Cover

Über dieses Buch

Paris! Finn und Joanna sind begeistert von Frankreichs Metropole. Dank ihrer französischen Freundin Lilou sind sie sogar bei einer Modenschau dabei. Doch irgendwas stimmt hier nicht: Lilou macht heimlich Fotos von den Models und steckt den Chip Finn und Joanna zu. Gleich darauf werden die beiden von zwei Männern verfolgt. Die Geschwister finden heraus, dass Lilou einer Bande auf der Spur ist, die mit artgeschützten Tieren handelt. Dabei geraten auch Finn und Joanna ins Visier der Pelz-Mafia!

Mit kleinem Französisch-Wortschatz!

Der Autor

Andreas Schlüter wurde 1958 in Hamburg geboren. Bevor er mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er mehrere Jahre Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. Mit dem ersten Band der Erfolgsserie »Level 4« gelang ihm 1994 der Durchbruch als Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er auch Drehbücher, u. a. für den Tatort und krimi.de. Andreas Schlüter arbeitet in Hamburg und auf Mallorca. Mehr auf www.schlueter-buecher.de

Der Illustrator

Markus Spang, 1972 in Karlsruhe geboren, beschäftigte sich eine Zeit lang mit Philosophie und Kunstgeschichte und studierte dann Illustration in Krefeld und Münster. Heute lebt er wieder in Karlsruhe, malt Bilder, zeichnet Schriften und ersinnt eigene Geschichten.

Andreas Schlüter

City Crime

Pelzjagd in Paris

Mit Bildern von Markus Spang

Tulipan

Inhalt

Stadtplan

Paris!

Catwalk

Geheimnisvolle Fotos

Wer ist Jean?

Spurensuche

Zufällige Begegnung

Die Straße der Mode

Ein merkwürdiger Zoohändler

Dramatische Nachtaktion

Verrat!

Geheime Informationen

Observierung

Die heiße Spur

Eine aufregende Nacht

Entlarvung

Showdown!

Gefangen wie die Tiere

Kleiner Französisch-Wortschatz

Impressum

Was für ein Hotel! Finn war begeistert. Schwimmbad und Fitnessraum – so etwas hatten sie noch nie gehabt, wenn sie auf Reisen waren. Während sein Vater und seine ältere Schwester Joanna oben im sechsten Stock ihre Koffer auspackten, war Finn mit dem Fahrstuhl in den Keller gefahren, den Wegweisern gefolgt und nun stand er am Rand des großen Pools. Beim Anblick des Beckens nickte er zufrieden. Er raste wieder hinauf ins Zimmer, um seine Badehose zu holen. Wie wild klopfte er an die Tür.

Endlich öffnete sein Vater.

Finn düste an ihm vorbei und rief: »Leute, das müsst ihr gesehen haben! Die haben da unten ein echtes Schwimmbad. Das muss ich gleich ausprobieren. Joanna, kommst du mit? Papa, wo ist meine Badehose?«

Die letzte Frage war eigentlich überflüssig. Finn hatte die Badehose in seinem Koffer extra ganz nach oben gelegt, weil er das Schwimmbad schon zu Hause auf der Website des Hotels gesehen hatte. Er rannte zu seinem Koffer, öffnete ihn, griff nach seiner Badehose und steuerte auf das Badezimmer zu, um sich ein Handtuch zu schnappen. Da merkte er erst, dass sein Vater und seine Schwester ihn ansahen, als hätte er irgendwo eine Fensterscheibe zertrümmert.

Joanna machte mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor ihrem Gesicht. »Haben sie dich gebissen?«

Sein Vater formulierte es etwas netter. »Schwimmen?«, fragte er. »Jetzt? Du weißt doch, dass wir gleich losfahren.«

Finn stutzte. Losfahren? Wohin? Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sie waren nicht zum Vergnügen nach Paris gekommen. Also er und seine Schwester schon, aber sein Vater nicht. Der war als Kunstmaler zu einer internationalen Künstlerfachtagung in Paris eingeladen. Und da ihre Mutter, von Beruf Handelsvertreterin, auf Reisen war, passte es der Familie ganz gut, dass gerade Pfingstferien waren und der Vater die Kinder mitnehmen konnte.

Papa musste also tagsüber zum Kongress. In der Zeit konnten die Kinder Paris erkunden. Natürlich nicht allein. Dafür war die Stadt mit ihren mehr als 2,2 Millionen Einwohnern zu groß und die Kinder zu jung. Paris war die dichtbesiedeltste Stadt Europas. In der Metropolregion lebten mehr als zwölf Millionen Menschen. Aber ein befreundeter Künstlerkollege von Papa, der in Paris wohnte, hatte eine ältere Tochter, die sich bereit erklärt hatte, mit Finn und Joanna etwas zu unternehmen. Sie hieß Lilou und war sechzehn Jahre alt.

Finn war froh, dass Lilou kein Junge war. In sie würde sich Joanna nicht verlieben. Das tat sie auf Reisen nämlich regelmäßig und das ging Finn mächtig auf den Zeiger.

»Ins Schwimmbad kannst du auch zu Hause gehen«, sagte Joanna jetzt. »Mann, wir wollen Paris kennenlernen! Die Stadt der Liebe und der Mode!«

Finn verzog das Gesicht. Liebe und Mode interessierten ihn nicht. In den Louvre wollte er gehen. Nicht unbedingt wegen der »Mona Lisa« und anderer weltberühmter Gemälde, die dort ausgestellt waren. Er wollte den Sully-Flügel besuchen. Da gab es einen richtigen Burggraben aus dem Mittelalter, durch den man sogar gehen konnte. Außerdem konnte man Schätze und Statuen aus dem Altertum bestaunen, Grabbeigaben aus Ägypten, Palast- und Tempelschmuck aus dem Nahen Osten oder römische und etruskische Sarkophage und Waffen.

Hier fand man die weltberühmte Marmorstatue »Venus von Milo«, die einst zufällig auf einem griechischen Acker gefunden worden war. Genau das Richtige für Finn, der die Archäologie schon immer spannender gefunden hatte als die Malerei. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater und seiner Schwester. Die konnten dann ja gern an der »Mona Lisa« Schlange stehen hinter den Tausenden fotografierenden Japanern.

Doch bevor sie mit dem Besichtigungsprogramm anfingen, ging es mit der Metro zu Lilou. Die Fahrt mit der Pariser U-Bahn dauerte nur vier Minuten, von der Place d’Italie, in deren Nähe ihr Hotel war, bis zur Place Monge.

Von dort liefen sie zu Fuß weiter Richtung Boulevard Saint-Michel. Hier befand sich das traditionelle Studentenviertel von Paris. Papas Kollege wohnte mit Frau und Tochter Lilou in der Rue Cujas, zwischen der Universität Sorbonne und dem riesigen Park Jardin du Luxembourg mit seinem Schloss Palais du Luxembourg.

In diesem Viertel waren die Straßen und Gässchen teilweise so eng, dass kein Auto durchkam.

»Klasse Wohngegend!«, fand Joanna. Sie hasste lauten Autoverkehr, dem Paris ansonsten im Übermaß ausgesetzt war.

Auch Lilou machte auf die beiden Geschwister einen guten Eindruck. Oder besser gesagt: einen sympathischen. Denn sie lächelte Joanna und Finn freundlich an.

Ihr Aussehen fand Finn eher befremdlich. Sie trug halblange, schwarze, ziemlich verwuschelte Haare, in die sie kleine bunte Perlen und Bänder geflochten hatte. Dazu trug sie ein schwarzes, an vielen Stellen eingerissenes T-Shirt, darüber ein ebenfalls schwarzes Netzhemd, das weit von ihrer linken Schulter herunterhing.

Unter dem kurzen weiten Rock – auch in Schwarz – schauten völlig durchlöcherte dunkelrote Leggings hervor, die in schwarzen Stiefeln endeten. Am linken Handgelenk klapperten unzählige metallene Armbänder, auf der rechten Hand saß auf jedem Finger ein Ring. Beide Oberarme waren bunt tätowiert.

Finn ahnte, weshalb Papas Kollege nie ein Foto seiner Tochter geschickt hatte. Finn war sicher, dass seine Mutter es niemals erlaubt hätte, mit dieser »Göre«, wie sie vielleicht gesagt hätte, allein durch Paris zu ziehen.

Auch Papa musste dreimal schlucken, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Joanna und Finn fiel es natürlich dennoch auf und sie zwinkerten sich gegenseitig zu.

»Das Gute ist«, bemühte sich Papa sofort, das Positive hervorzuheben, »dass Lilou recht gut Deutsch spricht. Sie ist ähnlich sprachbegabt wie du, Joanna. Sie war mit ihrem Vater schon mal drei Monate in München, so wie wir beide in Florenz.«

Finn musste grinsen, weil er sich Lilous Deutsch mit deutlich bayrischem Akzent vorstellte.

»Bonjour«, begrüßte Lilou sie jetzt. »Guten Tag. Isch freue misch, dass wir … öh … ein paar frölische Tage zusammen in Paris verbringen dürfen.«

Finns Grinsen wurde breiter. Lilou hatte zwar keinen bayrischen Akzent, dafür aber genau so einen französischen, wie er ihn aus deutschen Werbefilmen kannte.

Joanna reichte ihr die Hand und grüßte sie freundlich auf Französisch, so wie sie es im Sprachführer gelesen hatte. Nur Finn schaute wieder in die Röhre. Auch er hatte sich durch Joannas Sprachkurs-Software gequält, aber kein einziges Wort behalten. Außer »non«, »oui« und »merci«. So reichte er Lilou nur stumm die Hand.

Lilou führte die beiden in ihr Zimmer und bat, dort auf sie zu warten.

Finn sah sich um und fühlte sich eher wie in einem Zirkuswagen als im Zimmer einer Jugendlichen. Jeder Quadratzentimeter Wand war geschmückt mit Wandteppichen, Tüchern, Federn, Halsketten und sonstigem Schmuck, Fotos, Gemälden, Postern, Borden und Spiegeln. Selbst einige Kleidungsstücke hatte Lilou dekorativ zwischen zwei Gitarren an der Wand befestigt. Dazu ein paar Bongotrommeln, einige Flöten und eine Violine. Nicht das kleinste Fleckchen Wand schimmerte durch. Mit offenem Mund stand Finn da und schaute sich beeindruckt um, als Joanna ihn antippte. Sie hatte einige andere Dinge entdeckt: Mehrere Taschenlampen und Trillerpfeifen waren ja vielleicht noch normal, aber eine Motorradsturmhaube? Dazu Werkzeuge, die Joanna zuerst gar nicht identifizieren konnte. Doch Finn war sich sicher, dass es sich um Dietriche in verschiedenen Größen handelte.

»Dietriche?«, fragte Joanna. »Du meinst, zum Öffnen von Türen?«

Finn nickte. »Zum Öffnen von Türen, zu denen man keinen Schlüssel hat.«

Höchst seltsam, fand Joanna. War Lilou eine Einbrecherin? Am liebsten hätte sie sich in Lilous Schubladen umgesehen. Es fiel ihr schwer, der Versuchung zu widerstehen. Vorsorglich aber steckte sie schon mal den Kopf aus der Tür, um nachzusehen, wo Lilou steckte.

Einen Augenblick später zog sie den Kopf zurück und schloss die Tür leise hinter sich. »Das ist ja wohl das Letzte!«, empörte sie sich.

Finn sah sie fragend an.

»Lilou lässt sich von ihrem Vater dafür bezahlen, dass sie uns die Stadt zeigt!«, schimpfte Joanna.

Finn glaubte das nicht. »Vielleicht hat sie nur Geld bekommen, damit sie unterwegs etwas kaufen oder uns einladen kann.«

Doch Joanna schüttelte den Kopf. »Genau das hat ihr Vater ja auch gesagt, also dass sie für die Verpflegung schon Geld bekommen hat. Aber Lilou hat geantwortet: ›Für die Betreuung noch mal 50 Euro extra. Wie abgemacht.‹«

Finn kräuselte die Stirn.

»Für die Betreuung!«, wiederholte Joanna. »Hallo? Bin ich vielleicht ein Kleinkind oder ein Hund, für die man einen Sitter bucht? Ich glaube, es hackt! Die Alte kann was erleben!«

»Nicht!«, beschwor Finn seine Schwester. »Was sollen wir denn sonst machen? Wenn du Streit anfängst, geht sie nicht mit uns. Und dann müssen wir im Hotel bleiben. Wir dürfen nicht allein durch die Stadt gehen. Das hat Papa Mama versprechen müssen!«

Joanna verzog das Gesicht. »Stimmt. Du hast recht.«

Aber Finn wusste, dass seine Schwester das nicht auf sich sitzen lassen würde. Nicht nur, dass die beiden Mädchen keine Freundinnen werden würden. Sondern noch schlimmer: Irgendwann würde sie es Lilou heimzahlen. Das war sicherer als ein Amen in der Kirche.

In dem Moment ging auch schon die Tür auf und Lilou steckte mit einem freudestrahlenden Lächeln den Kopf ins Zimmer. »Wir können gleisch los. Nur noch eine winzige Minüt.«

Und schon war ihr Kopf wieder verschwunden.

»Nur noch eine winzige Minüt!«, äffte Joanna sie nach. »Ich weiß jetzt, warum die so strahlt. Die macht fett Kohle mit uns!«

Finn interessierte mehr, was Lilou da draußen noch zu tun hatte. »Ich würde gern mal los«, drängelte er. »Sonst hätte ich auch schwimmen gehen können.«

»Da hast du ausnahmsweise mal recht«, stimmte seine Schwester ihm zu, als erneut die Tür aufging. Diesmal erschien Lilou mit Begleitung. Hinter ihr betrat ein Mädchen in ihrem Alter das Zimmer, das ebenfalls komplett schwarz gekleidet war.

»Une minute«, sagte Lilou erneut.

Joanna nickte ihr zu. »Schon klar!«

»Das ist meine Freundin Antoinette«, stellte Lilou die Schwarzgekleidete vor. Dann begannen die beiden Mädchen miteinander so schnell Französisch zu brabbeln, dass auch Joanna nichts mehr verstand.

Fast nichts. Einige Wortkrümel hatte sie dennoch aufgefangen. Als Lilou Antoinette nach einigen Minuten zum Ausgang begleitete, sagte sie zu Finn: »Seltsam. Ich habe Worte verstanden wie Polizei, Treffpunkt, Einbruch und Fluchtweg. Normalerweise würde ich denken, ich hätte mich verhört. Aber«, sie deutete auf die Maske, den Dietrich und die Taschenlampen, »es passt irgendwie hierzu, findest du nicht?«

Als Lilou ins Zimmer zurückkehrte, setzte sie sofort wieder ihr strahlendes Lächeln auf. »’abt ihr schon überlegt, was ihr möschtet unternehmen ’ier in Paris?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Finn prompt. »Das alte Ägypten im Louvre. Und eine Bootsfahrt!«

In Prag hatten sie auch eine gemacht. Allerdings hatten sie an der ersten Station aussteigen müssen und waren in einen Kriminalfall gestürzt. Das sollte dieses Mal nicht passieren. Und das würde es auch nicht. Da war Finn zuversichtlich. Er würde dieses Mal nämlich einfach nicht früher aussteigen.

»Oui, oui!«, antwortete Lilou. »Naturellement, den Louvre und die Seine. Aber isch ’abe misch überlegt, dass wir könnten uns anschauen eine Modeschau. Interessiert ihr eusch für Mode?«

»Ja!«, sagte Joanna.

»Nein!«, rief Finn gleichzeitig aus.

Lilou lächelte Finn an. »Es wird dir sischer auch gefallen, kleine Mann!«, säuselte sie und strich ihm zu allem Überfluss auch noch über den Kopf, als wäre er ein Schoßhündchen.

»Sischer nischt!«, antwortete Finn mürrisch.

»Ach, komm!«, Joanna stieß ihrem Bruder in die Seite. »Sei doch nicht so ein Miesmacher. Eine Modenschau in Paris. Mann, wann erlebt man das schon mal?«

»Ich hoffe, nie!«, konterte Finn.

In dem Moment piepte sein Handy und zeigte eine Nachricht an. Tom, einer seiner Schulfreunde, wollte wissen, ob er schon in Paris angekommen sei und was er unternehmen wolle.

Finn schrieb ihm die Wahrheit. Die Antwort überraschte ihn.

Modenschau in Paris? Wow!,

schrieb Tom.

Da siehst du ja die ganzen hübschen Models in echt!
Neid! Schick Fotos, ja?

Finn verzog das Gesicht. Er machte sich nicht die Bohne aus »hübschen Models in echt«. Sie interessierten ihn null Komma null. Allerdings, wenn es den Neid seiner Mitschüler hervorrief … warum nicht?

»Also gut!«, stimmte er zu. »Wann ist denn diese Modenschau? Können wir hinterher noch eine Bootsfahrt machen?«

»Isch denke, die Fahrt auf die Seine wir können machen morgen, d’accord?«, säuselte Lilou. Dann griff sie irgendwo in ihrem Rock in eine Tasche und zauberte ein paar Eintrittskarten hervor. »Isch abeite bei unsere Schüler… öh, wie sagt man, Magazin. Da ’abe isch die Karten bekommen. Sie gewöhnlich kosten 50 Euro.«

»50 Euro?«, wiederholte Finn. »Um sich ein paar Kleider anzugucken?«

»Du hast echt keine Ahnung!«, wies Joanna ihn zurecht.

Lilou pflichtete ihr bei. »Das sind die billigsten Karten. Natürlisch es sich ’andelt um eine junge Modemacher. Bei den bekannten kosten mansche Karten viele Tausend Euro. Und ganz vorn man kann gar nicht bekommen Karten. Da nur sitzen Prominente und Press.«

Finn schnappte nach Luft. Mehrere Tausend Euro für eine Eintrittskarte einer Modenschau, die nur fünfzehn bis zwanzig Minuten dauerte? Der pure Wahnsinn, fand er.

Lilou grinste. »Es gab schon Plätze in der ersten Reihe für 70.000 Euro!«, erklärte sie.

»Nein!«, stieß Finn aus.

»Aber wir sind bei einem Unbekannten. Und ’aben Karten für die Schüler-Press. So wir dürfen sitzen weit vorn.«

»Bei den Promis?« Joanna konnte es nicht glauben. »Echt?«

»Moment, Moment!« Für Finn ging das alles ein bisschen schnell. »Was denn für Promis?«

»Modemacher«, antwortete Lilou. »Es kann sein, dass kommt Karl Lagerfeld persönlisch. Schließlisch er wohnt ’ier in Paris und vielleicht er sich schaut an Modenschau von junge Kollege.«

»Wow!«, bemerkte Joanna anerkennend.

Finn zuckte mit den Schultern. Er kannte diesen Lagerfeld nicht.

»Ich hab gelesen, er besitzt hier in Paris sogar einen Buchladen?«, fragte Joanna.

Lilou nickte. »7L in der 7 rue de Lille.«

»Den möchte ich mir auch gern ansehen«, sagte Joanna, während Finn die Augen verdrehte.

»Vielleischt es ist möglisch«, antwortete Lilou. »Allez, gehen wir! Vielleischt sind ein paar Schauspieler eingeladen.«

»Gérard Depardieu?«, fragte Joanna.

Finn musste lachen. »Als Obelix? Das wäre doch super in einer Modenschau!«

Vor dem Eingang der Halle standen die Leute schon Schlange. Es war ein roter Teppich ausgelegt. Zu beiden Seiten säumten zahlreiche Schaulustige den Eingang, die Smartphones und Digicams schussbereit in den Händen. Es war klar, hier wollte niemand auch nur einen Promi verpassen. Die meisten Menschen, die hier standen, waren Touristen, erklärte Lilou. Einheimische gingen, wenn überhaupt, zu den großen Pariser Modewochen, die allerdings schon im März stattgefunden hatten.

Joanna staunte, dass Lilou sich so gut mit Modenschauen auskannte. So wie sie gekleidet und gestylt war, schien sie sich selbst nichts aus Mode zu machen.

Lilou führte die Geschwister rechts am Eingang vorbei zu einem Nebeneingang der Halle, vor dem zwei große breitschultrige Männer mit Kopfhörern im Ohr Wache standen. Sie schauten die Kinder grimmig an, als Lilou sich vor ihnen aufbaute und ihre Einladungskarten vorzeigte. Fast so intensiv wie am Flughafen in der Sicherheitskontrolle wurden die drei Kinder daraufhin von den beiden Security-Typen durchsucht.

»Die halten uns wohl für Terroristen«, sagte Finn und hoffte, dass die Männer ihn nicht verstanden.

»In deren Gegenwart würde ich lieber nicht solche Witze reißen!«, ermahnte Joanna ihn.

Doch dann durften sie die stillgelegte Fabrikhalle betreten, die eigens für diese Modenschau wiederbelebt und hergerichtet worden war. Von der einen Stirnseite her führte der lange Laufsteg, über den gleich die Models gehen würden. Links und rechts davon hatte man die Besucherstühle aufgebaut, in der ersten Reihe bequeme, mit Polster und Lehnen. Sie sahen aus wie alte Kinosessel. Ab der zweiten Reihe gab es nur noch einfache Klappstühle.

Und für die musste man so viel Eintritt zahlen? Finn konnte es nicht fassen. Irgendwie fühlte er sich nicht wohl hier. Dies war einfach nicht sein Platz. Zwar war die Halle schon voll, aber alle Gäste standen noch im Foyer und hielten Small Talk. Unzählige Kellner liefen mit Tabletts herum und reichten ihnen Sekt und andere Getränke.

Obwohl Finn keine Ahnung von Mode hatte, fand er, dass die Kleidung der Gäste sündhaft teuer aussah. Viele Männer trugen Schals in den seltsamsten Farben, trotz des warmen Frühlingswetters. Auch hatte Finn noch nie so viele Männer mit Hüten gesehen. Die Frauen trugen ausgefallene Kleider und Röcke. Weite, enge, luftige und welche, die aussahen wie aus Holz. Nahezu alle Frauen waren geschminkt, als müssten sie jeden Moment im Fernsehen auftreten.

»Da vorn sind unsere Plätze!« Lilou zeigte auf eine leere Reihe. »Ihr könnt eusch schon setzen.«

Joanna stutzte. »Darf man das überhaupt?«

»Oui, oui!«, versicherte Lilou. »Alle warten, dass sisch jemand setzt. Ihr tut den Leuten ein Gefallen. Bitte.«

»Die spinnen, die Franzosen«, sagte Finn leise.

»Pst!«, ermahnte Joanna ihn erneut. »Es sind viele Touristen hier. Bestimmt sprechen einige auch Deutsch.«

Sie schlängelten sich durch die Reihe und suchten sich einen Platz aus. In ihrem Bereich waren die Sitze nicht nummeriert. Finn folgte und die beiden setzten sich – als Erste im gesamten Saal.

Als hätte man nur darauf gewartet, ertönte plötzlich laute Musik. Die Halle verdunkelte sich und die Masse kam in Bewegung. Die Musik war wie der Startschuss bei einem Hundertmeterlauf. Innerhalb weniger Minuten war kein Sitz mehr frei. Bis auf den einen neben Finn: Lilous Platz.

»Wo ist sie?«, fragte Finn.

Joanna legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Die wird schon noch kommen«, antwortete sie leise.

Die Stimme eines Moderators ertönte aus den Lautsprechern. Finn und Joanna verstanden kein Wort. Sie vermuteten, dass der Mann die Modenschau ankündigte. Der junge Modedesigner, der hier seine Kollektion präsentierte, lugte angespannt hinter dem Vorhang hervor, dort wo der Catwalk begann. Hektisch verzog er sich wieder nach hinten, um wenige Augenblicke später erneut einen Blick in den Zuschauerraum zu wagen. Man sah ihm seine Nervosität förmlich an.

Noch immer blieb Lilous Sitz leer. Finn drehte sich suchend nach ihr um. Und entdeckte sie tatsächlich. Sie stand hinter der letzten Reihe auf der anderen Seite des Catwalks und schaute sich um.

»Ich glaube, sie findet ihren Platz nicht«, sagte Finn.

Da erschienen bereits die ersten Models auf dem Laufsteg.

»Es geht los«, antwortete Joanna. »Sieh mal die Zweite da. Mann, ist die jung. Die könnte glatt noch zur Schule gehen.«

Finn wandte den Blick nach vorn, um sich das Model anzusehen. Er fand überhaupt nicht, dass es jung aussah. »Die ist mindestens zwanzig!«, schätzte er.

»Nie im Leben!«, widersprach Joanna. »Die ist nur stark geschminkt. Aber wenn du mal genau hinguckst, siehst du, dass sie keine achtzehn ist.«

»Darf die dann überhaupt hier modeln, wenn sie so jung ist?«, fragte Finn.

Joanna wusste es nicht. »Bestimmt! Sonst wäre sie wohl kaum hier.«

Finn drehte sich wieder weg. Lilou stand immer noch auf der anderen Seite des Saals und wirkte, als ob sie etwas suchte.

»Soll ich sie holen?«, fragte er. Ihm war es egal, ob Lilou etwas von der Modenschau mitbekam. Aber er wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Denn er hatte wenig Lust, ohne ihre Hilfe nach Hause gehen zu müssen. Das Pariser U-Bahn-System war recht unübersichtlich. Nicht dass sie sich irgendwo in den Katakomben der Metro verliefen! Außerdem würden sie Ärger mit ihrem Vater bekommen, wenn sie allein durch Paris zogen.

Joanna antwortete ihm aber nicht auf seine Frage. Stattdessen bestaunte sie die Models und das, was sie anhatten. Eine trug zum Beispiel ein Kleid, das Joanna mehr an eine Ritterrüstung erinnerte. Mit dem Unterschied, dass es nicht aus Metall war. Auf Joanna wirkte es beinahe wie ein Faschingskostüm. Dazu hatte das Model einen Schal um den Hals, der wie eine tote Katze aussah.

»Wer trägt denn so was?«, fragte sie, ein wenig lauter, als sie eigentlich gewollt hatte.

»Was?« Erst jetzt schaute Finn wieder nach vorn zu den Models und musste auflachen. »Was hat die denn an? Da, die Dritte. Einen Taucheranzug?«

Eine Dame, die vor ihm saß, drehte sich langsam um und schob ihre violette, mit Edelsteinen verzierte Sonnenbrille auf die Nasenspitze, sodass sie über die rosa getönten Gläser böse auf Finn herabblicken konnte. Ihr Gesicht war auf merkwürdige Weise zu einer Fratze verunstaltet, so als hätte ihr jemand die Haut zum Hinterkopf gezogen und dort zusammengeknotet.

Während die Gesichtshaut babyglatt war, zeigten ihre Hände deutliche Falten. Je nachdem, ob man ihr ins Gesicht oder auf die Hände schaute, konnte man die Dame auf dreißig oder sechzig Jahre schätzen. Sie fragte etwas auf Französisch, das Finn nicht verstand. Er sah nur fasziniert auf ihren sich bewegenden Mund und überlegte, woran ihn der erinnerte. Dann kam er drauf: die Marionetten, die er in Prag gesehen hatte! Bei denen bewegte sich beim Sprechen auch nur das Kinn, während das gesamte übrige Gesicht vollkommen bewegungslos blieb.

»Äh, sorry«, entschuldigte sich Finn, da er annahm, dass die gruselige Dame sich über irgendetwas beschwerte. Dann beugte er sich zu seiner Schwester und fragte leise, was »Verzeihung« auf Französisch hieß.

»Pardon!«, antwortete Joanna, worauf ihre Sitznachbarin zur anderen Seite ihr mild zulächelte, weil sie glaubte, Joanna hätte sich soeben für irgendetwas entschuldigt.

Finn hatte schon jetzt keine Lust mehr auf die Modenschau. Dabei hatte sie doch gerade erst angefangen. Doch dann fiel ihm ein, weshalb er mitgekommen war. Er wollte ein paar Fotos schießen für seine neidischen Freunde. Er griff nach seinem Smartphone und öffnete die Foto-App.

Blitzartig schnellte eine schrumpelige Hand von hinten hervor und drückte ihm den Arm hinunter. Es folgte wieder etwas auf Französisch, das wie ein Befehl klang. Fragend blickte Finn zu seiner Schwester.

»Fotografieren verboten!«, übersetzte Joanna. Und ergänzte noch: »Streng verboten!«

Finn verzog den Mundwinkel. Wenn er keine Fotos von den Models machen durfte, hätte er sich die gesamte Modenschau sparen können. Wie sollte er nun seinen Freunden beweisen, dass er überhaupt hier gewesen war? Und überhaupt: Hatte Lilou nicht eben auch fotografiert?