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Über dieses Buch:

Die schwarze Seite der Leidenschaft ruft nach dir …

Ein eleganter Lebemann lernt an Bord eines Schiffes in Richtung China Clara kennen, eine junge Engländerin, die vom Anblick grausamer Handlungen erregt wird. Sie erzählt ihm vom Garten der Qualen, einem faszinierenden Ort jenseits aller Moralvorstellungen, an dem Folter als erotische Kunstform inszeniert wird. Im Bann der mysteriösen Frau, willigt er ein, zu ihrem tabulosen Reisegefährten zu werden – und das Paar taucht ein in das dunkle Delirium der Sinne, das der Garten bereithält …

Über den Autor:

Octave Mirbeau (1848 – 1917) arbeitete zunächst als Beamter im französischen Staatsdienst, bis er sich 1877 entschloss, Schriftsteller zu werden. Über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt wurde er mit dem Roman „Das Tagebuch einer Kammerzofe“. Zeitlebens ein Kämpfer gegen verlogene Moral und soziale Missstände, liebte er den Skandal und engagierte sich nicht nur mit bitterbösen Glossen: So beglich er die Strafzahlung, zu der Émile Zola wegen seiner berühmten Schrift „J’accuse …!“, der die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre informieren sollte, verurteilt worden war.

Octave Mirbeaus Roman „Der Garten der Qualen“, der erstmals 1901 auf Deutsch erschien, wurde wegen der dort geschilderten Grausamkeiten sofort verboten. Angeblich inspirierte er Franz Kafka zu seiner Erzählung „In der Strafkolonie“.

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eBook-Neuausgabe Januar 2017

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Copyright © der Originalausgabe 1974 Helmut Werner

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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotives von shutterstock/Maksim Shmeljov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95885-426-0

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Octave Mirbeau

Der Garten der Qualen

Ein SM-Klassiker

venusbooks

ERSTER TEIL

I. Kapitel

Die Zufälligkeiten des Lebens – und was für ein Leben war das meine! – haben mich unter den vielen Frauen, die ich kennen lernte, auch der Frau gegenübergestellt. Ich habe sie gesehen, frei von allem Kunstwerk, von all den Heucheleien, mit denen die Zivilisation ihre wahre Seele wie mit einem Lügenschmuck verhüllt. Ich habe sie gesehen, ihrer Laune allein überlassen, unter der alleinigen Herrschaft ihrer Instinkte, in einer Umgebung, wo allerdings nichts sie zügeln konnte, wo sich im Gegenteil alles verschwor, um sie aufzuregen. Nichts verbarg mir sie, weder Gesetze, noch Moral, noch religiöse Vorurteile, noch soziale Konvenienz. Ich habe sie in ihrer ganzen Wirklichkeit, in ihrer ursprünglichen Nacktheit, zwischen Gärten und Qualen, zwischen Blut und Blumen gesehen. Als sie mir erschien, war ich zur niedrigsten Stufe menschlicher Herabgekommenheit gesunken – wenigstens glaubte ich es. Da schrie ich vor ihren Augen voll Liebe, vor ihrem Munde voll Mitleid hoffend auf und glaubte, ja ich glaubte, daß ich durch sie gerettet werden würde.

O wie trog diese Liebe, wie verschwand dieses Mitleid, wie wurde mein Glaube getäuscht!

Die ganze Geschichte der Frau und nicht allein ihre Geschichte, sondern auch ihre Rolle in der Natur und im Leben strafen all’ unsere Romantik und Sehnsucht, mit denen wir die Frauen umgeben und von ihnen träumen, Lügen. Denn weshalb drängen sich sonst die Frauen zu blutigen Schauspielen mit der gleichen Verzückung wie beim Wollustrausche? Weshalb strecken sie, wie man sich stets überzeugen kann, auf der Straße, im Theater, in den Gerichtssälen und vor der Guillotine den Hals nach Folterszenen aus, reißen gierig die Augen auf und empfinden bis zum ohnmächtig werden die schändliche Freude am Tode? Weshalb läßt sie schon der Name eines großen Mörders bis in die tiefsten Tiefen ihres Leibes in einer Art von köstlichem Entsetzen erschauern? Weshalb? Ob es nun große Damen oder Bürgerfrauen sind … Es kommt ganz auf das Gleiche heraus. In bezug auf Frauen gibt es keine moralischen Kategorien, es gibt nur soziale Kategorien, es sind eben Frauen. Die Frauen aus dem Volke, aus dem Bürgerstande, ja aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft stürzen sich lüstern auf die scheußlichen Totenkammern und absurden Verbrechermuseen. Weshalb? Das kommt daher, weil die großen Mörder auch stets schreckliche Liebhaber waren. Ihre geschlechtliche Kraft entspringt ihrer verbrecherischen Kraft. Sie lieben wie sie töten! Der Mord wird aus der Liebe geboren und die Liebe erhält ihre höchste Spannkraft durch den Mord. Es ist dies die gleiche physiologische Erregtheit, es sind die gleichen erstickenden Gebärden, die gleichen Bisse. Und häufig fallen dabei auch, in derselben Verzückung, die gleichen Worte.

Die schändlichsten Verbrechen sind fast immer das Werk des Weibes. Das Weib denkt sie aus, entwickelt sie, bereitet sie vor und leitet sie. Wenn die Frau diese Taten nicht mit eigener, oft zu schwächlicher Hand ausführt, kann man doch in all diesen Verbrechen ihren Charakter voll reißender Wildheit, ihre Unerbittlichkeit, ihre Geistesgegenwart, ihren Gedanken, ihr Geschlecht wiederfinden. »Cherchez la femme!« sagt der weise Kriminalist. –

Nun also, die Ereignisse, von denen ich sprechen will und die meine Behauptungen erhärten werden, nahmen einen fürchterlichen Verlauf. Die Frau hat mich Verbrechen kennen gelehrt, von denen ich keine Ahnung hatte, Schatten, Schatten, in die ich noch nicht herabgestiegen war. Meine Augen sind erstorben, mein Mund weiß nichts mehr zu sprechen, meine Hände zittern. Weil ich sie gesehen und in ihr das ganze Geschlecht erkannt habe. Aber ich kann ihr nicht fluchen, ebensowenig wie ich dem Feuer fluche, das Städte und Wälder verheert, dem Wasser, das Schiffe scheitern läßt, dem Tiger, der die blutige Beute in seinem Rachen nach der Tiefe des Dschungel schleppt. Die Frau hat die weltumspannende Kraft der Elemente in sich, einen unüberwindlichen Zerstörungsdrang, gleich der Natur. Sie ist ganz allein an sich schon die ganze Natur! Da sie die Gebärmutter des Lebens ist, ist sie auch gleichfalls die Gebärmutter des Todes. Da durch den Tod das Leben unablässig wiedergeboren wird. Und den Tod abschaffen, hieße auch des Lebens einzige Fruchtbarkeitsquelle töten.

Ich will damit nicht Logik treiben oder Beweise erbringen. Muß man denn Dinge, die dem Leide oder der Freude angehören, beweisen? Sie müssen gefühlt werden …

Ehe ich eine der furchtbarsten Episoden meiner Reise nach dem äußersten Orient berichte, ist es vielleicht vom Interesse, wenn ich kurz auseinandersetze, durch welche Verhältnisse ich zu diesem Unternehmen veranlaßt wurde; und vielleicht ist es nicht gleichgültig für meine Leser, wenn ich ihnen sage, wer ich bin und woher ich stamme.

Ich bin in der Provinz, in einer Familie des kleinen Bürgertums geboren worden, dieses braven, haushälterischen und tugendhaften Kleinbürgertums, von dem in offiziellen Reden behauptet wird, daß es die Seele Frankreichs sei … Na, wahrhaftig! Ich bin trotzdem nicht gerade stolz darauf.

Mein Vater war Kornhändler. Er war ein rauher grober Mensch, der sich aber ausgezeichnet auf das Geschäft verstand. Er stand im Rufe, darin sehr geschickt zu sein und seine große Geschicklichkeit bestand darin, »die Leute hereinzulegen«, wie er sich ausdrückte. Jemanden über die Qualität der Ware und das Gewicht täuschen, sich zwei Francs für einen Gegenstand, der nur zwei Sous kostete, und wenn es ohne zu großen Skandal anging, sich zweimal zahlen lassen, das waren seine geschäftlichen Prinzipien. Er lieferte zum Beispiel niemals Hafer, ohne ihn vorher ganz gehörig ins Wasser getaucht zu haben. Auf diese Weise ergaben die aufgeschwemmten Körner das Doppelte im Litermaß und auch an Gewicht; besonders wenn feiner Sand hinzugetan worden war, ein Vorgang, den mein Vater stets nach bestem Wissen und Gewissen ausführte. Er verstand es auch richtig und gerecht, Kornbrand und andere giftige Samen in die Säcke zu mischen, die beim Schwingen des Getreides ausgeschieden worden waren. Kein Mensch wußte auch besser als er, verdorbenes Mehl frischem zuzuteilen, denn beim Geschäft darf nichts verloren gehen und alles wiegt schwer.

Meine Mutter, die noch wütender hinter schlechten Gewinsten her war, unterstützte ihn in seinen genialen Betrügereien und hielt steif und mißtrauisch die Kassa, etwa wie man einen Wachposten vor dem Feinde bezieht.

Die Moral und das Leitmotiv meiner Erziehung waren:

– Jemandem etwas fortnehmen und es behalten, ist Diebstahl … Jemandem etwas fortnehmen und es einem anderen weitergeben, indem man dafür möglichst viel Geld eintauscht, das ist Handel … Der Diebstahl ist um so dümmer, als er sich mit dem einfachen, häufig gefährlichen Nutzen begnügt, während der Handel zweifellos doppelte Früchte trägt …

Die Schule entschied über die bizarre und gewundene Richtung, die ich in meinem Dasein haben sollte; denn dort lernte ich denjenigen kennen, der später mein Freund und der berühmte Minister Eugène Mortain wurde.

Als Sohn eines Schankwirts war er auf Politik dressiert worden, wie ich auf den Handel, durch seinen Vater, der der Hauptwahlagent der Gegend, der Vizepräsident der gambettatreuen Vereine, der Gründer verschiedener Ligen, Widerstandsgruppen und Handwerksgenossenschaften war. Eugène bildete in sich, von der zartesten Kindheit an, die Seele eines »wirklichen Staatsmannes«.

Schlechte Instinkte, die uns gemeinsam waren, sowie eine ähnliche Gewinnsucht näherten uns beide rasch. Aus unserem engen Einvernehmen ergab sich eine wüste, beständige Ausbeutung unserer Kameraden; ich wurde mir klar darüber, daß nicht ich der Bedeutendere in diesem Verhältnis war, aber gerade auf Grund dieser Erkenntnis klammerte ich mich nur noch fester an den Glücksstern dieses ehrgeizigen Genossen. Wenn wir auch nicht redlich teilten, so war ich doch stets sicher, einige Brocken zu erhaschen … Damals genügten mir diese vollständig. Leider habe ich aber nur immer Brocken von den Kuchen, die mein Freund verschlang, erhalten.

Ich traf Eugène später während einer schwierigen und schmerzlichen Periode meines Lebens wieder. Infolge des ewigen »Reinlegens der Leute« hatte sich mein Vater schließlich selbst hereingelegt und nicht nur im bildlichen Sinne, wie er es in bezug auf seine Kunden meinte. Eine unglückselige Lieferung, die, wenn ich mich genau erinnere, eine ganze Kaserne vergiftete, war der Anlaß dieses bedauerlichen Vorfalles, den der vollständige Zusammenbruch unseres im Jahre 1794 gegründeten Geschäftes krönte. Mein Vater hätte vielleicht die Entehrung überlebt, denn er kannte wohl die unendliche Nachsicht seiner Zeitgenossen; er konnte aber den Ruin nicht überleben. Ein Schlaganfall raffte ihn eines schönen Abends dahin. Er starb und ließ die Mutter und mich mittellos zurück.

Da ich nun auf keine Unterstützung mehr rechnen konnte, sah ich mich gezwungen, mich allein durchzuschlagen, entriß mich dem mütterlichen Jammer und eilte nach Paris, wo mich Eugène Mortain so liebenswürdig als nur möglich aufnahm.

Derselbe war in Paris nach und nach zu immer höheren Stellen gelangt; dank geschickt benützten parlamentarischen Protektionen, dank der Biegsamkeit seiner Natur, seiner vollkommenen Skrupellosigkeit begann er von sich in günstiger Weise in der Presse, in der Politik und der Finanzwelt reden zu machen. Von allem Anfang an benützte er mich zu schmutzigen Geschäften und wurde auch ich, da ich ihm ständig wie sein Schatten folgte, gleich ihm ein wenig berühmt, woraus ich aber nicht, wie ich es hätte tun sollen, Nutzen zu ziehen verstand. Aber die Konsequenz in schlechten Dingen fehlt mir leider am allermeisten. Nicht daß ich vielleicht verspätete Gewissensbisse, Skrupel oder vorübergehende Anwandlungen von Ehrbarkeit verspürte; es liegt in mir eine verteufelte Phantasie, eine unberechenbare und unerklärliche Perversität, die mich plötzlich ohne sichtliche Ursache zwingt, die besteingefädelten Geschäfte aufzugeben und Kehlen, die ich schon ausgezeichnet würgte, loszulassen. Mit den praktischen Fähigkeiten erster Güte, meinem klaren, scharfen Sinn für das Leben, einer Kühnheit, die selbst das Unmögliche ins Auge faßte, einer außergewöhnlichen Promptheit und Geschicklichkeit, das Unwahrscheinliche zu verwirklichen, verband ich nicht die einem Manne der Tat notwendige Zähigkeit. Vielleicht ist ein entgleister Dichter in dem Schurken, der ich bin, verborgen? Vielleicht ein Trugbild, dem es Spaß macht, sich selbst zu betrügen?

Trotzdem sorgte ich für die Zukunft vor, denn ich fühlte, daß mit tödlicher Sicherheit ein Tag kommen würde, an dem mein Freund Eugène den Wunsch verspüre, sich meiner zu entledigen, da ich ihm ohne Unterlaß eine unbequeme Vergangenheit vorstellte. In Hinblick darauf war ich so geschickt, ihn in allerlei schmutzige Geschichten zu verwickeln, deren unanfechtbare Beweisstücke ich vorsorglich in Händen behielt. Bei der Gefahr, endgültig gestürzt zu werden, mußte Eugène mich ständig, gleich einer Kette, mit sich herumziehen.

Ich könnte eine ganze Menge Dinge erzählen, die nicht gerade erbaulich sind. Wozu aber eine Generalbeichte, da man doch alle meine dunklen Taten errät, ohne daß ich sie deutlicher zu bezeichnen brauche? Und dann blieb meine Rolle im Verhältnis zu diesem kühnen und gewiegten Schufte stets … ich will nicht gerade sagen unbedeutend, o nein! auch nicht verdienstvoll, aber sie blieb so ziemlich geheim. Eugène »gestand mich nicht ein« und ich selbst spürte durch einen Rest merkwürdigen Schamgefühls zuweilen unwiderstehlichen Ekel davor, als sein Strohmann zu gelten. Uebrigens kam es oft vor, daß ich ihn Monate lang aus dem Gesicht verlor, da ich in den Spielhöhlen, an der Börse oder in den Toilettezimmern galanter Dämchen den nötigen Lebensunterhalt fand, während ich mich müde fühlte, die Politik auszusaugen, zumal dies meinem Geschmack für Faulheit und Unvorhergesehenes besser paßte. Zuweilen wurde ich plötzlich von einer poetischen Stimmung ergriffen und verbarg mich in einem verlornen Winkel des Landes, atmete im Angesichte der Natur Reinheit, Schweigen und moralische Wiedergeburt ein, was leider nie von langer Dauer war. Dann kam ich in Stunden schwieriger Krisen wieder zu Eugène zurück. Er nahm mich nicht stets mit der wohlwollenden Freundlichkeit, die ich von ihm verlangte, auf. Es war klar, daß er sich gerne meiner entledigt hätte. Zumal stets zahlreiche Gefahren die Stellung meines Freundes bedrohten; es gab mehrfach Skandale, hie und da machten Zeitungen immer direktere Anspielungen und vergifteten die persönliche Sicherheit meines Gönners.

Ich hatte wohl daran gedacht, an dem Sturze meines Kameraden zu arbeiten und mich geschickt bei seinem möglichen Nachfolger im Ministerium einzuschmeicheln und neben diesem neuen Mitarbeiter eine Art von sozialer Jungfräulichkeit wieder zu erringen. Alles trieb mich dazu, meine Natur, mein Interesse und auch das furchtbar köstliche Vergnügen der Rache. Aber je mehr Ungewißheit und Zufälligkeit diese Verwicklung begleitete, desto weniger Mut fühlte ich zu einem Versuch, mich in solche Händel einzulassen. Ich hatte ja durch ähnliche Sachen meine Jugend zerstört. Ich war dieser gefährlichen, tollen Abenteuer müde, die mich zu nichts gebracht hatten. Ich fühlte eine geistige Ermattung, eine förmliche Lähmung in den Gelenken meiner Tatkraft; alle meine Fähigkeiten schwächten sich, da sie durch Neurasthenie erschöpft waren. Ach, ich bedauerte aufrichtig, nicht den geraden Weg des Lebens eingeschlagen zu haben! In jener Stunde sehnte ich mich wahrhaft nur nach dem mittelmäßigen Frieden bürgerlicher Regelmäßigkeit. Ich wollte, ich konnte diese Sprünge des Glücks und das abwechselnde Elend nicht mehr ertragen, die mir keinen Augenblick des Ausruhens ließen und mein Dasein mit ständiger, quälender Angst erfüllten. Was sollte denn aus mir werden? Die Zukunft erschien mir trauriger und verzweifelter als die Winterstimmung, die auf Krankenzimmer herabsinkt.

In dieser Stimmung traf ich Eugène im Hause einer Freundin, der guten Frau G… Ich weiß nicht, weshalb mir gerade an jenem Abend der Gedanke gekommen war, dorthin zu gehen. Ich war sehr melancholisch, überhörte die banalen Trostworte, die man mir zurief, übersah das einladende Lächeln, das mir von allen Seiten in dieser Gesellschaft zuflog. Eine ungeheure Ermüdung, ein ungeheurer Ekel hatten mich erfaßt, ein Ekel vor mir selbst, vor den Anderen, vor aller Welt. Seit dem Morgen hatte ich ernstlich über meine Lage nachgedacht. Und als ich meinen Freund sah, nahm ich mir vor, endlich endgültig mit ihm abzurechnen. In grämlichem, nervösem Stillschweigen erwartete ich den günstigen Moment. Der Abend schien endlos und erst spät gelang es mir, Eugene, auf den von allen Seiten Beschlag gelegt wurde, allein zu sprechen. Ich benützte den Augenblick, da eine berühmte Sängerin die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, um ihn in eine Art von kleinem Rauchzimmer zu ziehen, das durch den diskreten Schein einer Lampe auf langem Ständer, der mit rotem Krepp umhüllt war, erleuchtet wurde. Der Minister setzte sich aufs Sofa, zündete sich eine Zigarette an und sagte in würdigem Tone zu mir, während ich nachlässig ihm gegenüber rücklings auf einem Stuhle Platz nahm und die Arme auf der Lehne kreuzte:

»Ich habe während der letzten Zeit viel an Dich gedacht.«

Er schien also meine Gedanken erraten zu haben und wollte mir anscheinend zuvorkommen. Ich blieb daher gleichgültig und gab mir Mühe, den Ausdruck hochmütiger Uninteressiertheit, der fast beleidigend war, zu bewahren. Diesmal gedachte ich mich nicht überrumpeln und wieder mit kargen Brocken abspeisen zu lassen.

Durch den dichten Vorhang gedämpft drang der Lärm des Festes nur wie ein fernes Summen an unser Ohr. Der Minister begann, kopfschüttelnd, von neuem:

»Ja, ich habe viel an Dich gedacht, ich möchte Dir einmal wirklich auf die Beine helfen, es ist aber schwierig, sehr schwierig!«

Von neuem verstummte er und schien über tiefsinnige Dinge nachzudenken.

Ich fand ein wahres Vergnügen daran, dieses Schweigen zu verlängern und mich über die Verlegenheit zu amüsieren, in die mein Freund durch diese stumme, spöttische Haltung zweifellos gebracht wurde. Er schien indes ruhig und regte sich augenscheinlich in keiner Weise über die allzu sichtliche Feindlichkeit meiner Haltung auf.

»Höre mich an«, begann er wieder, »Paßt es Dir, wenn wir ein für allemal mit allem Freimut von unserer gegenseitigen Lage sprechen?«

»Einverstanden, ich bin ganz Ohr!«

Angesichts seiner Sicherheit verlor ich ein wenig von der meinen. Im entgegengesetzten Verhältnis zu dem Benehmen, das ich eitel an den Tag gelegt hatte, gewann Eugène seine ganze Autorität über mich zurück.

Mein ganzer Kampfessinn ließ mich im Stich, mein Haß zerrann und wider Willen ließ ich mich verleiten, nochmals Vertrauen zu schöpfen und so vollkommen die Vergangenheit zu vergessen, daß ich diesen Mann, den ich bis in die verborgensten Winkel seiner schändlichen, stinkenden Seele kannte, willig wieder einmal als hochherzigen Freund und gütigen Retter betrachtete. Er fuhr fort:

»Man spricht von meinem nahe bevorstehenden Sturz, sehr richtig. Wovon spricht man denn auch nicht! Und was folgt dann daraus? – Ach, ich lache ganz einfach darüber. Und selbst Du glaubst, unter dem Vorwande, daß Du Dir einbildest, in einige meiner Privatgeschichten verwickelt zu sein, unter dem Vorwande, daß Du einige unbedeutende Schriftstücke besitzest, wenigstens schreist Du es ja über alle Dächer, mir gefährlich werden zu können! – Übrigens, mein Lieber, kümmere ich mich den Teufel was drum! Alle glauben, mich in der Hand zu haben, dabei habe ich sie in der Hand. Sei unbesorgt, ich halte sie fest, alle, alle …«

Er machte eine Gebärde, als ob er eine imaginäre Kehle zerschnürte. Der Ausdruck seines Mundes, dessen Winkel herabsanken, wurde scheußlich und auf seinen Augen erschienen purpurne Äderchen, die seinem Blick den Ausdruck des Mordes gaben.

Aber er nahm sich rasch wieder zusammen, zündete sich eine Zigarette an, näherte sich mir und klopfte mir vertraulich auf die Schulter:

»Und jetzt zu Dir, damit wir zur Sache kommen! Du mußt Dich aus dem Staub machen, mein Kleiner, und ein Jahr, zwei Jahre verschwinden. Das ist ja nichts so Unmögliches. Du hast es auch dringend nötig, Dich vergessen zu lassen.«

Da ich mich zum Widerspruche bereit machte, schrie Eugène:

»Aber zum Donnerwetter! … Ist es denn meine Schuld, wenn Du törichterweise all die wundervollen Stellungen, die ich Dir bot, verpfuscht hast? … Ein Jahr, zwei Jahre! Das geht doch rasch vorüber. Dann kehrst Du mit einer neuen Jungfräulichkeit wieder, dann werde ich Dir alles geben, was Du verlangst. Doch von jetzt bis dahin kann ich gar nichts tun. Mein Ehrenwort! Ich kann wirklich nichts.«

Ein Rest von Wut knurrte in mir, aber mit nachgiebiger Stimme widersprach ich nur:

»Ach was! Unsinn! Was soll das?«

Eugène lächelte, da er begriff, daß mein Widerstand durch diese letzten Worte erschöpft war.

»Na also, höre mich an,« sagte er gutmütig zu mir, »mach’ kein böses Gesicht. Ich will Dir etwas sagen. Ich habe viel darüber nachgedacht. Du mußt wirklich Deiner Wege gehen. In Deinem Interesse, für Deine Zukunft habe ich nichts anderes ausfindig machen können. Überlege nur! Na also, was ich Dich fragen wollte Bist Du, wie soll ich sagen? bist Du Embryolog?«

Er las meine Antwort in dem verblüfften Blick, den ich ihm zuwarf.

»Nein! Du bist kein Embryolog! Das ist unangenehm! sehr unangenehm!«

»Weshalb frägst Du mich das? Was soll dieser schlechte Witz?«

»Ich meine nur, ich könnte in diesem Augenblick einen bedeutenden Betrag, – natürlich relativ! – aber schließlich einen ganz netten Betrag für eine wissenschaftliche Forschungsreise bewilligt erhalten, mit deren Leitung man Dich sehr gerne betrauen würde.«

Und ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen, setzte er mir in kurzen, komischen Sätzen, mit neckischen Gebärden den Fall auseinander.

»Es handelt sich darum, nach Indien zu gehen, nach Ceylon glaube ich, um dort im Meere herum zu kramen, in den Golfen und dabei das, was die Gelehrten den Urschleim nennen, zu studieren, verstehst Du? und … was weiß ich … die Urzelle aufzufinden; höre mir gut zu: den protoplasmatischen Beginn des organischen Lebens, kurz, irgend so eine Geschichte in dieser Art … Das ist reizend – und wie Du siehst – äußerst einfach.«

»Äußerst einfach! in der Tat,« murmelte ich mechanisch.

»Ja, aber das ist nun die faule Geschichte,« schloß dieser echte Staatsmann. »Du bist kein Embryolog!«

Er fügte noch mit trauriger Wohlwollenheit hinzu:

»Das tut mir leid!«

Mein Gönner dachte noch einige Minuten lang nach … Ich schwieg, da, ich mich noch nicht ganz von der Verblüfftheit, die mir dieser unvorhergesehene Vorschlag verursacht hatte, befreien konnte.

»Mein Gott!« begann er von neuem.

»Es gäbe wohl noch die geheime Polizei! Ha! ha! dabei könnte man Dir vielleicht eine gute Stellung ausfindig machen, was sagst Du dazu?«

Bei schwierigen Verhältnissen betätigen sich meine Geistesfähigkeiten und wirken kraftvoll, meine Energie verdoppelt sich; ich überlege blitzesschnell und habe eine Entschlußfähigkeit, die mich selbst Wunder nimmt und mir häufig gute Dienste geleistet hat.

»Ach was!« rief ich. »Schließlich kann ich doch auch einmal im Leben Embryolog sein. Was riskiere ich denn dabei? Die Wissenschaft wird daran nicht sterben, die hat schon ganz andere Dinge zu Gesicht bekommen! Also einverstanden! Ich trete die Forschungsreise nach Ceylon an.«

»Da hast Du recht … Bravo!« – applaudierte der Minister, »um so mehr, mein Kleiner, als die Embryologie, Darwin, Haeckel, Karl Vogt, kurz alle die Geschichten im Grunde nichts als fauler Zauber sein dürften! … Ja, mein Freundchen, Du wirst Dich da drüben nicht langweilen. Ceylon ist herrlich. Es gibt dort, dem Vernehmen nach, ganz außergewöhnliche Weiber, kleine Spitzenmacherinnen von einer Schönheit und einem Temperament! Das ist das Paradies auf Erden! Komme morgen ins Ministerium, wir werden da die Geschichte offiziell zum Abschluß bringen. Vorläufig brauchst Du das nicht gerade über alle Dächer, jedermann zuschreien, zumal ich, wie Du weißt, dabei ein gefährliches Spiel spiele, das mich teuer zu stehen kommen kann … Wir wollen gehen!«

Wir standen auf. Und während ich am Arme des Ministers in die Salons zurückkehrte, sagte er mit reizender Ironie:

»Nun und wie? wenn Du die Urzelle auffinden würdest? Man kann ja nie wissen? Berthelot würde ein Gesicht machen, glaubst Du nicht?«

Diese Kombination hatte mir wieder etwas Mut und Frieden gegeben. Sie gefiel mir nicht allzusehr … Dem Dekret eines berühmten Embryologen hätte ich eine schöne Steuereinnehmer-Stelle zum Beispiel oder einen gutbezahlten Sitz im Staatsrat vorgezogen. Aber man muß sich zu bescheiden wissen; dieses Abenteuer konnte übrigens recht unterhaltend werden. Wurde ich nicht aus einem einfachen Landstreicher der Politik, der ich eine Minute vorher noch gewesen war, durch eine Bewegung des ministeriellen Zauberstabes der angesehene Gelehrte, der Geheimnisse an den Quellen des Lebens ergründen sollte? Diese Wandlung ging bei mir nicht ohne einen gewissen heuchlerischen Stolz und eine komische Einbildung vor.

Der melancholisch begonnene Abend endete in hellem Frohsinn.

Ich näherte mich Frau G…, die außerordentlich angeregt, Liebesgeschichten in Szene setzte und den Ehebruch von Gruppe zu Gruppe, von Paar zu Paar geleitete.

»Nun, und diese anbetungswürdige rumänische Gräfin,« fragte ich sie, »ist sie noch immer toll nach mir?«

»Noch immer, mein Lieber.«

Sie nahm meinen Arm; ihre Federn waren verworren, die Blumen welk, die Spitzen zerdrückt. »Kommen Sie nur!« sagte sie. »Sie flirtet in dem kleinen Salon, mit der Prinzessin Onane!«

»Wie, sie auch?«

»Aber, mein Lieber,« erwiderte die große Politikerin, »in ihrem Alter und bei ihrer poetischen Natur wäre es wirklich traurig, wenn sie sich nicht in allem versucht hätte!«

II. Kapitel

Meine Vorbereitungen waren rasch getroffen und alles ging nach Wunsch.

Meine Forschungsreise wurde in günstigster Weise eingeleitet. Durch eine ungewöhnliche Abweichung von den bürokratischen Sitten konnte ich acht Tage nach der entscheidenden Unterhaltung in den Salons der Frau G… ohne Zwischenfall oder Verzögerung die bewilligten Beträge erheben. Sie waren reichlich genug bemessen, was ich gar nicht erhofft hatte, denn ich kannte die »Knauserei« der Regierung in solchen Angelegenheiten und die armseligen Sümmchen, mit denen man karg Gelehrte zu Forschungsreisen, die wirklichen Gelehrten, ausstattete. Ich verdankte diese unverschämte Freigebigkeit zweifellos dem Umstande, daß ich keineswegs ein Gelehrter war und deshalb mehr als ein anderer reiche Mittel benötigte, um die Rolle eines Gelehrten zu spielen.

Man hatte mir zwei Sekretäre und zwei Diener bewilligt, den kostspieligen Ankauf anatomischer Instrumente, von Mikroskopen, photographischen Apparaten, zusammenlegbaren Kähnen, Taucherglocken, selbst Glasbehältnisse für wissenschaftliche Sammlungen, Jagdgewehre und Käfige, in denen ich die gefangenen Tiere lebend zurückbringen sollte. Wahrhaftig, die Regierung hatte freigebigst ihre Schuldigkeit getan, ich konnte sie in dieser Beziehung nur loben. Selbstverständlich kaufte ich nichts von all diesem belastenden Material, beschloß, keinen Menschen mit mir zu nehmen, da ich mich klug genug fühlte, um mich inmitten der unbekannten Wälder der Wissenschaft und Indiens zurecht zu finden.

Ich benützte meine Mußestunden dazu, um mich über Ceylon, seine Sitten und seine Landschaften zu instruieren und mir ein Bild von dem Leben zu machen, das ich dort drüben, in den furchtbaren Tropen führen sollte. Selbst wenn ich das beiseite ließ, was die Berichte von Reisenden an Übertreibung, Prahlerei und Lügen enthielten, entzückte mich alles, was ich las, ganz besonders diese Einzelheit, die von einem ernsten deutschen Gelehrten mitgeteilt worden war; es existiert nämlich im Weichbilde von Colombo, inmitten märchenhafter Gärten, am Meeresstrande, eine prachtvolle Villa, ein Bungalow, wie man diese dort zu Lande nennt, in dem ein reicher und phantastischer Engländer eine Art von Harem untergebracht hat, wo in vollkommenen weiblichen Exemplaren alle Rassen Indiens enthalten sind, von den schwarzen Tamulen bis zu den schlangenartigen Bayaderen von Lahore und den dämonischen Bacchantinnen von Benares. Ich nahm mir fest vor, ein Mittel ausfindig zu machen, um mich bei diesem polygamen Amateur einzuführen und meine Studien vergleichender Embryologie auf sein Haus zu beschränken.

Der Minister, dem ich beim Abschied meine Pläne mitteilte, billigte alle meine Maßregeln, lobte sehr lustig meine hervorragende Sparsamkeit und äußerte noch mit gerührter Beredsamkeit, während ich selbst unter den Wogen seiner Worte mich weich werden fühlte, rein, erfrischend und herrlich weich weiden, wie dies nur ein Ehrenmann vermag: