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GORANOVIĆ • VOM WINSELN DER HUNDE

MILENKO GORANOVIĆ

Vom Winseln der Hunde

Roman

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Originalausgabe
Copyright © 2016 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Maria Sikora
ISBN 978-3-99029-198-6

Der Autor schuldet großen Dank:

Hedda Kage, weil sie als Erstleserin und Lektorin diesen Roman von Anfang an begleitet und mitgestaltet hat, Suzanne El Gindi, weil sie dem Autor mit ihrem feinen Sprachgefühl über manche Sprachprobleme hinweg half, Maria Sikora, weil sie als Verlagslektorin ihre Arbeit mit exzellenter Gründlichkeit gemeistert hat.

Einen besonderen Dank an Geli, Didi, Thomas, Gudrun, Werner, Günter, Hartmut, Volker, Rüdiger und Astrid.

Für Bettina, Srđan, Vule und Jovana.

»Die folgende Geschichte, aus Zweifel und Ratlosigkeit entstanden, ist zu ihrem Unglück (andere nennen es Glück) wahr: Sie wurde aufgezeichnet von der Hand ehrlicher Menschen und zuverlässiger Zeugen. Doch um in jenem Sinne wahr zu sein, wie der Autor sich dies wünschte, müsste sie auf Rumänisch, Ungarisch, Ukrainisch oder Jiddisch erzählt werden oder, besser noch, in einem Gemisch aus all diesen Sprachen.«

Danilo Kiš, Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch

INHALT

I. DIE WELT IST VOLLER ZAUBER, UND ALLES IST MÖGLICH.

II. DIE MUNDHARMONIKA

III. VOM WINSELN DER HUNDE

IV. DER PARTISAN

V. KURT UND SEKA

Menschen, Namen, Orte

Glossar

I.
DIE WELT IST VOLLER ZAUBER, UND ALLES IST MÖGLICH.

1.

Als noch alles gut war. Oder: Das letzte Foto von Kurt und Seka. Die beiden neben ihrem Boot. Lumbarda, Kroatien, August 2008

Ich kann mich noch immer ganz genau an den Tag erinnern als Kurt und Seka auf die dumme Idee kamen nach Syrien zu reisen. Ich wusste sofort, sie kommen nie wieder zurück. Allein: Sie haben mir davon nie etwas erzählt, ich wusste weder wo sie waren noch was sie vorhaben, ich war in Berlin, sie in Somalia, monatelang davor haben wir uns auch nicht gesehen, in der Zeit haben wir nicht einmal telefoniert, wie hätte ich es also wissen können; an dem Tag habe ich nicht mal an sie gedacht. Ich wollte nur Brötchen holen.

Es war ein schöner Herbsttag, voller Licht, mild, klar, die Straße war voller Menschen, an solchen Tagen muss man eben raus, alles war gut. Noch. Aber dann hörte ich zufällig im Vorbeigehen, jemand lachte auf, eine unbekannte Frau, doch nicht leise, nicht nur für sich, sondern so wie es Seka immer tat, so laut, so herzlich, so ansteckend, aus dem Bauch, aus der Seele, und alle lachten dann auch mit, die ganze Straße, nur ich nicht, ich wusste sofort, etwas ist geschehen, ich werde meine Schwester Seka nie wiedersehen.

Natürlich, dass ich mir zunächst nicht glauben wollte, das sei nur mein schlechtes Gewissen, oder Ängste, oder Gefühle, Befürchtungen, alles, nur eben kein Wissen, so was kann man gar nicht wissen, doch es kam, wie es kam, ich habe mich nicht geirrt. Was ich aber damals nicht wusste und nicht wissen konnte, ist, dass mich die Geschichte von Kurt und Seka auch so viele Jahre danach verfolgen würde.

»Es gibt Geschichten, die einem keine Ruhe geben wollen«, hatte Kurt gesagt, als er das erste Mal nach Sarajevo kam, »Geschichten, die einen immer verfolgen, die immer wieder kommen, egal was man macht.« Damals habe ich ihm nicht geglaubt, jetzt kann ich das nur bestätigen. Aber auch jetzt weiß ich nicht, warum es so ist.

Alles hatte wieder mal mit einem Streit zwischen mir und Seka begonnen. Der lag Monate zurück. Ich hatte mich wahnsinnig über sie geärgert, wie immer nicht grundlos, aber ich war zu laut, fast gehässig, hatte ihr auch das gesagt, was ich gar nicht so meinte, sie war beleidigt, wollte nicht mehr mit mir reden, ich hörte ewig nichts von ihr, und als ich schon dachte, das wird nie wieder was, erhielt ich im Sommer 2008 ein kleines Foto. Kein richtiges Foto, nur ein Selfie, das sie wohl mit ihrem Handy aufgenommen hatte: Kurt und Seka stehen neben der »Jadranka«, und lachen. »Jadranka« so hieß ihr Boot, eine alte löchrige Nussschale, kein richtiges Boot, nur eine Kulisse für ihre Filme; man hätte sich damit gar nicht aufs Wasser wagen dürfen. Aber sie stehen da und lachen wie zwei waghalsige Piraten. Habe ich mich gefreut! Ein klares Zeichen, dass meine Strafe vergeben und Seka nicht mehr beleidigt war, oder fast nicht mehr, denn es gab keinen Text zu diesem Foto. Einfach zwei lachende Köpfe und die »Jadranka« im Hintergrund. Wie schön, dachte ich. Drei Monate später, im Dezember 2008, ein Anruf aus Stuttgart. Kurt und Seka sind zurück, wieder im Lande, dachte ich, wer denn sonst sollte mich aus Stuttgart anrufen? Doch es war eine Immobilienfirma: Sollten die Mietrückstände für die Wohnung in der Heusteigstraße nicht innerhalb der nächsten 7 Tage beglichen sein, würde man die Sachen von Kurt und Seka versteigern und den Rest auf die Straße werfen, sowie weitere rechtliche Schritte unternehmen.

Was das mit mir in Berlin zu tun hätte, wollte ich wissen. Die Antwort hatte es in sich: Immer wieder habe man versucht, die beiden zu erreichen, vergeblich, sie hätten sich bis heute nicht zurückgemeldet, auf Mahnungen nicht reagiert; jetzt sei Schluss, alles müsse sofort bezahlt werden. Das solle ich bitte Kurt und Seka ausrichten, sonst würde alles versteigert, um die Mietrückstände und Versäumniszinsen für 3 Monate zu kompensieren. Ein neues Schloss sei bereits angebracht.

Ich rief sie dann tatsächlich an, einmal, zweimal, immer wieder, nichts, Kurt und Seka waren nicht zu erreichen. Im Zug nach Stuttgart hoffte ich noch, dass sich in ihren Sachen vielleicht ein Hinweis finden ließe… Doch die Immobilienverwaltung blieb hart: Nichts dürfe ich anrühren, schon gar nicht die Kiste mit den Papieren und den Fotos, auch nicht die Straßenkarten aus der jugoslawischen Zeit, bevor nicht alles bezahlt wäre. Also habe ich bezahlt. Doch damit war die Geschichte nicht vorbei, auch später nicht, jahrelang nicht, sie kam immer wieder, ließ sich nicht abschütteln, und so bin ich heute Abend hier.

2.

Ein Partisan mit einer Mundharmonika. Oder: Seka, Kurt, Sarajevo, Anfang April 1991

Damals lag meine Schwester im Koševo Krankenhaus. Hoffnungslos, hatten die Ärzte gesagt, kein Medikament könne noch etwas bei ihr bewirken, nur palliativ, vielleicht, aber keine ernsthafte Chance mehr, aus, Ende.

Seka war mit einer unheilbaren Blutkrankheit zur Welt gekommen, doch anstatt irgendeinen sinnvollen Beruf zu wählen, hatte sie angefangen, zu schreiben. Zu allem Unglück war sie unheimlich begabt. Wie sie mit Wörtern jonglieren konnte, wirklich jonglieren, da konnte ihr kein Artist, kein Feuerschlucker auch nur das Wasser reichen. Genau das aber war ihr Problem. Sie nahm ihr Schreiben zu ernst. Für sie stand das Wort wahrlich am Anfang und am Ende, und das ausgerechnet in Bosnien, wo jeder Straßenverkäufer besser lebt als ein Dichter. Wenn sie sah, wie wenig sie mit ihrem Wort ausrichten konnte, wollte sie nur noch sterben, wirklich sterben, war wochenlang mehr tot als lebendig. Nach jeder Veröffentlichung hatte ich richtig Angst um sie.

Eine Zeit lang ließ sie das Schreiben sogar sein, begann, als Dolmetscherin zu arbeiten, denn Sprachen lernte sie wie im Flug. Doch nicht zu schreiben war noch schlimmer als zu schreiben. Am Ende wog sie gerade noch 40 Kilo, konnte kaum mehr gehen, die Ärzte wussten sich keinen Rat und verlegten sie in ein Krankenzimmer ganz nah am Krematorium. Das war im März 1991. Zwei oder drei Wochen später wollte ich sie besuchen mit einem riesengroßen Blumenstrauß. Eine nette Geste kurz vorm Ende kann nicht verkehrt sein, dachte ich. Doch als ich ins Krankenhaus kam, staunte ich nicht schlecht: Meiner Schwester ging es unglaublich gut, sie lag gar nicht im Bett, sondern saß in einer Ecke an einem Tischchen. Ich sah nur ihr struppiges Strohhaar. Sie schrieb. Du schreibst wieder?

»Wenn ich schon sterben muss, mache ich daraus wenigstens eine schöne Geschichte. Oder zwei. Oder drei. Oder tausend und drei, wie eine Scheherezade. So schnell wirst du mich nicht los«, lachte sie. Ein Witz à la Seka. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen durfte. Ich wusste doch, wie das immer bei ihr endete. Zuerst alles gut und dann nur noch sterben.

Diesmal nicht, sagte sie überzeugt. Sie hätte jetzt eine Liebesgeschichte in den Fingern, zwischen einem jugoslawischen Partisanen und einer deutschen Frau, wunderschön. Und vor allem – wahr. Sie hätte einen Filmemacher aus Deutschland kennengelernt, und gemeinsam wollten sie einen Dokumentarfilm darüber drehen. Allerdings müssten sie ihn erst finden, diesen Partisanen, von dem sie nicht mal den Namen kannten. Aber eine schöne Geschichte. Na, da könnt ihr lange suchen, meinte ich, doch Seka winkte lächelnd ab, ich sei ein alter Schwarzseher, sie würde mir schon zeigen, dass alles möglich ist wenn man es nur richtig will. Ihre großen grauen Augen wirkten noch größer als sonst, und überhaupt, meine ganze kleine, kranke Schwester war auf einmal groß. »Bist du verliebt?«, fragte ich. Seka schwieg, schrieb weiter, auch eine Antwort. »Wie heißt er?« »Kurt«, sagte Seka.

»So unmöglich ist das gar nicht, wir wissen zwar nicht, wie der Partisan heißt, aber wir wissen, dass er aus Sarajevo stammt und dass er eine Mundharmonika besaß.«

– »Was?«

»Eine Mundharmonika, und er trug einen blauen Anzug.«

– »Meinst du das ernst?!«

»Ja, ja, das ist doch eine Menge, oder? Was sagst du jetzt?«

Was sollte ich dazu sagen? Eine Woche lang durchforsteten Seka und ihr Kurt ein Archiv nach dem anderen, dann reiste Kurt ab. Vom Partisanen keine Spur. Wie auch? Doch Seka war Seka, die schnöde Realität konnte ihr einfach nichts anhaben. Ich solle nur den Mai abwarten, bis Kurt wieder nach Sarajevo käme, bis auch ihre neue Geschichte fertig wäre…Im Mai war Kurt tatsächlich da, er war begeistert von Sekas Geschichte, kein Wunder, das war ihr Thema, die Liebe und die Grenzen und die Menschen, die diese Grenzen nicht beachten, alles war gut, sie begannen wieder zu suchen, und sie fanden wieder nichts, kein Partisan, also reiste Kurt wieder ab.

Ende Juni war der Krieg schon da, vielleicht war er auch nie weg gewesen. Alle machten sich Gedanken darüber, nur meine Schwester dachte an nichts anders, als an ihre schöne Geschichte. Sie hat alles, die ganze Geschichte noch einmal geschrieben, noch besser, noch schöner. Kurt kam wieder, zum dritten Mal, und sie stellte ihn mir endlich vor. Schlaksig, ein netter Kerl, der oft blinzelte, wie die meisten Kurzsichtigen, ein bisschen verlegen. Die Geschichte hätte ihm sein Leben lang schon keine Ruhe gegeben, hat er gesagt, deswegen ist er nach Sarajevo gekommen. Ich schwieg. Warum gräbt so ein Journalist, oder Kriegsfotograf, vielleicht auch Filmemacher, jedenfalls nicht so recht einzuordnen, eine alte Liebesgeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg aus, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in Sarajevo? Was hatte ihn überhaupt nach Sarajevo geführt?

Seka kümmerte sich nicht um solche Fragen, hatte das nie getan, ihr reichte ein einziger Blick, um ja oder nein zu sagen. Bei Kurt hatte sie sofort ja gesagt.

3.

Ein Mann in einem blauen Anzug. Oder: Ludwigsburg-Eglosheim 1963

Es muss am 10. Juni 1963, gewesen sein – ich habe im alten Kalender nachgeschaut,- also Pfingstsonntag, als Kurt, damals ein mageres Kerlchen in kurzen Hosen, in die Straße, in der sie wohnten, einbog und wie immer zuerst einen Blick durch den halb zugezogenen Vorhang warf. Er blieb auf der Stelle stehen, atemlos, er sah ein Wunder: Er hatte sich immer gewünscht, dass sein Vater einmal nicht mehr nach Hause käme, dass er sterben, dass es ihn einfach nicht mehr geben sollte, und siehe da, sein Wunsch war in Erfüllung gegangen! Und damit nicht genug, auch der große Bruder seiner Mutter war da!

Jedenfalls stand neben seiner Mutter ein unbekannter Mann im blauen Anzug mit einer großen Brille und sah genauso aus wie ein großer Bruder aussehen muss, oder wie ein Vater, den man lieben konnte.

Solche Wunschträume, wie die vom großen Bruder seiner Mutter, oder die vom Tod seines Vaters gingen ihm oft durch den Kopf.

Wenn sein Vater zu Hause war, – er arbeitete in Böblingen am Flughafen, kam also nur sonntags und feiertags –, war seine Mutter gar nicht seine Mutter, sondern ein graues Ding, das in der Küche schwieg. Sonst war sie schön, sie war lieb, verspielt und verschmust, sie strahlte, sie sang, konnte zaubern, erzählen, ließ manchmal mit tutuut Rauchringe aufsteigen, als wäre sie ein blauweißes Schiff, doch sobald sein Vater nach Hause kam, war alles vorbei, war seine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst, stand in der Küche und schwieg. Einmal hatte sie ihm gesagt, dass jeder früher oder später mal vor einer Mauer steht, die man nicht überwinden kann, vor der man in die Knie gehen muss, aber Kurt hatte ihr sofort geantwortet, oh, nein, er werde nie vor einer Mauer in die Knie gehen, denn er wusste ganz genau, wen sie mit der Mauer gemeint hatte.

Wenn Heribert nach Hause kam, ging Kurt nicht zur Mutter in die Küche, er schaute trotzig zu, wie seine Mutter schweigend das Essen für Heribert auf den Tisch stellte, wie Heribert aß, sich dann mit der Zeitung hinlegte, lange an die Decke starrte, bis er merkte, dass Kurt ihn die ganze Zeit scharf beobachtete. »Was gibt es zu glotzen«, fragte Heribert, und rief in die Richtung, wo seine Mutter die Teller abspülte: »Dein Kind ist nicht normal«. Aus der Küche kam keine Antwort. Natürlich nicht. Aber Kurt wusste, dass die Mutter alles gehört hatte, aus dem kleinen Fenster in der Küche irgendwohin starrte, in die Ferne. Also phantasierte Kurt, wenn er sich sonntags an seinem Lieblingsplatz auf der Enteninsel versteckte, von einem besseren Leben: Seine Mutter und er würden nicht mehr lange in Eglosheim bleiben, müssten nur noch auf einen Bruder der Mutter warten, um gemeinsam nach Amerika auszuwandern, denn Heribert wäre sowieso nicht sein richtiger Vater…

Und an diesem Pfingstsonntag 1963 sah Kurt durch die Küchengardine – alle seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Sein Vater war nicht da, und neben seiner Mutter stand ein unbekannter Mann: Ihr großer Bruder, wer denn sonst! Beide weinten, wie das Erwachsene tun, wenn sie jemandem begegnen, den sie lange vermisst haben, und dann zeigte die Mutter dem Unbekannten sogar die Blechdose, die immer oben auf der Kredenz stand. Wegen dieser Dose, – eigentlich ein Feldgeschirr –, hatte seine Mutter dem Vater einmal fast die Augen ausgekratzt. Heribert wollte das russische Ding nicht mehr in seinem Haus dulden, wollte es raus schmeißen. Doch da sprang die Mutter, dies kleine Wesen, den großen Heribert wie eine Katze an, bohrte ihm ihre Daumen in die Augen: »Du, Dreckskerl, du, die bleibt hier! Die! Bleibt! Hier! Das ist meine, das ist meine, und die bleibt bei mir. Solange ich lebe, hast du gehört, solange ich lebe.«

Kurt hatte seine Mutter noch nie so gesehen, nie so fauchen gehört, weder so laut noch so schrill. Die Dose krachte auf den Boden, und Heribert wiederholte nur jämmerlich, klein und verängstigt: »Bist du wahnsinnig, bist du wahnsinnig?! Lass mich doch los, du, Frau, du, Mensch, Ogottogott!« Erst als die Dose wieder oben auf der Kredenz stand, gab sich die Mutter zufrieden. Kratzt man jemandem die Augen aus für Dinge, die keine Bedeutung haben? O nein, in dem Ding, in dieser leeren Blechdose, musste ein Geheimnis stecken. Und jetzt schauten seine Mutter und der Unbekannte gemeinsam hinein, als wäre sie ein Guckkasten, in dem man die Zukunft sehen könnte. Oder die Vergangenheit. Seine Mutter strahlte, mehr noch, sie leuchtete, weinte, redete, lachte…

»Die Welt ist voller Wunder, und alles ist möglich«, dachte Kurt, traute sich aber nicht ins Haus, und am Abend traute er sich nicht, die Mutter nach dem zu fragen, was er gesehen hatte.

Am nächsten Tag war in der Schule nichts so wie sonst. Sonst war es ihm immer peinlich, wenn er etwas vor der Klasse aufsagen musste. Er hatte schiefe Zähne, schlechte Augen, eine hässliche Brille. Außerdem stotterte er. Er war ein Dahergelaufener, ein Russe, ein Neger, und wie sie ihn sonst noch verspotteten. Doch seit gestern war ihm alles egal, er war jetzt frei. Als er nach vorne ging, blickte er nicht zu Boden, nahm sogar seine Brille ab, sprach auch nicht leise, sondern erzählte, selber überrascht, was ihm alles über den blauen Anzug des Unbekannten einfiel: Sein richtiger Vater sei tot, und sie zögen jetzt zu dem reichen Bruder seiner Mutter, mit einem Schiff und tutuut und Tod und Teufel und Amerika. Aber kaum eine Woche später war alles vorbei. Herr Kohler, sein Klassenlehrer, der für Geschichte und Deutsch zuständig war, musste der Mutter etwas gesteckt haben, denn seine Mutter war verärgert, dass Kurt schon wieder mit den Lügengeschichten, wie sie es nannte, angefangen hatte, von dem großen Bruder im blauen Anzug gab es keine Spur mehr, sein Vater wieder da, und die Blechdose stand auch wieder oben auf der Kredenz…

Und das wäre eigentlich alles gewesen, aber es gab eben diesen Herrn Kohler, er wollte diesem sonderbaren Jungen irgendwie helfen, er empfahl ihm Mitglied im Filmklub der Schule zu werden, Kurt wollte es tatsächlich ausprobieren, fand es gut, nein, fand es großartig, es gab sogar eine richtige Filmkamera, alles war wieder gut, doch als sie einige Jahre später beschlossen hatten, aus der Geschichte von Edek und Mala, den zwei Liebenden in Auschwitz, die ihnen Herr Kohler x-mal erzählt hatte, einen Film zu machen, begann alles von vorne. Nur diesmal wurde alles noch schlimmer.

Nach dieser Geschichte, in der am Ende das Mädchenorchester von Auschwitz ein lustiges Liedchen spielte, und die Mitgefangenen im Takt dazu klatschten, während Edek und Mala hingerichtet wurden, hätte Kurt eigentlich ein Drehbuch schreiben sollen. Dafür hatte aber Kurt keine Geduld, Bilder waren sein Metier, nicht Worte. Also hatte Herr Kohler selbst alles bis ins letzte Detail beschrieben, und hatte auch echtes Dokumentarmaterial aus der Zeit besorgt. Alles schwarz-weiß. Alles tragisch. Doch das tragische Ende war für Kurt nicht akzeptabel, das war ihm zu brutal, zu banal, zu ungerecht, er musste etwas ändern, und weil er in der Schule auch einen richtigen Schneideraum zur Verfügung hatte, tat er es auch. Dass er Spielszenen und Dokumentaraufnahmen so geschnitten hatte, dass aus dieser Geschichte ein Film geworden war, in dem Edek und Mala am Ende fröhlich aussahen, als hätten sie überlebt, wäre noch irgendwie in Ordnung gegangen. Doch dass Kurt am Ende Edeks Anzug blau eingefärbt hatte, damit hatte er den Bogen überspannt. Der Schuldirektor war empört, die Premiere wurde abgesagt, Herr Kohler sogar versetzt und Kurts Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Katastrophe folgte der anderen: Nicht nur, dass die Premiere in der Schule abgesagt wurde, und die Schulkameradin Simha, in die Kurt unsterblich verliebt war, seinen Film daher nicht sehen konnte; es kam noch schlimmer: Heribert nahm Kurt von der Schule und steckte ihn bei einem befreundeten Fotografen in die Lehre … vorbei die Liebe, vorbei die Träume, alles vorbei.

Im Fotogeschäft in der Schulstraße hatte ein Lehrling keine Zeit für Duseleien, man musste Passfotos machen, den Laden putzen, jeden Kunden höflich begrüßen, Werbezettel verteilen, und überhaupt war Kurt sich nicht mehr so sicher, dass die Welt voller Wunder und alles möglich ist, er fürchtete eher, seine Mutter könnte mit der Mauer Recht behalten. Was er nicht ahnte, war, dass die Geschichte mit dem blauen Anzug für ihn noch lange nicht vorbei sein sollte.

Immerhin hatte Kurt eine Kopie seines Films behalten können, und siehe da, eines Tages, etwa Mitte Juni 1975, – auch das habe ich im alten Kalender nachgeschaut, – wurde im Stuttgarter Osten ein Theater eröffnet. Der Gründer, Emil W.S. war ein Tausendsassa und spielte außerdem fabelhaft Trompete. Dabei fehlten ihm an der linken Hand zwei Fingerkuppen, weshalb man ihm an der Musikhochschule freundlich angeraten hatte, die Trompete zu vergessen und was Nützliches zu machen. Doch anstatt den Familienbetrieb zu übernehmen, mietete er für sein ganzes bis dato verdientes Geld eine alte Fabrik im Stuttgarter Osten, um sein eigenes Theater zu gründen, eine Bühne, wo man gute Musik spielen und große Fragen stellen darf. Den passenden Namen fand er auch: »Saga«.

Bevor er die Saga eröffnete, hatte er die ganze Stadt mit einem Aufruf an junge Künstler bekleben lassen. Kurt brachte die Schachtel mit seinem Film dorthin, und Emil W. S. war entzückt:»Wow, Junge, du bist ein geborener Filmemacher, so was Schönes habe ich noch nie im Leben gesehen, wir machen eine Premiere bei uns.«

Als Kurt am 12. Juni 1975 in der »Saga« seinen Film zeigen durfte, gab es in dem alten Büroraum nur Bierbänke, es war stickig und unbequem, aber es war eine richtige Premiere mit Eintrittspreisen wie für einen Blockbuster. Emil spielte Trompete: »What a Wonderful World«, alles war wie im Kino. Ein paar Zuschauer wollten sogar wissen, welchen Film Kurt als nächsten plane, und Emil hatte für ihn geantwortet: »Kurt geht zunächst nach Berlin. Und wenn er zurückkommt, ist er ein berühmter Filmemacher«.

Eine ganze Woche konnte Kurt sich nicht entscheiden; er wusste schon, was Emil gemeint hatte: In Berlin kann man Filmkunst studieren, einfach so, ohne Abitur, man zeigt seinen Film, wird angenommen, und dann steht einem nichts mehr im Wege, aber…

Am Montag, den 19.06.1975 hielt Kurt es nicht mehr aus: Um halb sieben stand er an der Bushaltestelle Favoritenpark, im Rucksack die Schachtel mit seinem Film, um sieben war er in Stuttgart am Hauptbahnhof und stieg in den Zug nach Westberlin.

Mit seinen inzwischen 21 war ihm klar, dass diese Entscheidung alles auf den Kopf stellen würde, doch irgendwas zwang ihn, als ob noch ein anderer, ein mutigerer Kurt in ihm wohnte, der nicht sein Leben lang Passfotos machen wollte, verdammt noch mal: Man darf vor dem Leben nicht in die Knie gehen. Am Abend war er in Berlin. Zwei Tage später betrat er die Filmhochschule mit dem Gefühl, dass ab dem nächsten Tag die ganze Welt anders aussehen würde. In gewissem Sinne behielt er damit auch recht. Am nächsten Tag sah in der Tat alles anders aus: Er war der unglücklichste Mensch auf der Welt, und mit Film wollte er nie mehr im Leben etwas zu tun haben.

Von den peinlichen Details der Aufnahmeprüfung, die Kurt nicht bestanden hatte, von seiner Verzweiflung danach, erzählte er auch Jahre später nur ungern. Die Prüfungskommission hatte ihn ausgelacht, niedergemacht, ihm empfohlen, mit seinem Vater Seife zu verkaufen, sowas ist natürlich ein Schlag in die Magengrube. Doch er war ins kalte Wasser gesprungen und musste schwimmen oder untergehen; zurück nach Stuttgart konnte und wollte er nicht. Er schlug sich durch in Berlin, als Aushilfe, als Putzkraft, als Bedienung, selbst in Fotogeschäften, oder in Restaurants, alles würde er machen, nur keine Filme mehr, nie im Leben. Sogar als Modell hatte er gearbeitet. Nackt zu frieren, machte ihm nichts aus, und das hatte ihn gerettet. Es gab da eine Erna, eine Malerin, die malte nur nackte Männer, und war dabei auch selber nackt… Über sie lernte er einen Journalisten kennen, der einen Fotografen brauchte, um ihn nach Nicaragua zu begleiten. So war Kurts erstes Foto, das in einer Zeitung abgedruckt wurde, in Estelí in Nicaragua entstanden: ein Mann von einer Kugel in die Stirn getroffen.

Sieben Jahre später kehrte Kurt nach Stuttgart zurück. Er hätte dieses Foto gern seiner Mutter gezeigt, sozusagen, als eine Geste der Versöhnung, als ein Zeichen dafür, dass er jetzt alles versteht, auch warum sie ihm damals, als er noch klein war, von einer Mauer erzählt hatte, doch sie wollte nicht mit ihm reden, sie war nach dem Tod des Vaters ein kleines, verschwiegenes, verkrümmtes Wesen, eine schwarze Witwe geworden. Aber auch Kurt war jetzt anders geworden. Die kindlichen Träume waren schon längst ausgeträumt. An den Mann im blauen Anzug dachte er überhaupt nicht mehr. Er war ein Kriegsfotograf. Und es war gut so.

Elf Jahre später kam er aber nach Sarajevo, und zwar auf der Suche nach dem Mann im blauen Anzug, die Welt ist voller Zauber und alles ist möglich.

»Es gibt Geschichten, die man einfach nicht abschütteln kann«, hatte Kurt gesagt, als wir uns 1991 kennen lernten, »egal was man macht, die bleiben an einem hängen ein Leben lang.«

4.

Kurt, Seka und unser Vater Tešo. Oder: Die erste Spur zum Partisan. Sarajevo, Anfang Juli 1991

Auch die dritte Reise nach Sarajevo war für Kurt vergebens, Kurt und Seka haben wieder überall gesucht und wieder nichts gefunden, und als Kurt wieder weg war, kam Seka zu mir ins Theater und meinte, ich könnte ihr helfen. Ausgerechnet ich. Ich hatte gerade von meiner bevorstehenden Entlassung erfahren. Wenn ein Theater nicht mal seine Schauspieler bezahlen kann, dann noch weniger solche wie mich: Drei Jahre lang war ich ein angestellter Theatermaler gewesen, das war jetzt vorbei. Seka zeigte mir ein kleines Foto von einem jungen Mann, auf einer Bühne mit schlecht gemalter Kulisse. Der wollte mit ausgebreiteten Armen die ganze Welt umarmen – wer weiß, warum. Auf der Rückseite stand – mit Kopierstift geschrieben – Sarajevo, 1937. »Was ist das?«, fragte ich. An ihren Partisan hatte ich gar nicht mehr gedacht. »Na, das ist der, den wie suchen, der Partisan.« »Ist das jetzt wieder ein Witz? Das Foto wurde vor 50 Jahren gemacht, wie soll man jetzt noch jemanden darauf erkennen?« Seka drängte: »Ich will nur wissen, ob es irgendwo in Sarajevo so eine Bühne gibt?« Ich würde mich doch im Theater auskennen, alles andere mache sie. Auf diesen Unsinn konnte ich nur antworten: »Na, dann gehst du am besten zu Vater, der sucht auch etwas, was nicht zu finden ist, da könnt ihr euch gleich zusammen tun.«

Unser Vater Tešo war eine traurige Existenz. Er hat sein ganzes Leben auf der Suche nach einem Foto vertrödelt, das es nicht gab. Es ging um eine Rente von 63 Dinare, die man unserem Vater verweigerte, weil er nicht beweisen konnte, dass er auf der Seite der Partisanen gestanden hatte; und beweisen konnte er das nicht, weil er mit allen, die ihm hätten helfen können, verkracht war. In einem Dorf, in dem man dreimal abwägen muss, was man wem, wie und wann sagt, und ob man überhaupt etwas sagt, hielt er nicht hinterm Berg mit dem was er dachte. Noch dazu hatte er eine Frau geheiratet, deren Name gleich dreimal falsch war. Logisch, dass er die drei benötigten Zeugen nicht finden konnte. Daraufhin begann er, von einem Beweis zu faseln, von einem Foto, auf dem er die erste rote Fahne in diesem Flüchtlingskaff gehisst haben wollte, was theoretisch kaum möglich war: 1933 geboren, war er damals noch ein Kind. Doch er blieb dabei: »Es gibt ein Foto, muss es geben«… Am Ende war er nur noch ein armer Teufel, der Selbstgespräche führte. Keiner außer Seka hatte ihm geglaubt. Die hatte sogar ein Märchen für ihn geschrieben: »Ein Pimpf hisst die rote Fahne«. In dem Märchen sucht ein Mann die Gerechtigkeit, und findet sie auch am Ende. In einem Märchen kann alles passieren. Im Leben nicht. Deshalb sagte ich zu Seka: »Geh zu Vater, er sucht auch das, was es nicht gibt. Ihr könnt euch gleich zusammentun«. Doch für Ironie war Seka gänzlich unempfänglich, die prallte geradezu an ihr ab.

Außerdem geschah etwas, das keiner erwartet hätte, schon gar nicht ich.

Seka war mit Kurt tatsächlich bei unserem Vater gewesen, und der hatte in dem Papierchaos, das er sein Archiv nannte, ein Verhörprotokoll gefunden, in dem eine Mundharmonika erwähnt wurde. Welch eine Freude war das! Dabei wurde eine Mundharmonika lediglich erwähnt, keine Rede von einem Partisan im blauen Anzug. Aber sie waren sicher, dass sie jetzt eine richtige Spur gefunden haben, also begann die Suche von vorne, und siehe da, es geschah etwas, was nicht mal unser Vater gehofft hatte: Als Seka Anfang September aus Wien zurück kam, brachte sie ein Foto mit, klein, schwarz-weiß, ein bisschen unscharf, aber ohne Zweifel eben jenes, von dem unser Vater immer geredet hatte, auf dem er, der kleine Tešo, auf einem Dach steht und sich an einem Fahnenmast festhält. »Was sagst du jetzt«, fragte Seka strahlend. »Wie du siehst, werden meine Märchen langsam wahr. Alles ist möglich.« Da hatte ich nichts zu sagen, war in der Tat überrascht.

Aber auch das ist nicht alles: Nachdem Kurt und Seka anhand jenes Verhörprotokolls aus Vaters Privatarchiv nach einem namenlosen Partisanen gesucht und gemeinsam alle Archive in Sarajevo, in Zagreb, in Belgrad, in Kikinda, schließlich in Wien auf den Kopf gestellt hatten, rief Seka mich Ende Oktober 1991 an: «Ich hab’s, ich hab’s!« Ihre Stimme überschlug sich vor Freude. Was hatte sie? Den Partisan? Nein. Die Mundharmonika? Nein. Was denn dann? Endlich eine heiße Spur zum Partisan.

Ein Bekannter von Seka wollte von einem Rentner, einem früheren Gefängniswärter, etwas über einen Gefangenen mit einer Mundharmonika gehört haben. Ich habe gelacht! »Und wo ist da die heiße Spur, bitte sehr?« »Wart es ab«, antwortete Seka nur.

5.

Seka, Sarajevo, Februar 1992. Oder: Die »heiße« Spur wird zum Verhängnis.

Noch war Winter, doch ungesund warm, ruhig und still. Nachts schlief man gar nicht, zog durch die Straßen und sang leise Sevdalinke, nur dass die nicht schön klangen, eher bedrohlich, so gefährlich, dass man Angst bekam. Wir feierten den sechsten Geburtstag meiner Kinder, Sam und Bobo.

Ich hatte zwar keine Arbeit mehr, doch so ein doppelter Geburtstag musste gefeiert werden. Eigentlich hatte ich mit den Kindern in die Berge fahren wollen, zu unserer Räuberhütte, doch mir fehlte das Geld, um meinen alten Yugo zu reparieren. So blieben wir in Sarajevo, und ich kochte Pudding; es waren mehr als fünfzehn Kinder eingeladen. Keines würde kommen, mochte doch niemand mehr diesem seltsamen Frieden in Sarajevo trauen. Menschen verschwanden über Nacht, ohne Abschied. Man hatte Angst, und wollte sich retten. Ich musste in Sarajevo bleiben, hatte schließlich die Kinder am Hals. Für Seka sah es anders aus. Ich hatte ihr schon vor Monaten geraten, zu gehen: »Seka, du musst weg. Ohne Medikamente kannst du nicht überleben«. Sie sah das zwar ein, wollte nur nicht zugeben, dass sie und Kurt trotz aller Fotos und Dokumente womöglich einem Phantom nachgejagt waren.

Von dem Partisan selbst fand sich keine Spur bis auf jenen Gefängniswärter, von dem sie nicht den Namen wusste sondern nur, in welchem Gefängnis er gearbeitet hatte. Hartnäckig fragte sie sich durch, bis sie ihn endlich in einer Kneipe beim Dominospielen fand! Der Rentner wollte sich tatsächlich an einen Gefangenen mit einer Mundharmonika erinnern. Allerdings wäre der kein Partisan gewesen, sondern ein Ustaša, das wusste er angeblich ganz bestimmt, nur an den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern. Bei ihm zu Hause lägen jedoch viele Dokumente, in denen ließe sich vermutlich auch der Name von diesem Gefangenen mit der Mundharmonika finden. Er gab Seka seine Adresse, und sie rief sofort Kurt an, glücklich über diese heiße Spur. Doch als der kaum ein paar Tage später mit dem ersten Flieger ankam, war der Gefängniswärter schon aus Sarajevo verschwunden. In seiner Wohnung lebte ein muslimischer Flüchtling, der von nichts wusste, und die Nachbarn wollten auch nichts wissen.

Danach begann Seka tatsächlich zu packen. Die Kindersachen für Sam und Bobo waren schon verpackt, Kurt würde alle drei mit seinem VW Bus abholen und nach Stuttgart mitnehmen… Die Geburtstagfeier mit Pudding im Februar 1992 sollte so etwas wie ein Abschied sein, deswegen hatten wir überhaupt so viele Kinder eingeladen. Als Seka am Nachmittag endlich kam, sagte sie strahlend, sie brauche nur noch einen Tag, um herauszufinden, wo sich jener Gefängniswärter in Sarajevo versteckt hielte, und sie bleib aber nicht nur einen Tag. Sie suchte nach ihm, bis es zu spät war: Sarajevo zu – und sie drin. Ohne Medikamente. Im Krieg.

6.

Seka, Sarajevo, August, 1992. Krieg

Es war ein stickiger Augustnachmittag, Hitze, kein Wind, kein Lüftchen, nur Krieg. Sarajevo war eingekesselt, niemand konnte rein, niemand konnte raus, weder Alte noch Kranke, noch Kinder. Nur die, die viel Geld hatten, konnten sich freikaufen, aber zu der Sorte gehörten wir nicht. Es langte nicht mal für eine Flasche Öl. Ich war so wütend: auf den Krieg, auf den Frieden, auf die Welt, auf die Kinder, und noch mehr auf Seka. Die hätte theoretisch schon nach zwei Wochen sterben müssen, spätestens im Mai, jetzt war bereits August, und sie lebte noch immer! Und wie sie lebte: Sie sauste jeden Tag von ihrer Wohnung in Koševo bis nach Malta, wo unsere Wohnung war, das sind gut und gern fünf Kilometer, also zehn Kilometer täglich. Ein Wunder.

Sie konnte nicht kochen, wusste nicht, wo man was zu essen bekommt, nicht mal, wie man Feuer macht, sie wusste nichts außer ihren märchenhaften Geschichten, die mit einer guten Wendung ausgehen.

Selbst ein Blinder hätte gesehen, dass es keine gute Wendung mehr geben konnte, aber Seka kam jeden Tag zu uns und erzählte den Kindern: »Morgen oder übermorgen wird ein Auto vorbeifahren, blau, groß, so groß, dass man darin spielen kann, und schlafen, denn in diesem Auto gibt es sogar Betten, auch einen Kühlschrank, und Wasser, und Cola und Schokolade und Eis und sogar einen Fernseher, und im Fernsehen viele Zeichentrickfilme…«. Mit dem Auto werden sie diese verdammte Stadt verlassen und irgendwo draußen leben, wo es keine Kriegsverbrecher gibt, und Tante Seka wird einen Film machen, und wenn die Kinder jetzt ganz tough bleiben, dürfen sie auch mitspielen und bei der Premiere dabei sein, und danach kommt der nächste Film, und nach diesem wieder der nächste, ohne Wenn und Aber, und die Sterne und der Himmel, und alles wird gut, aber ja doch, selbstverständlich…

So ging das über Monate. Beruhigte sie ihr schlechtes Gewissen? Egal, ich hasste sie, hatten sich doch alle meine Befürchtungen bewahrheitet: Ihr mieser Kriegsfotograf hatte sie sitzen lassen, und die kranke Irre merkte das nicht mal, sondern erzählte uns Märchen, und die Kinder hatten aufgeblähte Bäuche, aber hörten ihr mit offenem Mund, mit großen Augen zu, dachten nicht an Hunger, sondern an jenes weite Land, wo die Zukunft auf sie wartete, und ich schwieg. Ich fraß den Frust in mich hinein, machte mir Vorwürfe und schwieg.

Mitte August erkrankten die Kinder dann beide gleichzeitig. Sie hatten Durst und so lange um Wasser gebettelt, bis ich nachgab, weil ich es nicht mehr ertrug, und am nächsten Tag konnten sie nicht mehr aufstehen, am übernächsten nicht mehr reden, hatten Fieber, selbst Essigwickel halfen nichts. Draußen überall Kämpfe, man konnte gar nicht raus, wozu auch? Es gab weder einen Arzt noch Medikamente, und dann kam Seka und begann wieder mit ihrem Märchen vom Auto, blau, groß, mit Betten und Cola und Zeichentrickfilmen… Da konnte und wollte ich nicht mehr und platzte: »Halt dein blödes Maul!« Sie solle die Kinder in Ruhe sterben lassen. Seka verstummte, ihr Gesicht dunkelblau, ihr Mund übersät mit Herpes, eigentlich nur noch eine Leiche auf zwei Beinen. Weil ich es in der Wohnung nicht mehr aushielt, und in meiner Haut auch nicht, ging ich raus und dachte daran, dass ich irgendwo ein bisschen Gips finden müsse, um bei der Hitze die Leichen meiner Kinder zwei, drei Wochen in der Wohnung auf zu bewahren.

Traurig war ich nicht, nur wütend, dass ich weiter leben musste, wütend, dass die Kinder nicht vor dem Krieg gestorben waren, wütend, dass ich so eine Schwester hatte… In dem Moment sah ich einen blauen VW-Bus vorfahren und parken, und aus dem Bus kletterte Kurt und lachte mich an.

Kurt hatte Seka und die Kinder eigentlich schon zu Beginn des Krieges abholen wollen, wurde aber kurz vor Sarajevo angehalten. Man nahm ihm alle Papiere ab und sagte, er müsse warten. Nach 20 Tagen ließ man ihn frei. Aber seine Papiere – sein Pass, seine Akkreditierung, sein Führerschein – waren nicht aufzufinden, angeblich verloren, und er musste zurück, um alles wieder zu beantragen… das heisst: Zuerst musste er beweisen, dass er seine Dokumente nicht verkauft hatte. Die Sache zog sich hin, davon wollte er Seka nichts erzählen, um ihr die Hoffnung nicht zu nehmen, und Seka wiederum, wollte uns die Hoffnung nicht nehmen, obwohl sie verzweifelt gewesen sein musste.

Am 20. August 1992 kam Kurt endlich mit seinem Bus an. Es blieb kaum Zeit zum Abschied nehmen. Ich weiß nur, dass Seka – dieses Häufchen Elend – noch am Ende leise zu mir sagte: »Bestimmt habe ich irgendwo einen Fehler gemacht, aber wo?« Was das heißen sollte, habe ich nicht gefragt. Auch dafür gab es keine Zeit.

7.

Eine Flucht aus dem belagerten Sarajevo. Oder: Reisetaschen mit der Mundharmonika. Admira und Boško, der 19. Mai 1993