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Spukige Dudelsackgrüße an Amelie, Tom, Ollo, Lele, Tessa, Laurin, Moritz und Bille

Um Mitternacht im Rittersaal

Nein, nein und nochmals nein!« Melinda MacGoldshoe schoss wütend durch den Rittersaal. Vor der Ritterrüstung, die neben der schweren Eichentür stand, hielt sie unvermittelt an. Ha! Hier würde sie bleiben, bis Onkel Albert wieder zur Vernunft kam. Melinda zwängte sich durch das geöffnete Visier und klappte es blitzschnell hinunter. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wozu ihr Onkel sie überreden wollte. Doch das konnte er sich ein für alle Mal abschminken.

»Öch göhe ön kön Gespönsterönternat«, rief sie dumpf aus der Rüstung heraus. »Löber blöbe öch mön Gösterlöben löng ön döser verrösteten Blöchböchse!«

»Unerhört! Bei dieser Blechbüchse handelt es sich um die Ritterrüstung deines ehrwürdigen Urgroßvaters. Komm sofort heraus!« Wütend nahm Graf Albert MacGoldshoe seinen Kopf unterm Arm hervor und schleuderte ihn in Richtung seiner Nichte. Mit einem Pppppppfffff zischte er haarscharf an der Rüstung vorbei und landete daneben im Hundekörbchen.

Eddie, der Dackelrüde, hörte abrupt auf zu schnarchen. Er stellte die Ohren auf und wedelte kurz mit dem Schwanz. Dann leckte er zwei, drei Mal über die gräfliche Nase und rollte sich wieder zum Schlafen ein.

»Igitt, pfui Spinne!« Graf Albert setzte seinen Kopf auf und verzog angeekelt das Gesicht. »Hundesabber!«

Aus der Ritterrüstung kam ein schadenfrohes Kichern: »Hö hö, sogar gröner Hundesabber. Bei Dackel Öddi gab es Örbsenmös zum Öbendbröt!« Melinda klappte das Visier hoch. »Jedenfalls klebt so etwas Ähnliches jetzt in deinem Bart, Onkel Albert.«

Melindas Tante, Gräfin Greta MacGoldshoe, war unbemerkt in den Rittersaal geschwebt. Sie rümpfte die Nase. »Also wirklich, mein lieber Albert, da muss ich Melinda recht geben. Du siehst fürchterlich aus, ganz fürchterlich.« Sie musterte ihren Bruder missbilligend. »Dass du auch immer mit deinem Kopf Handball spielen musst! Das hast du nun davon: Erbsenpüree im Bart. Am besten rasierst du ihn dir gleich ganz ab. Bärte sind sowieso nicht mehr modern.«

»Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen!« Graf Albert sah seine Schwester entsetzt an. »Ein echter MacGoldshoe ohne roten Schottenbart! Das wäre wie – äh wie …«

Melinda fiel ihm ins Wort: »… wie MacStaubers Eier-Omelette ohne Eier.« Die Ritterrüstung klapperte vergnügt.

Graf MacGoldshoe erbleichte. MacStaubers Eier-Omelette ohne Eier – eine grauenhafte Vorstellung. Denn der wirklich einzige Lichtblick in seinem trostlosen Gespensterdasein war schließlich das allmorgendliche Eierfrühstück! Es war eine Tradition, die seit vielen Jahren gepflegt wurde, und nichts, aber auch gar nichts, durfte den Ablauf stören:

– Jeden Morgen kurz vor Sonnenaufgang bereitete sich das in dieser Zeit dort lebende Oberhaupt des MacStauber-Clans ein riesiges Eier-Omelette mit Speck, gebackenen Bohnen und Würstchen zu.

– Jeden Morgen stürzten sich Melinda, Graf Albert und Gräfin Greta mit Geheul auf das Eier-Omelette.

– Jeden Morgen war das komplette Omelette im Nullkommanichts verschlungen.

– Und jeden Morgen fand der jeweilige MacStauber nur die übrig gelassenen Würstchen, Bohnen und den Schinkenspeck.

Aber in letzter Zeit gab es damit ein Problem – jedenfalls für ein einigermaßen ehrgeiziges Gespenst. William MacStauber der Vierzehnte stieß nämlich nicht den winzigsten Schrei aus beim Anblick der drei Gespenster, die in seinem Zuhause spukten. Er fiel nicht in Ohnmacht, er bekam nicht einmal eine Gänsehaut. Nein, viel schlimmer: Er tat einfach so, als ob sie überhaupt nicht da wären.

Ja, die Wahrheit ließ sich längst nicht mehr leugnen: All ihre Gespenstereien und Spukkünste wurden von diesem völlig herzlosen MacStauber vollkommen ignoriert. So konnte und durfte es nicht weitergehen!

Nicht nur wegen der Langeweile, sondern auch wegen der Erziehung seiner Nichte Melinda hatte Albert MacGoldshoe für Punkt Mitternacht den Familienrat – bestehend aus seiner Schwester, Melinda und ihm selbst – im großen Rittersaal einberufen. Er räusperte sich: »Hmm, äh, ähm …«

Gräfin Greta hatte auf einem der hölzernen Ritterstühle Platz genommen und blickte ihren Bruder vorwurfsvoll an. »Hmm, äh, ähm … das ist alles? Und dafür hast du eigens den Familienrat einberufen?«

Graf Albert schwebte sichtlich nervös im Kreis herum. »Ähm ja, also was ich euch eigentlich mitteilen wollte, ich mache mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft unserer Nichte.«

»Sorgen?« Melinda klapperte mit dem Visier der Ritterrüstung. »Solange mich keiner in ein Gespensterinternat stecken will, braucht sich hier niemand überhaupt irgendwelche Sorgen um mich zu machen.«

»Komtess Melinda, würdest du bitte deinen Onkel ausreden lassen!« Tante Gretas Tonfall duldete keine Widerworte. Albert räusperte sich umständlich und fuhr fort: »Ja, ähm, was ich damit sagen wollte, also in diesem Schloss kann Melinda nicht ordentlich spuken lernen. Und das liegt einzig und allein an seinem jetzigen Bewohner. Die MacStaubers waren schon immer Schurken, aber dass ihr letzter Nachfahre überhaupt keine Furcht vor Gespenstern kennt, das ist einfach … einfach respektlos. Genau, das ist es.« Aufgeregt zupfte er sich am Bart. »Nicht einmal die einfachsten Grundformen des Spukens kann man hier ordnungsgemäß ausüben. Und selbst unsere hoch aufwendigen, gespenstisch genialen Einfälle werden ignoriert. Kein Angstschweiß, keine schlotternden Knie, keine spitzen Schreie – es ist unerträglich.« Er seufzte bekümmert. »Wie soll aus Melinda hier jemals ein standesgemäßes Gruselgespenst werden?«

»Gruselgespenst? Phh, altmodischer Geisterkram! Ich würde viel lieber Filmstar werden.« Melinda zischte ihren Onkel zornig an: »Und du, du willst mir das Gespensterinternat aufschwatzen. Aber nicht mit mir. Nicht mit Melinda MacGoldshoe!«

Gräfin Greta nickte zustimmend: »Da muss ich Melinda recht geben. Ein Spukinternat kommt überhaupt nicht infrage. Sie ist meine einzige Nichte, und da werde ich sie auf gar keinen Fall alleine zu Fremden schicken.«

»Nun dann, wenn ihr es nicht anders haben wollt, dann hilft nur eins«, sagte Albert bestimmt. »Ihr beide müsst unser schottisches Schloss eine Zeit lang verlassen und für ein, zwei Jahrhunderte in die Schweiz gehen.«

Gräfin Greta und Melinda sahen ihn überrascht an. »Mein lieber Bruder, darf ich dich daran erinnern, dass ein Gespenst nur in seinem eigenen Schloss oder bei seinen Verwandten spuken kann? Was sollen wir also in der Schweiz?«

»Ganz einfach«, erklärte Graf Albert. »Ihr gespenstert bei unseren Nachfahren.« Er senkte die Stimme und erzählte: »Damals, in dieser unheilvollen Nacht, als der MacStauber-Clan unser Schloss überfallen hat und seit der wir als Gespenster herumspuken müssen, konnte sich einer meiner Cousins retten. Er ist so weit geflüchtet, wie es nur irgend ging, um sich vor den MacStaubers in Sicherheit zu bringen. Schließlich erreichte er ein kleines Land. Man nennt es die Schweiz. Und dort, in den Schweizer Bergen, hat er eine Burg errichtet.«

»Toll. Und was hat das jetzt mit uns zu tun?«, warf Melinda ein. Sie hatte sich mittlerweile neben ihrer Tante auf einem der Ritterstühle niedergelassen und malte gelangweilt Muster in die Staubschicht des Eichentisches. »Staub, staubiger, MacStauber!«, kicherte sie.

»Ha! Noch ein Grund, der für die Schweizreise spricht.« Graf Albert lachte hämisch. »Die Burg unseres Nachfahren ist nämlich bestimmt staubfrei bis in den hintersten Winkel. Den Schweizern sagt man nach, sie seien außerordentlich ordentlich.« Er rieb sich zufrieden die Hände. »Wenn ihr da ein bisschen Gespensterunordnung und Spukdurcheinander hineinbringt, wird sich unser Nachfahre herrlich aufregen und vor Ärger keine Töne mehr aus seinem Dudelsack hervorbringen.«

»Was denn für ein Dudelsack?«, fragte Melinda überrascht.

»Oh, das ist eine schmerzliche Geschichte, eine wahrhaft schändliche Tat!« Graf Alberts Stimme zitterte vor Entrüstung. »Die MacStaubers, diese Schurken, haben sich damals aus allen Dudelsäcken der MacGoldshoes lange Unterhosen genäht. Stellt euch vor«, wiederholte er mit bebender Stimme, »lange Unterhosen! Was für eine bodenlose Frechheit. Und der einzige Dudelsack der MacGoldshoes, aus dem keine Unterhose genäht wurde, der befindet sich nun seit vielen, vielen Jahren in der Schweizer Burg unseres Nachfahren.« Er fügte hinzu: »Ebenso wie unser Familienwappen und 15 Schottenröcke.«

»15 Schottenröcke?«, wiederholte Gräfin Greta verwundert.

»Ja, genau. Die hat sich der Cousin damals auf der Flucht in die Schweiz alle übereinander gezogen.«

»Unglaublich«, staunte Melinda. »15 Schottenröcke übereinander, damit ist man dick wie ein Fass. Dein Cousin, lieber Onkel, ist nicht in die Schweiz geflüchtet, er ist gerollt.«

»Also in die Schweiz rollen müssen wir ja zum Glück nicht«, erwiderte ihre Tante erleichtert.

Melinda sah sie entsetzt an. »Das kann nicht dein Ernst sein! Du willst doch hoffentlich nicht damit sagen, dass du tatsächlich mit mir in die Schweiz umziehen willst, wo wir es hier so gemütlich haben?«

Gräfin Greta blickte versonnen vor sich hin. »Ach weißt du, ich wollte schon immer auf einem echten Dudelsack der MacGoldshoes spielen. Und dafür kann ich auch gerne ein oder zwei Jahrhunderte auf der Schweizer Burg eines unserer Nachfahren verbringen.« Sie nickte zufrieden. »Genau so machen wir es: Ich lerne Dudelsack spielen und du lernst das Spuken – ohne Internat. Hach, ich kann es kaum erwarten!« Sie erhob sich vom Ritterstuhl und zog ihre Nichte hinter sich her. »Komm mit, Melinda, wir müssen packen!«

Melinda konnte es nicht fassen. »Ein oder zwei Jahrhunderte …« Sie schüttelte den Kopf. »Unglaublich, einfach unglaublich.« Widerstrebend folgte sie ihrer Tante.

Graf Albert MacGoldshoe sah ihnen zufrieden nach. Die Idee mit der Schweizreise war wirklich gruselmäßig gut. Ein, zwei Jahrhunderte lang würde keiner mehr an seinem Bart herummäkeln und keiner würde sich beschweren, wenn er mit seinem Kopf Handball spielte. Aber das Beste war: MacStaubers morgendliches Eier-Omelette würde von nun an ganz allein ihm gehören. Ach, wunderbare Zeiten würden für ihn anbrechen!

Reisevorbereitungen

Natürlich hatte Melinda versucht, die Abreise hinauszuzögern. Genauer gesagt hatte sie sogar versucht, sie ganz zu verhindern.

Hinter der Schlossküche, in der Vorratskammer, gab es eine große Holztruhe, in der Zucker- und Mehlsäcke gelagert wurden. Und darin hatte Melinda sich zwei ganze Tage und Nächte lang versteckt.

Da die Speisekammer regelmäßig von kleinen Mäusen und einer dicken Ratte besucht wurde, brauchte Melinda nicht zu befürchten, dass ihre Tante je auf die Idee kommen würde, sie dort zu suchen. Denn Gräfin Greta MacGoldshoe hatte panische Angst vor Ratten.

Und selbst Onkel Albert hatte sie in diesem genialen Versteck nicht entdeckt. Er war in der Tat so kurzsichtig, dass er seine Nichte doch tatsächlich für einen Mehlsack gehalten hatte, als er auf der Suche nach ihr einen Blick in die Holztruhe warf. Melinda musste immer noch kichern, wenn sie daran dachte.

Eigentlich hätte Melinda somit wochenlang in ihrem Schlupfwinkel ausharren können. So lange, bis über die ganze Sache mit der Schweizreise genügend Gras gewachsen wäre.

Nur leider befand sich der Schlupfwinkel direkt neben der Küche. Und das war ein großes Problem. Denn jeden Morgen stieg der unglaublich verführerische Duft von Eier-Omelette mit Schinkenspeck und Würstchen in ihre Nase. Melinda unternahm wirklich alles, um standhaft zu bleiben: Sie tauchte ihren Kopf in das Sauregurkenfass. Sie stäubte ihre Nase mit Mehl ein. Ja, sie band sich sogar ein Geschirrtuch vor das Gesicht. Doch alle Mühe war letztendlich umsonst. Am dritten Morgen musste Melinda beim Duft der gebratenen Eier aufgeben. Sie konnte es einfach nicht länger aushalten. Ihr Magen grummelte wie ein Gewitterdonner und ihr Appetit auf Eier-Omelettes wuchs ins Unermessliche. Sie fuhr mit einem Riesensatz aus der Holztruhe hoch, stob im ICE-Tempo ins Esszimmer und ergatterte sich noch vor Onkel Albert ein riesengroßes Stück vom Omelette.

Gräfin Greta MacGoldshoe zog bei ihrem Anblick überrascht die Augenbrauen hoch. »Melinda, Liebes, da bist du ja. Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt? Ich hatte schon befürchtet, du wärst ohne mich in die Schweiz geflogen. Dabei ist es doch zu zweit viel unterhaltsamer.«

Melinda seufzte tief. Die Schweizreise war also nach wie vor aktuell und ihr Versteckspiel war somit ganz umsonst gewesen.

Ihre Tante musterte sie besorgt. »Kindchen, ich finde, du siehst so bläulich aus. Am besten legst du dich gleich in deine Schlaftruhe. Du solltest dich besser noch etwas ausruhen. Es wird eine lange Reise und wir wollen pünktlich vor Mitternacht starten.«

»Pah.« Melinda presste die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Wenn diese dumme Reise wirklich unbedingt sein muss …« Sie schraubte sich wie eine Spirale in die Luft und schwebte ärgerlich davon.