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Ludwig Siep

Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie

Untersuchungen zu Hegels
Jenaer Philosophie des Geistes

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Umschlagfoto: Stele der Familie des Amenemhat (Ausschnitt), 11. Dynastie, Ägyptisches Museum Kairo

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Inhalt

Vorbemerkung

Anerkennung und praktische Philosophie heute.

Einführender Essay zur Neuauflage (2014)

I. Anerkennung und die Erneuerung der praktischen Philosophie

II. Anerkennungstheorie heute

III. »Anerkennungskultur«: Pluralismus, Markt und das technische Naturverhältnis

1. Anerkennung in einer Gesellschaft kultureller Viefalt

2. Anerkennung als immanente Norm und Begrenzung der Marktwirtschaft

3. Das Verhältnis zur Natur als »asymmetrische Anerkennung«

Einleitung (1979)

I. Das Prinzip der Anerkennung

1. Der Begriff der Anerkennung bei Fichte

a) Die Deduktion der Anerkennung als transzendentale Bedingung des Rechtsbegriffs

b) Die Struktur der Anerkennung bei Fichte

2. Die Vorformen der Anerkennung in den Berner und Frankfurter Fragmenten

a) Liebe in den späten Berner und frühen Frankfurter Fragmenten

b) Vereinigung und Trennung im »Geist des Christentums«

3. Die Theorie der Anerkennung in den Jenaer Schriften

a) Die erste Stufe: Anerkennung als Synthese von Liebe und Kampf

α) Liebe
β) Kampf

b) Die erste Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes

Exkurs: Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts

c) Die zweite Stufe: Anerkennung des »Ich« im »Wir«

A. Vereinigung und Auseinandersetzung des einzelnen mit dem allgemeinen Willen
B. Die Verwirklichung der Anerkennung im absoluten Geist

d) Die zweite Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes

A. Individuelles Handeln und vernünftige Wirklichkeit (Vernunft-Kapitel)
B. Entzweiung und Versöhnung von »Selbst« und »Substanz« (Geist-Kapitel)
α) Recht und Anerkennung in der Phänomenologie
β) Anerkennung im »entfremdeten Geist«
γ) Die Erfüllung der Anerkennung: Das Gewissen und die Verzeihung des Bösen

e) Zusammenfassung

Exkurs

4. Das Problem einer logischen Struktur der Anerkennung

II. Die Erneuerung der praktischen Philosophie in Hegels Jenaer Schriften

1. Praktische Philosophie beim jungen Hegel

2. Kritik des Naturrechts und Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie

3. Systemkonzeption und praktische Philosophie in Jena (1801–1803)

4. Die Theorie des Bewußtseins und das Prinzip der Anerkennung

5. Praktische Philosophie in der »späten« Jenaer Geistphilosophie (1805/1806)

III. Anerkennung und Erfahrung des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes

1. Phänomenologie und praktische Philosophie

2. Die »praktische« Seite der phänomenologischen Methode

3. Die Bedeutung der Anerkennung für die Methode der praktischen Philosophie in der Phänomenologie

IV. Praktische Philosophie, Geschichtsphilosophie und Sozialisationstheorie

1. Anerkennung und »System der Institutionen«

2. Anerkennung und Sozialisationstheorie

a) Sozialisation und Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins

b) Anerkennung und die Bedingungen vernünftiger Identitätsbildung

3. Praktische Philosophie und Geschichtsphilosophie

a) Praktische Philosophie als Geschichtsphilosophie?

b) Die »historische Genese« der Institutionen

c) Quietismus oder Kritik?

V. Anerkennung, Rechtsphilosophie und praktische Philosophie der Gegenwart

1. Die »Asymmetrie« der Hegelschen Anerkennungstheorie

2. Anerkennung in der Rechtsphilosophie von 1820

3. Praktische Philosophie ohne Teleologie

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Neure Publikationen zu Anerkennung und praktischer Philosophie

Zeittafel

Personenregister

Sachregister

Zur Erinnerung an meinen Vater
Ludwig Siep (1912 – 1943)

Vorbemerkung

Die Erstauflage dieses Buches erschien 1979. Sie war die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Dezember 1975 der Philosophischen Fakultät I der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. eingereicht wurde. Der Dank der Erstauflage gilt weiter:

»Ich habe in Seminaren und Diskussionen bei Werner Marx viel über Hegel und den Deutschen Idealismus gelernt. Danken möchte ich auch Klaus Düsing, Dieter Henrich, Rolf-Peter Horstmann, Heinz Kimmerle, Otto Pöggeler und Andreas Wildt für Gespräche, Anregungen und die Überlassung unveröffentlichter Manuskripte. Für unschätzbare Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts danke ich Ilse Dammschneider und Ingeborg von Appen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft leistete großzügige finanzielle Unterstützung.

Freiburg i. Br., im März 1979Ludwig Siep«

Für Hilfe bei der Neubearbeitung danke ich Frieder Bögner und Alexander Lückener.

Münster, im Juli 2014

Anerkennung und praktische Philosophie heute

Einführender Essay zur Neuauflage (2014)

Das hier in Neubearbeitung vorgelegte Buch ist erstmals im Jahre 1979 veröffentlicht worden. In der folgenden Einleitung lokalisiere ich zunächst die Ideen und Absichten des Buches in der Forschungslandschaft damals und heute (I). Dann gehe ich auf einige Hauptströmungen und Probleme der neueren Anerkennungsdiskussion ein. Dabei benutze ich als Leitfaden drei Erfordernisse einer nachhegelschen philosophischen Konzeption der Anerkennung, die ich am Ende des Buches skizziert hatte (II). Schließlich erörtere ich einige moderne Probleme der praktischen Philosophie, bei deren Behandlung sich Fruchtbarkeit und Grenzen des Anerkennungsprinzips zeigen: kultureller Pluralismus, Grenzen der Marktwirtschaft und das Verhältnis der technischen Zivilisation zur Natur (III).

 

I. Anerkennung und die Erneuerung der praktischen Philosophie

Der Gedanke der Anerkennung als einer Norm zwischenmenschlichen Verhaltens und eines Kriteriums der Beurteilung von sozialen Lebensformen und Institutionen hat in den letzten Jahrzehnten weltweit eine bedeutende philosophische Karriere gehabt.1 Die Rezeption des Deutschen Idealismus spielt dabei eine entscheidende Rolle.2 Das gilt auch für Theorien, die mit ihm nur »entfernt verwandt« sind, wie den amerikanischen Pragmatismus von Mead bis Brandom, oder den Existentialismus und die Phänomenologie in Frankreich, von Kojève bis Ricoeur.3 Kojèves Rezeption des Anerkennungsbegriffs der Hegelschen Phänomenologie des Geistes war für die jüngere Diskussion die entscheidende Anregung, vor allem nachdem Jürgen Habermas sie mit dem Aufsatz »Arbeit und Interaktion« in den sechziger Jahren für die kritische Theorie fruchtbar zu machen versuchte.4 Seine Anregung wurde in Deutschland und später auch in anderen Ländern von Philosophen verschiedener Richtungen aufgenommen.

Eines der Ziele des Buches von 1979 war es zu zeigen, daß Habermas’ Versuch einer kommunikationstheoretischen Gesellschaftskritik sich nur sehr bedingt auf Hegel stützen konnte. Das entsprach Habermas’ eigener Einschätzung und seiner kritischen Distanz zu Hegel, auch wenn ich seine Hegel-Kritik ebenfalls zu korrigieren versuchte. Die jüngere Frankfurter Schule hat seit Axel Honneths Buch Kampf um Anerkennung von 1992 diese Distanz abgeschwächt. Sie beruft sich für ihre Anerkennungstheorie zunehmend auch auf den Berliner Hegel.5 Sie möchte mit diesem Ansatz auch alle älteren Formen der Kritik an Entfremdung und Verdinglichung einholen.6 Anders als Habermas will sie mit Hilfe des Anerkennungsbegriffs auch eine an Hegel orientierte Kritik an den inneren Widersprüchen des Kapitalismus erneuern.7 Ich habe in den vergangenen Jahren mit gelegentlichen Interventionen meine Skepsis gegen die zugrundeliegende Hegel-Interpretation geäußert, vor allem was die Rechtsphilosophie angeht.8 Dabei hat sich meine in dem Buch von 1979 angedeutete Überzeugung verstärkt, daß gerade hinsichtlich der Grenzen von Hegels Anerkennungs- und Geistkonzeption sich eine durchgehende Linie von der »Vereinigungsphilosophie« des Frankfurter Hegel und der Jenaer Philosophie des Geistes bis zu der späteren (»Heidelberger« und »Berliner«) Philosophie des objektiven Geistes zieht. Die vorliegende Neuauflage des Buches über die Jenaer Anerkennungslehre soll auch an diese Konstanz erinnern.

Das heißt nicht, daß ich die Fruchtbarkeit der Hegelschen Philosophie und ihres Begriffs der Anerkennung für die gegenwärtige praktische Philosophie bezweifle. Ich bin aber etwas skeptischer, ob sie als umfassendes Prinzip der gegenwärtigen praktischen Philosophie ausreicht. Auf die Probleme der praktischen Philosophie, angesichts derer das Kriterium der Anerkennung an seine Grenzen stößt, komme ich im dritten Teil dieser Einleitung zurück. Virulent ist aber nach wie vor die in Hegels Konzeption enthaltene grundsätzliche Kritik an individualistischen Theorien der Subjektivität, des Rechts und des Staates. Auch für eine normative Rekonstruktion der historischen Entwicklung von Institutionen und Lebensformen ist sie nach wie vor aufschlußreich.9 Es ist aber nicht so leicht, wie viele moderne Autoren meinen, sie von den »metaphysischen Resten« der Hegelschen Philosophie des Absoluten zu trennen. Für Hegel ist die »kommunikative Freiheit« der Anerkennung zwischen Individuen nicht der letzte Zweck des Staates. Endzweck ist die sittliche Freiheit der Vereinigung und Identifikation mit dem Willen und den Institutionen eines souveränen Verfassungsstaates – wobei die Verfassung der Souveränität am Ende keine wirksamen Grenzen setzt.10 Dieses »Ziel« bestimmt aber, wie ich schon in dem Buch von 1979 zu zeigen versuchte, auch die Stufen der »Bewegung des Anerkennens«.

Kojève hatte seine Aktualisierung des Begriffes der Anerkennung vor allem in einer Interpretation des Selbstbewußtseinskapitels der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Habermas dagegen vermutete, daß die früheren Jenaer Texte Hegels für moderne Debatten in der Sozialphilosophie interessanter seien als die Phänomenologie, in der Hegel zu einem monistischen Subjekt- und Geistbegriff zurückkehre.11 Das entsprach dem großen historischen Interesse an den Jenaer Entwürfen in den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Systematisch war Habermas’ Interesse an Theorien der Kommunikation und der Intersubjektivität eingebettet in einen Zusammenhang philosophischer und sozialwissenschaftlicher Forschungen über Kommunikation, Intersubjektivität und Sozialisation.12 In diesem Zusammenhang erweckten die Ansätze zu einer systematischen Verbindung von Subjektivität, Intersubjektivität und gesellschaftlichen Lebensformen im Deutschen Idealismus13 besonderes Interesse.

»Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie« war 197914 die erste von mehreren größeren Arbeiten über die Bedeutung von Hegels Theorie der Anerkennung für die moderne Philosophie. Darauf folgten in Deutschland Andreas Wildt (Autonomie und Anerkennung, 1982) und Axel Honneth (Kampf um Anerkennung, 1992). Andreas Wildt hat den Begriff der Anerkennung für Grundlagenfragen der Ethik und der Moralpsychologie fruchtbar gemacht. Trotz seines historisch-systematischen Interesses an Hegels Kritik der Moralphilosophie Kants und Fichtes stand das Buch auch im Zusammenhang mit Ernst Tugendhats metaethischen Überlegungen im Anschluß an die angelsächsische Diskussion. Axel Honneth hat den Impuls von Habermas am direktesten aufgenommen und Hegels Prinzip der Anerkennung – aber auch die Formen der Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie – durch Sozialisationstheorien des amerikanischen Pragmatismus und der modernen Psychologie systematisch aktualisiert. Vom »Kampf um Anerkennung« her hat er auch die sozialen Kämpfe um Inklusion von Individuen und Gruppen in die Normensysteme moderner Gesellschaften interpretiert. Honneth hat an dem Thema am konsequentesten festgehalten und eine systematische »Theorie der Anerkennung« entwickelt, die weltweit diskutiert wurde.

Der systematische Kontext meines Buches war die Erneuerung der praktischen Philosophie, die in den siebziger Jahren in Deutschland proklamiert wurde.15 Gegen eine rein apriorische Normenbegründung und den damit verbundenen Rückzug der Philosophie aus Staatsrecht und Gesellschaftstheorie sollte eine »konkrete«, zugleich deskriptive und normative, historische und »prinzipielle« praktische Philosophie im ganzen Umfang der aristotelischen Tradition (Ethik, Ökonomik, Politik) wiedergewonnen werden.16 Diese Einheit sollte aber im Sinne der neuzeitlichen (»wissenschaftlichen«) Philosophie systematisch begründet sein durch ein Prinzip, das zugleich ein Kriterium der Rechtfertigung oder Kritik der historisch verwirklichten Normen und Institutionen in diesen Bereichen sein könnte. Gefordert war also nicht ein deduktives Verfahren, sondern Analyse und Entwicklung eines Grundgedankens, der zugleich ein normatives Kriterium darstellt.17 Die Idee des Buches ist in dieser Hinsicht, daß Hegel in seiner Jenaer Zeit eine ähnliche Erneuerung der traditionellen praktischen Philosophie mit Hilfe des Gedankens der Anerkennung in Angriff genommen hatte – und daß diese Lösung in veränderter Form der praktischen Philosophie der Gegenwart zum Modell dienen könnte.

Das Buch ist aber zugleich als ein Beitrag zur philosophiehistorischen Forschung angelegt. In dieser Hinsicht war der Kontext das Interesse an der Entstehung und Entwicklung des Hegelschen Systems wie der nach-kantischen deutschen Philosophie insgesamt. Es stand im Zusammenhang mit den großen kritischen Gesamtausgaben der klassischen deutschen Philosophie, die seit den sechziger Jahren erarbeitet wurden, besonders natürlich mit der Edition der Hegelschen Schriften, die vom Bochumer Hegel-Archiv ausging. Aber sie war auch angetrieben von der Vermutung, daß die Bilder und Klischees Hegels in der Nachkriegszeit und während des »Kalten Krieges« – vom prototalitären Hegel Poppers, über den »bürgerlichen« Vorläufer von Karl Marx bis zum Vollender der Metaphysik im Sinne Heideggers und seiner Schule – angesichts der unzureichend edierten und studierten Texte seiner Vor-Berliner Zeit zu korrigieren waren. Ein solches genetisches Verständnis der Philosophie Hegels zu entwickeln, war damals und später ein Anliegen so verschiedener Philosophen wie Otto Pöggeler, Dieter Henrich oder Manfred Riedel.18 Was Dieter Henrich für die Entwicklung des Geistbegriffs, Klaus Düsing für die »Logik der Subjektivität«, Manfred Baum für die Entwicklung der Dialektik usw. geleistet hatten, sollte das Buch für die praktische Philosophie in Angriff nehmen. Da gab es Vorarbeiten von Manfred Riedel und Karl-Heinz Ilting,19 aber noch keine die Jenaer Entwicklung als ganze untersuchende Monographie.

Eine solche an Texten, die zum Teil neu ediert und kommentiert waren, belegte Theorie der Entstehung der praktischen Philosophie – der Hegel später den Titel »objektiver Geist« gab – bedurfte gründlicher Textinterpretation. So eng am Text zu arbeiten, ist inzwischen unüblich – so daß ich, mit Hegels Bemerkung zu den Vorarbeiten der Neuauflage der Phänomenologie (1831), fast sagen möchte: »Eigentümliche frühere Arbeit, nicht umarbeiten«.20 Ich habe aber an einigen Stellen der folgenden Ausgabe die Darlegungen abgekürzt und auch die Auseinandersetzung mit der damaligen Forschung in den Anmerkungen etwas zurückgenommen. Dafür finden sich dort jetzt mehr Bezüge auf die gegenwärtige Rezeption der Anerkennungstheorie.

Hegel entwickelt sein philosophisches System in der Jenaer Zeit. Dabei dient ihm der Gedanke der Anerkennung als Leitfaden der Entfaltung desjenigen Teils, den er zunächst praktischen und dann objektiven Geist nennt.21 Die Bedeutung der Anerkennung liegt seit Fichte darin, daß Selbstbewußtsein, und damit alles individuelle und bewußte Wissen und Handeln, eine bestimmte Beziehung zwischen Menschen voraussetzt. Hegel faßt diesen Gedanken in bestimmtem Sinne »teleologisch«, im Sinne der schon auf Fichte zurückgehenden und bei Schelling ausgearbeiteten Geschichte des »Zusichkommens« des Bewußtseins aus vorbewußt Natürlichem und Sozialem. Das Ziel, das nach einseitigen und scheiternden Versuchen – auch in der Kulturgeschichte – erreicht wird, ist ein wechselseitiges Anerkennen von Individuum und Gemeinschaft. Die umfassende institutionelle Form dieses Anerkennens ist der Staat.22 In diesen Gang gehören alle die Formen der sozialen Praxis, die von der klassischen und modernen Ökonomie, dem neuzeitlichen Naturrecht und der Staatswissenschaft diskutiert worden sind. Anerkennung ist zugleich ein kritischer Maßstab für das Gelingen und Scheitern von interpersonalen Beziehungen und Sozialformen. Dieser Gedanke ist in der späteren praktischen Philosophie, der Heidelberger und Berliner Philosophie des objektiven Geistes, nicht aufgegeben. Der Begriff Anerkennung und seine Entfaltung haben aber nicht mehr die prominente Stellung, die Teile des Systems systematisch zu verbinden. Hegel räumt jetzt der Idee der Freiheit, sowohl des einzelnen wie des allgemeinen Willens, diese Stellung ein. Die Logik des Begriffes und der Idee, die erst in Nürnberg (1818–1816) ihre endgültige Gestalt gewinnt, steht im Hintergrund dieser Entwicklung.

Hegels Gebrauch der Begriffe »Anerkennen«, »Anerkennung« und »Anerkanntsein« ist terminologisch nicht ganz trennscharf und, wie mir scheint, mit dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr völlig in Übereinstimmung. »Anerkennen« steht bei ihm meist für den Prozeß, die für Geist und Selbstbewußtsein konstitutive Struktur praktischer und normativer Intersubjektivität zum Bewußtsein zu bringen. Dabei sind »Struktur« und »Intersubjektivität« natürlich moderne Ausdrücke. Mit »Anerkennung« bezieht Hegel sich zumeist auf diese Struktur selber und auf das Resultat ihrer Bewußtwerdung. »Anerkanntsein« bedeutet vor allem den objektiven und bewußten Zustand, die institutionelle Realität und Dauerhaftigkeit sowie die öffentliche Zustimmung für die entsprechenden Praktiken. Mit »Anerkennen« ist aber nicht nur, wie im heutigen Sprachgebrauch überwiegend, eine bewußte Tätigkeit oder kognitive und praktische Einstellung gemeint, sondern auch ein weitgehend unbewußter sozialer und historischer Prozeß (»Prozeß« bzw. »Bewegung des Anerkennens«). Zumindest in den Nachschriften werden, etwa für den Kampf, die Bedeutungen »Anerkennen« und »Anerkennung« austauschbar verwandt (vgl. TW 10, 221 sowie u. Anm. 84 zum Hauptext). Sowohl von Hegels wie vom heutigen Sprachgebrauch her ist es legitim, »Anerkennung« als Oberbegriff zu Hegels Theorie der intersubjektiven Verfaßtheit des Geistes zu benutzen.23

Die Befunde meiner Textinterpretation24 haben mich von Anfang an skeptischer als Philosophen der Frankfurter Schule und des Neopragmatismus hinsichtlich der Aktualität von Hegels Verständnis von Anerkennung gemacht. Die Rolle der »unverwechselbaren« Individualität bleibt bei ihm gegenüber dem romantischen Individualismus und derjenigen Rolle, die Individualität heute sowohl im Recht wie in den sozialen Lebensformen und dem normativen Selbstverständnis moderner westlicher Gesellschaften spielt, erheblich eingeschränkt. Das liegt nicht nur an historischen Rahmenbedingungen,25 sondern auch an einem metaphysischen Erbe. Es bestimmt die Grenzen der interpersonalen Anerkennung in zumindest dreifacher Hinsicht: Erstens, durch die Bedeutung der Vereinigungsphilosophie bzw. die neuplatonisch-spinozistischen Versionen des »Panta hen«.26 Zweitens bleibt trotz aller Öffnung zu Geschichte und Zufall27 der metaphysische Primat des Notwendigen unangetastet. Das hat, drittens, die Synthese von Entwicklung und Endgültigkeit in der Teleologie zur Folge. Daß Hegel an dieser metaphysischen Tradition trotz aller »Modernität« seiner Philosophie festhält, habe ich nach 1979 auch in zahlreichen Arbeiten zur Berliner Philosophie des objektiven Geistes zu zeigen versucht.28

In dem folgenden Buch wird in diesem Sinne dafür argumentiert, daß für Hegel in der Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins und des vernünftigen Willens Individualisierungsprozesse und die Befreiung vom natürlichen und gewollten »Eigensinn« des Individuums gleich bedeutsam sind. Das führt am Ende zu einer Verwirklichung von Anerkennung in einem Staat, der zwar den Schutz der individuellen Rechte zum Zweck hat, aber darüber hinaus ihre sittliche Befreiung von der besonderen Individualität.29 Diese manifestiert sich im Leben für den Staat und wird »bewährt« im Opfer des Lebens. Daher die sittliche Notwendigkeit von periodischen Kriegen, nicht nur Verteidigungskriegen. Das liegt zuletzt auch an einer »metaphysischen Differenz« zwischen vergänglichen Individuen und »ewiger« Substanz des Staates, nicht nur seiner Idee, sondern auch seiner einzelstaatlichen Verkörperung. Dieser Vorrang des sittlichen und als solcher unbedingt souveränen Staates bleibt von den frühen bis zu den späten Schriften erhalten. Hegel hat nur in der Geistphilosophie von 1805/06 von einem symmetrischen »Opfer« des Staates und der Individuen gesprochen (GW 8, 252, 255),30 aber auch hier nicht im Sinne einer Beschränkung staatlicher Souveränität durch Abwehrrechte der Bürger.

Damit schöpft er das Potential seiner eigenen Einsicht in die Bewegung des Anerkennens nicht aus. In der Struktur dieser Bewegung, wie er sie etwa in Kap. IV der Phänomenologie exponiert, ist Symmetrie vorgezeichnet. In der Phänomenologie wird das Scheitern asymmetrischer31 Anerkennungsverhältnisse und ihre »Korrektur« zu einem Bewegungsprinzip der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins. Aber auch hier wird am Ende das Versprechen nicht eingelöst. Die Erfahrungsgeschichte wird wieder teleologisch geschlossen und der symmetrischen Form des moralischen Geistes entspricht zwar das »Reich des Geistes« in der christlichen Gemeinde, aber keine Gestalt des »Daseins« des Absoluten in sozialen Institutionen (s. u. S. 142–149).32 Zudem drängt die metaphysische Teleologie die Offenheit der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins zurück.33 Das entwertet nicht die Entdeckung eines Kriteriums der Rekonstruktion und Kritik historischer Prozesse der Erfahrungen mit Formen des kollektiven Selbstverständnisses. Aber es weist auf die Radikalität der nötigen Transformation Hegels hin, auch seiner Anerkennungslehre. Denn beides, die sittliche Befreiung des Individuums durch sein Leben für einen »ewigen«, als Selbstzweck begriffenen Staat, wie die teleologische Geschichtsphilosophie haben der Entwicklung des philosophischen Denkens und den Erfahrungen der Völker nicht standgehalten. Nach diesen Erfahrungen ist der Schutz der Rechte der Individuen der höchste Zweck des Staates. Verletzt er es, steht den Individuen ein Widerstandsrecht zu. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, können sogar Einschränkungen der staatlichen Souveränität34 gerechtfertigt sein. Das ist nicht nur Inhalt moderner Verfassungen, seit 1966 auch des deutschen Grundgesetzes, sondern auch eine deutliche Tendenz des modernen Völkerrechts.35 Hegels Idee einer Vereinbarung »liberaler« Freiheitsrechte mit einer an der griechischen Sittlichkeit orientierten sinn- und identitätsstiftenden Rolle des Staates als »absoluter unbewegter Selbstzweck« (Rechtsphilosophie § 258 GW 14,201) hat in säkularen Staaten keine Zukunft mehr. Das muß nicht in die entgegengesetzte Asymmetrie umschlagen, daß Staaten ausschließlich Mittel zur Sicherung von Grundrechten und Privatrecht sind. Die Arbeit an einem funktionierenden Rechtsstaat und einer blühenden Kultur ist für die Bürger nach wie vor sinnvoll und kann auch Opfer verlangen.

Auch von der teleologischen Geschichtsphilosophie Hegels muß man sich gründlich verabschieden. Das gilt selbst für die Phänomenologie des Geistes, deren Methode der Erfahrung durch Krisen von Bewußtseinskonstellationen für heute besonderes Interesse hat. Später wird genauer erörtert (u. Abschnitt II. 3.), inwiefern dabei die Erfahrungen mit gesuchter, verweigerter und erfolgreicher Anerkennung ein Kriterium für die Beurteilung von Handlungen, Gesellschaftsformen und Institutionen bilden. Hegel versteht diesen Prozeß zwar auch als eine Art »trial and error«, in dem es Fortschritte und Rückfälle geben kann. Aber an seinem fortschrittlichen Charakter und dem Erreichen des Zieles kann es keinen Zweifel geben. Schon Kant hat die Gedanken der Vorsehung und der Theodizee auf die Geschichte angewandt.36 Hegel überträgt sie von einem transzendenten auf ein immanentes und (abgekürzt formuliert) kollektives Subjekt: Der Geist, der sich in Institutionen und ihren Trägern entwickelt, ist höher als die Natur (GW 4, 464) und kann sich von Zufällen befreien (Enz § 250). Das ist natürlich nicht einfach eine geschichtsphilosophische Behauptung, sondern wird in Hegels Naturphilosophie, Erkenntnistheorie37 und Logik »abgesichert«. Wenn seine Geistkonzeption auf allen diesen Gebieten die »beste Erklärung« ist, dann kann sie den Anspruch eines (»absoluten«) Wissens erheben, zu dem es keine Alternative gibt.

Dieser Anspruch scheint mir aber auf allen Gebieten an Überzeugungskraft verloren zu haben: Die geradezu »neuplatonische«, ontologische und praktische Inferiorität der Natur gegenüber dem Geist ist grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt.38 Eine »Wissenschaft der Logik« ist nicht mehr als geschlossene Kette alternativloser Schlüsse möglich. Im Sinne einer allgemeinen Bedeutungslehre wissenschaftlicher und ontologischer Grundbegriffe kann sie heute nur noch als offenes heuristisches Interpretationsschema verstanden werden. Und unser Wissen von der Geschichte ist für jedes welthistorische Schema zu komplex und »zufallsbeladen« geworden.39

Dies herauszuarbeiten, scheint mir nicht weniger von Bedeutung als die Anverwandlung eines von heute aus interessanten Prinzips. Wenn sich die Philosophie und die Kultur weiterentwickelt haben, dann muß es auch dafür gute Gründe geben. Wir müssen sie kennen, um zu wissen, in welcher Hinsicht es »keinen Weg zurück« gibt. Darum habe ich auch in allen meinen späteren Arbeiten stets zugleich auf »Aktualität und Grenzen« der Philosophie Hegels aufmerksam zu machen versucht.40 Für historisch bewußte Philosophie kann es nicht nur um die Verarbeitung früherer Gedanken in einem neuen Rahmen gehen. Das Bewußtsein der Bedeutung historischer Kontexte ist in den Wissenschaften allenthalben fortgeschritten, davon kann sich auch systematische Philosophie nicht dispensieren – oder es an die Begriffs- und Metapherngeschichte abschieben.

 

II. Anerkennungstheorie heute

Die heutige Auseinandersetzung mit »Anerkennung« als Begriff, Kriterium und personaler Einstellung ist nicht auf die Hegelsche Tradition beschränkt. Es gibt nicht nur Versuche der semantischen Klärung des Begriffes und des Nachweises seiner konstitutiven Bedeutung für praktische Personalität, sondern auch Versuche, ihn aus anderen Traditionen wie der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts oder des Pragmatismus aufzunehmen. Dabei ist deutlich geworden, daß bereits das semantische Spektrum des Begriffes in verschiedenen Sprachen unterschiedlich ist. Die Vorsilbe »re« im Englischen und Französischen führt in andere Bedeutungshorizonte als das Deutsche »an«. Schon »Wiederkennen« ist im deutschen Wort nur schwach präsent – immerhin hat es in Hegels terminologischer Verwendung seine Bedeutung für das sich »Wiederfinden« im Anderen behalten. Erinnerung oder gar Dankbarkeit, wie nach Ricoeurs Analyse im Französischen, geht deutlich über die Bedeutung von »Anerkennen« im Deutschen hinaus.41

Hilfreich ist die Analyse von Ikäheimo und Laitinen.42 Sie unterscheiden drei Hauptbedeutungen von Anerkennung, nämlich Identifizieren, Ansprüche akzeptieren (acknowledge) und respektieren (recognize). In allen Fällen nimmt (take) eine Person oder ein Kollektiv A ein B als X. Im Blick auf Hegel muß man unter Kollektiv in jedem Fall auch Institutionen43 im starken und schwachen Sinne verstehen. Identifikationen sind Zuschreibungen von Eigenschaften, die auch normative Bedeutung haben können (z. B. jemanden als »Terroristen« identifizieren). Sie können selbstbezogen sein oder aus einer Außenperspektive erfolgen. Die zweite Form hat es immer mit »normativen Entitäten« zu tun, selbst Gründe und Werte können in diesem Sinne anerkannt werden. Anerkennung im Sinne von Respekt und Wertschätzung könne sich dagegen nur auf Personen beziehen. Im Blick auf Hegel müßte man auch hier Institutionen hinzufügen, die zwar durch Personen repräsentiert werden, aber gerade nicht nur im Hinblick auf bestimmte Personen anerkannt werden (wie etwa Kirchen). Diese dritte Bedeutung, die personale Einstellung und Beziehung zwischen Personen qua Personen, steht in der modernen Diskussion im Fokus. Das gilt aber nicht im gleichen Sinne für Hegels Konzeption der Anerkennung.

Im Folgenden geht es nur um einen Ausschnitt der Strömungen, die in systematischer Absicht an die Theorien des Deutschen Idealismus, vor allem Hegels, anknüpfen. Am Ende des Buches von 1979 habe ich ein »Programm« der praktischen Philosophie auf der Grundlage der Anerkennung skizziert (s. u. S. 281–284), das drei Schritte enthält: Erstens, eine erneuerte Analyse der reziproken Anerkennungsverhältnisse als Voraussetzung für individuelles Selbstbewußtsein und Personalität (1). Darauf aufbauend, zweitens, eine Analyse der sozialen und politischen Institutionen als Bedingungen von Anerkennungsbeziehungen, die ein hinreichendes Maß an Selbstachtung und Solidarität ermöglichen (2). Drittens, eine historische Analyse der Genese und Entwicklung dieser Institutionen, ohne eine starke Teleologie im Sinne Hegels, aber mit Rückgriff auf seine Idee der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins (3). Diese drei Schritte dominieren auch in der späteren Anerkennungsdebatte.44

(1) Die Idee der Anerkennungstheorie lag in einer Begründung von Normen durch ihre Unentbehrlichkeit für etwas Unbezweifelbares, das Selbstbewußtsein jedes bewußt lebenden Menschen. Davon kann, cartesisch gesprochen, niemand abstrahieren, weil dies ebenfalls ein bewußter Vorgang ist. Moderne Analysen des Personbegriffs, Theorien der Kommunikation, der Normativität und der Intentionalität haben bestätigt, daß es individuelles Selbstbewußtsein nicht ohne reziproke Beziehungen zu anderen Personen gibt.45 Zum Personsein gehört zweifellos, daß man die Erwartungen, die andere an einen haben, verstehen und beantworten kann. Nach Primatologen wie Tomasello sind Kleinkinder im Unterschied zu anderen Primaten dazu fähig – und zwar schon vor dem Spracherwerb.46 Sprachliche Kommunikation setzt nicht nur, wie die Theorie von Grice gezeigt hat, das Verständnis voraus, daß andere mir etwas Bestimmtes zu verstehen geben wollen (Grice 1969). Es impliziert auch Konventionen des richtigen oder falschen Gebrauches von Äußerungen. Schon nonverbale Arten der Kommunikation sind in normative Erwartungen einer Gruppe eingebettet. Jemandem die Kompetenz und Autorität zuzusprechen, in Bezug auf gemeinsame Erwartungen Zustimmung oder Mißbilligung auszudrücken, macht ihn zum Mitglied.

Durch sprachliche Äußerungen wird das explizit und verständlich. Robert Brandom hat gezeigt, daß selbst konstatierende Aussagen und darin verwendete Begriffe den Sprecher auf bestimmte Implikationen, Voraussetzungen und Konsequenzen festlegen, auf die sich der Hörer, bei allem Mißtrauen, im Regelfall verlassen muß. Schon der öffentliche Sprachgebrauch ist eine »petition for determinate recognition« durch kompetente Sprecher, zu denen der sich Äußernde gehören will.47 Auch die Forderung, daß Menschen für ihr Verhalten gegenüber Anderen Gründe angeben, ist darin ansatzweise impliziert. Aber diese Gründe können sich natürlich darin erschöpfen, daß die Konvention in dieser Gruppe seit alters her etwas Bestimmtes vorschreibt oder daß man selber eine überlegene Auslegungskompetenz beansprucht.

Der Begriff der freien wechselseitigen Anerkennung im Deutschen Idealismus ist viel anspruchsvoller – vielleicht sogar zu anspruchsvoll für eine universale interkulturelle Rede von Selbstbewußtsein und Person. Fichtes wechselseitige Beschränkung des Handlungsspielraums zugunsten der Selbstbestimmung des jeweils anderen ist bedeutend mehr als wechselseitige Kompetenzzuschreibung in Kommunikations- und Normensystemen. Das gilt erst recht für Hegels Erfahrung des Kampfes um Anerkennung, die besagt, daß meine Freiheit von natürlichen Bedürfnissen, einschließlich der Selbsterhaltung, von anderen frei bestätigt werden muß. Personen sind, wie Hegel in der Rechtsphilosophie entwickelt, Wesen, die sich gemeinsam die Fähigkeit und das Interesse bestätigen (anerkennen), ihren freien Willen von allen inhaltlichen Entschlüssen zurückziehen zu können.48 Dazu bedarf es innerhalb eines das Recht aller schützenden Staates keiner physischen Kämpfe mehr. Streit über Normen muß in einem rechtlich-politischen Rahmen bleiben.49

Solche Personen und Gemeinschaften setzen einen kulturellen Entwicklungsprozeß voraus, der nicht für alle Menschen anzunehmen ist, denen wir Selbstbewußtsein oder Personalität zusprechen würden. Schon wenn zum selbstbewußten Entscheiden die Prüfung der Rechtfertigung aller gegebenen Befehle sowie der unterstellten Normen und Konventionen gehört, könnte man vielen Menschen in traditionalen, hierarchischen oder unselbständigen Verhältnissen kein Selbstbewußtsein zusprechen. Gemäß dieser Hierarchie der Reflexivität gibt es in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel daher erhebliche Defizite der symmetrischen Anerkennung zwischen kulturellen Gruppen und Religionsgemeinschaften.50 Für das gleichberechtigte Zusammenleben zwischen Religionen und Weltanschauungen in einer Welt der »multiplen Modernitäten«51 oder in einer pluralistischen Gesellschaft ist das keine ausreichende Position.

Umgekehrt ist aber zweifelhaft, ob die moderne empirisch-kommunikationstheoretische Theorie der für Personen notwendigen Reziprozität die Begründungslast für einen anspruchsvollen normativen Begriff der personalen Beziehungen tragen kann. Sie reicht schon für die klassische Rechts- und Freiheitslehre nicht aus. Erst recht muß sehr viel mehr als solche basalen (»quasi-transzendentalen«) Beziehungen zur Begründung der Freiheits-, Rechts- und Solidaritätsbeziehungen in Gesellschaften in Anspruch genommen werden, die Individuen und Gruppen eine bedeutend höhere Kompetenz der Auslegung, Kritik und Mitwirkung an der Veränderung sozialer Normen einräumen.52

Moderne Anerkennungstheorien gehen daher oft davon aus, daß Anerkennungsbeziehungen ein permanenter Konflikt um die Deutung der Kriterien sind, die für die Anerkennung des sozialen und politischen Status von Individuen und Gruppen maßgeblich sind. Denn jede »errungene« Anerkennung kann auch als Selbstentfremdung und Disziplinierung durch eine Gruppe oder angebliche Mehrheitskultur erfahren werden. Die »Asymmetrie« die durch den Ausbruch aus sozialer Disziplinierung und Konformismus hergestellt wird, kann insofern positiv verstanden werden.53 Der Kampf und die Asymmetrie als Selbstzweck darf aber nicht dazu führen, daß elementare Rechte und institutionelle Errungenschaften ihrer Sicherung permanent in Frage gestellt werden – jedenfalls nicht in einer praktischen Philosophie, in der es auch um irreversible Rechte und Verfahren ihrer Sicherung geht.

(2) Die begriffliche Struktur der Anerkennungsbeziehungen verlangt schon bei Hegel Bedingungen des Selbstbewußtseins, die weit über das allgemeine Rechtsverhältnis hinausgehen – von der emotionalen Bestätigung in der Familie über das Ansehen für die kompetente Ausübung eines Berufes bis zur umfassenden sittlichen Anerkennung im Staat, die vom Bürger das Opfer des Lebens verlangen kann.54 Zur Selbstachtung gehört Vertrauen in die Akzeptanz in der Gruppe und die Wertschätzung dieser Gruppe in den größeren Gemeinschaften. Ob diese Bedingungen gegeben sind, müssen heute empirische Forschungen von Sozialpsychologen, Pädagogen, Psychiatern etc. untersuchen. Strittig ist aber, wie man diese Befunde in einer am Begriff der Anerkennung orientierten philosophischen Theorie einordnen kann. Axel Honneth und andere jüngere Mitglieder der Frankfurter Schule haben das versucht.55 Honneth fußt auf einer an Hegel orientierten Trias von Liebe, Recht und sittlicher Solidarität.56 Liebe »übersetzt« er in emotionale Stabilisierung in Kleingruppen. Recht umfaßt die universale und gleiche Anerkennung individueller Ansprüche. Solidarität schließlich bedeutet Wertschätzung für Leistungen, die der einzelne oder die Gruppe für gesellschaftlich anerkannte Güter vollbringt.57

Anders als bei Hegel sind aber heute die Institutionen nicht mehr unumstritten zu identifizieren, in denen sich solche Formen der Anerkennung realisieren lassen. Es ist Gegenstand weltanschaulicher und politischer Kontroversen, in welchen Formen von Partnerschaft und Eltern-Kind-Beziehung diese Bedingungen gegeben sind. Solange empirisch nicht entschieden ist, unter welchen Formen das Wohlergehen und die Autonomie eher gefördert wird, kann die Philosophie nicht von sozialen Gütern und notwendigen Institutionen ihrer Realisierung sprechen. Ob die empirischen Methoden der Sozialwissenschaften allerdings verläßliche Grundlagen für errungene oder verweigerte Anerkennung liefern, ist eine offene Frage. Man muß auch, wie unten versucht wird (S. 37–39), Anerkennung als Bedingung der in einer modernen Gesellschaft möglichen Autonomie in eine andere Stufenfolge ausdifferenzieren, als dies zu einer im Hegelschen Sinne organisch gegliederten Gesellschaft paßt.

Es fragt sich, wie weit dann eine Analyse von sozialen Verhältnissen als Verletzung von Anerkennung, als »pathologisch«, »entfremdet« etc. möglich ist, ohne dabei den für eine wissenschaftliche Philosophie notwendigen Anspruch weltanschaulicher Enthaltsamkeit aufzugeben. Medizinische Begriffe oder Metaphern in der Sozialphilosophie sind besonders angesichts der deutschen Vergangenheit problematisch. Hegels eigene Synthese von deskriptiver und normativer Philosophie des Geistes setzt, auch abgesehen von der »Objektivität« der teleologischen Methode, zumindest an Institutionen an, die nach seiner Auffassung im europäischen Staat seiner Zeit unumstritten sind. Wir sehen heute aber, wie wenig dauerhaft diese Konsense für Familien und Geschlechterverhältnisse, Standesgesellschaften und die konstitutionelle Monarchie waren – von der für Hegel begründeten Dominanz des Christentums, sogar des Protestantismus, im Staat ganz abgesehen.

Der Umfang dessen, was Philosophie an unbestrittenen Konsensen ansetzen darf, ist erheblich geschrumpft. In Bezug auf Recht und Staat sind es Menschenwürde und Grundrechte, Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung – also sozusagen veränderungsgeschützte Verfassungsprinzipien. Demokratie im grundsätzlichen Sinne der gleichen Mitbestimmungsrechte aller gehört dazu, aber kaum ihre konkreten Formen – man denke an den Streit über die Plebiszite. Was die Familie, die Wirtschaftsordnung und das grundsätzliche Verhältnis zur Natur angeht, gibt es tiefgreifende Kontroversen.

Besonders schwierig scheint mir der Begriff der »sozialen Wertschätzung« in einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige Formen der organisierten Befriedigung notwendiger Bedürfnisse gibt – also die Hegelschen Berufsstände. Diese entscheiden bei ihm über die kompetente und rechtschaffene Ausübung eines Berufs, spielen mit ihrer Sicht auf das öffentliche Wohl aber auch eine bedeutende Rolle für die Gesetzgebung – Hegel mißtraut ja dem allgemeinen Wahlrecht. In der globalen Marktwirtschaft mit einem wachsenden Anteil an Freizeitindustrie kann von einer solchen berufsbezogenen Strukturierung der Gesellschaft und der von ihr ausgehenden Anerkennung aber kaum noch gesprochen werden. Produkte und Produktionsweisen sind in ständiger Veränderung, Prestige hängt vom Markterfolg ab und sehr oft auch von erfolgreicher Selbstvermarktung.58

(3) Institutionen unterliegen dem historischen Wandel. Vielfach sind heute Institutionen im Hegelschen Sinne, die als Selbstzweck gewollt, auf Dauer angelegt und als begrifflich notwendig betrachtet werden konnten, durch veränderbare Lebensformen mit »novellierbarem« rechtlichem Rahmen ersetzt. Natürlich war Hegel dieser Wandlungsprozeß bewußt. In der Phänomenologie hat er ihn als einen Erfahrungsprozeß des Bewußtseins begriffen, in der Rechtsphilosophie sind die systematische Entfaltung und die historische Entwicklung zumindest methodisch stärker getrennt. Im Erfahrungsprozeß der Phänomenologie verschränken sich Kontinuitäten des Lernens und Diskontinuitäten der Umwälzung, ausgelöst durch Vereinseitigung und Vergessen. Daß sich dennoch am Ende die Vernunft in der Geschichte durchsetzt, gehört zu den heute zweifelhaften teleologischen Prämissen. Man kann versuchen, mit weniger starken Voraussetzungen zu arbeiten. So spricht Axel Honneth von einer schwachen Teleologie der in den Institutionen enthaltenen Anerkennungsversprechen. In seinem Buch Das Recht der Freiheit (2012) untersucht er nach diesen Kriterien die nachhegelsche Entwicklung im Bereich von Familie, Wirtschaft und Arbeit, Medien und Staat. Noch deutlicher auf die Methode der Phänomenologie bezogen ist der Versuch einer »Kritik der Lebensformen« bei Rahel Jaeggi (Jaeggi 2014). Beide stellen moderne Varianten der Hegelschen Konzeption einer Erfahrungsgeschichte der Institutionen am Leitfaden der Anerkennung dar.

Honneth versteht »normative Rekonstruktion« der »Freiheitssphären« von Recht und Moral, Familie und Markt, Öffentlichkeit und Staat als Nachzeichnung einer historischen Entwicklung am Maß der ihnen immanenten Anerkennungsversprechen. »Innerhalb Westeuropas findet der Kampf um die Einlösung der normativen Erwartungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts dadurch geweckt worden waren, dass die Rechtsverhältnisse, das Moralverständnis, die persönlichen Beziehungen, der wirtschaftliche Austausch und die politische Herrschaft auf jeweils besondere Ideen der Freiheit umgestellt wurden, von Anfang an in einem transnationalen … Kommunikationsraum statt« (Recht der Freiheit, 622). Diese besonderen Ideen der Freiheit, die Honneth grundsätzlich als kommunikative Freiheit und damit als Anerkennung versteht, sind weder heute noch am Ende des 18. Jahrhunderts aus reiner Vernunft entstanden, sondern waren Resultat der Entwicklung von Lebensformen bzw. Freiheitssphären. Diese Genese versteht Honneth nach dem Vorbild der Hegelschen Idee der Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins als krisenhaften Prozeß des Kampfes um die Einlösung von »Erwartungen« bzw. »Versprechen«, die in diesen Lebensformen enthalten sind, von Theoretikern aber besonders »auf den Begriff« gebracht werden können – wie am Endes des 18. Jahrhunderts die Idee der Freiheit als wechselseitige Anerkennung durch den Deutschen Idealismus.

Auf die Hegelsche Idee eines notwendigen Vernunftfortschrittes zu einem Telos, das zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt erreichbar ist, muß dabei verzichtet werden. Honneth glaubt aber, von einer »schwachen Teleologie« der impliziten institutionellen Versprechungen und »normativen Erwartungen« ausgehen zu können. An diesen gemessen unterzieht er die Entwicklungen der Familie, der – in Westeuropa vorwiegend »kapitalistischen« – Wirtschaft und des Staates einer Kritik, die vor allem angesichts der jüngeren »neoliberalen« Transformation teilweise vernichtend ausfällt.59 Auf seine Interpretation und Kritik des kapitalistischen Marktes werde ich unten (2) noch genauer eingehen. Das Resultat seiner Transformation der Hegelschen Methode ist also eine entschieden linkshegelianische Korrektur von Hegels Begreifen der Vernunft in der Geschichte.

Die Idee einer solchen immanenten Kritik von Lebensformen ist methodisch präzisiert und weiterentwickelt worden von Honneths Schülerin Rahel Jaeggi in ihrem Buch Kritik von Lebensformen (2014). Auch Jaeggis Verständnis der Methode immanenter Kritik beruft sich weitgehend auf Hegels Phänomenologie des Geistes – ohne Teleologie und mit einer Korrektur durch die pragmatistische Methode des Lösens von Problemen, bei der sie sich auf Dewey bezieht.60 Lebensformen versteht sie als »Bündel von sozialen Praktiken … Sie umfassen Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen« (2014, S. 77, Kursivierung im Text). Diese kollektiven Lebensformen – wie die Familie oder die Stadt – sind für Jaeggi in verschiedener Hinsicht »selbstreflexiv«: Sie bringen sich selbst im Handeln und Denken von Individuen und Gruppen hervor, sie stehen unter ihren eigenen normativen Erwartungen und sie produzieren und interpretieren ihre eigenen Probleme und Lösungsversuche. Es gibt zwar auch externe Probleme, die zu lösen sind – Probleme der Ernährung, der Reproduktion, des Schutzes etc. Aber auch bei diesen kommt es auf das »Wie« der Lösung an, das durch normative Selbsterwartungen geprägt ist. Das durchgängige Verständnis von Lebensformen als Hervorbringen und Lösen von Problemen in einem »kritischen« Verlauf, ist sicher nicht selbstverständlich – auch nicht im Rahmen der Hegelschen Theorie, in der es sehr dauerhafte Institutionen und Lebensformen gibt, die in allenfalls »epochale« Krisen geraten.61

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