image

Ingeborg Bellmann/Brigitte Biermann

Vatersuche

Ingeborg Bellmann
Brigitte Biermann

Vatersuche

Töchter erzählen
ihre Geschichte

image

Wir danken Anita, Anna, Astrid, Beatrix, Brigitte, Charlotte, Daniela, Gaby, Julia, Karin, Katharina, Maria, Marianne, Moni, Pia, Sandra, Sigrid, Sissy, Stefanie und Theresa für ihre Offenheit und ihr Vertrauen.

Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1., überarbeitete Auflage als E-Book, Dezember 2016

eISBN 978-3-86284-371-8

Inhalt

Die Vatersuche der Töchter

Vorwort

Das Bild vom Vater

Marianne: »Mein Vater war für mich Luft.«

Maria: »Vater verstorben, fertig.«

Anna: »Als ich den Friedhof betrat, fühlte ich, er ist hier.«

Gaby: »… den hättest du gar nicht treffen müssen.«

Daniela: »Manchmal dachte ich, er sei ein Hirngespinst.«

Prof. Dr. med. Horst Petri: Seelische Folgen der Vaterentbehrung und ihre Verarbeitung bei Frauen

Das Schweigen der Mütter

Beatrix: »Ich war also niemand.«

Astrid: »Die einzige Angabe meiner Mutter, die stimmt, ist mein Geburtsdatum.«

Brigitte: »Für meine Mutter bin ich die Böse.«

Sissy: »Zu meinem Glück fehlt mir nur eins: die Wahrheit.«

Charlotte: »Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, wer ich bin.«

Gisela Heidenreich: Das Schweigen der Mütter ist das Leiden der Töchter

Konfrontation mit der Realität: So einfach ist es nicht

Sigrid: »Der Vater meines Lebens war mein Adoptivvater.«

Theresa: »Ich habe kein Familiengefühl.«

Sandra: »Selbst im Sterben konnte er das Lügen nicht lassen.«

Pia: »Eventuell lebt dein Vater noch. Du kannst ihn ja suchen.«

Julia: »Ich fühle mich immer noch allein gelassen.«

Konfrontation mit der Realität: Es war so einfach

Stefanie: »Ich bin das Kind einer großen Liebe.«

Katharina: »Ja, das ist unser Blut!«

Karin: »Tach, Herbert, mach mal ’ne Kanne Kaffee!«

Anita: »Mit einem Schlag wurde mir bewusst, wie anders mein Leben hätte sein können.«

Moni: »Ich war ganz stolz, dass mich mein richtiger Vater zum Altar geführt hat.«

Interview mit Dipl.-Psychologin Sigrid Huth: Die Sehnsucht nach dem Vater: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Anhang

Suchadressen

Leseempfehlungen

Zu den Experten

Über die Autorinnen

Die Vatersuche der Töchter

Problemkinder sind sie nicht, die vaterlosen Töchter, sie sind gesellschaftlich nie auffällig geworden. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, dass über die Töchter, die ohne ihre leiblichen Väter aufgewachsen sind, weder psychologische noch sozialwissenschaftliche Studien vorliegen. Selbst in der Literaturwissenschaft wird ihr Schicksal nur auf Nebenschauplätzen, als Folge des Liebesverrats, der Treulosigkeit, Buhlschaft oder Schändung verhandelt. Auch das erkenntnisleitende Motiv der Vatersuche, der Weg in die Welt als Prozess der Selbstfindung, ist in der christlich-abendländischen Literaturgeschichte ausschließlich ein Privileg der Söhne.

Dass die abwesenden Väter auch eine Rolle im Leben der Töchter spielen und was es für diese bedeutet, ohne ihren Vater aufzuwachsen, scheint bislang – außer in psychoanalytischen Fallstudien oder therapeutischen Prozessen – niemanden interessiert zu haben. Obwohl es längst zum Allgemeingut gehört, dass, wer eine Mutter hat, auf der Welt ist, dass aber, wer einen Vater hat, auch einen Platz in ihr findet, bleibt die Frage: Was machen die Töchter, die ihren Vater nicht kennen?

Von Marilyn Monroe wissen wir, dass sie sich zeitlebens danach gesehnt hat, ihren Vater kennen zu lernen. Bis heute interpretieren Psychologen und Klatschreporter die Wahl ihrer Liebhaber und Ehemänner als Ausdruck ihres »Vaterkomplexes«. Doch was, wenn die Wahl ihrer Liebhaber und Ehemänner schlicht Ausdruck eines sehr komplexen Vaterbildes und die Komplexität dieses Vaterbildes ein Ausdruck ihrer Vatersuche war?

Joyce Carol Oates beschreibt in »Blond«, einer fiktiven Biographie über Marilyn Monroe, wie viel Energie und Phantasie Marilyn Monroe aufgewendet hat, um sich ihren Vater immer wieder neu zu erfinden. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Vatergeschichtenerfindung auch eine Möglichkeit ist, in die Welt zu kommen, sich anhand des Geschichtenerzählens in ihr zu orientieren und zurechtzufinden.

Dass es verdammt durcheinander zugehen kann in einer Welt ohne Vater, wissen wir von der berühmtesten Vater-Geschichten-Erfinderin aller Zeiten: Pippi Langstrumpf. Herrin der Villa Kunterbunt ist die Phantasie. Seemannsgarn spinnen gehört zur Tagesordnung. Doch als Pippis Vater »Efraim Langstrumpf, früher der Schrecken der Meere, jetzt Negerkönig«, wirklich auftaucht, ist jeder Zweifel an Pippis Geschichten dahin. Pippis Platz im Leben und in der Welt ist gesichert.

Joyce Carol Oates und Astrid Lindgren haben uns hier die Augen für das Schicksal der vaterlosen Töchter und das Drama der Vaterentbehrung geöffnet. Sie haben das Geschichtenerfinden als eine Fähigkeit der Lebensbewältigungs- und Überlebensstrategie hoffähig gemacht. Doch weder Joyce Carol Oates noch Astrid Lindgren haben die Fähigkeiten ihrer Protagonistinnen genutzt und sie aktiv ihren Vater suchen lassen. Marilyn Monroes Leben endet im Mythos vom Hollywood-Opfer, und Pippis Spur verliert sich vermutlich irgendwo in Taka-Tuka-Land.

Das Kapitel ihrer Vatersuche müssen die vaterlosen Töchter also selbst schreiben.

20 Frauen – vaterlos oder mit einem Stiefvater aufgewachsen – haben uns die Geschichte ihrer Suche erzählt: von der Entdeckung, dass der Mann daheim nicht der richtige Vater ist, von langem Zögern, der Angst vor einer Begegnung mit dem leiblichen Vater, von frustrierenden, aber auch glücklichen Zusammentreffen und auch von der Not, niemals zu erfahren, wie ihr Vater aussieht, riecht, spricht.

Im Gepäck ihrer Vatersuche hatten die Töchter meist nicht viel mehr als die Andeutungen ihrer Mütter, Vermutungen und ein paar vage Erinnerungen; gab es einen Namen, eine Nummer oder gar ein Foto ihres Vaters, war das schon viel.

Dass nicht immer die räumliche Entfernung entscheidend dafür ist, ob die Tochter den Weg zu ihrem Vater finden kann, beschreibt am deutlichsten die Lebensgeschichte von Marianne. Ihr Vater lebte bis zu seinem Tod gerade mal einen Steinwurf weit entfernt, und nie hat sie mit ihm auch nur ein Wort gewechselt.

Natürlich klingen in den Lebensgeschichten der vatersuchenden Töchter auch die Geschichten ihrer Mütter und Väter mit. Geschichten, die vor ihrer Zeit stattgefunden haben, die sie nur vom Hörensagen kennen oder die sie sich selbst zusammenreimen mussten: Treuebruch, gekränkte Eitelkeiten, verpasste Chancen, die bucklige Verwandtschaft, der Tod des Vaters als unabwendbares Schicksal, der Vaterverlust als Folge des Krieges, die Teilung Deutschlands – es ist ein Thema mit vielen Variationen. Zugleich sind diese Geschichten Mosaiksteinchen zur Sitten- und Moralgeschichte fast eines ganzen Jahrhunderts und nicht zuletzt eine Reise durch das geteilte und wiedervereinte Deutschland. Womit eines gewiss ist: Es sind immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Lebensgeschichten der Töchter mitgeschrieben haben.

Welche Bedeutung der abwesende Vater für ihr Leben hatte, welche Rolle sie ihm auf der inneren Bühne erfunden und wie sie ihn gesucht haben, wollten wir von den 20 Frauen, mit denen wir gesprochen haben, genauer wissen. Fragen, die sie zurückgeschickt haben in eine Zeit, an die sich einige nur mit Schmerzen und Tränen erinnern konnten.

Viele Geschichten beginnen im Heim, bei Pflegeeltern, Großeltern oder Tanten. Der Mann im Haus der Mutter wurde kurzerhand zum Vater der Tochter, womit zwar der äußere Schein gewahrt war, aber der Realitätssinn der Tochter attackiert wurde. In den seltensten Fällen lagen im Leben der Töchter, die ohne ihren leiblichen Vater groß wurden, die Karten offen auf dem Tisch. Mühsam mussten sie, von Andeutungen, Hinweisen, einem Flickwerk von Geschichten ausgehend, sich die Geschichte ihres eigenen Lebens suchen. Und häufig wurde der richtige Vater auf ihrer inneren Bühne zu dem Helden, mit dem sie ein anderes Leben hätten führen können, eines mit mehr Aufmerksamkeit, mehr Zärtlichkeit, mehr Liebe.

Anders als Marilyn Monroe oder Pippi Langstrumpf sind unsere Gesprächspartnerinnen jedoch keine Vatergeschichtenerfinderinnen. Wenn es um den leiblichen Vater geht, unterscheiden sie sehr genau, wie sie sich ihren Vater vorgestellt, was sie sich ausgedacht haben und was wirklich geschehen ist.

Szene für Szene reihen sie die Momente ihrer Suche wie in einem Film aneinander. Vaterlose Töchter sind Geschichtenerzählerinnen, so scheint es. Doch ihr Erzähltalent ist zugleich Ausdruck ihrer Not. Denn viel mehr als diese Episoden haben sie nicht. Manchmal reichen die Finger einer Hand aus, um die markanten Momente bei der Suche nach dem Vater zu zählen, und oft genug sind auch diese Geschichten genau genommen Bestandteil fremden und nicht des eigenen Lebens. Entsprechend kostbar sind die Erinnerungen und Augenblicke, in denen die Idee oder das Bild des Vaters, mitunter sogar dieser selbst, auftauchen.

Auch wenn nicht alle Töchter ihren Vater gefunden haben und ihn vielleicht auch nie finden werden – allein die Beschäftigung mit der Frage, wie ein Leben mit ihm hätte aussehen können, hat etwas von ihrem Vater in ihr Leben geholt und damit fast immer auch einen Prozess der Selbstfindung ausgelöst.

Anhand ihrer Erfahrungen beschreiben die 20 Töchter in diesem Buch, wie sehr die Vaterentbehrung ihr Leben geprägt hat: dass die Vatersuche nicht nur im Äußeren stattfindet, ein oft mühseliger Weg durch Ämter und Behörden, sondern auch eine Reise ins Innere ist. Schonungslos und aufrichtig stellen sie sich die Fragen: Wer bin ich? Was bedeutet es, einen Teil von mir nicht zu kennen, nur unvollständige Wurzeln zu haben? Wie viel vom Vater steckt in mir? Inwieweit hat der Vater mein Selbstverständnis als Frau, vielleicht auch meine sexuelle Identität bestimmt, obwohl er abwesend war? Welches Männerbild habe ich? Nach welchen Kriterien habe ich meine Partner gewählt, und was müssen die leisten? Sie sprechen vom Mut, ein eigenes Leben zu entwerfen. Viele beschreiben einen Weg ohne männliche oder weibliche Vorbilder und ihre Zweifel, überhaupt einen Platz in der Welt zu finden.

Die Psychotherapeuten und -analytiker Gisela Heidenreich, Sigrid Huth und Wolfgang Petri haben die Probleme von Töchtern, die ohne ihren leiblichen Vater aufgewachsen sind, in diesem Buch einfühlsam und einleuchtend dargelegt. Dafür danken wir ihnen sehr. Die wahren Expertinnen jedoch für die Frage, welche Rolle ein abwesender Vater im Leben der Töchter spielt, sind die Töchter, die hier zu Wort kommen.

Das Bild vom Vater

»Mein Vater war für mich Luft.«

Marianne, ein kleines Dorf im Spessart, geboren 1935

Im Dorf kursiert die Geschichte, Marianne wisse nicht, wer ihr Vater sei. Doch Marianne weiß es. Das wahre Geheimnis ihrer Geschichte ist möglicherweise schlimmer als das Gerücht, das sich bis heute hält. Vom Wohnzimmerfenster aus kann sie direkt auf das Haus ihres Vaters schauen. Marianne hat zwei Töchter, einen Sohn und drei Enkel. Bald feiert sie Goldene Hochzeit. Mit ihrem Mann hat sie Glück gehabt: Er habe ihr beigestanden und immer zu ihr gehalten, auch wenn’s schwierig war, sagt sie. Während unseres Gespräches schaut er manchmal von draußen durchs Fenster und lächelt.

Ein Vater ist einer, der für seine Kinder sorgt, der für seine Kinder da ist, auch wenn sie mal ganz unten sind. Einer, der sagt, komm her, ich bin auch noch da, das ist ein Vater. Aber einer, der einem ganz jungen Mädchen ein Kind macht und es dann hängen lässt? 1935? Hier, in dem kleinen Dorf? Ach nee. Meine Mutter war doch erst 16. Das war eine Schande. Meine Mutter wurde geächtet. Was die wegen mir hat aushalten müssen … Ich war ja ein Schandenkind. Deshalb war mein Opa auch erst so eklig und wollte, dass ich in ein Heim komme. Aber meine Mutter hat gesagt: Ich hätte dich nie weggegeben. Lieber wär’ ich mit dir ins Wasser gegangen.

Als ich dann älter war, war mein Opa auch gut zu mir. Aber am Anfang hat meine Mutter sehr unter ihm gelitten und ich auch. Das war eine schlimme Zeit für meine Mutter. Sehr schlimm. Ich habe gespürt, dass etwas nicht richtig war. Ich habe mich auch irgendwie immer geschämt. Vielleicht, weil ich so hieß wie meine Mutter und mein Opa? Vielleicht, weil kein Vater da war? Vielleicht war’s auch das Getuschel der Nachbarn? Man kriegt das als Kind ja mit. Man merkt, wenn über einen gesprochen wird.

Ich weiß noch, wir hatten eine Nachbarin, mit deren Tochter ich im Winter immer zusammen in der Stube beim Kachelofen gespielt habe. Die Nachbarin hatte auch einen Jungen, ein Jahr jünger als ich, aber der war gestorben. Während ich also mit dem Nachbarsmädchen spiele, höre ich, wie die Nachbarin zu ihrem Besuch sagt: Guck, so Kinder gedeihen. Die sterben nicht. Und unseres musst’ sterben.

Ich hatte sofort das Gefühl, die meint mich.

Heute sage ich mir immer, Menschen, die der liebe Gott nicht will, die lässt er nicht auf die Welt kommen. Jeder Mensch, der auf die Welt kommen soll, der kommt. Da kann man machen, was man will. Offensichtlich sollte ich auf die Welt kommen.

Wenn man mich in der Schule gefragt hat, habe ich immer gesagt: Ich habe keinen Vater. Es war auch gar nicht so ungewöhnlich, dass ich keinen Vater hatte. Im Krieg waren so viele Männer weg. Außerdem wusste ich ja, wer mein Vater ist. Das habe ich schon ganz früh erfahren. Meine Oma hat’s mir gesagt. Der wohnte da drüben. Das war früher ein armer Bub, der war Knecht. Bis er sich die Christel angelacht und meine Mutter mitsamt dem Kind hat sitzen lassen. Zuerst hat er’s abgestritten, hat gesagt, er wär’ nicht mein Vater. Aber die Blutprobe hat ergeben, dass er doch der Vater war. Mit 16 Jahren kann meine Mutter auch noch nicht so viele Männer gehabt haben. Aber meine Mutter hat darüber nie was erzählt, und ich habe auch nicht gefragt.

Natürlich bin ich meinem Vater auch auf der Straße begegnet, das bleibt in so einem kleinen Dorf nicht aus. Aber das war so, als ob ich an einem fremden Menschen vorbeigehe. Deshalb sage ich ja: Er ist kein Vater. Wenn er ein Vater gewesen wäre, dann hätte er mal mit mir gesprochen. Ein Vater ist etwas ganz anderes. Ein Vater ist ein Mensch, an den man sich klammern kann. Mein Vater war für mich Luft.

Ich kenne die ehelichen Söhne meines Vaters, die wohnen hier im Dorf. Sie sind meine Halbbrüder, aber mit denen habe ich auch nie darüber gesprochen. Ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte.

Als Kind habe ich auch nicht so viel nachgedacht, das kam mehr im Alter. Einen Vater habe ich nicht vermisst. Auf dem Dorf ist es ja doch ein bisschen anders: Da kommt mal der und mal der angelaufen, man hat die Nachbarn gekannt, der Opa war da. Also, ich muss sagen, ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Mutter hat mich richtig verwöhnt, die hätte mich nicht hergegeben, für alles in der Welt nicht. Sie hat mich immer so schön angezogen, dass sogar die Gemeindeschwester sagte: Aber Minchen, aus einem Kind macht man doch keine Zierpuppe!

1940, im Krieg, hat meine Mutter dann geheiratet. Meine Schwester ist 1943 geboren und ihr Vater ’44 gefallen. Meine Schwester kennt ihren Vater gar nicht. Aber sie fragt mich auch nie nach ihm, sie will nichts hören von früher. Die ist nicht so wie ich, mich bewegt das Leben von früher sehr. Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Nachricht kam, dass der Vater meiner Schwester gefallen ist. Das war schrecklich, du liebe Zeit …

Den Vater meiner Schwester habe ich gemocht, der war gut zu mir, das muss ich sagen. Der hat immer zu mir gesagt: Du bist mein Müppel. So sagte man, wenn man mit Kindern schmust, sie drückt und gern hat. Eigentlich war der für mich wie ein Vater, nicht mein Opa.

Mein Opa wollte mich am Anfang auch nicht, erst als er im Sterben lag und ich nachts bei ihm saß. Da hat er immer meine Hand gesucht. Ich habe sie ihm auch gegeben und ihm auf dem Totenbett alles verziehen.

Nach dem Krieg, 1947, hat meine Mutter den Vater meines Bruders geheiratet, der kam aus dem Osten. Ich war damals zwölf Jahre alt und wollte den nicht. Ich hatte das Gefühl, der nimmt mir was weg. Außerdem war er ein Trinker. 1950 ist dann mein Bruder Robert geboren, da war ich 16 Jahre, so alt wie meine Mutter, als sie mich gekriegt hat. Und zwei Jahre später bekam sie Krebs.

Als sie im August das letzte Mal im Krankenhaus war, sagte die Gemeindeschwester zu mir: Marianne, ich habe mit dem Arzt gesprochen, die Mama wird nicht mehr gesund.

Meine Mutter war 34 Jahre alt, als sie starb. Ich war 18, meine Schwester zehn, und der Robert war drei. Ich bin das einzige Kind, das noch richtig etwas von unserer Mutter mitbekommen hat. Ich habe dann den Robert und meine Schwester großgezogen und Robert auch mit in meine Ehe genommen.

Eigentlich hatte ich mir mein Leben anders vorgestellt. Ich wollte gerne nach Amerika. Eine Nichte meiner Oma, die in Amerika lebte, war 1937 hier zu Besuch. Sie hatte selbst keine Kinder, mochte mich und wollte mich nach dem Krieg zu sich holen. Aber es kam natürlich ganz anders, ich habe mich nämlich in meinen Mann verliebt.

Wir hatten Musik und Tanz auf dem Dorf. Ich war damals ein begehrtes junges Mädchen, bildhübsch. Da kamen viele, die mit mir tanzen wollten, aber die haben mir alle nicht gefallen. Ich hatte immer das Gefühl, die wollten mich nur ausnehmen. Bei meinem Mann war das anders. Der hat mir gleich gefallen. Ach, der hatte so schöne Locken! Wir haben richtig gut zusammengepasst. Bis wir zum ersten Mal intim wurden, sind wir lange miteinander gegangen, zwei Jahre vielleicht. Er hat einfach Rücksicht genommen, obwohl er ja auch noch sehr jung war. Das hat mir gefallen.

Als meine Mutter gemerkt hat, dass es mit mir und meinem Mann ernst wurde, hat sie mich mal beiseite genommen und mir gesagt, dass sie nichts gegen meinen Mann habe, aber nicht Schuld daran sein möchte, dass, wenn ich mal ein Kind kriege, es wegen der engen Verwandtschaftsverhältnisse nicht ganz richtig sei. Ich wollte damals sofort Schluss machen mit meinem Mann. Aber wir sind doch nicht auseinander gekommen.

Ich habe so lange mit der Hochzeit gewartet, bis es nicht mehr ging: Sechs Wochen vor der Geburt meiner Tochter, im Mai 1955, habe ich erst geheiratet. Ich wollte nicht in das Haus meines Mannes, denn meine Mutter hatte mir anvertraut, dass der Onkel meines Mannes auch der Vater meines Vaters war. Und dieser Onkel hatte damals die Mutter meines Vaters auch sitzen gelassen. Wenn der Onkel meines Mannes die Mutter meines Vaters geheiratet hätte, dann hätte auch mein Vater schon den Namen gehabt, den ich heute habe. So trug mein Vater, wie ich ja auch, nur den Mädchennamen seiner Mutter, war wie ich auch ein uneheliches Kind. Und dadurch, dass ich meinen Mann geheiratet habe, komme ich in das Haus des leiblichen Vaters meines Vaters! Das muss man sich mal vorstellen: Ich kriege den Namen, der meinem Vater auch gehört hätte …

Jedes meiner drei Kinder habe ich mit Angst bekommen. Habe immer gedacht: Hoffentlich, hoffentlich passiert nichts! Und Gott sei Dank, es ist immer alles gut gegangen. Ich habe drei gesunde Kinder bekommen.

Die Geburt meiner Kinder war das Schönste in meinem Leben: wenn man nach all den Schmerzen dieses Menschlein in den Arm gelegt bekommt, es an die Brust nimmt – dieses Gefühl: Das habe ich geboren. Diese Liebe und Herzenswärme kann einem niemand nehmen. Das muss meine Mutter auch so empfunden haben.

Aber die Geschichte geht noch weiter: Die Oma meiner Schwiegertochter väterlicherseits wäre auch meine Oma, wenn der Onkel meines Mannes sie geheiratet hätte, aber die hat er auch sitzen gelassen. Das kann man kaum verstehen, so kompliziert ist das.

Meinen Töchtern habe ich erzählt, wie ich mit der Familie verstrickt bin. Aber mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter habe ich darüber nicht gesprochen. Wenn die jetzt hier hereinkämen, würde ich sofort aufhören, darüber zu sprechen. Besser, ich bin still.

Wenn ich manchmal so traurig bin, liegt es daran, dass mir alles retour geht, mir alles so leid und weh tut. Meine Mutter hatte kein Glück im Leben. Aber ich glaube auch nicht, dass das Leben meiner Mutter leichter gewesen wäre, wenn mein Vater bei uns gewesen wäre. Ich glaube, weil ich so denke, habe ich auch keinen Zorn auf meinen Vater und denke nichts Schlimmes über ihn. Ich war sogar auf seiner Beerdigung. Aber ich war nicht an seinem Grab, Erde habe ich ihm keine hineingeworfen.

Viel wichtiger und schlimmer für mich und mein Leben war, dass meine Mutter so früh schwer krank geworden ist. In nur drei Monaten, von September bis November, habe ich ihr 600 Mal Morphium gespritzt, ich habe die Spritzen gezählt. Aber als meine Mutter dann tot war und ich alleine dastand, wäre ich froh gewesen, wenn mein Vater gekommen wäre und gesagt hätte: Komm Kind, wenn du mal jemanden brauchst, ich bin auch noch da. Aber das war nicht der Fall.

Heute würde ich von meinem Vater gerne wissen, warum er meine Mutter sitzen gelassen hat. Ob die andere Frau schuld war? Das würde ich ihn fragen, mehr nicht.

»Vater verstorben, fertig.«

Maria, Dexheim, geboren 1937

Maria war ein klassisches Landei, bis sie ihren Mann, einen Binnenschiffer, kennen lernte. Mit 22 bekam sie ihre Tochter, dann ging sie mit ihm aufs Schiff. Schiffsführer, Steuermann und Mädchen für alles war sie in den 37 Jahren, die sie tagein, tagaus Main, Neckar und Oberrhein rauf und runter fuhren. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem Haus auf dem Land. Wenn sie morgens im Bett liegt, wenn es stürmt und regnet, denkt sie: Ach wie schön, brauche ich nicht raus ins Nasse. Trotzdem träumt sie fast jede Nacht vom Wasser. Einmal in der Woche ist Oma-Tag, dann fährt sie zu ihrer Tochter in die Stadt, passt auf die Enkel auf und kocht.

Im Januar ist mein Vater gestorben, und im März 1937 bin ich geboren. Meine Mutter hat zwölf Mark Waisenrente für mich bekommen. Im Monat! Was konnte sie damit anfangen? Nichts. Also ist sie arbeiten gegangen. Mal war ich dann bei ihrer und mal bei der Mutter meines Vaters.

Natürlich hat mir meine Mutter gesagt, dass mein Vater tot ist, aber erzählt hat sie mir nichts von ihm. Was auch? Sie war ja gerade mal vier oder fünf Monate verheiratet. Dafür hat mich meine Oma väterlicherseits immer mit zum Friedhof genommen. Da unten liegt dein Papa, hat sie gesagt.

Was tut der da unten? Wo ich ihn doch hier bräuchte! habe ich gedacht.

Ich weiß nicht, ob ich auf meinen Vater sauer war. Ich bin mit zum Grab, aber ehrlich gesagt, war er mir auch egal. Was soll man sich als Kind denn auch vorstellen, wenn man vor einem Grab steht, ein bisschen Erde und Blumen sieht? Mehr ist da ja nicht. Wie kann man ein Verhältnis zu einem Toten haben, wenn man nicht mal weiß, wie er aussieht? Wenn es gerade mal ein einziges Foto von ihm gibt und das auch nur die Vergrößerung aus dem Hochzeitsbild der Eltern ist. Wie hätte ich mir denn meinen Vater vorstellen sollen? Wie seine Familie, bei der ich mich nicht wohl gefühlt habe? Wie seinen Bruder, den ich nicht mochte? Ich kannte meinen Vater nicht und kann mich auch nicht erinnern, dass ich ihn vermisst habe.

Vielleicht ist es mir in der Schule erst richtig aufgefallen, dass ich keinen Vater hatte, weil wir dort den Namen des Vaters angeben mussten. Wenn ich dran kam, habe ich immer gleich gesagt: Vater verstorben, fertig. Es spielte keine große Rolle für mich, ob ich einen Vater hatte oder nicht, in meiner Generation sind ja fast alle Kinder ohne ihre Väter aufgewachsen. Der Vater meiner Freundin ist gefallen, da war sie zwei: Die hat ihren Vater auch nicht gekannt. Also war das bei mir nichts Besonderes. Das Besondere war eher, dass mein Vater nicht im Krieg und vor meiner Geburt gestorben war.

Jedenfalls hat meine Mutter 1940 wieder geheiratet, einen SA-Mann. Ich erinnere mich noch, ich war drei, da kommt eines Tages einer auf einem Gaul angeritten. Meine Mutter hat ihn uns als ihren neuen Bekannten vorgestellt. Sechs Wochen später haben sie geheiratet, vier Tage darauf ist er in den Krieg gezogen. Einmal ist er noch auf Urlaub da gewesen, und ein Jahr später, 1944, kam mein Bruder auf die Welt.

Als mein Stiefvater aus dem Krieg zurückkehrte und wir ihn vom Zug abholten, haben wir ihn erst gar nicht erkannt. Er hatte einen langen Bart, war rappeldürr, hatte einen Plattkopp, weil sie ihn kahl geschoren hatten, und konnte nicht mehr laufen. Er sah aus wie einer aus’m KZ, hat nur noch 80 Pfund gewogen.

Beim Bauern haben wir uns einen Handwagen besorgt und ihn heimgezogen. Er war ein fremder Mann, nicht nur für mich, auch für seinen Sohn, der hatte seinen Vater ja noch nie gesehen. Das war furchtbar: Mama, Mann raus! Mama, Mann raus! hat der Kleine geschrien, die ganze Nacht durch.

1945 ist mein Stiefvater aus dem Krieg gekommen, und eigentlich hat meine Mutter ihren Mann da auch erst kennen gelernt und festgestellt, dass sie nicht zusammenpassten. Aber Scheidung gab’s damals im Ort nicht. Die geschiedenen Frauen konnte man an den Fingern einer Hand abzählen, jeder wusste genau: Die ist geschieden, oje, mit der bloß nix reden.

Und dann ging das Drama los: Streit und Krach … Meine Mutter hat sich damals nur noch ans Essen gehalten. Auf einmal war sie richtig dick. Mein Stiefvater war … – ich glaube, irgendwie hatten diese SA-Leute nicht viel im Kopf. Aber ich kann meinem Stiefvater auch nicht allein die Schuld geben. Das war einfach ein komisches Verhältnis. Wenn meine Mutter weg war, hat mein Stiefvater geflennt, wenn sie wieder da war, ging der Streit von vorne los. Die sind einfach mit sich selbst nicht fertig geworden.

Aber eins muss ich sagen, ich finde es nicht gut, wenn ein Mann eine Frau mit einem Kind heiratet, gerade wenn es ein Mädchen ist. Man sollte da eigentlich gar nicht drüber reden … Aber die meisten Sachen passieren gerade in den Familien, die angeblich »ordentlich« sind, wie zum Beispiel die gute katholische Familie meines Vaters. Die hatten alle Geschäfte und waren, was man im Ort unter »besseren Bürgern« verstand. Der zweitälteste Bruder meines Vaters ist in die Kirche gegangen, hat gebetet und dann überlegt, was er anstellen kann. Ich habe diesen Mann gehasst wie die Pest. Jeden Morgen ist er in meine Schlafstube gekommen und hat mir an die Brust gefasst: Ich muss mal gucken, ob deine Brust wächst, hat er gesagt.

Einmal habe ich versucht, mit meiner Oma darüber zu reden. Bist du ruhig, du dumm’ Kind! hat sie mich angefahren. So was macht der doch nicht, das sind deine Phantasien!

Meine Phantasien. Es ist immer alles auf die Kinder geschoben worden, weil einfach nicht sein durfte, was war. Es ist auch keine Entschuldigung, dass wir so eng zusammengewohnt haben. Mein Stiefvater war genauso. Ich hatte überhaupt keine Zeit, ein Kind zu sein. Es war eigentlich nur ein einziger Kampf. Und irgendwie prägt einen das fürs ganze Leben.

Als mein Stiefvater angefangen hat, sich mehr als rechtens für mich zu interessieren, habe ich zu meiner Mutter gesagt: Der kann die Finger nicht bei sich behalten. Da war natürlich richtig Zirkus. An dem Abend bin ich fortgelaufen, und sie haben mich gesucht, das vergesse ich im Leben nicht. Von da ab ging es – wenn mein Stiefvater nicht gerade getrunken hatte. Gemein war er eigentlich nie. Aber ich habe auch immer aufgepasst, das nichts passiert. Habe darauf geachtet, dass ich nie mit ihm alleine in einem Raum war, habe meinen kleinen Bruder geholt oder eine Freundin mit nach Hause gebracht, damit erst überhaupt keine Gelegenheit entstehen konnte. Nachts habe ich bei meinem Bruder geschlafen. Aber mein Stiefvater hat viel getrunken, und wenn er getrunken hatte, war er sehr liebebedürftig.

Ich glaube, ich habe mir als Kind nicht allzu viel gefallen lassen und konnte mir eigentlich ganz gut selbst helfen. Ich habe nur den Mund gehalten, weil ich der Mama nicht wehtun wollte. Wenn es zu viel war, habe ich auch was gesagt. Beispielsweise ist meine Mama mal vier Wochen zur Kur gewesen, als ich zehn oder elf war, da musste ich mit dem Stiefvater und meinem sieben Jahre jüngeren Bruder alleine bleiben. Danach habe ich zu meiner Mutter gesagt: Das mach’ ich nicht mehr.

Ob mir in dieser Zeit mein richtiger Vater gefehlt hat, weiß ich nicht. Ich habe immer gedacht, wenn die Männer alle so sind wie mein Onkel und mein Stiefvater, vielleicht wäre mein Vater genauso? Dann wäre es schlimmer gewesen, er hätte gelebt. So wusste ich einfach nicht, ob mein Vater auch so war. Mein Großvater, der Vater meines Vaters, war ein herzensguter Mann. Ihn und seinen zweitältesten Sohn konnte man überhaupt nicht vergleichen. Vom Aussehen glich mein Vater seinem Vater, zumindest auf dem vergrößerten Hochzeitsbild, das ich kannte. Mit seinem älteren Bruder hatte mein Vater keine Ähnlichkeit, aber was sagt das schon. Manchmal, wenn ich mir das Bild von meinem Vater angeguckt habe, dachte ich: Wenn du so warst wie deine Brüder, dann bin ich froh, dass ich dich nicht kennen gelernt habe!

Aber vielleicht, wenn mein Vater am Leben geblieben wäre … Er war Drogist und Fotograf und wollte damals in unserem Ort das erste Atelier aufmachen, Hochzeitsbilder und so, seine Mutter hatte ihm schon das Geld dafür gegeben. Vielleicht wäre dann das Leben meiner Mutter anders gewesen. So wie sie gelebt hat, war sie doch ein armes Ding. Die hatte sich ihr Leben auch anders vorgestellt.

Als mein Stiefvater im Sterben lag, saß meine Mama im Wohnzimmer, während er dauernd rief: Bring mir ein Glas Wasser!

Da sagte ich zu meiner Mutter: Hörst du das nicht?

Fragt sie mich: Was? Was soll ich denn hören?

Der Vater ruft doch, er will ein Glas Wasser.

Nee, den hör’ ich nicht, hat sie gesagt. Sie hat ihn überhaupt nicht mehr registriert.

Manchmal denke ich, mein Stiefvater hatte es auch nicht leicht. Das ganze Problem mit ihm entstand, als meine Mutter so dick und unförmig wurde. Ich schlief bei meiner Mutter, mein Stiefvater bei meinem Bruder. Die beiden hatten überhaupt kein Verhältnis miteinander.

Als ich dann mit 14 in einer Frankfurter Firma Stenokontoristin lernte, habe ich festgestellt, dass wirklich alle Männer Schweine sind – außer meinem Chef. Mein Chef hätte nie ein falsches Wort gesagt oder einen verkehrt angefasst. Der war ein ganz anderer Mensch.

Aber unser Prokurist und der Buchhalter, die waren genauso, wie ich es von zu Hause kannte, die konnten einfach nicht ihre Hände bei sich lassen. Ich hatte einmal solchen Zorn, dass ich dem Buchhalter einen Blumentopf an den Kopf geschmissen habe. Mein Chef hat mich dann zu sich gerufen und wollte wissen, was los war, und ich habe es ihm gesagt. Da hattest du aber auch Recht! hat er gemeint und mich gefragt, ob ich in eine andere Abteilung wolle, dass ich mit dem Buchhalter nichts mehr zu tun haben müsse.

Wenn man so will, war mein Chef der erste richtig gute Mensch, den ich kennen gelernt habe. Der war wirklich sehr, sehr nett, vielleicht wie ein Vater. Aber ich habe mir damals keine Gedanken darüber gemacht. Mein Chef hatte selbst Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Bei ihm habe ich erlebt, dass seine Kinder immer zu ihm kommen konnten – ich übrigens auch. Er hat mir immer freundlich zugehört und Auskunft gegeben, mich einfach ernst genommen. Aber so wie mein Chef waren nicht alle. Er war eine Ausnahme.

Wenn man in die Firma mal richtig hineingeguckt hat, war da eine einzige Hurerei. Ich weiß nicht, wie es heute im Büro ist, aber damals war es so. Nie hätte ich einen Mann aus dem Büro geheiratet, die waren alle so schmierig. Deshalb habe ich meinen Mann von Anfang an sehr geschätzt: Der war kein Schmierlappen.

Ich erinnere mich noch, wie ich ihn kennen gelernt habe. Meine Kusine rief mich an und fragte, ob ich zu ihr rüberkäme, und als ich kam, saß da mein Mann. Sehr ruhig, sehr zurückhaltend. Ich wusste von dem gar nichts. Nicht, dass er Schiffer war, nichts. Aber er hat mir gefallen. Der war nett und lieb. Wir sind zusammen fortgegangen und haben uns schon ein Jahr gekannt, bis er zum ersten Mal bei mir daheim war. Mein Mann war überhaupt nicht aufdringlich. Der war ganz anders als die anderen. Und als ich schwanger war, habe ich gesagt: Komm, wir heiraten. Im Dezember haben wir geheiratet, im Mai habe ich meine Tochter zur Welt gebracht, und dann bin ich mit ihm aufs Schiff gegangen. Da war ich 22.

Aber wenn ich mirs richtig überlege, bin ich damals von einer Abhängigkeit in die andere geschlittert. Erst meine Familie, in der ich nichts zu sagen hatte, und dann auf dem Schiff seine Familie, in der ich auch nichts zu sagen hatte. Ein kleines Kämmerchen, Bett und Schrank drin, fertig. So haben wir sieben Jahre gelebt. Besonders schön war das nicht.

Doch eines wusste ich immer: Wenn meinem Mann was passiert wäre, hätte ich mit meiner Tochter nie einen anderen Mann geheiratet. Ich wäre so misstrauisch gewesen, ob der … Ich habe ja sogar bei meinem eigenen Mann geguckt. Das hatte aber mit meinem Mann überhaupt nichts zu tun. Das war das Misstrauen, das ich in mir hatte. Einen lieben Mann war ich einfach nicht gewöhnt. Wenn mein Onkel oder mein Stiefvater anfingen, lieb zu sein, war es immer gefährlich, es konnte sofort umschlagen. Und aufgrund dieser Erfahrung habe ich auch bei meinem eigenen Mann darauf geachtet, wie er das Kind anfasste, es anschaute. Ich war immer in Habtachtstellung, obwohl es überhaupt keinen Grund gab. Aber die Angst hatte ich einfach mit in die Ehe gebracht. Ich habe immer gedacht, so was muss man als Mutter doch merken. Es sei denn, man will es nicht merken, weil es das nicht geben darf. Aber so eine Mutter wollte ich nicht sein. Ich wollte eine Mutter sein, die ihr Kind beschützt. Und war trotzdem so saublöd und habe meine Tochter bei meinen Eltern gelassen. Das werfe ich mir heute noch vor.

Und wenn ich es richtig bedenke: Dadurch, dass mein Mann und ich auf dem Schiff waren und unsere Tochter an Land gelassen haben, hatte mein Mann zu seiner Tochter auch kein solches Verhältnis, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Tochter hatte genauso wenig einen Vater wie ich. Wenn sie was hatte oder brauchte, ist sie immer zu mir gekommen, und ich habe ihr Geld zugesteckt. Das war wahrscheinlich falsch. Besser wäre es gewesen, ich hätte meinen Mann einbezogen. So musste er ja immer den Eindruck haben, wir hätten Heimlichkeiten miteinander. Heute, da wir an Land leben und nicht mehr arbeiten, sprechen wir viel mehr miteinander. Wenn ich ihm sage, was ich gerne meiner Tochter geben möchte, ist er immer damit einverstanden. Selbstverständlich, sagt er, mach doch.

Einen Vater stelle ich mir so vor, dass er seine Kinder an die Hand nimmt und mit ihnen überall hingeht. Und dass ein Kind mit seinem Vater reden kann. Aber vor allem sollte er wissen, wie man ein Kind und eine Frau lieb hat – so ist für mich ein guter Vater.

»Als ich den Friedhof betrat, fühlte ich, er ist hier.«

Anna, Bremen, geboren 1943

Anna ist groß und schlank, mit schmalem Gesicht und sensiblen Händen. Sie wirkt sehr still, im Gespräch aber gibt sie bald ihre Zurückhaltung auf. In ihrer Wohnung, in der sie allein lebt, dominieren helle, freundliche Farben und klare Linien. Die letzten 20 Arbeitsjahre war sie für eine große Versicherung tätig, seit zwei Jahren ist sie zu Hause und weiterhin sehr beschäftigt: Sie schreibt Romane, fotografiert, reist, hört an der Uni Vorlesungen über Geschichte, Literatur und Geologie.

War mein Vater in der Nähe, wollte ich nur zu ihm, niemand sonst durfte mich anfassen, ich hätte gebrüllt wie am Spieß, erzählte meine Mutter. Ich hätte immer gewußt, wann er vom Feld kam und kaum, dass ich ihn sah, klammerte ich mich an sein Bein und ließ nicht mehr los. Nur zum Wickeln durfte er mich meiner Mutter übergeben. Dazu habe ich die vage Erinnerung: Ich muss ganz stillhalten, damit das schnell vorbeigeht und ich wieder zu meinem Vater kann. Er hat seine Kinder sehr geliebt, sagte meine Mutter. Ich habe ein Bild im Kopf von ihm, von dem ich nicht weiß, ob ich es wirklich gesehen habe: Er steht an meinem Kinderbett und verabschiedet sich. Da war ich eineinhalb Jahre alt. Ich habe wohl einen sehr guten Zugang zu meinem Unbewussten. Auch an meine Mutter habe ich frühe Erinnerungen. Sie war fürsorglich und auf eine stille Art liebevoll. Dennoch mochte ich diese Mutter nicht – da kam mir so viel Dunkles entgegen. Sicher war ich ein ungewolltes Kind, 1943 – mitten im polnischen Partisanengebiet – hätte ich auch kein Kind haben wollen. Lange glaubte ich, es sei ihre Ablehnung, die mir so schwarz entgegenkam. Heute weiß ich, es lag an ihrer Depression. Kinder wissen schon früh sehr viel und können zielgerichtet handeln. Als ich drei Monate alt war, wollte ich ihre Milch nicht mehr trinken; ich habe mir einen Nabelbruch »zugelegt«, kam für 14 Tage ins Krankenhaus, meine Mutter stillte ab, und das Thema war erledigt.

Vor etwa zehn Jahren litt ich an unklaren Beschwerden, von denen ich wusste, dass sie nicht organisch bedingt sind. Ein Freund schob mich fast drastisch in eine Therapie. Ich hatte Glück und fand gleich die richtige Therapeutin. Sie sagte mal über meine Mutter: Diese Frau hat die Kinder nur für den Mann bekommen – und dann haut er ab. Sie muss eine Stinkwut auf ihn gehabt haben. Natürlich ist er nicht freiwillig abgehauen, aber als er eingezogen wurde, saß sie allein da mit vier Kindern, sieben, sechs und eineinhalb Jahre alt, das war ich, und ein Säugling von sechs Monaten.

Meine Familie stammt aus dem nördlichen Bessarabien, dem heutigen Moldawien. Sie musste 1940 aussiedeln, lebte ein Jahr in einem österreichischen Lager und wurde dann, nachdem Polen erobert war, auf einen der polnischen Höfe gesetzt. Dort sind meine jüngere Schwester und ich geboren. Mein Vater wurde Ende 1944 eingezogen, Ende Januar ’45 musste meine Mutter mit uns Kindern fliehen.

Die Polen haben uns gerettet. Sie kamen und riefen: Frau, du musst weg. Das ganze Dorf war schon fort, niemand hatte uns Bescheid gesagt. Die Polen haben ihr geholfen, den Wagen anzuspannen, Bettzeug und Kinder aufzuladen.

Da steht eine Frau mit vier kleinen Kindern allein auf der Landstraße, die Nacht kommt, es ist bitterkalt, und sie weiß nicht, wohin. Das ist für mich das bedrückendste aller Bilder, obwohl noch viele andere, schrecklichere dazu kommen, aber das war der Anfang. Sie muss starr gewesen sein vor Angst, und ich glaube, aus dieser Erstarrung konnte sie sich nie mehr ganz befreien.

Manchmal haben meine Schwester und ich überlegt, nach Polen zu reisen. Meine Schwester hat ja noch Erinnerungen, und auch ich würde gerne das Haus sehen, in dem ich geboren wurde – wenn es denn noch steht. Aber wir wissen, wir können diesen Weg nicht abfahren, den unsere Mutter auf dem Treck gegangen ist: über das Eis der Weichsel, das hinter uns brach und Menschen und Pferde in die Tiefe riss, diesen Weg unter Tiefflieger-Beschuss, verfolgt von der nachrückenden Front, den Weg, auf dem meine kleine Schwester starb, erst neun Monate alt, erfroren im nassen Bettzeug oder vielleicht in ihren nassen Windeln.

Sechs Wochen dauerte die Flucht, und sie endete in einem Dorf bei Bremen.

Meine Eltern hatten sich versprochen, sich keinem neuen Partner zuzuwenden, solange sie nicht wüssten, dass der andere wirklich tot ist. Und sie hatten vereinbart, Briefe an eine Verwandte in Berlin zu richten, weil Berlin ihnen weitab der Front und sicher schien. Meine Mutter hat spätere Heiratsangebote ausgeschlagen, sie hat immer auf meinen Vater gewartet. Sie ließ ihn zwar formal für tot erklären, weil sie wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit nicht arbeiten konnte und mit drei Kindern auf die Witwenrente angewiesen war. Aber sie war bis zu ihrem Tod überzeugt, dass er eines Tages zurückkommen würde.

Ihr Warten wurde stiller mit den Jahren, aber als Adenauer die Kriegsgefangenen zurückgeholt hatte – das muss 1953 / 54 gewesen sein –, verfolgte sie Tag und Nacht die Veröffentlichung der Listen am Radio. Es kamen auch immer wieder Berichte, die sie hoffen ließen. Da hatte ein Verwandter im Zug einen Mann kennen gelernt, der einen kannte, der in einem sibirischen Lager einen Mann getroffen hatte – und die Beschreibung passte auf meinen Vater: ein lebenslustiger Mensch, der in einer Küche arbeitete und dem es dort verhältnismäßig gut ging. Ganz unrealistisch war das nicht, denn mein Vater war lebenstüchtig, und als Bessaraber sprach er Russisch und Rumänisch. Meine Mutter glaubte also fest daran: Wenn er den Krieg überlebt, hat er eine Chance durchzukommen. Ich denke, dass dieses Hoffen und Bangen, diese Verzweiflung und Unentschiedenheit eine große Belastung für sie war. Für mich wurde mein Vater, ohne dass ich es bemerkte, zu einem Phantom – nicht wirklich tot, aber auch nicht lebendig.

Ich habe nicht auf ihn gewartet, hatte keine Vater-Sehnsucht. Ein Leben mit einem Vater konnte ich mir gar nicht vorstellen. Was die Kinder in meiner Umgebung, die einen Vater hatten, erlebten, fand ich keineswegs erstrebenswert. Diese Väter schimpften, schlugen, waren launisch.

Meine Mutter hat ihn, obwohl er ihr fehlte, auch nicht eingefordert als Ernährer oder für den Alltag – etwa um einen Stall zu bauen oder etwas zu reparieren. Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen und zupacken gewöhnt, sie konnte ihr Leben allein meistern. Sie baute sich notfalls den Hühnerstall selber. Aber als Gesprächspartner vermisste sie ihn: Und wenn ich ihn im Rollstuhl fahren müsste – ich könnte doch wenigstens mit ihm reden, sagte sie oft.

Ich habe mir erst später überlegt, wo er mir fehlte: Vielleicht, um ihn abends vom Bus abzuholen und an seiner Hand nach Hause zu gehen. Ich hätte ihm gern beim Werken zugesehen. Sicher wäre mit ihm die Stimmung im Haus besser gewesen.