nadelbaum stehen. Keinen halben Meter waren sie von ihm entfernt, freilich ohne ihn entdecken zu können. Wie auch.

„Das habe ich auch gehört“, begann die jüngere der beiden.

„Ja, Wahnsinn, nicht wahr?“, fragte die andere.

„Absolut.“

„Ich hätte das niemals gedacht.“

„Ich auch nicht.“ Sie schien überrascht, fassungslos. „So kann man sich täuschen.“

„Und so unvorbereitet, ohne jede Vorwarnung.“

„Aber so was muss jeder selber wissen.“

„Dagegen kann man sich nicht schützen.“

„Und jetzt?“

„Keiner weiß, wie es weitergehen soll.“

„Ich möchte nicht in der Lage stecken.“

„Weiß Gott, ich auch nicht.“

Längst war Bross aufmerksam geworden. Interessant, vermerkte er. Höchst interessant. Die Spur musste verfolgt werden. Was planten die beiden Frauen? Und was war das für ein Ereignis, über das sie gesprochen hatten? Bross ging den Dialog noch einmal durch, wörtlich, in Echtzeit, dann hatte er die Antwort. Ein weit zurückliegendes Verbrechen. Zehn Jahre mindestens, wahrscheinlich sogar fünfzehn. Ein Unfall, der keiner gewesen war. Ein Mord, der wie ein Unfall aussehen sollte. Die Polizei war der Täuschung aufgesessen. Das Verfahren war eingestellt worden. Und die Zeugen von damals lebten nicht mehr.

Und welche Rolle spielte der Karatelehrer in dem perfiden Spiel? Er war ins Haus zurückgegangen, als die Frauen in der Straße auftauchten. Das konnte kein Zufall sein. Sie kannten sich, so viel war klar. Worauf war er aus? Einen Amoklauf? – Und dann war da noch der Golf. Der Fahrer hatte zu dem Haus des Reiters herübergeblickt, vermutlich um festzustellen, ob er zu Hause war. Ob er ihn abholen wollte? Sollte er etwa Bross bemerkt und daher seine Absicht aufgegeben haben? Nein, das war nicht möglich. Seine Tarnung in der Fichte war perfekt, eigentlich. Doch das verdächtige Verhalten des Fahrers machte Bross nachdenklich. Was, wenn der Fahrer doch etwas gesehen hatte? Mit einem optischen Spezialgerät? Oder gar der hinter dem Fahrersitz versteckte Mann? Das Sichtgerät stammte vermutlich aus Militärbeständen. Das deutete auf eine Verbindung der Insassen des Golfs zu Waffenschmugglern hin. Bross hatte von einem illegal in einem Schweizer Bergsee versenkten Waffenlager gelesen. Nicht auszuschließen, dass sie dahintersteckten.

Ein Umstand war klar und stand für Bross außer Zweifel: Die Verbrechen, derer diese Personen dringend verdächtig waren, standen in Verbindung zueinander. Zu offensichtlich war der zeitliche Zusammenhang, zu dicht die rasche Folge der gerade erlebten dramatischen Ereignisse. Bross glaubte nicht an Zufälle. Die Verbrecher waren gewieft, äußerst gewieft.

Er hatte genug gesehen und trat aus der Fichte heraus, hinein in den einsetzenden Regen. Da, wie aus dem Nichts, geräuschlos, wie es schien, kehrte der Golf zurück, diesmal in die Gegenrichtung gleitend und deutlich schneller als zuvor. Keine fünf Sekunden vergingen, und er war um die Ecke gebogen, um die er vor einiger Zeit in die Straße und in Bross’ Sichtfeld eingedrungen war. Und wiederum zu schnell, als dass er sich das Kennzeichen hätte notieren können. Gab es überhaupt eins? Und: Wie real war das Fahrzeug?

Was hatte das alles zu bedeuten?

Ein paar hundert Kilometer südlich saß ein Mann vor einer Maschine im Waschsalon. Seit einiger Zeit stierte er unbewegt auf die Trommel und gab sich dem Spiel des Wassers mit der Wäsche und dem Seifenschaum hin. Sein Gesicht hielt er in beide Hände gestützt, Ellbogen auf den Knien, den Hals eingezogen. Auf dem Kopf saß eine rote Mütze, die sich vom Nacken in seine Stirn geschoben hatte, weil er nach und nach in sich zusammengesunken war. Seine Freundin hatte ihm den Laufpass gegeben.

Hier im Waschsalon hatten sie sich kennengelernt. Sie hieß Peggy (oder Mandy?). Anfang 40 mochte sie sein, Ende 30 bestenfalls, hatte dünnes, blondiertes Haar, oben auf dem Kopf einen Zopf, eine Art Palme, trug Sternohrringe und eine dicke Hornbrille. Überall an ihrer Kleidung und in ihrem Gesicht glitzerte es, und ihr pinkfarbener Minirock war ultrakurz. Ihre Stimme klang wie die einer Maus im Telefon. Vom ersten Augenblick an war Keule verliebt.

Vor der Maschine neben ihm hatte sie gesessen und hineingestarrt. Dann waren sich ihre Blicke begegnet, und plötzlich hatten sie zusammen vor ihrer Maschine gesessen und hineingestarrt. Und von da an hatten sie sich jeden Tag getroffen, die Maschine für ihre Wäsche geteilt, die Nummer sieben, eine Glückszahl, hatten hineingestarrt und anschließend ihre Wäschestücke zärtlich auseinandergezupft.

Bis zu dem Tage, als Keule in seiner Verliebtheit ohne ihr Wissen das längste Waschprogramm anwählte, das die Maschine hergab. Kochwäsche. 2 Stunden 59. Er wollte doch einfach nur bei ihr sein, ihre Nähe spüren, so lange wie möglich. Und als sie dann die Klappe öffneten und die Schwaden des heißen Wasserdampfes ihnen entgegenwallten und Peggy (oder Mandy?) beim Auseinanderpflücken dessen, was einmal ihre Wäsche gewesen war, ihre teuren seidenen Dessous nicht mehr wiedererkannte, weder an der Form noch an der Farbe, sah sie durch den Nebel, der Keule umhüllte, etwas ganz anderes. Seine Haare waren fettig. Warum war ihr das vorher nicht aufgefallen? Zuvor hatten sie immer nur in die Trommel gestarrt, doch nun sah sie ihn zum ersten Mal richtig an. Weinend rannte sie auf die Straße und machte zwei Stunden später Schluss. Per SMS. Sofort rief Keule zurück.

„Was willst du?“

„Peggy, ich …“

„Ich heiße Mandy!“, schluchzte sie. Und drückte den Anruf weg.

Und so saß Keule nun, am nächsten Tag, allein vor Nummer sieben, hatte Express 40 Grad eingestellt, Dauer 33 Minuten, für den Rest Wäsche, der ihm verblieben war, und starrte in die Trommel.

Da klingelte sein Handy.

„Keule, bist du es?“

„Ja, Chef. Was gibt’s?“

„Wir ermitteln.“

„Ich komme.“

4

Knacken im Lautsprecher. Tonsignal. Ein langes Einatmen war zu hören. Dann ein gequältes Ausatmen, in dessen Endphase die kraftlos gesprochenen Worte „Meine Damen und Herren“ zu verstehen waren, wenn auch nur mit Mühe. Der Atemvorgang wiederholte sich, und der Lokführer sagte: „Es ist 5.22 Uhr“, bevor er erneut atmete. Er hatte einen leichten thüringischen Akzent. Seine folgende Ansage bestand vor allem aus gewichtigem Atemholen, unterbrochen von kurzen, matt und emotionslos dahingenuschelten Satzfetzen in ziemlich sinnlosen Brüchen. „Ich begrüße Sie im Namen der S-Bahn Düsseldorf“ – Atmen – „in der S-Bahn Düsseldorf nach Düsseldorf“ – Atmen – „Flughafen über Düsseldorf. Es ist noch“ – Atmen – „früh am Tage, das Wetter ist doch schon ganz schön, die Außentemperatur“ – Atmen – „beträgt 15 Grad Celsius, Tendenz steigend.“

‚Herrjemine’, dachte Keule. Er war zeitig aufgestanden, um einen frühen Zug nach Düsseldorf zu erwischen, wo er dann in einen ICE umsteigen wollte. Sein Chef hatte ihn gerufen, und er wollte so bald wie möglich zu seiner Unterstützung vor Ort sein.