STEFAN LEHNBERG

Durch Nacht und Wind

Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe

Aufgezeichnet von seinem Freunde FRIEDRICH SCHILLER

Impressum

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Tropen

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© 2017 by Stefan Lehnberg

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München
Unter Verwendung einer Illustration von Nolan Paparelli

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50376-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10856-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vorwort

Wenn Du, verehrter Leser, diese Zeilen liest, werden seit ihrer Niederschrift wenigstens 150 Jahre vergangen seyn.

Denn erst, wenn alle Personen, welche an den hier geschilderten Begebenheiten Anteil hatten, längst begraben sind, ja erst, wenn auch ihre Kinder und Enkelkinder nicht mehr leben, soll dieser Bericht der Öffentlichkeit übergeben werden – sind doch in ihm Umstände beschrieben, welche meinen Freund Goethe, aber auch weitere Personen und nicht zuletzt auch mich selbst in Not und Verderben stürzen würden, sollten sie zu unseren Lebzeiten bekannt werden. Freilich wäre es vielleicht klüger gewesen, diese Vorkommnisse in meiner Schilderung fortzulassen oder sie in einer für uns günstigeren Weise darzustellen, aber es verlangt mich, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Mag die Nachwelt uns verdammen – jedoch hätten wir erneut die Wahl, wir würden ein 2tes Mal genau so handeln.

Friedrich Schiller – Jena, im September 1799

DURCH NACHT UND WIND

ERSTES BUCH

Erstes Kapitel

Ich erinnere mich noch recht gut der Ereignisse, von welchen hier die Rede seyn soll. Fast jeder tut dies, denn sie haben seinerzeit allenthalben für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Unzählige Berichte existieren über jene Vorgänge, so dass ein jeder sie zu kennen glaubt und doch sind fast alle diese Geschichten mehr oder minder unwahr. Die allermeisten Personen, welche davon erzählen, sind, wie ich beschwören kann, gar nicht dabei gewesen. Und von den wenigen, welche tatsächlich zugegen waren, werden Geschichten erzählt, die mit den wahren Ereignissen nur noch sehr wenig gemein haben. (Aus Gründen, welche nur all zu verständlich sind.) Ich selbst aber befand mich zusammen mit meinem Freunde Goethe im Centrum dieser Geschehnisse und darf daher von mir behaupten, die volle Wahrheit zu kennen. Ich bilde mir darauf keineswegs etwas ein. Es war einfach Glück. Oder Pech. Das mag ein jeder bey sich entscheiden. Sagen wir vielleicht einfach, es war Zufall.

Sey es nun, wie es sey, ihren Anfang nahmen die Ereignisse im Winter des Jahres 1797. Goethe und ich hatten mehrere Monate damit verbracht, einem Haufen gelbschnabeliger Schreiberlinge ein paar wohlverdiente Fußtritte in ihr untalentiertes Hinterteil zu verabreichen. Freilich nicht im wörtlichen Sinne, sondern in Form von Gedichten, welche wir Xenien nannten und publizierten. Auf diese Weise war nicht nur unserem Gemüte wohlgetan, sondern auch unserem Geldbeutel. Wir waren darob in vorzüglichster Stimmung und brannten vor Tatendurst.

An jenem klirrend kalten Märztage hatte ich Goethe, wie so oft, kurz nach der Mittagsstunde aufgesucht. Er befand sich noch in seinem weißen Flanellschlafrock, aber er hatte offenkundig bereits den Chirurgen und den Friseur empfangen, denn er war frisch rasiert, und das Haar auf seinem Haupte war auf das artigste onduliert. Er machte einen maladen Eindruck und klagte mir sogleich, dass er am Abend zuvor törichterweise einige Tassen Tee getrunken habe, wiewohl er doch nur zu gut wisse, dass jener stets wie Gift auf ihn wirke, und nun habe er bereits die halbe Nacht und den ganzen Morgen mit einem verhetzten Organismus zu kämpfen. Gleichwohl sey er erfreut, mich zu erblicken, ein wenig Zerstreuung würde ihn gewiss erquicken.

Und in der Tat vergaß Goethe seinen Zustand mit jedem Augenblicke, den ich bey ihm war, mehr, und seine heitere Stimmung war gänzlich wieder hergestellt, als er mir die allerneueste Errungenschaft seiner Sammlung zeigte: einen veritablen Elefantenschädel. Ich erinnere mich nicht meiner genauen Worte, muss aber wohl etwas in der Art geäußert haben, dass so eine Anschaffung zwar zunächst durchaus reizvoll, aber bey Licht betrachtet sinnlos sey.

Goethe musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen von Kopf bis Fuß in der Manier, wie nur er es kann, und bemerkte mit fein dosiertem Plaisier: »Lieber Freund, Sie sind urteilsfroh, aber nicht urteilsstark.«

Ich war drauf und dran, ihm eine gehörige Antwort zu geben, als es an der Thüre klopfte. Herein trat Goethes Diener Geist und übergab Goethe ein verschlossenes Billet. Goethe hatte mir einmal anerkennend offenbart, dass ich der einzige unter allen seinen Freunden und Bekanntschaften wäre, welcher sich niemals zu jenem tumben Wortspiele hinreißen ließ, wonach jener im wahrsten Sinne des Wortes ein dienstbarer Geist sey. Ein Umstand, welcher mich mit einem gewissen Stolz erfüllt, obwohl ich ehrlicherweise bekennen muss, dass es mir schlicht nicht eingefallen ist.

Goethe öffnete das Billet, zog sein Lorgnon hervor und las mit gerunzelter Stirn. Mit einem Nicken entließ er den Diener. »Ich muss zu Ihrer Durchlaucht. Augenblicklich.« Düster besah er das Billet, als hoffe er, dass sich dessen Inhalt noch in einen anderen verwandeln möge.

»Es wird doch nichts Unerfreuliches seyn«, bemerkte ich vorsichtig.

»Wohl eher doch«, murmelte Goethe mit finsterer Miene.

»Wohl eher doch.«

Zweites Kapitel

Drei viertel Stunden später erreichten wir das Fürstenhaus, das seit dem großen Brande von 1774, welcher das Schloss in Schutt und Asche gelegt hatte, immer noch als Behelfsresidenz dienen musste. Zwar lag jenes nur einige hundert Schritte von Goethes Haus am Frauenplan entfernt, jedoch hatte Goethe sich beim Ankleiden ausnehmend lange Zeit gelassen. Zweifellos aus Opposition zu der plötzlichen Einbestellung. Jedenfalls hörte ich ihn durch die Wand laut vor sich hinfluchen. Zuvor hatte er mir eröffnet, dass Billets, welche unverzügliches Erscheinen befahlen, ausnahmslos Unerfreuliches nach sich zögen. Um was es sich handele, sey vollkommen inkalkulabel, aber gewiss würde man ihm erneut irgendeinen Quark von Aufgabe aufbürden, der ihn nicht nur kostbare Zeit kostete, sondern welcher auch weit unter seiner Würde sey. Derart instruiert, war ich durchaus nicht darauf erpicht, ihn zu begleiten. Zu meinem großen Glücke verfüge ich über das Talent, zu fast jeder Situation einen passenden Sinnspruch schneidern zu können. Der für diesen Moment – welcher sowohl Goethes Geltungsdrang als auch meinem Faulheitsdrang Rechnung trug – lautete: »Der Starke ist am mächtigsten allein«, aber Goethe ließ nur ein mürrisches Knurren hören, welches ich als Ablehnung deutete. Ich gebe zu, der Spruch ist Unfug, aber er klingt wahrlich nicht übel, vielleicht kann ich ihn einmal in einem Theaterstück verwenden.

Goethe schritt heftig aus, und ich hatte beinahe Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ein braunes Huhn, welches träge seinen Weg gekreuzt hatte, flatterte erschrocken auf. Bereits am Portale des Schlosses erwartete uns die erste Hofdame der Herzoginmutter, Fräulein von Göchhausen. Genau genommen erwartete sie nur Goethe, was sie mir durch einen säuerlichen Blick in meine Richtung veranschaulichte. Fräulein von Göchhausen sah keineswegs so aus, wie man sich eine Hofdame – oder auch nur ein Fräulein – vorstellt. Sie war ungeheuer alt – weit über 40 – winzig klein und hatte überdies einen Buckel. Aber soweit ich wusste, war sie für ihren Esprit bekannt und allseits hochgeschätzt. Auch von Goethe, der sie mir einmal als »hässlich wie die Nacht, aber brav wie Gold« beschrieben hatte. Ich musste daran denken, wie der Herzog, welcher immer für einen zünftigen Witz gut war, vor nicht allzu langer Zeit eines Abends die Thüre zu den Gemächern der Göchhausen zumauern und übertapezieren lassen hatte, woraufhin die Ärmste stundenlang und mit zunehmender Verzweiflung danach gesucht hatte. Aber solche spaßigen Narretheien waren für den Augenblick nicht zu erwarten.

Eiligst führte man uns über den Dienstbotenaufgang, was Goethe mit indigniertem Augenrollen quittierte, zum Empfangssalon der Herzoginmutter. Die Göchhausen pochte an die hohe Doppelthüre, und Goethe strich seinen Rock glatt. Dann öffnete sie die Thüre einen Spalt weit, ließ Goethe eintreten, wandt sich geschickt hinter ihm hindurch und schloss die Thüre, ehe ich nachfolgen konnte.

Drittes Kapitel

Um für einen Dichter zu gelten, braucht es nicht nur Phantasie und Schaffenskraft, sondern auch ein erkleckliches Maß an Neugier. Ein besonders kluger Geist, dessen Name mir just entfallen ist, sagte einst sogar, dass die Neugier als die vornehmste Eigenschaft dieses Dreigestirns zu gelten habe. Dies mag entschuldigen, dass ich – obschon gewiss wohlerzogen – nach einigen Minuten geduldigen Wartens nicht länger an mich halten konnte und an der Thüre lauschte. Doch sogleich verfluchte ich mein vorwitziges Tun wieder, denn was ich hören musste, ließ mich voller Grausen zurückweichen. Hatte ich recht vernommen? Der Herzog tot? Von feiger Mörderhand dahingemeuchelt?

Offenkundig nicht, denn bereits im nächsten Augenblicke hörte ich die Herzoginmutter und Goethe laut auflachen. Meine lebhafte Dichterphantasie hatte mir einen Streich gespielt und mir aus dem wenigen, was ich von hinter der Thüre vernehmen konnte, eine dramatische, aber nichts desto weniger falsche Geschichte vorgegaukelt. Soeben wollte ich mein Ohr erneut an die Thüre pressen, als diese sich öffnete und mir mein Freund, prächtig aufgelegt wie ein betrunkener Kesselflicker, entgegenkam. Lachend sprang er leichtfüßig die Stiegen hinunter, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Vor dem Tore wartete bereits ein Landauer, welcher offenkundig der Herzoginmutter gehörte, wie ich an dem Wappen auf der Seite unschwer erkannte. Goethe kletterte in Anbetracht seiner Kurzbeinigkeit erstaunlich geschwind hinein und hieß mich, es ihm gleich zu tun. Ehe ich noch etwas fragen konnte, knallte der Schwager auf dem Kutschbocke mit seiner Peitsche, und wir jagten in einem Höllentempo davon.

Viertes Kapitel

Bald hatten wir das Stadttor passiert, und ich genoss die herrliche Spazierfahrt entlang der Belvederer Allee. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte uns so behaglich, dass man trotz des Schnees, welcher noch allüberall die Landschaft bedeckte, fast schon glauben mochte, der Sommer sey urplötzlich ausgebrochen.

Immer noch heiterster Laune erklärte mir Goethe, dass die Herzoginmutter ihn gebeten habe, ein Gespräch mit einer hochgestellten Persönlichkeit zu führen, welche mit ihrem halben Hofstaate als Gast auf ihrem Lustschloss Belvedere vor den Toren der Stadt weilte. Jener sey von einer höchst unvernünftigen, nichtsdestotrotz doch außerordentlich verstörenden Unruhe ergriffen worden, da er von dem Gedanken besessen sey, dass ein in seinem Besitze befindlicher Gegenstand mit einem Fluche belegt ist, welcher den sicheren Tod für den Besitzer dieses Gegenstandes bedeute.

»Alles in allem eine äußerst spaßhafte Angelegenheit«, lautete Goethes Urteil. »Der Mann ist auf das Äußerste abergläubisch, es heißt sogar, er lasse sich jeden Morgen von einer alten Hexe die Karten schlagen, offenkundig ein fürchterlicher Einfaltspinsel, aber das wagt so einer Herrschaft natürlich niemand ins Gesicht zu sagen. Die Herzoginmutter fühlt sich für das Wohlergehen ihrer Gäste verantwortlich, und überdies ist der Mann, seit er von dem angeblichen Fluche Kenntnis erhalten hat, noch unleidlicher zu seiner Umgebung, als es ohnehin schon seyn Temperament ist. Es ist daher unsere Aufgabe, ihn davon zu überzeugen, dass es mit diesem Fluche keine ernsthafte Bewandtnis hat und dass er nicht das Mindeste zu befürchten habe. Das wird kaum länger als eine halbe Stunde brauchen.«

»Wer ist nun der Mann?«, fragte ich, meine Neugier kaum verbergend. Goethe sagte es mir. Ich war auf das Äußerste beeindruckt, denn es handelte sich um keinen Geringeren als den Großherzog von N., von dessen sagenhaftem Reichtum, aber auch cholerischem Charakter ich wie jeder andere natürlich bereits einiges gehört hatte.

Nach einer guten viertel Stunde erreichten wir das Lustschloss, welches inmitten weitläufiger Parks und Wälder gelegen war.

Die Sonne hatte sich wieder hinter eine dicke Wolkendecke zurückgezogen, und es hatte auf das Heftigste zu schneien begonnen, so dass wir uns eilten, zur Pforte zu gelangen. Goethe pochte ungeduldig dagegen, aber anstatt dass man uns einließ, wurde nur eine Klappe in der Thüre geöffnet, der Kopf eines Bedienten erschien, und wir wurden nach unserem Begehr gefragt.

Goethe richtete sich zu voller Größe auf und stellte uns vor:

»Geheimrat von Goethe und Hofrat Schiller. Wir werden von seiner Durchlaucht erwartet.«

Die Klappe wurde wieder geschlossen, aber weiter geschah nichts. Nicht lange und ich bemerkte, wie Goethe die Zornesröte ins Gesicht fuhr. Eine solche Behandlung war er sonst nicht gewohnt. Ich hingegen nahm es mit Gleichmut auf, da ich von dem ganzen Fürstengesindel ohnedies kein anderes Betragen erwarte. Eine plötzliche Bewegung in der Ferne ließ mich aufmerksam werden. Hatte ich dort hinter dem Busche für den Hauch eines Moments einen großen Mann stehen sehen? Ich blickte angestrengt in die Richtung des Busches, vermochte aber nichts zu entdecken. Schließlich vernahmen wir, dass der Thürriegel zurückgeschoben wurde, und wir durften eintreten.

Der Bediente führte uns in den ersten Stock. Mir fiel auf, dass er, obschon noch jung, stark hinkte. Ohne anzuklopfen, öffnete er eine Thüre, vor welcher ein weiterer Diener stand, und ließ uns in den großen Salon eintreten. Der Großherzog war ein corpulenter Mann mit fliehendem Kinn und tückischen Augen. Sein Alter war unmöglich zu schätzen. Er konnte ebenso gut vierzig Jahre wie auch ihrer siebzig seyn. Sollte ich je ein Drama über Kaiser Nero verfassen, so wäre er der ideale Darsteller. Selten, wenn überhaupt jemals zuvor, habe ich bey einem Menschen auf den ersten Blick derartige Abscheu empfunden.

Er saß am Ende eines langen Eichentisches vor dem Kamin und war just damit beschäftigt, eine Forelle zu verspeisen. Es war offenkundig, dass wir ihm höchst unwillkommen waren. Am anderen Ende erblickten wir eine verhärmt schauend ältere Dame, welche uns verstohlen zulächelte. Wahrscheinlich die Großherzogin. Wir verbeugten uns, und Goethe stellte uns vor. Der Großherzog musterte erst mich und dann Goethe auf das Gründlichste. Schließlich wischte er sich den Mund mit einer Serviette ab und sagte zu Goethe: »Leck er mich am Arsche!«

»Pardon?« Mein Freund war wohl zu überrascht, um zornig zu werden.

»Das ist doch von Ihnen. Leck er mich am Arsche. Goetz von Soundso. Gutes Stück. Klare Worte. Nicht so verworrenes Zeugs wie das meiste andere.«

Goethe verbeugte sich eisig. Der Großherzog war in der Tat ein Mann, der wusste, wie man sich Feinde machte. »Dieser ungebildete Banause sollte Goethes Faust kennenlernen«, dachte ich still bey mir.

»Nichts für ungut, mein Bester, Sie sind natürlich damit nicht gemeint«, wandte er sich an mich und fügte hinzu. »Habe selbst nichts von Ihnen gelesen, aber meine Tochter schätzt Ihre Emilia Grolotti.«

Jetzt war es an mir, mich ebenso eisig zu verbeugen. Was für ein bemerkenswerter Bursche. Innerhalb eines Augenblickes hatte er drei Männer auf das Schändlichste beleidigt. Falls der Großherzog wirklich einen fluchbeladenen Gegenstand sein eigen nannte, so hoffte ich, dass dieser ihm alsbald einen schrecklichen Tod bescheren möge, und falls nicht, war ich nur zu gerne bereit, die nötigen Verfluchungen höchstpersönlich vorzunehmen.

Der Großherzog wandte sich wieder seiner Forelle zu. Er nahm einen Bissen und wies mit der Gabel auf ein Schreibpult am Fenster, auf welchem ein Brief lag. »Seh’ er sich das mal an.«

Goethe ging zu dem Pulte und nahm den Brief. Vermittels seines Lorgnons studierte er ihn gründlich. Dann reichte er ihn an mich weiter. Der Brief stammte von einem Ludwig Kranigk, seines Zeichens Professor an der Universität zu Erfurt. Offenkundig war der Professor nicht sehr geübt im Verfassen von Briefen, denn sein Stil erwies sich als überaus ungelenk und altertümlich, und ich musste den Brief zwei Mal lesen, um seinen Inhalt vollständig zu erfassen. Entweder war der Professor ein ausgemachter Scherzbold, oder – und das hielt ich für die wahrscheinlichere Variante – ein ausgemachter Hohlkopf, wie es deren ja unter Männern der Wissenschaft leider nicht eben wenige gibt. Jedenfalls behauptete der Professor in seinem Schreiben, dass sich der Herzog in Lebensgefahr befände, da ein Smaragdring in seinem Besitze mit einem tödlichen Fluch belegt sey. Natürlich verstünde er, wenn der Großherzog an seinen Worten zweifele, deshalb füge er eine detaillierte Historie des berühmten Ringes bey, aus der klar hervorgehe, dass die Vorbesitzer des Ringes sämtlich lange vor der Zeit eines schrecklichen und unerklärlichen Todes gestorben seyen.

»Was sagen Sie dazu? Ein reiner Unfug, nicht wahr?« Der Großherzog blickte blinzelnd zwischen Goethe und mir hin und her, und mit einem Male wurde ich gewahr, dass er keineswegs so ruhig war, wie er zu scheinen suchte. In seinen Augen bemerkte ich Angst.

Goethe und ich sahen uns an. Es bedurfte keiner Worte, dass wir uns verstanden.

Goethe setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ist es möglich, das bewusste Schmuckstück in Augenschein zu nehmen?«

Der Großherzog gab dem Bedienten, welcher die ganze Zeit über neben der Thüre gewartet hatte, einen Wink. Dieser trat zu einem Schreibkabinett und entnahm ihm eine kleine Schatulle aus Palisander, welche er Goethe zögernd überreichte – genauer gesagt, überreichen wollte. Denn Goethe wich einen Schritt zurück und machte keine Anstalten, die Schatulle anzurühren.

»Öffnen!«, befahl er.

Der Diener warf einen furchtsamen Blick zum Großherzog, doch der winkte nur unwirsch mit der Hand. Der Bediente öffnete die Schatulle. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen beugte sich Goethe darüber und betrachtete ihren Inhalt. Es mochten beinahe fünf Minuten vergangen seyn – so wollte es mir zumindest scheinen –, bis er sich wieder aufrichtete. Er dachte einen Moment nach, dann wandte er sich mit großem Ernst an den Großherzog.

»Allerdurchlauchtigster, zu meinem tiefsten Bedauern muss ich Ihnen sagen, dass Sie die Angelegenheit überaus ernst nehmen müssen. Professor Kranigk ist eine anerkannte Kapazität, er weiß, wovon er spricht. Ich hatte jedoch gehofft, dass er sich zumindest darin irre, dass es sich bey dem verfluchten Ringe nicht um den Ihren handele, aber ich habe darüber gelesen und auch Abbildungen gesehen. Es kann nicht den geringsten Zweifel geben. Der Ring in der Schatulle ist der bewusste. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Ich beschwöre Sie, entledigen Sie sich des Ringes so schnell als möglich. Und bis Sie das getan haben, sollten Sie über alle Maßen Vorsicht walten lassen.«

Goethe verstummte und sah den Herzog auf eine sorgenvolle Weise an, die vollständig überzeugend wirkte. Der Großherzog war bleich geworden. Er hatte von uns etwas anderes erwartet. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Goethe an, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Dann brach es aus ihm heraus.

»Ich glaube nicht an Flüche!«, rief er mit schriller Stimme. »Und wer immer versucht, Hand an mich zu legen, ist des Todes.«

Er fegte die Serviette, welche vor ihm auf dem Tische lag, beiseite, so dass zwei Pistolen zum Vorschein kamen.

»Gut und schön, Allerdurchlauchtigster, jedoch bey dem Fluche, mit dem wir es hier zu tun haben …« Goethe schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Ihre Waffen würden gänzlich ohne Nutzen seyn.« Goethe sah zu mir hinüber, und ich nickte mit der düstersten Ernsthaftigkeit, die mir zu Gebote stand. »Aussichtslos«, bestätigte ich kopfschüttelnd.

»Da hören Sie’s: aussichtslos.«

Ich erinnerte mich, dass mein Freund in jungen Jahren als Doktor der Rechte vor Gerichte gearbeitet hatte. Denn in diesem Augenblicke wirkte er ganz wie ein Advokat, welcher sein meisterliches Beweisplädoyer schloss. Der Großherzog saß kraftlos auf seinem Stuhle und glotzte, wie vom Blitze getroffen, vor sich hin.

»Unfug!« Die schneidende Stimme hinter meinem Rücken ließ mich zusammenfahren. Goethe und ich wandten uns überrascht um. Vor uns stand ein groß gewachsener Mann mit schwarzem Schnurrbart. Woher er so plötzlich erschienen war, konnte ich mir nicht denken, denn die Thüre befand sich am anderen Ende des Saales. Hatte er sich die ganze Zeit über verborgen gehalten und alles mit angehört? Sein Mund, seine Augen, ja sein ganzer Habitus hatten etwas fürchterlich Grausames, darüber konnte auch seine durchaus elegante Aufmachung nicht hinwegtäuschen. Es war sonderbar, aber jener Mann ließ mich eine sogar noch stärkere Abscheu empfinden als der Großherzog.

»Diesen Kerls ist nicht zu trauen«, wandte der Mann sich an den Großherzog, welcher nicht die geringste Überraschung über dessen plötzliches Erscheinen erkennen ließ.

»Mit wem haben wir die Ehre?« Goethe blieb äußerlich vollkommen unbewegt.

Der Großherzog schien sich einen Augenblick lang nicht recht entscheiden zu können. »Mein zukünftiger Eidam«, sagt er schließlich langsam. »Prinz von S. Er wird im Mai meine Tochter zum Altare führen.«

»Ergebenster Diener.« Goethe verbeugte sich leicht gegen den Prinzen.

Der Prinz funkelte Goethe feindselig an, doch Goethe hielt seinem Blicke stand, bis jener sich abwandte.

»Bedenken Sie die Prophezeiung der weisen Frau«, raunte der Prinz verschwörerisch dem Großherzog zu: »Drei Männer werden kommen, die Übles im Schilde führen.«

»Das können wir nicht seyn«, sagte ich, »wir sind nur zu zweien.«

»Wo mag sich wohl der Dritte verborgen haben, Durchlaucht?«, zischte der Prinz dem Großherzoge zu.

Dessen Augen sprangen erregt zwischen meinem Freunde und mir hin und her, als suche er sich darüber Gewissheit zu verschaffen, dass wir wirklich nicht zu dritt erschienen waren. Seine Gesichtszüge waren von Furcht verwüstet, und er schien um Jahrzehnte gealtert. Ehe er noch etwas sagen konnte, empfahlen wir uns, und wenige Augenblicke später saßen wir bereits wieder in unserer Kutsche und fuhren gen Weimar. Es war amüsanter gewesen, als wir erwartet hatten.

Fünftes Kapitel

In den folgenden Tagen sahen wir uns nicht, undjeder von uns ging seinen eigenen Verpflichtungen nach. Ich in Jena und Goethe in Weimar. In einem Briefe hatte Goethe mich gemahnt, strengstes Stillschweigen über unsere kleine Fopperei zu bewahren. Der Herzoginmutter hatte er erklärt, dass wir getan hatten, was wir konnten – was ja auch acurat der Wahrheit entsprach –, dass jedoch nichts von dem, was wir gesagt hätten, den Großherzog davon habe abbringen können, weiterhin an jenen Fluch zu glauben. Ich bewunderte meinen Freund für seine Fähigkeit, zu lügen, ohne dabei die Unwahrheit zu sagen.

Dann legte ich den Brief beiseite und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, eine Ballade zu verfassen. Allein, wie sehr ich mir auch das Hirn zermarterte, mir wollte keine Eingebung erscheinen, wovon sie zu handeln habe. Ich versuchte dieses und jenes, aber nichts wollte mir glücken. Unseren großherzoglichen Streich hatte ich alsbald vollständig vergessen.

Um so verwunderter war ich, als ich einige Tage später einen offenbar in großer Eile verfassten Brief Goethens erhielt, in welchem er mich ohne Angabe eines Grundes aufforderte, unverzüglich zu ihm zu eilen. Erfreut über die willkommene Unterbrechung ließ ich alles stehen und liegen und machte mich sogleich auf den Weg nach Weimar. Als ich einige Stunden später vor seinem Hause eintraf, erwartete mich bereits Goethes Bedienter Geist vor dem Tore. Er ließ mich wissen, dass Goethe nicht länger auf mich habe warten können und vor über einer Stunde nach Belvedere aufgebrochen sey, wohin ich ihm unverzüglich nachfolgen möge. Für einen Augenblick verwünschte ich Goethe im Inneren für seine Ungeduld, aber dann musste ich daran denken, dass er gewiss gute Gründe für sein Handeln gehabt hatte. Ich ließ mir ein frisches Pferd bringen und machte mich erneut auf den Weg.

Sechstes Kapitel

Als ich das Schloss erreichte, fiel mir sogleich auf, dass etwas anders war als bey unserem letzten Besuche. Eine unheilvolle Stimmung lag über dem ganzen Anwesen, das fühlte ich deutlich, jedoch hätte ich nicht zu sagen vermocht, welcher Gestalt sie war. Vor dem Schlosstore war ein Husar postiert, welcher mich eintreten hieß, nachdem ich ihm meinen Namen genannt hatte. Ich betrat die Vorhalle, in welcher sich vier weitere Husaren aufhielten. Einer von ihnen deutete mir mit einer Handbewegung an, dass ich die Treppe hinaufgehen möge.

Ich erklomm die Stiegen und vernahm Stimmen aus dem Saale, welchen ich schon kannte. Die eine war zweifellos die meines Freundes, und die andere glaubte ich als die von Weimars regierendem Herzog Carl August wieder zu erkennen, welchem ich bereits bey verschiedenen offiziellen Anlässen begegnet war. Ich fand die Thüre halb angelehnt. Dennoch klopfte ich an.

Sobald Goethe mich erblickte, rief er mich zu sich. Ich trat ein und machte dem Herzog meine Aufwartung, aber jener schien im Augenblicke keinen Sinn für das Zeremoniell zu haben und nickte mir nur geistesabwesend zu. Goethe sah mich eindringlich an.

»Der Großherzog ist heute Nacht verstorben.«

»Mein Beileid«, sagte ich in Richtung des Herzogs, wiewohl ich nicht wusste, ob es angebracht war. »Ein Herzanfall?«

»Es war kein Herzanfall, lieber Freund«, sagte Goethe mit leiser Stimme »Und auch keine andere natürliche Todesursache.«

»Wie? Etwa Mord?«, fuhr ich auf.

»Kein Mord.«

»Also Selbsttötung.«

»Nein, auch das nicht.«

»Aber was dann, um Himmels willen?«, rief ich verwirrt.

»Das ist die Frage«, sagte Goethe in einem Tone, wie ich ihn noch nie von ihm vernommen hatte. »Das ist die große Frage.«

Nun riss sich auch der Herzog aus seiner Starre und beschwor mich, mit meinem Freunde dieses Geheimnis so schnell als möglich zu lüften. Keinesfalles dürfe auch nur der Schatten eines Zweifels an der vollkommenen Schuldlosigkeit seiner Person oder der seiner Familie bestehen. Die Folgen wären gar nicht ernst genug einzuschätzen.

Ich verneigte mich und gelobte, in jeder Weise zu helfen, soweit es in meinen Kräften stünde. Der Herzog legte mir und meinem Freunde je eine Hand auf eine Schulter und sah uns mit einem Gemisch aus Sorge und Dankbarkeit an. Dann verließ er den Raum. Eine kurze Weile hörten wir noch eine militärische Geschäftigkeit im unteren Stockwerke und auf dem Hofe, doch bald wurde es stiller, und schließlich waren wir allein.

Goethe war zum Fenster gesprungen und öffnete eiligst beide Flügel.

»Dieser Pestgestank!« Er blieb am Fenster stehen und durchtränkte seine Lungen mit Luft, als hätte er soeben eine Wüste durchquert und nun endlich die Oase mit dem rettenden Wasser erreicht.

Erst jetzt bemerkte ich den beißend süßlichen Geruch, welcher im Raume stand. Wie nach einem Brande, vermischt mit einem weiteren Geruch, welchen ich aber nicht zu deuten vermochte. Das Zimmer schien jedoch unversehrt. Ich trat an den Kamin, der absonderliche Geruch kam ohne jeden Zweifel von hier. Plötzlich erfasste mich ein Schwindel. Ich weiß nicht, von was er verursacht war, ob von dem Geruche, den Anstrengungen der langen Reise oder ob der hiesigen Umstände oder allem gemeinsam, aber meine Beine wurden schwach, und ich musste mich hinsetzen.

Ich griff zu einem Glase, welches vor mir auf dem Tische stand, füllte es mit Wasser aus einer Karaffe und wollte soeben davon trinken, als Goethe wie ein leibhaftiger Derwisch hinter mir auftauchte und mir mit einer blitzartigen Bewegung das Glas aus der Hand schlug. Im selben Augenblicke wurde mir meine Unvorsichtigkeit klar: Niemand wusste, wie der Großherzog zu Tode gekommen war.

»Gift?«, rief ich aus.

»Wir wollen nichts ausschließen«, entgegnete mein Freund.

»Und nun bitte ich Sie um Ihre Meinung als medizinischer Fachmann.«

Ich seufzte. In der Tat hatte ich als junger Mann Medizin studiert; meine Zeit als Regimentsmedicus war mir jedoch nicht in allzu guter Erinnerung geblieben und meinen Patienten zweifellos noch weniger. Inzwischen ließ ich mich nur höchst ungern zu medizinischen Diensten herbei. Goethe jedoch interessierte dies offenkundig nicht im Geringsten.