Eugen Drewermann

Mehr als Gerechtigkeit

Oder: Wie Jesu Botschaft alle Ethik überwindet

Vortrag zum Katholikentag 2016 in Leipzig.

Nachschrift der frei gehaltenen Rede mit Korrekturen und Ergänzungen des Autors

Über dieses Buch

Was hat die Bibel heute zu Recht und Gerechtigkeit zu sagen? Eugen Drewermann befasst sich in diesem Buch unter anderem mit dem Elend der Flüchtlinge, dem Umgang mit Fremden, straffällig Gewordenen und den Bedürftigsten, aber auch mit Islamismus und Antiterrorkrieg.

Gesetzliche Gerechtigkeit ist von einer äußeren Autorität auferlegt: ein »wohlgeregelter Egoismus«, geeignet, um eigene Ansprüche geltend zu machen. Jesu Gerechtigkeit dagegen setzt von innen her an. Sie schaut auf die Not der Menschen und fragt: Was kann ich tun, um meinem Nächsten in seiner Bedürftigkeit gerecht zu werden? Denn da, wo er steht, könnte auch ich stehen. Nur wenn ich dem anderen in seiner Not beistehe, kann ich mit Gott und mir selbst im Einklang sein.

Über den Autor

Eugen Drewermann studierte Philosophie in Münster und Katholische Theologie in Paderborn; er habilitierte sich in Theologie und lehrte als Privatdozent; außerdem absolvierte er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und ist als Therapeut tätig.

Wegen seiner kirchen- und religionskritischen Ansichten geriet er in Konflikt mit der katholischen Kirche, die ihm Anfang der 1990er-Jahre die Lehrerlaubnis entzog und ihn als Priester suspendierte. Eugen Drewermann publizierte zahlreiche Bücher und ist ein viel gefragter Redner und Kommentator.

Teil I: Vortrag

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

darf ich sagen auf dem Katholikentag in Leipzig, meine lieben Schwestern und Brüder?

Im Zeichen von Fronleichnam: Die Einladung zum Mahl ergeht an die Bedürftigsten

Zum Thema Recht und Gerechtigkeit in der Bibel gibt es wahrscheinlich keinen besseren symbolisch vorbereitenden Rahmen, als es der heutige Fronleichnamstag zu sein verspricht. Erinnern wir uns seines Ursprungs: Gegen den Widerstand der Gerechtigkeitsverkünder im Rabbinismus der Tage seiner Zeit fand Jesus es richtig und rechtens, diejenigen an einen Tisch zu laden, die man nach den Normen des Gesetzes für Ausgeschlossene zu halten die Pflicht hatte – Sünder, Bettler, Huren, Asoziale, Gescheiterte, das ganze Pack da draußen (Matthäus 9, 9-13). Schon weil niemand von denen jemals hätte glauben können, dessen würdig zu sein, lud Jesus sie ein, in dem Vertrauen, dass gerade diese Chancenlosen am ehesten begreifen würden, wer Gott ist: nicht die absolute strafende Gerechtigkeit im Himmel, sondern die offene Hand, die niemanden davongleiten lässt, sondern sich auf die Suche begibt für die Verlorenen, im Wissen, dass niemand freiwillig abirrt, wohl aber, dass er der Nachsicht und des Nachgehens bedürftig ist. In dem bekannten Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lukas 15, 1-7) wird Jesus zu seiner Rechtfertigung gegen die Anfeindungen der Pharisäer auf Leben und Tod erläutern, warum er es immer wieder mit den Verkehrten hält. Seine einfache Antwort: Der Hirt muss auf die Suche gehen nach dem Schaf, das sich verirrt hat. Täte er es nicht, so wäre es als ein Verlorenes ganz sicher selbst verloren. Gott gibt keinen unter uns Menschen einfach dahin, und wenn er es nicht tut, welch ein Recht denn hätten dann wir Menschen, miteinander unmenschlich zu verfahren? Der gesamte Cordon der Rechtschaffenheit im Namen des Gesetzes wird in der Haltung Jesu aufgebrochen zu einer Einladung an alle.

Kein kirchlicher Gottesdienst bis heute löst diese Fundamentalbedingung des Zusammenkommens von Menschen im Namen Jesu ein, ganz im Gegenteil, es wird nach dogmatischen und moralischen Vorgaben permanent getrennt: Darf eine geschiedene Frau nach zwanzig Jahren Leids in ihrer Ehe in einer neuen Beziehung es wagen, zum Tisch des Herrn zu kommen? Das darf sie nicht nach geltendem Recht, oder wir müssen zumindest noch erst einmal länger darüber diskutieren. Diese Frau aber kann vielleicht gar nicht warten. Was hingegen im Sinne Jesu richtig wäre, könnte jeder wissen. Nur, darf man’s? Sollte man’s? Von Protestanten wollen wir erst gar nicht reden – sie sind seit 500 Jahren nach katholischer Vorstellung nicht fähig, überhaupt eine Gemeinsamkeit am Tisch des Herrn einzurichten, weil sie keinen Pfarrer haben, der gesetzt ist von einem katholischen Bischof, der sich herleitet von einem römischen Papst: Auch sie also sind Auszugrenzende. Der Jude Jesus selber, muss man denken, könnte seiner eigenen Einladung zum Mahl nicht folgen: Er ist ja nur ein Jude. All diese Ausgrenzerei verrät, was Fronleichnam im Widerspruch dazu eigentlich sein sollte, wenn es Jesu Namen trüge: Leib des Herrn. Es wäre eine Einladung an alle in Überwindung aller Grenzen.

Und genauso das Zeichen des Brotbrechens. Es ist ein Teilen für alle und mithin die beste Auslegung und Einführung in das, was im 6. und 8. Kapitel des Markusevangeliums erzählt wird, an gleich zwei Stellen, weil es so wichtig ist: Da sind Menschen, die hungern, und die Jünger erklären auf die Frage Jesu, was zu tun sei: Schick sie weg; wir haben nicht genug. Es ist dies wohl die einzige Antwort, die zu vernehmen ist im Staat und – wie man fürchten muss – auch in der Kirche. »Wir haben nicht genug. Schick sie weg.« Das ist noch vornehm ausgedrückt. Das Unwort im Bundestag lautet Abschiebung, und das hat sich eingebürgert, ist fest implementiert in die deutsche Sprache im Wörterbuch der Inhumanität. Denn Abschieben heißt, mit dem Besen das Laub hinausfegen auf die Straße und dahinter die Tür zu verschließen, egal, was draußen dann verrottet.

Gemeinsam teilen, anderen geben, was man hat, das langte zum Überfluss für alle, meint die Legende. Sie ist nicht in dem Sinne wahr, dass sie sich vor 2000 Jahren historisch aufgeführt hätte. Sie ist wahr mit dem Anspruch, wahrgemacht zu werden durch unser eigenes Handeln. Da wäre das Brot des Herrn, und es teilte sich mit bis zum Überfluss.

Flüchtlingselend, Krieg und Kapital

Das Problem von Hunger und Not besteht nicht darin, dass wir nicht genügend besäßen; es besteht darin, dass es keine Verteilungsgerechtigkeit gibt. Deswegen spaltet sich der Norden vom Süden, deshalb soll mit militärischen Mitteln die Disparität aufrechterhalten und erzwungen werden, deswegen sind die südlichen Staaten offensichtlich nur dafür noch brauchbar, dass sie uns die Rohstoffe liefern, uns billige Arbeitssklaven zur Verfügung stellen, und neuerdings als Müllkippen der Industriestaaten in Funktion treten. Alles andere mag sich ereignen, wie es will, es ist uns egal. Es wäre aber, wenn zwei oder drei Menschen bei­einander wären, im Sinne Jesu der Herr mitten unter ihnen (Mt 18,20). Das richtet sich nicht nach einem fest formulierten Credo, sondern nach der Art der Begegnung, und wäre dies Fronleichnam, wäre spürbar der Impuls zu setzen an all den Themen, die einführend gerade erwähnt wurden.

Die drei Brennpunkte, an denen Kirche, wenn sie denn sich selber ernst nähme, wirklich in der Verantwortung stünde, sind als Erstes die Frage der Flüchtlinge. Seit dem Schengener Abkommen geht das jetzt hin. Man sperrt die Außengrenzen Europas und hält Freizügigkeit im Inneren. Noch Herr Schily hat verhandelt mit Gaddafi, ob man in Nordafrika Auffanglager für Migranten aus Eritrea, Somalia, Südsudan, Nigeria – aus all den Hunger- und Krisengebieten einrichten könnte. Dann fand man nötig, Gaddafi zu ermorden, weil er beabsichtigte, eine gemeinafrikanische Währung, losgelöst vom Dollar, einzurichten – sein Todesurteil. Jetzt müssen wir sehen, wie wir eine Ersatzregierung, ein neues Marionetten-Regime, etablieren, die uns die Aufgabe der Flüchtlingsabwehr abnimmt. Gerade sind wir bestrebt, die gesamte Mittelmeerfront auch nach Osten hin über Ägypten bis nach Kairo auszudehnen, damit die neuen Flüchtlingsrouten abgeschnürt werden, indem wir sie militärisch sichern. Muss uns das wundern? Bis Mai letzten Jahres war es das Programm der christlich-sozialen Merkel-Regierung, rein defensiv niemanden nach Europa zu lassen.

Selbst das italienische Programm »Mare Nostrum« vor zwei Jahren wurde eingestellt aus Geldmangel – warum auch sonst! Die Italiener konnten bitten, wie sie wollten. Und jetzt ist das ärmste europäische Land, das am meisten mit Hypotheken und Schulden belastete Griechenland, das Auffanglager für den gesamten östlichen Mittelmeerraum, unter der Drohung, dass, wenn sie nicht ihre Pflicht tun, sie aus der Eurozone gedrängt werden könnten.

Das christliche Europa zeigt gerade, wie man mit ihm dran ist. Aufnahme von Fremden! Wenn irgendetwas christlich ist, steht es in Matthäus 25, 35: Ich war fremd, sagt dort der Menschensohn, wenn er wiederkommt zum Gericht, und es ist die Entscheidungsfrage, ob wir Gott begegnet sind oder ihn abgeschoben haben, um unsere Ruhe zu bekommen.

Die katholische Kirche hätte in Europa eine enorme Macht: Sie müsste mal die Polen daran erinnern, dass Katholizismus wohl nicht bedeuten kann: »Wir nehmen keine Muslime auf, weil wir katholisch sind.« Und desgleichen das katholische Irland und das katholische Spanien und das katholische Portugal – diese Länder sind so abgeriegelt an der Westgrenze Europas, dass Flüchtlingsaufnahme gar nicht mehr zur Diskussion steht. Die Iberische Halbinsel ist mit elektronisch überwachten Zäunen gegenüber Marokko mausedicht abgeriegelt, und dieses Konzept soll sich jetzt erweitern an der ganzen Südflanke Europas, und zudem noch Nato-gestützt, Frontex-geschützt, militärisch abgesichert. Verkauft wird uns das als Schutz der Migranten vor kriminellen Schleusern. Wir bekämpfen inzwischen nur die Schleuser. Die Leute auf dem hohen Meer müssen wir wohl retten, doch dann wird das Ganze wieder mit dem Rückschieben hochproblematisch, denn wohin sollen sie? In jedem Falle soll es uns egal sein, was aus ihnen wird. 3000 bis 6000 Menschen ertrinken seit Langem jedes Jahr und machen das Mittelmeer zum Massengrab. – Oder nehmen Sie Idomeni an der mazedo­nischen Grenze als Mahnzeichen. Wie viel Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation! Dabei konnte in Thüringen Bodo Ramelow noch vor Kurzem sagen: »Wir hätten hier 2000 Leute aufzunehmen, die können wir brauchen. Wir haben die Anstalten offen. 2000 von den 15 000 in Idomeni.« Doch da war Frau Merkel schon auf anderem Kurs und »schaffte es«, ihren Deal mit der Türkei zu schließen.

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