Über das Buch

Dass ein junger Mann, der nach Israel fliegt, die Bibel liest, ist vielleicht nicht ungewöhnlich, doch dass er bei dieser Lektüre lacht, findet Barbara, die im Flugzeug neben diesem seltsamen Menschen sitzt, befremdlich. Da beginnt er, ihr die Passage, die er gerade gelesen hat, auf seine Weise zu erzählen, so, als wäre er dabei gewesen. Barbara hält das vorerst für eine schräge Art von Humor, doch seine Ernsthaftigkeit wird ihr schließlich unheimlich. Wieso sie sich nach einer außerplanmäßigen Zwischenlandung in Rom von Myschkin - so nennt er sich - zum Essen einladen lässt, bleibt ihr selbst ein Rätsel. Am nächsten Tag, auf dem Flughafen von Tel Aviv, ist sie froh, ihn loszuwerden. Doch nach ihrer Rückkehr erwartet sie zu Hause der erste einer Serie von Briefen aus Israel, in denen ein Mann, der sich mit Jesus identifiziert, herauszufinden versucht, warum die Erlösung nicht stattgefunden hat - bis heute.

Peter Henisch

Der verirrte Messias

Roman

Deuticke

Für Eva

Erster Teil

1

Nein, er sah nicht außergewöhnlich aus. Ganz bestimmt nicht wie eine dieser Ikonen. Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder Psychopath. Allerdings hatte sein Blick etwas sehr Beharrliches.

So fing es jedenfalls an: Daß er sie anschaute und daß sie es bemerkte. Dort, in der Abflugzone des Flughafens Frankfurt. Sie blätterte in den Zeitungen, die sie eigentlich erst während des Flugs hatte lesen wollen. Aber der Start der Maschine, das wurde nun schon zum dritten Mal durchgesagt, würde sich noch ein wenig verzögern.

Daß sie sich nicht so recht auf die Feuilletons konzentrieren konnte, die sie eigentlich interessieren sollten, von Berufs wegen, denn sie verdiente ihr Geld mit Literaturkritik, hing vielleicht nicht nur mit der Übersättigung zusammen, die sich auf der heurigen Buchmesse früher eingestellt hatte als in den vergangenen Jahren, sondern auch mit diesem Blick. Dem Blick eines Menschen, den sie ganz einfach spürte. Wie funktioniert das? Wissenschaftlich, hatte sie einmal gelesen, ist es nicht nachweisbar. Aber in einer Umfrage gaben 90 Prozent der Befragten an, diese Erfahrung zu haben.

Sie hob also ihren Blick aus den Zeitungen und sah ihn. Den Typ, der sie anschaute, denn das tat er nach wie vor. Ein Mann um die Dreißig, er saß ihr schräg gegenüber. Die Beine in den unten etwas abgestoßenen Jeans übereinandergeschlagen.

Jetzt lächelte er. Wahrscheinlich hätte sie seinen Blick nicht erwidern sollen. Denn schon war er aufgestanden und kam auf sie zu. Im Gehen wirkte er kleiner als im Sitzen. Aber vielleicht lag das nur daran, daß er leicht gebeugt ging.

Vorgebeugt ging er. Auf sie zu geneigt.

Dann stand er vor ihr. Und lächelte noch immer.

Die Perspektive von links unten war nicht günstig.

Seine Schneidezähne waren in Ordnung, aber weiter rechts oben hatte er eine Zahnlücke.

Sie fliegen also auch nach Israel, sagte er. So treffen wir uns wieder.

Wieso? fragte sie. Sind wir uns schon begegnet?

Gewiß, sagte er.

Hier auf der Buchmesse? fragte sie.

Das auch, sagte er. Auf dem Empfang von Hoffmann und Campe.

Entschuldigung, sagte sie, aber man trifft so viele Leute …

Ja, sagte er, vor lauter Leuten sieht man die Menschen nicht. Aber ich habe Sie gesehen, gleich an der Garderobe habe ich Sie gesehen. Nachdem Sie Ihren Mantel abgelegt hatten, haben Sie sich über die Schulter geschaut — da habe ich gewußt, daß wir uns schon lang kennen.

So, sagte sie, ach du lieber Gott, dachte sie, anscheinend wollte sich der Typ auf diese Art was mit ihr anfangen! Auf so etwas hatte sie jetzt überhaupt keine Lust. Nach drei Tagen in den Messehallen und auf diversen Empfängen war sie einfach müde. Im übrigen fand sie nichts Attraktives an ihm.

Außer vielleicht seine Augen, aber denen wich sie jetzt aus. Es war ja auch fast eine Frechheit, wie er sie ansah. Distanzlos. Wie kam er dazu? Was berechtigte ihn zu dieser Vertrautheit? Andererseits … Vielleicht kannte er sie wirklich von früher … Ganz und gar unhöflich wollte sie auch nicht sein …

Woher sollten wir uns kennen? fragte sie also. Aus Berlin?

Sie hatte ein paar Jahre dort gelebt und für diverse Zeitungen geschrieben. Das wäre ganz gut gegangen, aber dann hatte sie sich Max zugezogen. Was ihre Jahre in Berlin betraf, so hatte sie danach einiges zu vergessen versucht.

Nein, sagte er, nicht aus Berlin.

Also aus Hamburg.

Nein, auch nicht.

Dann müsse ihre Bekanntschaft eine sehr frühe gewesen sein.

Ja, sagte er und nickte ganz ernsthaft. Erlauben Sie?

Was? fragte sie.

Daß ich mich neben Sie setze?

Da konnte sie wieder einmal nicht nein sagen.

Allerdings wandte sie sich demonstrativ wieder den Zeitungen zu. Die Tatsache, daß sie keine Lust hatte, ein weiterführendes Gespräch mit diesem etwas aufdringlichen Menschen zu führen, würde ihr möglicherweise helfen, sich doch noch auf die Buchbesprechungen zu konzentrieren. Das war nun einmal ihr Metier, so absurd es ihr manchmal vorkam. Zu lesen, was andere Leute geschrieben hatten, und dann darüber zu schreiben; aber auch zu lesen, was wieder anderen, die das Buch mit ganz anderen Augen gelesen hatten, dazu einfiel.

Sie versuchte sich in eine der Kritiken über eins der angeblich wesentlichen Werke dieses Herbstes zu vertiefen. Sie selbst hatte es noch nicht zu Ende gelesen, obwohl sie von der Presseabteilung des Verlags, der anscheinend sein ganzes Werbeetat für diesen Roman ausgab, schon Anfang des Sommers damit beglückt worden war. Trotz einer Fülle von (in langen, laut Klappentext kühn konstruierten Sätzen dargebotenen) Details über das Leben in Zeiten der Globalisierung, deren Wahrnehmung der Autor durch eine Menge schwer unterscheidbarer Personen vermittelte, die zwischen New York und Peking im Grunde überall das gleiche vorfanden (dies allerdings in Variationen, Kombinationen und Permutationen, die sich über anstrengend klein bedruckte sechshundert Seiten verbreiteten), war ihr das Buch leer erschienen. Nun bemühte sie sich zu verstehen, was der Kritiker, der hier darüber geschrieben hatte, so epochal fand.

Doch ließ das der Mann, der nun neben ihr saß, nicht zu.

Es geht Ihnen auch so wie mir, sagte er, nicht wahr?

Wie meinen Sie das, fragte sie, und bemühte sich nicht zu verbergen, daß sie über die neuerliche Störung ungehalten war — womit?

Mit den neuen Büchern, sagte er. Sie kommen Ihnen leer vor.

Sie ließ die Zeitung sinken und sah ihn an. Auf irgendeine Art, die sie noch nicht in den Setzkasten ihrer bisherigen Erfahrungen einordnen konnte, war dieser Mensch unverschämt.

Das haben Sie doch gerade gedacht, sagte er, und damit haben Sie ganz recht … Diesen Büchern fehlt etwas ganz wesentliches: Der Geist.

Was Sie nicht sagen!

Ich meine nicht Intelligenz, sagte er, ich meine nicht Intellekt.

Hier wollte Barbara etwas Ironisches einwerfen. Etwas Ironisches als Abwehr, als Selbstschutz. Aber sie dachte eine Sekunde zu lang über ein treffendes Wort nach.

Ich meine nicht Ironie, sagte der Typ. Ich meine nicht Esprit.

Sondern?

Er lächelte. Den heiligen Geist.

Oh lord! sagte sie unwillkürlich — nach ihrer Trennung von Max hatte sie ein Jahr in Boston verbracht. Vielleicht war die Verwendung dieser amerikanischen Phrase auch ein weiterer Versuch, auf Distanz zu gehen.

Ohne Erfolg. Zwar waren die Stühle, auf denen sie saßen, fix im Boden verankert, aber sie hatte den Eindruck, als rücke ihr der Mann noch näher. Er lächelte wieder. Es fiel ihr schwer, von der Zahnlücke abzusehen.

Ich meine nicht das Täubchen, sagte er. Ich meine den Geist Gottes.

Einfach und ergreifend? fragte sie.

Ja, sagte er. Einfach und ergreifend.

Wissen Sie, wie das ist, sagte er, wenn man von diesem Geist ergriffen wird?

Er sprach, das fiel ihr jetzt auf, mit leichtem Akzent.

Doch dieser Akzent war wie eine verblaßte Erinnerung.

Nein, sagte sie. Wissen Sie es?

Ja, sagte er. Ich weiß es.

Er nickte ein paarmal, vielleicht weniger, um ihr diese starke Aussage zu bestätigen, als sich selbst.

Ihr war eher nach Kopfschütteln. Aber sie unterließ es.

Sie sagte auch nichts. Was soll man auf so etwas sagen?

Die Durchsage, daß die Maschine nach Tel Aviv nun bereitstehe, und daß sich die Passagiere zum entsprechenden Ausgang begeben sollten, enthob sie vorläufig der Peinlichkeit.

Daß er im Flugzeug prompt auf dem Sitz neben ihr saß! Gibt es solche Zufälle? Ja, es gibt solche Zufälle! Das heißt, wenn man so etwas für Zufall hält. Er lächelte. Es schien ihn nicht besonders zu überraschen.

Eine Stewardeß auf einem Bildschirm führte den Gebrauch der Atemgeräte und der Schwimmwesten vor. Dann wurden die Fluggäste noch einmal aufgefordert, sich anzuschnallen, und von der Stimme des Kapitäns begrüßt. Schon vibrierte die Maschine unter ihnen und fuhr auf die Rollbahn. Als sie abhoben, warf sie ihm einen Blick zu — oder war es er, der ihr in just diesem Moment einen Blick zuwarf? — jedenfalls fiel ihr da zum ersten Mal die Farbe seiner Augen auf.

Braun. Das war überraschend bei seinem sonst hellen Teint. Er war nicht blaß, aber auf Stirn und Wangen hatte er einige Sommersprossen. Sein Haar hatte einen rötlichen Stich, desgleichen die Augenbrauen und Wimpern. Die Augen kamen ihr vor, als wären sie für ein anderes Gesicht gemacht.

Sie notierte das später. Wie die Augen eines anderen, schrieb sie. Schöne Augen? Vielleicht hatten sie etwas, das zu Herzen ging. So etwas darf man ja heutzutage kaum schreiben. Sie schrieb es trotzdem. Manche Tiere sehen auch so drein.

Nein, aber sie wollte sich nicht auf einen näheren Kontakt mit ihm einlassen. Sie sah weg. Geradeaus. Auf dem Bildschirm vorne wurde nun ein Film gezeigt. Ein Film über Israel. Sie setzte die Kopfhörer auf. Auch er setzte die Kopfhörer auf. Aber damit hatte es nicht sein Bewenden.

Auf dem Bildschirm sah man zuerst das Panorama von Tel Aviv, dann das von Jerusalem. Dann sah man Menschen, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten. Orangen und Grapefruits wurden geerntet, sie waren sehr groß und hatten schöne Farben. Dann sah man den Jordan. Sein Wasser glitzerte in der Sonne.

Die Kamera näherte sich einer Stelle, an der der Fluß eine kleine Furt bildete. Dort tummelte sich eine Schar arabischer Kinder. Die Landschaft im Hintergrund war karg, aber ein paar schlanke Bäumchen auf den karstigen Hügeln verliehen ihr eine eigentümliche Anmut. Die Kinder bespritzten einander gegenseitig mit Wasser und lachten.

Hier nahm Barbaras Nachbar die Kopfhörer ab.

Er wandte sich ihr zu und fragte etwas, das sie vorerst nicht verstand.

Sie seufzte und nahm die Kopfhörer ebenfalls ab.

Waren Sie schon öfter in Israel?

Ein paarmal, sagte sie.

Das habe ich mir gedacht, sagte er. Sie haben Verwandte dort?

Was ging ihn das an?

Lassen Sie mich raten. Eine Schwester?

Er sagte das einfach so und lächelte schon wieder.

Beinah, sagte sie nach einer Sekunde, in der sie sich räuspern mußte. Eine Halbschwester.

Eine Schwester namens Esther. Eine Schwester, die sie aus Frankfurt angerufen hatte. Um sie zu fragen, ob sie nicht schon einen Tag früher kommen könne. Ihr reiche es, sie sei einfach urlaubsreif! Aber warum sollte sie das diesem Mann erzählen?

Und Sie? fragte sie, um weiteren Fragen von seiner Seite zuvorzukommen, waren Sie schon öfter in Israel?

Ich? sagte er. Ich war bisher nur einmal dort. Aber das ist schon eine Weile her. Damals habe ich allerdings eine gewisse Zeit dort zugebracht.

Nun nickte er wieder. Vielleicht war dieses Nicken ein Tick.

Eine gewisse Zeit? fragte sie.

Ja, sagte er, die Zeit, die ich damals hatte … Nicht allzu lang, aber doch … Hier sprach er nicht weiter. Sehen Sie, sagte er, wie schön die Wolken sind!

Tatsächlich. Die Wolken sahen ganz prächtig aus. Barbara erinnerte sich an ihren ersten Flug. Mit ihrem Vater. Das war kurz nachdem er sich von ihrer Mutter getrennt hatte. Aus Kompensationsgründen flog er mit der Tochter auf Urlaub.

Sie war damals sieben. Daß ihr der Vater abhanden kam, überschattete diese Ferien. Aber das ist doch nicht wahr, behauptete er. Du wirst jedes zweite Wochenende bei mir verbringen. Und jetzt fliegen wir erst einmal für drei Wochen in die Sonne.

Ihr Vater flog nicht nur mit ihr nach Griechenland, er hatte ihr auch eine Kamera geschenkt. Mit dieser Kamera fotografierte sie auf dem Flug vor allem Wolken. Von den sechsunddreißig Fotos auf dem ersten, von ihr belichteten Film, waren wahrscheinlich dreißig nichts als Wolkenfotos. Der Rest waren Fotos von ihrem Vater, der ein beeindruckendes Profil hatte.

Anders als dieser Mann, der nun neben ihr saß. Dessen Profil hatte eher etwas Schafartiges. Jedenfalls wenn er lächelte, was er entschieden zu oft tat. Vielleicht lag die Assoziation allerdings auch an den Wolken im Hintergrund.

Er saß am Fenster, Barbara auf dem Sitz, der an den Mittelgang grenzte. Damals war es umgekehrt gewesen, ihr Vater hatte ihr natürlich den Fensterplatz gelassen.

Wollen Sie den Platz tauschen? sagte in diesem Moment ihr Nachbar.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, danke, sagte sie, die Wolken kämen ihr nicht mehr so sensationell vor, sie wolle nicht hinaussehen, sondern lieber ein bißchen schlafen.

Sie schloß die Augen. Aber auch unter den Lidern sah sie vorerst nichts als Wolken.

Du wirst sehen, hatte ihr Vater gesagt, in Griechenland wird es dir gefallen.

Aber was ist, wenn wir abstürzen? hatte sie gefragt.

Wenn wir jetzt abstürzen, hatte ihr Vater geantwortet, dann fallen wir weich.

Sie brauchen keine Angst zu haben, sagte die Stimme des Mannes neben ihr.

Wie bitte? Sie öffnete die Augen wieder und sah ihn an.

Sie brauchen keine Angst zu haben, wiederholte er. Dieses Flugzeug stürzt nicht ab.

So? Und warum nicht?

Weil ich an Bord bin, sagte er.

Da haben Sie ja ein beneidenswertes Selbstvertrauen, sagte Barbara. Oder ein beneidenswertes Gottvertrauen.

Die Ironie kam nicht an. Sagen Sie das nicht, sagte der Mann neben ihr. Lange Zeit war gerade das Gegenteil der Fall.

Sein halbes Leben lang habe er Angst gehabt, abzustürzen. Obwohl er sich nie auf einer besonderen Höhe befunden habe. Aber dann. Dann sei es eben geschehen.

Was? fragte Barbara.

Daß der Geist über ihn gekommen sei.

Schön für Sie, sagte Barbara.

Ja, sagte der Mann, der neben ihr saß. Das habe sein Leben radikal verändert. Daß er begonnen habe, die Schrift zu lesen. Und zwar unter ziemlich ungewöhnlichen Umständen.

Ach ja? sagte Barbara. Sie versuchte das möglichst cool zu sagen. Um Himmels willen! dachte sie. Um Himmels willen, nur das nicht! Der Mann hatte offenbar ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Dem durfte sie auf keinen Fall Vorschub leisten. Sie kannte das schon. Sie hatte etwas, das solche Leute anzog. Sie konnte gut zuhören, war geduldig und gutmütig. Sie unterbrach andere Menschen ungern, vielleicht war sie in dieser Hinsicht zu langsam. Meist, wenn sie sich endlich entschlossen hatte, jemand bei aller Einsicht in seine Probleme doch noch zu unterbrechen, redete der- oder diejenige bereits weiter.

Und der da hatte es noch dazu mit der Religion! Sie erinnerte sich eines Novemberabends, an dem es an ihrer Tür geklingelt hatte. Ein paar Tage davor hatte sie Max hinausgeworfen und ihm nachgerufen, daß er ja nicht zurückkommen solle. Aber an diesem finsteren Abend hatte sie vielleicht gehofft, daß er es noch einmal versuchen würde.

Sie hatte also geöffnet, aber draußen standen zwei fremde junge Männer. Junge Männer in weißen Hemden und grauen Anzügen, die sie auf eigenartig altmodische Weise trugen. Die hatten behauptet, sie hätten ihr eine Botschaft von Gott zu übermitteln. Und dann waren sie im Vorzimmer gestanden wie — dieser Vergleich war Barbara spontan in den Sinn gekommen — wie zwei Angestellte eines Begräbnisinstituts, mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht länger, lang genug jedenfalls, daß sich das Profil ihrer klobigen Schuhe sehr nachhaltig auf dem Spannteppich abdrückte.

Eine Botschaft von Gott? Nein danke! hätte sie sagen sollen. Aber dazu war sie einfach zu pietätvoll. Das hatte sie dann davon: Die beiden hatten geredet und geredet. In einem Ton, den sie, ganz abgesehen vom Inhalt ihrer zweifelhaften Verkündigung, nicht aushielt.

Der Mann, der nun neben ihr saß, redete zwar anders. Doch führte er anscheinend etwas Ähnliches im Schilde. Einen Augenblick hatte sie gedacht, er neige zu eigenartigen Scherzen. Aber nun hatte sie wieder den Eindruck, daß er es ernst meinte.

Die Art, wie er die Schrift sagte — ja, das war ein Indiz. Wahrscheinlich gehörte er doch zu irgendeiner Sekte. Ich habe ja lang überhaupt nicht gewußt, wer ich bin. Erst als ich begonnen habe, die Schrift zu lesen, habe ich mich nach und nach daran erinnert.

Der Flug nach Israel sollte vier Stunden dauern. Nein, Barbara hatte nicht die Absicht, sich das die ganze Zeit über anzuhören. Sie mußte das deutlich machen, ein Zeichen setzen. Sie schlug das Buch auf, das sie eigentlich schon im Juli hatte lesen wollen.

Keins von den schwereren, auch was das Gewicht betraf. Sie hatte weder ihr Handgepäck überlasten wollen, noch ihren Kopf. Ihr Kopf war zwar voll mit gewichtiger Literatur. Doch ab und zu hatte auch sie Lust auf etwas Leichteres. Das Buch war als Sommerlektüre gepriesen worden. Tatsächlich hatte sie es schon im Juni gekauft. Für Juli hatte sie, gemeinsam mit Vera, einer Freundin, die sie noch aus der Zeit ihres Studiums kannte, vierzehn Tage an einem Strand in Portugal gebucht. Aber zwei Tage vor dem geplanten Abflug hatte sie Vera angerufen und ihr gesagt, daß ihr etwas dazwischen gekommen sei.

Gottseidank hatte Vera dann noch eine andere Studienkollegin gefunden, der sie vierzehn Tage lang von ihrer Scheidung erzählen konnte. Barbara aber war zwei Wochen im Zimmer gesessen, bei geschlossenen Rolläden. So ging es ihr manchmal. Sie verließ das Haus nur, um rasch im Supermarkt einzukaufen. Das wars dann. Im August hatte es die meiste Zeit geregnet.

Es war zwar schon Mitte Oktober, aber vielleicht konnte sie in Israel noch etwas vom Sommer nachholen. Ja. Und sie würde schon jetzt damit beginnen. Mit Sommerlektüre. Ganz ohne großartige Ansprüche. Die Autorin, deren Foto über dem Klappentext zu sehen war, eine Frau ungefähr ihres Alters, aber mit Struwwelpeterhaarschnitt und T-Shirt betont jugendlich gestylt, lächelte ermutigend.

Sie begann also zu lesen, und zu ihrer Erleichterung schien ihr Nachbar das zu akzeptieren. Er schlug seinerseits ein Buch auf, es war dicker als ihres. Allerdings war das Format deutlich kleiner, ein Format, in dem belletristische Bücher selten erscheinen. Barbara schielte hinüber, sah die klein bedruckten, in der Mitte durch einen Strich geteilten Seiten — tatsächlich, das war eine Bibel!

Aber was ging das sie an? Sollte der komische Kauz doch lesen, was er wollte. Sie versuchte, sich in ihr eigenes Buch zu vertiefen. Da war eine Frau, die, kaum daß sie vom Büro nach Hause kam, den PC einschaltete und sich in ein Fantasy-Spiel versenkte. Und ein Mann, der nicht glaubte, daß es sich dabei bloß um ein Fantasy-Spiel handelte. In dem Spiel ging es um eine Art Second Life in einer anderen Galaxis. Nach und nach hatte der Mann den Verdacht, daß diese Galaxis nicht Lichtjahre, sondern nur einige Wohnblocks entfernt war. Bei einem gemeinsamen Bekannten, der dasselbe Spiel spielte. Das Buch hatte den Ruf, lustig zu sein, aber auf den ersten zwanzig Seiten fand Barbara wenig zu lachen.

Ihr Nachbar hingegen lachte plötzlich laut auf. Das überraschte sie: Welche Version der Bibel las er?

Die Übersetzung von Luther, sagte er (sie hatte ihn nicht danach gefragt). Das ist wirklich lustig, sagte er, wie das hier formuliert ist.

Was? fragte sie.

Hier, sagte er, erinnern Sie sich an die Stelle mit den Schweinen? Ein armer Mensch läuft Jesus über den Weg, der fühlt sich von einer Unzahl Dämonen besessen. Und die Dämonen sprechen aus dem Besessenen zu Jesus. Und der treibt sie aus und läßt sie in die Schweine fahren; und die Schweine stürzen sich ins Wasser.

Und das finden Sie witzig? sagte sie.

Er wischte sich die Tränen aus den Augen.

Was ich zum Lachen finde, sagte er, ist der letzte Satz dieser Episode. Die Schweine haben sich ins Wasser gestürzt, der Besessene fühlt sich geheilt, die Hirten sind in den Ort gerannt, um zu erzählen, was passiert ist. Und dann kamen, so heißt es hier bei Markus, die Bewohner des Ortes, und baten ihn, sich aus ihrer Gegend zu entfernen.

Na ja, sagte Barbara. Irgendwie ist das schon komisch.

Es ist noch komischer, sagte er, wenn man weiß, ich meine, wenn man sich vorstellt … Er lachte erneut: Sie baten ihn. Ich bitte Sie! … Hören Sie zu. Ich werde Ihnen das etwas realitätsnäher erzählen.

Das war auf der anderen Seite des großen Sees. Die Gegend, die Galiläa gegenüber liegt. Das Gebiet der Gadarener. Heute muß das ganz nah an der syrischen Grenze sein. Die Karten sind ungenau, wissen Sie, manche Orte sind darauf gar nicht zu finden.

Wie hat der Ort bloß geheißen? Nein, ich erinnere mich nicht mehr. Matthäus schreibt von einer Stadt, aber er neigt zu Übertreibungen. Es war ein Nest. Ein paar Häuser auf einer Anhöhe. Ein paar Fischerhütten am Ufer. Aber wir sind froh, wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben.

Wer wir? fragte sie.

Darauf gab er keine Antwort. Er sah sie auch nicht an. Er saß da und schaute geradeaus.

Die Überfahrt, sagte er, war tatsächlich recht rauh. Vielleicht hätte ich doch auf Simon hören sollen, der den See besser kannte.

Vielleicht hätte er doch auf Simon hören sollen, der dreißig Jahre in diesem See gefischt hatte. Simon und sein Bruder Andreas, jeden Abend waren sie auf den Genezareth hinausgefahren. Abends mit der untergehenden Sonne hatten sie die Netze mit den Schwimmern aus Kork ausgeworfen, in einem bedächtigen Rhythmus, in Mäanderlinien, die ihrem inneren Maß entsprachen, morgens, mit der aufgehenden Sonne, hatten sie die Netze wieder eingeholt. Sie kannten die guten Stellen, an denen zu den verschiedenen Jahreszeiten die verschiedenen Fischschwärme vorbeikamen, jegliche Sorte nach ihrer Art, und sie kannten auch die bösen Stellen, an denen sich das Wasser tückisch zu Strudeln formte oder der Wind sich hinterhältig drehte.

Rabbi, hatte Simon gesagt, die kleine Wolke dort drüben gefällt mir nicht. Außerdem ist es zu spät, um noch überzusetzen. Tun wir das morgen früh, wenn der Himmel klar ist. Aber sein Rabbi wollte einfach weg, er wollte auf und davon, besser früher als später.

Genau genommen war er gar kein Rabbi, aber sie nannten ihn so. So wie er redete, so wie er betete, so wie er auftrat. In Kefar-Naum, in der Synagoge, wie er dort einfach das Wort ergriffen hatte! Oder wie das Wort ihn ergriffen hatte. Da hatte es allen anderen die Rede verschlagen.

Genau genommen war er natürlich auch kein Arzt. Aber danach fragten die nicht, die von ihm geheilt werden wollten. Vielleicht hätte er nie damit anfangen sollen — aber war es überhaupt er, der damit angefangen hatte? Es war einfach geschehen, er wußte auch nicht genau, wie, er hätte jedenfalls nicht sagen können, wie er es machte.

Die Leute rührten ihn an. Ihr Elend berührte ihn. Da ging eine Kraft von ihm aus. Vielleicht ging diese Kraft auch durch ihn durch. Diese Kraft riß ihn mit. Anfangs war er mitgerissen von ihrer Wirkung. Aber sie nahm ihn auch mit. Von Mal zu Mal fühlte er sich davon stärker mitgenommen.

Es war einfach zuviel geworden. Die Leute waren einfach zu viele geworden. Erst waren es Dutzende gewesen, dann Hunderte, aber jetzt waren es manchmal schon Tausende. Stimmt, er hatte sie nie gezählt, dafür war Matthäus zuständig. Aber an jenem Nachmittag war ihr Andrang eindeutig zu groß.

Zum ersten Mal hatte er Angst vor der Menge gehabt. Angst, ihre Distanzlosigkeit nicht mehr auszuhalten. Diese massenhafte Nähe! Diese unverschämte Bedürftigkeit! Ein paarmal war er nahe daran, sie anzubrüllen, daß sie ihm nicht derart zu Leibe rücken, ihm nicht die Luft zum Atmen nehmen sollten, aber wahrscheinlich wäre seine Stimme gar nicht stark genug dazu gewesen.

Es war also eine Flucht, das kann man schon sagen. Weg vom Land, auf dem er die Menge zurückließ, hinaus auf den See. Auch der Schlaf, in den er da sank, war nicht nur Müdigkeit, nicht nur Erschöpfung. Sondern eine Flucht, ein zumindest vorübergehendes Sich-Entziehen, ein vorläufig rettendes Versinken.

Er lag hingesunken auf dem Heck, Mirjam aus Magdala hatte ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben. So bekam er den Anfang des Unwetters nicht mit. Wie die Windstärke zunahm, wie die Wellen höher und höher wurden. Aber dann weckten ihn die Männer; um das Wasser aus dem Kahn zu schöpfen, hatten sie alle Hände voll zu tun; auch seine Hände wurden gebraucht.

Kaum zum Beten. Vielleicht murmelte er dennoch ein paar Sprüche. Da legte sich der Sturm. Wahrscheinlich hätte er sich ohnehin gelegt. Jedenfalls ruderten sie dann sehr rasch an Land. Ein paar hatten zwar Vorbehalte gegen den Ort, an dem nichts als Gojim hausten, aber die Mehrheit fand, es sei die Hauptsache, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Dort also. Im Gebiet der Gadarener. Der Himmel war grau. Der Boden war tief. Und es stank ein wenig fremd. Kein Wunder, nicht weit vom Ufer tummelte sich eine Schweineherde. Der sensible Johannes hielt sich demonstrativ die Nase zu.

Sie grüßten trotzdem, riefen ihr Schalom zu den Hirten hinüber, die die unreinen Tiere bewachten. Die Hirten antworteten nicht, offenbar waren ihnen die Fremden auf den ersten Blick verdächtig. Und damit hatten sie ja eigentlich recht. Jedenfalls wenn man bedenkt, was kurz darauf geschah.

Es ging alles sehr schnell. Also zuerst kam dieser arme Mensch auf die Gruppe der Ankömmlinge zugerannt. Ein großer, hagerer Mensch, fast nackt, nur um die Lenden trug er ein dreckiges Tuch. Sein Haar war verfilzt, seine Haut war grau verkrustet. Wahrscheinlich wälzte er sich im lehmigen Grund, wie die Schweine.

Kam also auf sie zugerannt und schrie. Das heißt, es schrie aus ihm. Mit einer unmenschlichen Stimme. Die kam von woanders her, so klang sie zumindest. Unversehens waren es mehrere Stimmen, Kopfstimmen und Bauchstimmen.

Das war erschreckend. Aber das Erschreckendste war, daß der Mann ihn kannte. Ihn, den Rabbi. Den manche in seiner Schar ihren Wunderrabbi nannten. Oder nein: Es war nicht der Mann selbst, der Jeschua beim Namen rief. Es waren die Stimmen, die er aus sich herauswürgte, sie nannten ihn beim Vor- und Vaternamen, sie wußten sogar, woher er kam.

Was willst du von uns, schrien sie, Jeschua ben Yussef, was gehen wir dich an? Bist du etwa nicht der Sohn des Tischlers aus Nazareth, warum bleibst du nicht an deiner Werkbank? Daß sie sich in der Mehrzahl äußerten, veranlaßte Matthäus, von zwei Besessenen zu schreiben. Er wollte wohl realistisch sein, aber was sich hier äußerte, war eine andere Realität.

Unser Revier! schrien die Stimmen. Was hast du darin zu suchen? Bildest du dir etwa ein, du bist etwas Besseres, der Sohn eines ganz anderen? Vom Himmel gefallen, das ist ja zum Lachen! — hier schüttelten sie den Besessenen in einem Krampf. Und ließen ihn allerlei Zotiges brüllen und rissen ihn hin und her, daß ihm der Geifer in großen Flocken aus dem Mund flog.

Bei den Zoten, die seine Zeugung betrafen, hatte der Rabbi einen roten Kopf bekommen. Es dauerte eine Weile, bis er sich faßte. Inzwischen war der Besessene vor ihm zusammengebrochen, ein zuschanden gerittenes Pferd. Da lag er, schwer atmend. Und da schloß der Rabbi die Augen und legte ihm die Hand aufs Haupt.

Letzten Endes war es ganz einfach das Mitleid. Sagte der Mann, der neben Barbara saß. Im Flugzeug, das nun irgendwo über den Alpen flog. Um 15 Uhr 10 waren sie in Frankfurt gestartet, um 20 Uhr 20 sollten sie in Tel Aviv ankommen.

Das Mitleid war einfach stärker, sagte er. Stärker als die Wut. Und stärker als die Scham, die diese Wut ausgelöst hatte. Und stärker als der Ekel. Wissen Sie, die Kopfhaut unter den verfilzten Haaren war extrem grindig. Und wir hatten ja damals sehr strenge Sauberkeitsvorschriften.

Wer wir? fragte Barbara. Sie erinnerte sich, daß sie eine gleichlautende Frage schon gestellt hatte. Das konnte erst ein paar Minuten her sein, aber es kam ihr viel länger vor. Draußen war nun Nebel. Auch ihr Kopf schien ihr eigenartig benebelt. Der Typ hatte weit ausgeholt. Sie war erstaunt, daß sie ihn nicht unterbrochen hatte.

Wer wir? unterbrach sie ihn immerhin jetzt. Es war Zeit.

Wir Juden, sagte er.

Sind Sie Jude? fragte sie.

Nein, sagte er, jetzt nicht mehr.

Sind Sie konvertiert?

Über diese Frage ging er hinweg.

Eigentlich, sagte er, wollte ich Ihnen das komische Ende der Geschichte erzählen.

Das Mitleid mit dem Besessenen war ja angebracht. Aber, ob Sie es glauben oder nicht, da war auch ein bißchen Mitleid mit den Dämonen. Als die merkten, daß es ernst wurde, fingen sie an zu bitten und zu betteln. Tu’s nicht! sagten sie, treib uns nicht einfach zurück in die Tiefe — na ja, und dann ließ er sie halt in die Schweine fahren.

Ehrlich gesagt, das war eine Kurzschlußhandlung. Wohin mit den unreinen Geistern? Jeschua wußte das im ersten Moment nicht. Die Schweine waren zu ihrem Pech in der Nähe. Aber so, wie er gebaut war, taten ihm nachher sogar sie leid.

Unsaubere Tiere, das wohl! Aber auch sie waren Gottes Kreaturen. Im übrigen hatte er nicht mit dieser extremen Reaktion gerechnet. Mit dieser Panik, die die Schweine erfaßte. Daß sie sofort, als die Dämonen in ihnen ankamen, losrasten und sich in den See stürzten.

Aber Sie glauben doch nicht wirklich, unterbrach Barbara, daß es Dämonen gibt!

Er zuckte die Achseln. Was soll ich heute dazu sagen? Damals waren sie jedenfalls ziemlich real. Wenn man die Kraft dazu hatte, konnte man sie nach ihren Namen fragen, und sie antworteten.

Ja, sagte Barbara, aber in Wirklichkeit …

Was meinen Sie mit Wirklichkeit, sagte er — ein System von Ursachen und Wirkungen? Was wollen Sie? In diesem Fall war die Wirkung doch sehr eindeutig! Die Dämonen fuhren aus dem Besessenen aus und in die Schweine. Und die Schweine stürzten sich in den See.

Die Hirten allerdings, die rannten davon. Auch ein Effekt. Den man vorerst zu wenig beachtet. Wenn man das liest, wie es hier steht, bloß so nebenbei. Ja, klar, ein Evangelium ist eine frohe Botschaft — die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den geheilten Besessenen.

Auch denen, die damals dabei waren, ging es so. Welch ein Mensch! Es war, als hätte ihm der Rabbi eine erdrückende Last abgenommen. Gerade noch war er zu seinen Füßen im Dreck gelegen. Jetzt erhob er sich und stand aufrecht. Sie hätten seine Augen sehen sollen!

Aber die Hirten! Die waren nicht einfach davongerannt. Die kamen wieder, und zwar mit erheblicher Verstärkung. Nicht gerade eine Legion, aber beinah eine Kohorte. Eine Truppe, mit Knüppeln und Steinen bewaffnet.

Sie baten ihn, daß er sich aus ihrer Gegend entferne. Der Kerl, der neben Barbara saß, lachte herzlich. Das ist hübsch gesagt! Dieser Markus ist mir einer! Und die anderen haben natürlich von ihm abgeschrieben!

Er blätterte in der Bibel, die er noch immer auf dem Schoß hielt. Hier, Matthäus, sehen Sie, fast dieselben Worte! Und Lukas detto! Nur Johannes läßt diese Szene ganz einfach weg. Das sieht ihm ähnlich. Sie war ihm wahrscheinlich peinlich.

Sie baten ihn! Das ist köstlich! Die Wirklichkeit sah etwas anders aus! — Dem Rabbi und seinen Leuten gelang es noch mit knapper Not aufs Boot zu kommen. Dann ruderten sie, was das Zeug hielt; trotzdem wurden einige von ihnen von Steinen getroffen. Und der Besitzer der Schweine, ein Grieche namens Timon, verfolgte Jeschua mit einer Schadenersatzklage.

Was schauen Sie mich so an? Haben Sie gedacht, so etwas gab es damals noch nicht? Aber ich bitte Sie! Die römische Welt war voll von Juristen! Stimmt, die Dekapolis, in der dieser Timon sein Geld übrigens nicht nur mit Schweinezucht verdiente, sondern auch Handel mit den Karawanen trieb, die durch die arabische Wüste kamen, wodurch er es zu einem recht netten Wohlstand gebracht hatte, gehörte nicht zum selben Verwaltungsgebiet wie Galiläa und Peräa. Aber im Prinzip galt das Römische Recht grenzüberschreitend, und daß der Rabbi dem Mann den Verlust der armen Schweine nicht ersetzen oder, angesichts seiner offensichtlichen Zahlungsunfähigkeit, schlicht ins Gefängnis mußte, hängt einfach damit zusammen, daß er in den Jahren, die ihm noch blieben, keinen festen Wohnsitz hatte, und daß die Zuständigkeit der örtlichen Gerichte nicht eindeutig war.

Hier machte der Mann neben Barbara eine Pause. Er sah sie an, mit einem Ausdruck, aus dem sie nicht schlau wurde. Später versuchte sie diesen Ausdruck zu beschreiben. Einerseits sah er so drein, als hätte er alles, was er in den letzten paar Minuten gesagt hatte, tatsächlich ernst gemeint, andererseits schien ihr darunter, sozusagen unter der Haut, etwas Schalkhaftes zu lauern.

Schalkhaft, ja. Auch wenn ihr das Wort anachronistisch vorkam. Aber es paßte. Der Typ selbst hatte einfach etwas Unzeitgemäßes. Wie unzeitgemäß und woher, das begriff sie erst später. Oder glaubte es zu begreifen, jedenfalls in den Phasen, in denen sie ihm glaubte.

Damals begriff sie es jedenfalls noch nicht. Oder sie wehrte sich dagegen, auch oder gerade weil sie schon etwas ahnte. Von der Wirkung, die dieser Typ auf sie ausübte. Zumindest potentiell. Nein, sie würde das nicht zulassen!

Schon wahr, wenn er beim Reden in Schwung kam, dann hatte er etwas Suggestives. Aber sie würde nicht darauf hereinfallen. Nicht auf ihn hereinfallen, das wäre ja noch schöner! Erstens war er zu jung für sie und zweitens gefiel er ihr nicht.

Obwohl … das war seltsam … während er vorhin erzählt hatte, da hatte sie so eine Anwandlung gespürt. Es war ihr so vorgekommen, als hätte er plötzlich besser ausgesehen. Sein Schafsprofil war ihr auf einmal fast edel erschienen. Aber dann, als er von den Dämonen geredet hatte, war ihr diese Anwandlung wieder vergangen.

Also hören Sie, sagte sie, das mit den Dämonen … Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die existieren?!

Ich werde Ihnen etwas sagen, lächelte er, es kommt auf den Blick an. Wenn Sie den Blick dafür haben, können Sie sie hier draußen am Fenster vorbeifliegen sehen.

Draußen flogen zerfetzte, graue Wolken. Offenbar war ein heftiger Wind aufgekommen.

Sie wandte ihren Blick rasch vom Fenster ab und stand auf. Jetzt reicht es aber, sagte sie. Solche Geschichten können Sie wem anderen erzählen!

Abrupt stand sie auf ging im Mittelgang vorwärts. Links vorn gab es nämlich einige freie Sitze. Schon wollte sie der Stewardeß, die ihr entgegenkam, sagen, daß ihr daran gelegen sei, den Platz zu tauschen, aber in diesem Moment ging ein schweres Rumpeln durch die Maschine. Gehen Sie rasch zurück, wo Sie hingehören, sagte die Stewardeß, und schnallen Sie sich an, es gibt leichte Turbulenzen.

Ein paar Sekunden später saß sie also wieder auf ihrem Sitz neben dem Typ. Der lächelte und half ihr zu allem Überfluß beim Anschnallen. Don’t worry, sagte die launige Stimme des Flugkapitäns, it’s only the weather. For a while our flight may be a little bit rocky.

2

Ehrlich gesagt hatte sie ihre Flugangst nie ganz abgelegt. Sie hatte sie nur hinter einer gewissen Routine versteckt. Schon als Kind, denn es war nicht bei jenem ersten Flug mit ihrem Vater geblieben. Ein Jahr nach dem Urlaub in Griechenland hatten sie Ferien in Tunesien gemacht und dann, zwei Jahre danach, bereits in Israel.

Da war sie schon neun und gab sich ziemlich erwachsen. Was blieb ihr auch übrig. Altklug schaute sie durch ihre Brille. Erstens würden sie schon nicht abstürzen, so etwas kam relativ selten vor, und warum sollte es gerade sie treffen. Und zweitens würde es, falls es doch geschehen würde, rasch gehen, sie würden wahrscheinlich kaum was davon merken.

Aber was ist, wenn es einen Terroranschlag gibt? fragte sie ihren Vater. Dieses Gespenst hatte ihre Mutter in den Wochen vor dem Abflug an die Wand gemalt. Absolut unverantwortlich, mit dem Kind ausgerechnet nach Israel zu fliegen! Unsinn, hatte ihr Vater gesagt, es gebe Friedensverhandlungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, die Verantwortlichen auf beiden Seiten seien jetzt wirklich guten Willens.

Das war nun dreißig Jahre her. Ihr Vater war ein unverbesserlicher Optimist gewesen. Oder einer, der die Probleme nicht wirklich wahrhaben wollte. Einer, der etwas zu leicht darüber hinwegredete. Die einzige, die hier noch Terror macht, ist deine Mama!

Aber auch das wird sich geben, hatte er gesagt. Du wirst sehen, hatte er gesagt, in ein, zwei Jahren ist das alles ausgestanden. Deine Mama wird sich beruhigen und vielleicht auch jemanden finden, den sie so gern hat, wie ich Judith. Und dann werden sich alle vertragen, wir sind doch vernünftige Menschen.

Natürlich war diese Prognose naiv gewesen. Zwar — soviel traf zu — war Barbaras Mutter nicht lang ohne Freund geblieben, kein Wunder, sie war damals noch jung und sah gut aus, aber daß sie das Verhältnis ihres Exmanns zu Judith und daß sie vor allem Judith selbst akzeptierte, davon konnte keine Rede sein. Diese Judith war und blieb für sie eine hinterhältige Person. Noch als sie bereits regelmäßig mit Barbaras Vater ins Bett gegangen sei, habe sie ihr, seiner Frau, kühl lächelnd eine Korallenkette verkauft in ihrem Schmuckladen, nein, ihrem Ramschladen in der Leopoldstraße, und außerdem seien die Geschäfte, die sie treibe, sei dieses Pendeln zwischen Israel und Deutschland höchst dubios.

So redete Barbaras Mutter mit ihren Freudinnen. Und auch mit den Freunden, die sie jeweils hatte. Als es dann, ein paar Jahre später, einen Brandanschlag auf Judiths Geschäft gab, da hielt sich, so ihre Rede, ihr Mitleid in Grenzen. Es war ohnehin nur Sachschaden zu beklagen, die Versicherung würde zahlen, und daß Judith dann aufhörte zu pendeln und in Israel blieb, sodaß sie ihr in München nicht mehr über den Weg laufen konnte, fand sie ganz in Ordnung.

Ein paar weitere Äußerungen, zu denen sich ihre Mutter in diesem Zusammenhang hinreißen ließ, beunruhigten Barbara tief. Wenn sie sich in ihr Zimmer einschloß und auf der Couch lag, mit großen, weit offenen Augen zur Decke starrend, statt Mathe oder Französisch zu lernen, kam sie sogar auf die Idee, daß womöglich ihre Mutter oder ihr Freund etwas mit dem Anschlag zu tun hatten. Das war, so sagte sie sich mit der ernüchterten Vernunft ihrer zwölf Jahre, natürlich jenseits aller realistischen Wahrscheinlichkeit. Aber in den Projektionen ihrer Phantasie, die sie nicht ohne weiteres abschalten konnte, sah sie diesen Freund, Nummer drei oder vier nach der Trennung von ihrem Vater, mit einem Palästinensertuch auf dem Kopf und einer Flasche in der Hand, in der ein wahrscheinlich benzingetränkter Fetzen steckte.

Die Liebe zum Vater und die Wut auf die Mutter! Das hatte ihr damals sehr zu schaffen gemacht. Sicher, anfangs hatte sie es auch fragwürdig gefunden, daß sich ihr Vater einer anderen Frau zuwandte. Aber auf die Dauer war es ihr einfach unmöglich gewesen, Judith, die an den Wochenenden, die sie mit ihrem Vater verbrachte, immer häufiger auftauchte und mit der Zeit ganz selbstverständlich dabei war, so häßlich und unsympathisch zu finden, wie ihre Mutter sie gern darstellte.

Sie war eben die Andere. Schon ihre Stimme war anders. Dunkler. Und voller. Das paßte zu ihrem Teint und ihrer Figur. Die Stimme von Barbaras Mutter klang hell, in guten Stunden wie die einer nur unwesentlich älteren Freundin ihrer Tochter, aber gelegentlich spitz. In der Aufregung konnte sie unangenehm schrill klingen.

Ja, so war es. Diese Unterschiede bemerkte Barbara. Von Anfang an. Diese Judith hatte etwas, das ihre Mutter nicht hatte. Etwas angenehm und unaufgeregt in sich Ruhendes. Das Aufatmen in ihrer Nähe konnte Barbara ihrem Vater nachfühlen.

Aber durfte sie denn das? Wenn es ihr bewußt wurde, erschrak sie. Irgend etwas würde zur Strafe passieren. Zum Beispiel, wenn sie gemeinsam nach Israel flogen. Ihr Vater und sie. In manchen Alpträumen fiel Barbara ins Bodenlose.

Darf ich fragen, was Sie in Israel vorhaben?

Barbara war jetzt fast dankbar, daß der Mann neben ihr das Gespräch wieder anknüpfte. Zwar hatten die Turbulenzen draußen etwas nachgelassen. Aber die Turbulenzen in ihrem Inneren drohten überhandzunehmen.

Und die Angst, die sie für gewöhnlich ganz gut im Griff hatte. Schließlich lebte sie in einer Welt, in der sich Flüge kaum vermeiden ließen. Diese Angst, die zuerst im Bauch saß, diese Angst war im Begriff gewesen, aufzusteigen. Viel hätte nicht mehr gefehlt, und sie hätte auch den Kopf erfaßt.

Die Frage also unterbrach das Aufsteigen der Angst. Deswegen antwortete Barbara geradezu bereitwillig. Daß sie in Israel ihre Schwester besuche. Und daß diese Schwester in Tel Aviv lebe.

Eine Halbschwester, ja, wie zuvor schon erwähnt. Esther. Ganze zwölf Jahre jünger als sie. Daß sie einander jahrelang gar nicht gekannt hatten. Woran das lag, das zu erklären hätte etwas zu weit geführt, daß und wie ihre Mutter die Vater-Tochter-Flüge nach Israel schließlich doch unterbunden habe, erzählte sie nicht, aber daß Esther, die als Musikstudentin für zwei Semester nach Salzburg gekommen sei, dann eines Tages bei ihr in München angerufen habe, eine sympathische Stimme am Telefon, ob sie einander nicht kennenlernen könnten, das erzählte sie, und das war ohnehin der schönere Teil der Geschichte.

Der Nachmittag im Englischen Garten und der Abend in Schwabing. Und dann, weil sie sich nicht gleich wieder trennen wollten, die gemeinsame Fahrt nach Salzburg. Und die Ferienwochen, die Esther bei ihrer großen Schwester verbracht hatte. Trotz des Altersunterschieds hatten sie sich gefühlt wie zwei Freundinnen.

Im Jahr darauf war sie wieder nach Israel geflogen. Sie war damals 30. Ihre Mutter konnte ihr nichts mehr dreinreden. Und dann noch ein weiteres Mal. Das lag jetzt auch schon wieder fünf Jahre zurück. Drei davon hatte sie an Max verschwendet.

Nein, das erzählte sie jetzt natürlich auch nicht. Nur, daß sie aus Frankfurt angerufen und Esther gefragt habe, ob es ihr etwas ausmache, wenn sie schon zwei Tage früher komme. Ach was, ich freu mich, hatte Esther gesagt. Nimm die nächste Maschine, in der ein Platz frei ist, und flieg.

Und? fragte der Mann. Was werden Sie nun miteinander unternehmen?

Falls Esther Zeit hat, sagte Barbara, würde ich gern noch ein wenig Sonne tanken. Vielleicht in Ashqelon. Oder gleich in Elat. Wenn es nach mir geht, setzen wir uns in ihr Auto und fahren nach Süden.

Schade, sagte der Typ. Verzeihung, aber das finde ich schade.

Wieso? fragte Barbara.

Weil ich vorerst nach Norden muß.

Ja und? sagte Barbara. Worauf wollte er jetzt hinaus?

Ich wollte Sie fragen, sagte er, ob Sie mich begleiten.

Na großartig! dachte sie. Aber das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Da war sie schon wieder zu unvorsichtig gewesen. Reich ihm den kleinen Finger, und er will die ganze Hand! Der Mensch war unglaublich in seiner Distanzlosigkeit.

Er schien das nicht so zu empfinden. Wissen Sie, sagte er, ich muß gewisse Orte besuchen. Gewisse Wege, sagte er, muß ich nachgehen. Er zog einen Plan aus der Brusttasche und entfaltete ihn. Auf dieser Karte habe ich alles eingezeichnet. Hier ist Nazareth, hier ist Kana, hier ist Kafarnaum. Diese Orte und noch einige andere hatte er mit grünem Filzstift verbunden. Jerusalem hatte er mit einem roten Kreis umgeben. Aber dorthin, sagte er, komme ich erst später.