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Wengst / Wentker (Hg.)
Das doppelte Deutschland

Udo Wengst
Hermann Wentker (Hg.)

Das doppelte
Deutschland

40 Jahre Systemkonkurrenz

Eine Veröffentlichung des
Instituts für Zeitgeschichte

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Editorische Notiz
Die Schreibweise in diesem Buch folgt den Regeln der
reformierten Rechtschreibung; um der besseren Lesbarkeit
willen wurde die Schreibweise in den Zitaten ebenfalls
diesen Regeln angepasst.

1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2008)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
Internet: www.linksverlag.de; mail@linksverlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos vom Spiel
Bundesrepublik Deutschland–DDR am 22. Juni 1974
in Hamburg (picture-alliance/dpa)
Satz: typegerecht, Berlin

ISBN 978-3-86284-265-0

Inhalt

 

Udo Wengst / Hermann Wentker

 

Einleitung

 

Horst Möller

1949

Zwei deutsche Staaten, eine Nation?

 

Zum nationalen Selbstverständnis in den Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

 

Petra Weber

1949/
1955

Thomas Mann in Frankfurt, Stuttgart und Weimar

 

Umstrittenes kulturelles Erbe und deutsche Kulturnation

 

Hermann Wentker

1954

Kirchentag in Leipzig

 

Kontakte und wechselseitige Wahrnehmungen der evangelischen Kirchen in Ost und West

 

Helge Heidemeyer

1961

»Antifaschistischer Schutzwall« oder »Bankrotterklärung des Ulbricht-Regimes«?

 

Grenzsicherung und Grenzüberschreitung im doppelten Deutschland

 

Amit Das Gupta

1965

Ulbricht am Nil

 

Die deutsch-deutsche Rivalität in der Dritten Welt

 

Anne Rohstock

1965

Ist Bildung Bürgerrecht?

 

Wege zur Bildungsexpansion im doppelten Deutschland

 

Udo Wengst

1969

Das vorzeitige Ausscheiden von Heinrich Lübke aus dem Bundespräsidentenamt

 

Zweierlei »Vergangenheitsbewältigung« im Systemkonflikt

 

Michael Schwartz

1972

»Liberaler als bei uns«?
Zwei Fristenregelungen und die Folgen

 

Reformen des Abtreibungsstrafrechts in Deutschland

 

Dierk Hoffmann

1973

Ölpreisschock und Utopieverlust

 

Getrennte Krisenwahrnehmung und -bewältigung

 

Hermann Wentker

1973

Doppelter UN-Beitritt

 

Deutsch-deutsche Konkurrenz auf der internationalen Bühne

 

Thomas Raithel

1974

Das Sparwasser-Tor

 

Entwicklung und Bedeutung des Sports in beiden deutschen Staaten

 

Johannes Hürter

1976

Die Ausbürgerung Wolf Biermanns

 

Künstler und Intellektuelle zwischen den Stühlen

 

Manfred Kittel

1983

Strauß’ Milliardenkredit für die DDR

 

Leistung und Gegenleistung in den innerdeutschen Beziehungen

 

Dierk Hoffmann

1987

Honecker in Bonn

 

Deutsch-deutsche Spitzentreffen 1947–1990

 

Andreas Wirsching

1989

Die Mauer fällt

 

Das Ende des doppelten Deutschland

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Die Herausgeber und Autoren

Udo Wengst / Hermann Wentker

Einleitung

Die deutsche Einheit zerbrach im Kalten Krieg. Nach 1945 erwies sich schon bald, dass zwischen den Westmächten und der Sowjetunion nicht jenes Maß an Übereinstimmung hergestellt werden konnte, die, wie etwa nach den napoleonischen Kriegen, ein wesentliches Fundament der friedlichen Neuordnung des Staatensystems hätte bilden können. Der Gegensatz von Demokratie und Diktatur, von sowjetischem Hegemoniestreben und amerikanischer Eindämmungspolitik war so stark, dass eine umfassende Friedensordnung nicht geschaffen werden konnte. Am deutlichsten trafen die geostrategischen Interessen beider Siegermächte in der Mitte Europas aufeinander: Da sie sich über das Schicksal des besiegten Deutschland nicht verständigen konnten, blieb als Ausweg nur die Teilung in zwei deutsche Staaten.

Die Deutschen wollten anfangs indes die Teilung nicht hinnehmen. Sie hielten daran fest, dass sie zu einer Nation gehörten, die auch in einem Staat zusammenleben sollte. Darin stimmten sie mit den führenden Politikern auf beiden Seiten der durch Deutschland laufenden Demarkationslinie überein. Beide deutsche Regierungen traten vehement für die möglichst rasche Wiederherstellung der deutschen Einheit ein; gleichzeitig wollten sie aber das eigene, von den unterschiedlichen Siegermächten etablierte politische System auf den anderen Teil Deutschlands übertragen. Bundeskanzler Konrad Adenauer und die bundesdeutschen Parteien sprachen bis weit in die 60er Jahre der DDR die staatliche Legitimität ab; Ministerpräsident Otto Grotewohl und mit ihm die SED waren genauso wenig bereit, die staatliche Existenz der Bundesrepublik anzuerkennen. Am Anfang ihrer jeweiligen Geschichte reklamierten die Regierungen beider deutscher Staaten für sich, die Interessen aller Deutschen zu vertreten.

Indem in der Bundesrepublik im Verlauf der 50er und 60er Jahre die Demokratie Fuß fasste und in der DDR mit Hilfe eines forcierten sozioökonomischen Wandels eine sozialistische Diktatur nach sowjetischem Vorbild etabliert wurde, verfestigten sich die konträren, miteinander konkurrierenden politisch-gesellschaftlichen Systeme in den beiden deutschen Staaten. Aus dem geteilten Deutschland wurde das doppelte Deutschland. Beide Staaten präsentierten sich als die jeweils bessere Alternative: Die Bundesrepublik etwa stellte der totalitären Diktatur in der DDR ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung gegenüber, und die DDR verwies darauf, dass bei ihr der Faschismus ausgerottet sei, während in Westdeutschland alte Nazis weiterhin an den Schaltstellen der Macht säßen.

Doch neben der Konkurrenz zwischen den Staaten blieb das gesamtdeutsche Bewusstsein über einen längeren Zeitraum bestehen. In den 50er Jahren fühlten sich die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit noch nicht als Bürger der Bundesrepublik oder der DDR, sondern betonten ihre Gemeinsamkeit über die innerdeutsche Grenze hinweg. In zahlreichen persönlichen, aber auch institutionellen grenzüberschreitenden Kontakten und Verbindungen manifestierte sich die weiterhin bestehende Einheit der Nation. Da die Bundesrepublik als Demokratie mit einer prosperierenden Volkswirtschaft jedoch eine enorme Sogwirkung auf die Deutschen in der DDR ausübte, grenzte sich Ost-Berlin seit Mitte der 50er Jahre immer mehr von Bonn ab und unterband die deutsch-deutschen Kontakte in zunehmendem Maße. Mit dem Bau der Mauer durch Berlin stabilisierte die ostdeutsche Führung die DDR und zementierte gleichzeitig die Teilung: Infolge des Mauerbaus zerbrachen weitere Klammern, die die Deutschen trotz der Teilung noch zusammengehalten hatten, insbesondere die gesamtdeutsch organisierte protestantische Kirche.

Nun setzte in beiden Staaten ein Bewusstseinswandel ein. Obwohl alle Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festhielten, betrachteten die Westdeutschen die Ostdeutschen mehr und mehr als Nachbarn und nicht als Brüder und Schwestern. In der DDR hingegen, deren Führung aus Gründen der Staatsräson Teilung und Abgrenzung perpetuieren wollte, betrachtete die große Mehrheit die Deutschen weiterhin als ein Volk, rechnete aber immer weniger mit einer Wiedervereinigung. Gleichwohl blieben Verbindungen zwischen den beiden deutschen Gesellschaften erhalten: Verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen sind hier ebenso zu nennen wie die ab dem Grundlagenvertrag von 1972 wieder erweiterten Besuchsmöglichkeiten, vor allem in west-östlicher Richtung. Ein weiteres verbindendes Element von entscheidender Bedeutung war die mediale Präsenz der Bundesrepublik in der DDR, die die Deutschen allabendlich zumindest zu einer Fernsehnation werden ließ. Umgekehrt verbesserten sich nach dem Grundlagenvertrag die Möglichkeiten von westdeutschen Journalisten zur Berichterstattung aus der DDR. Vor diesem Hintergrund und den gemeinsamen, weiter wirksamen historischen Prägungen lässt sich von einem »gemeinsame[n] Erfahrungs- und auch Handlungsraum [sprechen], der beide deutsche Staaten, Gesellschaften und Kulturen umfasst«.1

Innerhalb dieses Erfahrungsraumes stellten sich für beide deutsche Staaten vor allem ab den 70er Jahren gemeinsame Probleme – zu nennen wären etwa der wirtschaftliche Strukturwandel, die zunehmende Individualisierung und der Wertewandel sowie das Konsum- und Freizeitverhalten –, deren unterschiedliche Bewältigung sich für vergleichende Untersuchungen besonders eignen. Darüber hinaus wird das Zusammengehörigkeitsgefühl auch daran erkennbar, dass die Deutschen in der DDR jene in der Bundesrepublik letztlich nie aus den Augen verloren. Dies galt für die Westdeutschen zwar auch, aber nur in abgeschwächter Form. Denn die von Adenauer eingeleitete Politik der Westintegration blieb nicht ohne Auswirkungen auf die westdeutsche Gesellschaft, für die die Nation zunehmend an Bedeutung verlor und die Einbindung in die westliche Staaten- und Wertegemeinschaft einen immer höheren Stellenwert einnahm.

Gleichwohl blieben die Politik der Regierungen und der anderen Akteure westlich und östlich der Demarkationslinie aufeinander bezogen. Aufgrund der »Gegensätzlichkeit und engen Aufeinanderbezogenheit der beiden Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden« hat Karl Dietrich Erdmann schon 1985 von »der dialektischen Einheit der Nation« gesprochen.2 Hans Günter Hockerts hat sich dem im wesentlichen angeschlossen und mit Blick auf die zeithistorische Forschung zur Bundesrepublik und zur DDR festgestellt: »Man kann daher die eine Seite nicht voll in den Blick nehmen, ohne auch die andere einzubeziehen.«3 Dies ist als Postulat auch jüngst wieder auf einer Tagung von Deutschlandforschern in Suhl erhoben worden, wobei deutliche Unterschiede in der Bewertung zutage traten. Während Horst Möller eine »integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte […] beider deutscher Nachkriegsstaaten [als] sinnvoll und notwendig« erachtete, sofern eine »sorgfältige Auswahl der tatsächlich komparativ zu erfassenden, phasenbeschränkten Themen« getroffen und an der »Wertentscheidung angesichts des Gegensatzes von Demokratie und Diktatur« festgehalten werde,4 bezogen Andreas Wirsching und Martin Sabrow andere Positionen. So beschrieb Wirsching »Elemente eines gemeinsamen Erfahrungsraumes« der Deutschen in Ost und West und plädierte für einen pragmatischen Ansatz, der »den Systemgegensatz von Demokratie und Diktatur nicht übermäßig« betonen müsse.5 Sabrow ging noch einen Schritt weiter, indem er darauf hinwies, dass sich zentrale Entwicklungen »quer zu den Scheidelinien von freiheitlicher und unfreiheitlicher Gesellschaft« vollzogen hätten und deshalb eine Betrachtung allein »aus normativer Perspektive« dem »Verständnis für die Binnenlegitimation der zweiten deutschen Diktatur« entgegenstehen würde.6 Über »die analytischen Chancen einer Zusammenschau der deutschen Doppelgeschichte«7 bestand indessen Übereinstimmung. Als Leitlinie hierfür hat Christoph Kleßmann vor mehr als zehn Jahren vorgeschlagen, in den Mittelpunkt einer deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte nach 1945 das »Spannungsverhältnis zwischen der Verflechtung beider Teilstaaten […] und einer bewusst oder unbewusst betriebenen oder gewünschten Abgrenzung« zu rücken.8 Doch inwieweit handelte es sich bei beiden deutschen Staaten wirklich um Konkurrenten, die stets aufeinander fixiert waren, sich voneinander sichtbar abgrenzten, in der Konkurrenz aber aufeinander bezogen blieben?

Indizien für eine solche »Verflechtung in der Abgrenzung« (Kleßmann) sind vorhanden. Sehr deutlich wird dies etwa in der Außenpolitik beider Staaten in den 50er und 60er Jahren, als dem Alleinvertretungsanspruch Bonns das Streben Ost-Berlins nach Anerkennung gegenüberstand: Während die Bundesrepublik die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen von Drittstaaten mit der DDR verhindern wollte, suchte Letztere verzweifelt nach Mitteln und Wegen, um ihre internationale Isolation zu durchbrechen. Aber auch auf weniger offensichtlichen Gebieten – etwa im Rahmen des Umgangs mit dem Erbe des »Dritten Reiches« oder auch im Zusammenhang mit der Einführung der Rentenreform von 1957 in der Bundesrepublik – sind solche wechselseitigen Wahrnehmungen und Rivalitäten registriert worden.

Die Forderungen, die Geschichte beider deutscher Staaten nicht isoliert zu betrachten, sondern »über den Tellerrand« zu schauen und diese in einen deutsch-deutschen, europäischen, gar globalen Rahmen einzuordnen, wurden im Hinblick auf die DDR vor einiger Zeit erneut erhoben und haben, unter Beteiligung des Instituts für Zeitgeschichte, eine Kontroverse ausgelöst.9 Doch sind diese Forderungen von der Geschichtswissenschaft noch kaum eingelöst worden. Dies belegen die bisher vorliegenden Gesamtdarstellungen deutsch-deutscher Geschichte von Christoph Kleßmann, Adolf M. Birke und Peter Graf Kielmansegg. Kleßmann hat in seinem zweibändigen Werk10 die Geschichte der beiden deutschen Staaten von 1949 bis 1970 annähernd gleichgewichtig nacheinander abgehandelt, wobei der gesamtdeutsche Bezug insgesamt unscharf bleibt. Das gilt auch für die Darstellung Adolf M. Birkes,11 die von 1945 bis 1961 reicht. Hierin wird die DDR ebenso stiefmütterlich behandelt wie in der umfassenden Darstellung der Gesamtgeschichte des geteilten Deutschland von Peter Graf Kielmansegg.12 Die Begründung Kielmanseggs für die Vernachlässigung der DDR-Geschichte ist ebenso lapidar wie aufschlussreich. Er stellt sich erst gar nicht die Frage nach der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Darstellung einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern begründet sein Vorgehen mit der Feststellung, dass die DDR ein Modell ohne Zukunft, die Bundesrepublik ein Modell mit Zukunft gewesen sei. Dies sieht Konrad H. Jarausch in dem von ihm vorgelegten Buch Die Umkehr deutlich anders.13 Jarausch, der sich in seinem Werk vor allem dem »Alltagsleben« zuwendet, hält es für nötig, den »Veränderungen der Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in beiden Nachfolgestaaten« nachzugehen. Deshalb ist er auch bestrebt, jeweils beide deutsche Staaten gleichgewichtig und aufeinander bezogen in den Blick zu nehmen. Dies ist ihm sicherlich über weite Strecken gelungen, wobei das Buch jedoch sowohl in methodischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die ihm zugrunde liegenden Bewertungsmaßstäbe problematisch erscheint. Auch Peter Benders neuestes Buch mit dem Titel Deutschlands Wiederkehr ist noch nicht die bisher fehlende, aus den Quellen gearbeitete »ungeteilte Nachkriegsgeschichte« Deutschlands.14 Bei seiner Darstellung handelt es sich vielmehr um einen anregenden Essay, der auf der Grundlage von Benders zeitgenössischen Aufzeichnungen und seinen Erinnerungen die »Unterschiede und Gegensätze«, aber auch die »Parallelen und Ähnlichkeiten« zwischen der (alten) Bundesrepublik und der DDR zu erfassen versucht.

Festzuhalten bleibt, dass die gegenseitigen Perzeptionen von politischen Entscheidungen, Programmen und politischen Ideen sowie von verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Prozessen im doppelten Deutschland bisher noch nicht zum Gegenstand systematischer Studien gemacht wurden. Dies gilt auch für die Frage, ob und wie sich diese Wahrnehmungen auf den verschiedenen Politikfeldern und in den gesellschaftlichen Subsystemen beider Staaten ausgewirkt haben. Dabei gab es ein vergleichsweise großes Spektrum, das von intentionaler Kopie über die Einschränkung von Handlungsoptionen durch den jeweils anderen bis zur bewussten Abgrenzung bzw. gezielten Ausblendung oder Nichtwahrnehmung reichen konnte. Auch bei einer solchen Vorgehensweise darf nicht in den Fehler verfallen werden, die deutsche Nachkriegsgeschichte primär aus einer Aufeinanderbezogenheit beider Staaten zu erklären. Es geht vielmehr darum, die jeweilige Relevanz der deutsch-deutschen Perzeptionen zu bestimmen und die aus der deutsch-deutschen Sondersituation resultierenden Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf die jeweilige Entwicklung hatten.

In den in diesem Band versammelten, fast ausschließlich von Mitarbeitern des Instituts für Zeitgeschichte verfassten Essays geht es um solche beziehungs- und wirkungsgeschichtlichen Aspekte der deutsch-deutschen Geschichte. Neben Prozessen des deutsch-deutschen Austauschs, der beiderseitigen Rivalitäten und der Versuche der wechselseitigen Einflussnahme steht dabei vor allem die Frage nach den Wahrnehmungen von Entwicklungen im jeweils anderen deutschen Staat und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Politikfelder und gesellschaftliche Subsysteme in beiden deutschen Staaten im Mittelpunkt. Dabei ist weder beabsichtigt, die deutsch-deutschen Beziehungen in ihrer ganzen Breite noch die wechselseitigen Perzeptionen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sondern lediglich einige zentrale Felder der Geschichte des doppelten Deutschland in den Blick zu nehmen.

Das Ereignis oder der Begriff, der jedem einzelnen Essay vorangestellt ist, wird zwar zu Beginn des jeweiligen Beitrags kurz abgehandelt, dient jedoch nur als Aufhänger für den darauf folgenden Längsschnitt, der das jeweilige Thema in seinen deutsch-deutschen Bezügen abhandelt. Eingerahmt wird der Band durch zwei Betrachtungen zum nationalen Selbstverständnis: Während Horst Möller die deutschen Verfassungen in Ost und West darauf befragt, wie sie sich zu dem Problem der Nation stellten, verdeutlicht Andreas Wirsching, dass sich die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR trotz der 40-jährigen Teilung letztlich immer noch als Angehörige derselben Nation empfanden, so dass infolge des Mauerfalls auch die Existenz des doppelten Deutschland beendet werden konnte. Der Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit und der getrennten Gegenwart des doppelten Deutschland lässt sich anhand der »Bewältigung« der nationalsozialistischen Vergangenheit in beiden deutschen Staaten (Udo Wengst) sowie anhand der Wahrnehmung der »Grenzsicherung« mitten durch Deutschland und der Grenzüberschreitungen – also der Flucht- und Abwanderungsbewegung vornehmlich aus der DDR in die Bundesrepublik (Helge Heidemeyer) – nachvollziehen.

Dass die beiden Staaten einander auf der internationalen Bühne als Rivalen empfanden, und wie sie versuchten, den jeweils anderen in diesem Konkurrenzkampf zu besiegen, verdeutlichen Hermann Wentker und Amit Das Gupta in ihren Beiträgen zur Außen- bzw. Dritte-Welt-Politik von Bundesrepublik und DDR. Die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen waren, wie Manfred Kittel darlegt, von Seiten der DDR eher von ökonomischen, von Seiten der Bundesrepublik eher von politischen Interessen bestimmt, so dass sich hier die Frage stellt, ob sich Leistung und Gegenleistung in etwa entsprachen. Doch hatte die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, wie Dierk Hoffmann darlegt, nicht nur diese Dimension: Beide Seiten beobachteten etwa die wirtschaftlichen Erfolge und Misserfolge des jeweils anderen deutschen Staates bis 1973 sehr intensiv, deuteten die ökonomischen Krisen des anderen höchst unterschiedlich und waren darauf bedacht, den deutschen Rivalen wirtschaftlich zu überholen.

Dass sich Reformpolitik in beiden deutschen Staaten zwischen 1965 und 1975 auch unter Bezugnahme auf den jeweils anderen abspielte, demonstrieren Anne Rohstock anhand der Bildungsexpansion insbesondere im Bereich der Hochschulen und Michael Schwartz anhand der unterschiedlichen Reformen des Abtreibungsstrafrechts in der DDR und in der Bundesrepublik. Zwei weitere Essays widmen sich Kultur und Kulturpolitik im doppelten Deutschland: Während Petra Weber den Umgang mit dem kulturellen Erbe der Weimarer Klassik und dessen Instrumentalisierung in Ost und West thematisiert, befasst sich Johannes Hürter anhand des Schicksals von Wolf Biermann mit dem Verhältnis von Geist und Macht in beiden deutschen Staaten in den 60er und 70er Jahren. Welche Auswirkungen die deutsch-deutsche Konkurrenz auf die Bedeutung und Entwicklung des Sports in der DDR und in der Bundesrepublik besaß, untersucht Thomas Raithel. Auch auf der Ebene der deutsch-deutschen Akteure kann demonstriert werden, dass gegenseitige Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen eine wesentliche Rolle spielten: Dierk Hoffmann befasst sich unter dieser Fragestellung mit den deutsch-deutschen Spitzentreffen zwischen 1947 und 1990 und Hermann Wentker mit den evangelischen Kirchen in Ost und West.

Vorliegender Sammelband behandelt ein Thema, das in den kommenden Jahren einen Forschungsschwerpunkt des Instituts für Zeitgeschichte bilden soll. Im Zentrum der in Planung befindlichen Projekte steht nicht die Beziehungsgeschichte zwischen den beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Vielmehr sollen gesellschaftliche Wandlungsprozesse in West- und Ostdeutschland, Veränderungen von Mentalitäten, Gesetzesvorhaben über identische Materien unter dem Aspekt der deutsch-deutschen Rivalität, der wechselseitigen Wahrnehmung und Instrumentalisierung betrachtet werden. Dies soll zum Verständnis der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden deutschen Staaten beitragen und damit neue Dimensionen in den Forschungen zur Geschichte der alten Bundesrepublik und der DDR eröffnen.

1So Wirsching, Andreas: Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 3/2007, S. 15.

2Erdmann, Karl Dietrich: Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk? Überlegungen zu einer deutschen Geschichte seit der Teilung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), S. 682.

3Hockerts, Hans Günter: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 125.

4Möller, Horst: Demokratie und Diktatur, in: APuZ 3/2007, S. 7.

5Wirsching, Andreas: Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: ebenda, S. 18.

6Sabrow, Martin: Historisierung der Zweistaatlichkeit, in: ebenda, S. 23.

7Ebenda, S. 22.

8Kleßmann, Christoph: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: APuZ 29–30/1993, S. 30.

9Vgl. Kocka, Jürgen: Der Blick über den Tellerrand fehlt, in: Frankfurter Rundschau vom 22.8.2003; ähnlich ders., Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 764–769; Bispinck, Henrik u. a.: DDR-Forschung in der Krise? Defizite und Zukunftschancen – Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 1021–1026; Lindenberger, Thomas/Sabrow, Martin: Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 123–127; Bispinck, Henrik u. a.: Die Zukunft der DDR-Geschichte. Potentiale und Probleme zeithistorischer Forschung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 53 (2005), S. 547–570.

10Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn 1982; ders.: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1988.

11Birke, Adolf M.: Nation ohne Haus. Deutschland 1945–1961, Berlin 1989.

12Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000.

13Jarausch, Konrad H.: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004.

14Bender, Peter: Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990, Stuttgart 2007.

 

Horst Möller

1949

Zwei deutsche Staaten, eine Nation?

 

Zum nationalen Selbstverständnis in den Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

Wer konnte es im Chaos der Nachkriegsjahre wagen, Prognosen über die Zukunft Deutschlands abzugeben? Was konnte Nation nach der katastrophalen Niederlage des nationalsozialistischen Großdeutschland heißen, nachdem seine Massenverbrechen Europa verwüstet hatten und das moralisch und materiell zerstörte Deutschland in viele Teile zerstückelt war? In seiner großen Rede zur Annahme des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland brachte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss dies auf die treffende Formel: »Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.«1

Was blieb? Wohl nur die gemeinsame Geschichte, das gemeinsame Schicksal in der Gegenwart, die gemeinsame Verantwortung für das Geschehene, aber auch die Differenzen über dessen Ursachen und unterschiedliche Geschichtsbilder. Und wie konnte man schließlich einen oder mehrere neue Staaten gründen, nachdem der alte zwar untergegangen, aber völkerrechtlich gewissermaßen nur suspendiert, augenblicklich handlungsunfähig war? Die politischen Konzeptionen der Besatzungsmächte, so sie denn klarere Konturen besaßen, waren so unterschiedlich, ja gegensätzlich wie die politischen Ziele innerhalb Deutschlands, als sie wieder frei geäußert werden durften: Verwirklichen konnten die politischen Parteien, die 1945/46 in unterschiedlicher Geschwindigkeit in den einzelnen Besatzungszonen zugelassen wurden, ihre Ziele nur, wenn sie mit den jeweiligen alliierten Besatzungsmächten im Grundsätzlichen korrespondierten.

Ausgestopfte Tiere sahen den Verfassungsvätern (und wenigen Verfassungsmüttern) der drei Westzonen 1948/49 bei ihren Tagungen über die Schulter: So will es eine schöne, aber nicht ganz zutreffende Anekdote. Was hatte es mit den ausgestopften Tieren auf sich? Nach den Vorberatungen auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee (10.–23. August 1948) traten die von den Länderparlamenten in den Parlamentarischen Rat gewählten Abgeordneten am 1. September 1948 zu ihrer feierlichen Eröffnungssitzung in Bonn zusammen, um eine Verfassung für die drei Westzonen zu beraten: Sie fand im Museum Koenig, einem naturhistorischen Museum, statt: »Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden. In der Halle dieses in mächtigen Quadern hochgeführten Gebäudes standen wir unter den Länderfahnen – rings umgeben von ausgestopftem Getier aus aller Welt. Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und andern Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns eine wenig verloren vor. Die bizarre Umgebung ließ trotz der Beethoven’schen Musik, mit der die Feier eröffnet und beschlossen wurde, keine rechte Feierlichkeit aufkommen; gleichgültig jedoch war keinem von uns zumute.«2 So erinnerte sich später der sozialdemokratische Abgeordnete Carlo Schmid, der als Vorsitzender des Hauptausschusses zu den bedeutenden Persönlichkeiten des Parlamentarischen Rates zählte. Getagt hat der Parlamentarische Rat dann aber nicht mehr in dieser »skurrilen Umgebung«, sondern im nüchternen Bau der Pädagogischen Akademie in Bonn, herrlich am Rhein gelegen. Dort wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 durch den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, den Vorsitzenden der CDU Rheinland, Konrad Adenauer, unter anderem mit den Worten verkündet: »Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch unsere Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes […] leisten. [Beifall]. Wir wünschen und hoffen, dass bald der Tag kommen möge, an dem das ganze deutsche Volk unter dieser Fahne wieder vereint sein wird.« Das Protokoll vermerkt: »Beifall und Händeklatschen«.3

Vorher hatte es einen Zwischenruf des KPD-Abgeordneten Heinz Renner gegeben: »Ich unterschreibe nicht die Spaltung Deutschlands!«4 Dies mag nicht das wahre Motiv Renners für die Ablehnung des Grundgesetzes gewesen sein, fehlten den Kommunisten doch vor allem die Sozialisierung der Wirtschaft und andere für sie essentielle Ziele einer »Diktatur des Proletariats«. Vermutlich spielte aber die Gefahr der sich abzeichnenden Teilung Deutschlands, die der Gründung eines westdeutschen Teilstaats zwangsläufig innewohnte, auch für ihn eine Rolle. Er stand damit nicht allein, hatten doch schon im Juli 1948 die westdeutschen Ministerpräsidenten gegenüber den entsprechenden Weisungen der Westalliierten gezögert.

Prompt folgte als Reaktion am 7. Oktober auf die Gründung der Bundesrepublik die der DDR. Doch täuscht die Chronologie eine Ursächlichkeit vor, die in dieser Form nicht besteht. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) bereits früher den »Charakter der Staatlichkeit« besaß als die drei Westzonen: Dies ist allein schon daraus erklärbar, dass die drei Westmächte zunächst noch keine einheitliche Politik verfolgten. Im Kontrast dazu betrieb aber die Sowjetunion in ihrer Zone den Staatsaufbau im kommunistischen und zentralistischen Sinn schon bald nach Kriegsende sehr zielstrebig. Tatsächlich war schon früher als im Westen ein entsprechendes Gremium zur Verfassungsberatung gegründet worden, trat doch im März 1948 ein aus 400 Mitgliedern bestehender Volksrat zusammen: Er war bereits in einem Aufruf zum Deutschen Volkskongress am 26. November 1947, also Monate vor der Entscheidung der Westmächte zur Gründung eines Weststaats, vorgesehen. Der Volksrat trat schließlich erneut am 7. Oktober 1949 unter Leitung des SED-Funktionärs Wilhelm Pieck zusammen. Pieck zählte zu den aus der Moskauer Emigration bereits im April/Mai 1945 nach Ost-Berlin geschickten zunächst etwa 30 kommunistischen Funktionären der »Gruppe Ulbricht«. Der Volksrat konstituierte die »Deutsche Demokratische Republik« und erklärte sich zur »Provisorischen Volkskammer«. Am 19. September 1949 hatte Walter Ulbricht, der mit Pieck und dem späteren DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl nach Moskau gereist war, an den Genossen Stalin einen Brief gerichtet, in dem er die Vorstellungen der SED über die Gründung der DDR entwickelte und um Genehmigung bat. Ulbricht berief sich auf das Potsdamer Abkommen und schlug unter anderem vor: »Eine Anerkennung der Westregierung soll nicht ausgesprochen werden. Die Regierung lehnt alle für Deutschland oder einzelne Teile getroffene Maßnahmen ab, die gegen die Potsdamer Beschlüsse oder die gesamtdeutschen Interessen verstoßen.« Als Aufgabe der KPD in Westdeutschland wurde vorgesehen: »Allgemein soll der Kampf gegen die Maßnahmen der Westmächte für die Einheit Deutschlands und den Friedensvertrag verstärkt weitergeführt werden. Die Westregierung ist als Organ der Westmächte zu entlarven.«5 Das Ziel der SED-Führung bestand darin, mit Hilfe geschickter kommunistischer Agitation in Westdeutschland eine »Nationale Front« der Linken zu bilden, zu der neben der KPD auch SPD und Gewerkschaften zählen sollten. Man wollte also die Taktik der »antifaschistischen« Einheitsfront aus der SBZ in Westdeutschland modifiziert fortführen, wofür aber tatsächlich keine Chance bestand, verfolgte doch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher – tatsächlich ein Opfer des »Faschismus« – einen dezidiert antikommunistischen Kurs.

Jedenfalls verfocht die DDR-Führung verbal durchaus einen Einheitskurs, wenngleich sie nicht offen sagte, dass dieses von ihr gewünschte vereinigte Deutschland ein kommunistisches sein sollte. In seiner Regierungserklärung vom 7. Oktober 1949 berief sich Grotewohl auf das vom Volksrat verabschiedete Manifest »Die Nationale Front und das demokratische Deutschland«, in dem die Wiederherstellung zunächst der wirtschaftlichen Einheit, die Beseitigung der »Konstruktion eines westdeutschen Eigenstaats« und die »Errichtung der gesamtdeutschen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik« gefordert wurde: Dies kann auch als Anschluss der Bundesrepublik an die DDR interpretiert werden und stand in Kontinuität zu der schon länger vertretenen offiziellen Linie in der SBZ. So hatte der Deutsche Volksrat sich schon am 22. Oktober 1948 als »einzige legitime Repräsentation des deutschen Volkes« bezeichnet. Das Ziel hieß: »Verwirklichung des Rechtsanspruchs des deutschen Volkes auf die Gestaltung seines staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, die Schaffung einer freien, demokratischen deutschen Republik« sowie Abschluss eines Friedensvertrags.6

Stalin sandte an Pieck und Grotewohl am 13. Oktober 1949 ein Glückwunschtelegramm, das mit den Worten endete: »Es lebe und gedeihe das einheitliche, unabhängige, demokratische, friedliebende Deutschland.«7 Zur Ironie neigte Stalin nicht, wohl eher zum Sarkasmus. Da der Text für die Öffentlichkeit bestimmt war, wurde er in der SED-Parteizeitung Neues Deutschland tags darauf veröffentlicht. Stalins Telegramm zeigte, wie unterschiedlich die Begriffe demokratisch und friedliebend in West und Ost verwendet wurden. Was hatte dies mit der historischen Realität der Nachkriegsjahre zu tun?

Von der Besatzungsherrschaft zur doppelten Staatsgründung

Die Besetzung Deutschlands nach der vollständigen Niederlage der nationalsozialistischen Diktatur 1945 bedeutete nicht zwangsläufig die Teilung Deutschlands. Die Teilung war vielmehr Ergebnis des Kalten Krieges zwischen dem von der Sowjetunion geschaffenen Block der kommunistischen Diktaturen und den westlichen Demokratien, deren Vormacht die Vereinigten Staaten von Amerika waren. Aus ihrem Gegensatz und der zunehmenden Feindseligkeit resultierte eine unterschiedliche Besatzungspolitik. Während die drei Westmächte Deutschland demokratisieren und nach und nach zur Selbständigkeit führen wollten, steuerte die sowjetische Politik nach anfänglich zur Schau getragener Offenheit und »antifaschistischer« Gemeinsamkeit mit »fortschrittlichen bürgerlichen Kräften« immer stärker auf eine Parteidiktatur der von ihr 1946 geschaffenen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu. Dieser Politik fielen die zunächst wieder geschaffenen fünf Länder bald faktisch, 1952 auch rechtlich zum Opfer. Die anfangs noch halbwegs freien Parteien wurden zu Blockparteien innerhalb einer zwar nicht nominellen, aber tatsächlichen kommunistischen Parteidiktatur. Können die zunächst erlassenen mitteldeutschen Landesverfassungen noch als »bürgerliche« Verfassungen in der Tradition der Frankfurter Paulskirche von 1848/49 gelten, so trifft dies für die DDR-Verfassungen ab 1949 nicht mehr zu.

In den drei westlichen Besatzungszonen folgten den zunächst eingesetzten Landtagen bis 1946/47 bald frei gewählte Parlamente, also eine Wiederbelebung des traditionsreichen föderativ organisierten Parlamentarismus in Deutschland, der nur während der nationalsozialistischen Diktatur 1933 bis 1945 unterdrückt worden war. Die Reorganisation staatlichen Lebens entwickelte sich bei abschwächender westalliierter Aufsicht auf Länder- und Kommunalebene, die deutschen Gemeinsamkeiten verminderten sich in dem Maße, wie in der Sowjetischen Besatzungszone zentralstaatliche Maßnahmen unter Führung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) ergriffen wurden, die die von Moskau abhängige Diktatur der SED begründeten. Zugleich entstanden in den drei westlichen Besatzungszonen trotz anfangs durchaus unterschiedlicher Politik immer mehr gemeinsame Instanzen, während die alliierten Behörden mit gesamtdeutschen Aufgaben, beispielsweise der Alliierte Kontrollrat in Berlin, faktisch bedeutungslos wurden. Die gemeinsamen deutschlandpolitischen Außenministerkonferenzen der vier Großmächte USA, Großbritannien, Frankreich auf der einen sowie der Sowjetunion auf der anderen Seite scheiterten regelmäßig, so auch die fünfte, die im Dezember 1947 in London stattfand.

Für die endgültige Wende in der Deutschlandpolitik erwies sich das Jahr 1947 als Schlüsseljahr: Die Ministerpräsidenten-Konferenz aller vier Besatzungszonen, die vom 5. bis 8. Juni 1947 in München tagte, scheiterte am nun schon unverkennbaren Ost-West-Gegensatz und dem extrem geringen Handlungsspielraum der Ministerpräsidenten der Sowjetischen Besatzungszone: Diese Konferenz bildete das Symbol der Vergeblichkeit gesamtdeutscher Bemühungen. Währenddessen setzte sich in der SBZ der Weg zur Zentralstaatlichkeit mit der am 14. Juni errichteten Deutschen Wirtschaftskommission fort, die unter Aufsicht der SMAD und der SED zur obersten Verwaltungsbehörde wurde. Im Westen entwickelte sich nach der Verkündung des amerikanischen Plans zum wirtschaftlichen Wiederaufbau – den der neue amerikanische Außenminister Marshall am 5. Juni 1947 nicht allein für Deutschland, sondern auch für andere europäische Staaten aufgestellt hatte – der seit 1946 bestehende einheitliche Wirtschaftsraum der amerikanischen und britischen Zone (Bi-Zone) 1948 unter Einbeziehung der französischen Zone zur Tri-Zone.

Alle Versuche zum Zusammenschluss der vier Besatzungszonen, den die USA schon seit der zweiten Außenministerkonferenz forderten, die vom 25. April bis 12. Juli 1946 in Paris stattgefunden hatte, scheiterten. Nachdem die Sowjetunion ihren Machtbereich durch den kommunistischen Staatsstreich in Prag im Februar 1948 weiter nach Westen ausgedehnt hatte, antworteten die westlichen Staaten (neben den drei Alliierten auch die Benelux-Staaten) im Februar und März 1948 mit der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz, die unter anderem zur Gründung einer Westunion der beteiligten fünf europäischen Staaten und bis zum Frühsommer zu weitreichenden deutschlandpolitischen Beschlüssen führte. Hierzu zählte zunächst die Wirtschaftseinheit der drei Westzonen mit der Währungsreform vom 21. Juni 1948. Die Sowjetunion reagierte mit dem Auszug aus dem Alliierten Kontrollrat und der Blockade Berlins, während die drei westlichen Militärgouverneure den westdeutschen Ministerpräsidenten am 1. Juli 1948 offiziell die »Frankfurter Dokumente« überreichten, in denen die Vorbereitung einer gemeinsamen Verfassung der Westzonen gefordert wurde.

Die Ministerpräsidenten der westlichen Länder reagierten überwiegend zurückhaltend bis abwehrend, weil sie fürchteten, die Sowjetunion würde auf die Gründung eines Weststaats umgehend mit einem Oststaat antworten, zumal sie – anders als der Westen – schon zentrale Verwaltungsinstanzen organisiert hatte. In ihrer Antwort an die drei Militärgouverneure betonten die westdeutschen Ministerpräsidenten am 10. Juli, angesichts der bisherigen Unmöglichkeit der vier Besatzungsmächte, sich zu einigen, müsse bei der beabsichtigten Neuregelung alles vermieden werden, was die Spaltung zwischen West und Ost weiter vertiefe. Allerdings gab es auch Regierungschefs wie den Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, die aufgrund ihrer direkten Konfrontation mit der sowjetischen Besatzungsmacht weniger zögerlich waren und die offensiven Absichten der Russen richtig einschätzten. Auf der Konferenz der Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen vom 21. bis 22. Juli auf Jagdschloss Niederwald erklärte er: »Wir sind der Meinung, dass die politische und ökonomische Konsolidierung des Westens eine elementare Voraussetzung für die Gesundung auch unserer [d. h. der Berliner] Verhältnisse und für die Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland ist.«8 Reuters Einschätzung stimmte mit derjenigen Konrad Adenauers und des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher überein, die der sogenannten Magnettheorie anhingen: Der Westen müsse so stark werden, dass er auf den Osten eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübe.

Tatsächlich bedeutete der Weg zum zentralen und diktatorischen Verwaltungsstaat im Osten sowie zur demokratisch-parlamentarischen Verfassungsordnung auf föderativer Grundlage im Westen keineswegs den ersten, wohl aber den letzten Schritt zur 40-jährigen Teilung Deutschlands. Wie gingen die Verfassungen mit dieser fundamentalen Voraussetzung der deutschen Nachkriegsgeschichte um? Was bedeutete die Teilung für die nationalstaatlichen Konzeptionen, die seit dem 19. Jahrhundert und in Deutschland seit der Bismarck’schen Reichseinigung von 1871 von der Prämisse ausgingen, der Nationalstaat – in dem ein Volk in einem Staat auf einem geschlossenen Territorium lebe – sei die Norm des modernen Staates?

Nationale und staatliche Einheit im Grundgesetz der Bundesrepublik

Aufgrund des am 23. Mai 1949 verkündeten und in Kraft tretenden Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wurde am 14. August der erste Deutsche Bundestag gewählt; am 15. September setzte sich der CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer bei der Abstimmung über den künftigen Bundeskanzler durch, nachdem die Bundesversammlung wenige Tage zuvor, am 12. September, den FDP-Vorsitzenden Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt hatte. Am 7. Oktober erklärte die Sowjetunion die Sowjetische Besatzungszone zur »Deutschen Demokratischen Republik«. Beide Verfassungsordnungen bezogen sich explizit auf die Teilung. Während sich aber in der DDR das Verständnis der deutschen Nation in den nächsten 40 Jahren mehrfach änderte, blieb in der Bundesrepublik trotz wechselnder Akzente, die auch das staatsrechtliche Verhältnis zum Deutschen Reich betrafen, die einschlägige Verfassungsnorm unverändert. Für 40 Jahre galt die Präambel des Grundgesetzes:

»Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig–Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.«

Die verfassungsrechtliche Frage, welche Bedeutung der Präambel zukommt, hat das Bundesverfassungsgericht in doppelter Hinsicht beantwortet: Die Präambel sei ein politisches Dokument, doch komme ihr auch rechtliche Bedeutung zu, indem sie »Rechtspflichten aller Staatsorgane« begründe, vor allem »die Pflicht, die Einheit des derzeit in die Bundesrepublik Deutschland und in die Deutsche Demokratische Republik geteilten Deutschlands anzustreben und daher alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung der getrennten Teile rechtlich hindert oder faktisch unmöglich macht […]. Die Pflicht zur Wiedervereinigung ist nicht ein bloßes Programm, sondern ein unmittelbar wirkendes aktuelles verfassungsrechtliches Gebot.«9 Unter diesem Gesichtspunkt ist die im Jahr 1989/90 aktuelle Frage zu beantworten, wie Politiker zu beurteilen sind, die sich in Ausübung von Mandat oder Amt gegen die Wiedervereinigung aussprachen: Sie verstießen zweifellos gegen ein zwingendes Verfassungsgebot, waren also des Verfassungsbruchs verdächtig. Der vom Grundgesetz eingeräumte und vom Bundesverfassungsgericht bekräftigte Ermessensspielraum bezog sich nicht auf das Ob, sondern lediglich auf das Wie der Wiedervereinigung.

Zwei Staaten, eine Nation: Die Entwicklung des westdeutschen nationalen Selbstverständnisses

Berlin fehlte in der Aufzählung der Länder, da es unter Viermächteverantwortung stand und staatsrechtlich West-Berlin nicht Teil der Bundesrepublik war. Über die Frage der Bindungen oder Verbindungen mit dem Bund bestand über Jahrzehnte Streit zwischen West und Ost, was beginnend mit der Blockade 1948/49 zu mehreren Berlin-Krisen führte, da die sowjetische Besatzungsmacht zwar ihren Sektor rechtswidrig der DDR einverleibte, die Bindung West-Berlins an die Bundesrepublik aber nicht akzeptieren wollte.

Die deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße standen gemäß den alliierten Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 völkerrechtlich lediglich unter polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung, wenngleich sie faktisch beiden Staaten eingegliedert wurden. Die DDR erkannte am 6. Juli 1950 unter sowjetischem Druck die Oder-Neiße-Grenze im Görlitzer Vertrag mit Polen nach anfänglicher Ablehnung auch seitens der SED-Führung als »unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze« an. Noch am 16. Oktober 1946 hatte Wilhelm Pieck geäußert, die Oder-Neiße-Linie bedürfe »einer ernsten Korrektur«.10 Die Bundesrepublik hingegen betrachtete die Oder-Neiße-Grenze unter Berufung auf die Potsdamer Erklärung von 1945 als vorläufig. Urteilt man nach den Prinzipien des Nationalstaats, dann hieß das: Auf dem Territorium des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 existierten seit 1949 vier verschiedene staatsrechtlich definierte und als vorläufig anzusehende Organisationsformen.

Das Verständnis der Nation betraf also keineswegs nur, wie es scheinen könnte, die Bundesrepublik und die DDR. Diese Vorläufigkeit bringt die Präambel des Grundgesetzes in prinzipieller und allgemeiner Form – das heißt ohne territoriale Präzisierung – zum Ausdruck. Die Westmächte und die Bundesrepublik bestritten nach dem Görlitzer Vertrag das Recht der DDR, im Namen Deutschlands derartige Verträge zu schließen, und beharrten darauf, dass eine endgültige Regelung nur in einem Friedensvertrag erfolgen könne. Auch der durch die Regierung Willy Brandt/Walter Scheel 1970 geschlossene Warschauer Vertrag, der die Oder-Neiße-Grenze anerkannte, konnte diese Anerkennung nur für die (alte) Bundesrepublik erklären – die mit Polen gar keine gemeinsame Grenze besaß: Für ein wiedervereinigtes Deutschland war sie also keineswegs völkerrechtlich verbindlich. Faktisch aber reduzierte sich die Diskussion über Nation und Wiedervereinigung immer stärker auf die Bundesrepublik und die DDR, wobei für den Westen klar war, dass mit einer Lösung der deutschen Frage sich auch das Berlin-Problem erledigen würde.