Umschlag

Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer eines Lübecker Beratungsunternehmens. Im Emons Verlag erschienen die Westfalen Krimis »Westfalenbräu« und »Dorfschweigen«. Außerdem die Küsten Krimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St. Marien«, »Möwenjagd«, »Traveblut«, »Küstenblues«, »Todesbucht«, »Spur übers Meer«, »Lübeck im Visier«, »#hanseterror«, »Hafenstraße 52« sowie der Thriller »Küste der Lügen«. Mit »Nebelmeer« liegt jetzt der achte Band seiner Kriminalreihe um den Kriminalhauptkommissar Birger Andresen vor.
www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Stephan Rech
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-216-8
Küsten Krimi
Originalausgabe

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Ein Blick in die Welt beweist,
dass Horror nichts anderes ist als Realität.

Alfred Hitchcock

DEN TOD VOR AUGEN

Einige Wochen zuvor 

Den metallenen Geschmack des Bluts ihrer aufgeschlagenen Lippe nahm Jennifer kaum noch wahr. Auch die Schwellung oberhalb ihres linken Augenlids ertrug sie beinahe regungslos. Schlimmer setzte ihr die aufgeriebene Haut an Händen und Füßen zu. Sie schmerzte so sehr, dass sie einfach nur noch schreien wollte. Doch ihre ausgetrocknete Kehle ließ nicht mehr als ein leises Kratzen zu.

Als wäre das alles nicht schon genug an Qualen, hatten sich in den vergangenen Tagen auch noch ihre Fußgelenke entzündet. Sie waren mittlerweile so dick wie ihre Oberschenkel.

Sie atmete durch. Aus einem Gefühl der Erleichterung, dass sie für heute fertig war, aber vor allem aus körperlicher Erschöpfung heraus. Sie hatte das Badezimmer im Obergeschoss geschrubbt und anschließend zwei große Säcke Kartoffeln geschält und gerieben, bis sich die Haut ihrer Fingerkuppen abgelöst hatte und Blut hervorgetreten war.

Eine aberwitzige Verschnaufpause, denn das Grausamste stand ihr noch bevor. Das, was jeden Tag auf sie wartete, wenn die Wintersonne langsam unterging und der Horror wie auf Knopfdruck über sie hereinbrach.

Sie warf einen Blick durch das verschmutzte Küchenfenster. Obwohl es bereits dämmerte, erkannte sie, dass es noch immer regnete. Wie schon die letzten Tage. Es schien fast so, als trauere der Himmel, dem sie Stunde für Stunde ein Stück näher kam, bereits um sie.

Sie zuckte zusammen, als sie aus dem ersten Stock des Hauses Schritte auf den knarzenden Bohlen der Treppe hörte. Auch nach den vielen Wochen ihrer Gefangenschaft jagten sie ihr noch Angst ein. Denn mit ihnen starb aufs Neue die leise Hoffnung, ihr Peiniger möge ihr wenigstens an diesem Tag fernbleiben. Mit zitternden Beinen sank sie zu Boden.

Als er schließlich in der Tür stand und sie aus seinen ausdruckslosen, seltsam milchigen Augen ansah, gelang es ihr nicht, noch irgendein Gefühl wahrzunehmen. Verzweiflung. Wut. Hass. Oder einfach nur Traurigkeit. Nichts von alledem wollte sich einstellen. Da war lediglich die völlige Resignation. Totale Gleichgültigkeit, was mit ihr geschehen würde.

Die täglichen physischen und psychischen Qualen waren so unerträglich, dass sie ihren Überlebenswillen inzwischen vollends verloren hatte. Sie lebte im Bewusstsein, dass alles, was im Jenseits auf sie wartete, nur besser sein konnte als das, was sie hier durchleiden musste. Der Wunsch nach dem Tod war derart groß geworden, dass er die Verzweiflung und Traurigkeit verdrängt hatte, die sich anfangs wie eine Glocke über ihren geschundenen Körper gelegt hatten.

Wortlos und nur mit einer raschen Handbewegung gab er ihr zu verstehen, sich vom Küchenboden zu erheben. Obwohl es ihr schwerfiel, weil die vielen Hämatome so sehr schmerzten, stemmte sie sich mit letzter Kraft hoch und wartete darauf, dass er ihre Fußfesseln löste.

Er sagte nichts. Er sagte fast nie etwas, nur ganz wenige Male hatte sie überhaupt erst seine Stimme gehört. Immer dann, wenn er sich derart betrank, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne war. Noch schlimmer als sonst. In solchen Momenten brach alles aus ihm heraus. Die sonst so kühle Maske des Mannes fiel und wich unkontrollierten Gewaltausbrüchen, die sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte vorstellen können.

Zuletzt war es vor ein paar Tagen passiert. Er hatte sie die Kellertreppe hinuntergestoßen und war dann über sie hergefallen. Was genau passiert war, wusste sie nicht mehr. Zumindest hatte sie die Gedanken daran, genau wie an die anderen Momente grausamster und unvorstellbarer Konfrontation, weitestgehend verdrängt. Irgendwo in ihrem Gedächtnis an einem Ort vergraben, auf den sie hoffentlich nie wieder würde zugreifen können.

Sie versuchte, seinen Blick zu fangen. Es schien fast so, als wäre er heute nüchtern. So kühl und abgeklärt wie in den ersten Tagen, nachdem sie dieses Haus betreten hatte. Eine knappe Woche hatte er sich zurückgehalten. Er war ihr nicht sympathisch gewesen, aber in keinem Augenblick hatte sie damals auch nur erahnen können, welches Martyrium ihr bevorstand.

In den vergangenen Tagen waren die Phasen, in denen er die Kontrolle über sich verloren hatte, immer kürzer aufeinandergefolgt. Die verzweifelte Hoffnung, lebend aus dieser Hölle herauszukommen, war zunehmend geschwunden. Seither bestimmte die Sehnsucht nach nichts anderem als dem Tod ihre Gedanken.

Ohne sie zu berühren, führte er sie aus der Küche in den Flur. Der schmale Gang in Richtung Haustür wirkte in diesem Augenblick noch länger als an anderen Tagen. Wie ein nicht enden wollender Tunnel. Die Freiheit vor Augen. Getrennt nur durch eine Milchglasscheibe. Und doch unerreichbar. Eine Vorstellung, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss.

Mit stoischer Ruhe öffnete er die Tür, die in den Keller führte. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Jennifer. Ihren Impuls, ihn einfach wegzustoßen, vielleicht sogar die Treppe hinunter, und so rasch sie konnte in Richtung Haustür zu laufen, verwarf sie, so schnell der Gedanke gekommen war. Zeit ihres Lebens waren Angst und Mutlosigkeit ihre Begleiter gewesen. Weshalb sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?

Schweigend ergab sie sich ihrem Schicksal. Sie drängte sich an ihm vorbei und betrat die knarzende Holztreppe. Sofort schlug ihr der modrige Geruch entgegen. Es wartete eine weitere Nacht in völliger Dunkelheit auf dem harten, feuchten Kellerboden auf sie. Lediglich eine dünne Matratze schützte sie vor den Asseln und Spinnen, die überall um sie herumkrochen.

Jennifer schloss die Augen und atmete tief durch. In der Erwartung, dass er es erneut tun würde. Sie die Treppe hinunterstoßen, um sich anschließend an ihrem geschundenen Körper zu vergehen. Wie eine außer Kontrolle geratene Maschine. Bis sie sich eines Tages nicht mehr regte. Erst dann würde er befriedigt sein und von ihr ablassen. Vielleicht.

Sie hielt inne. Lauschte. Versuchte, seinen Atem in ihrem Nacken zu spüren.

Nichts.

Nur ein kaum spürbarer Luftzug. Und dann das Geräusch der zufallenden Kellertür.

Sie seufzte. In dieser Nacht würde er sie womöglich verschonen. Sie in Ruhe und vorerst am Leben lassen. Ihr Martyrium um einen weiteren Tag verlängern.

Sie war bereit zu sterben.

Wie in Trance stieg sie die Treppe in die Dunkelheit hinab, in das schwarze Loch, in dem sie gelernt hatte, jeden Glauben an Menschlichkeit zu verlieren. Und erst recht den Glauben an Gott, den ihr ihre Eltern von Kindheitstagen an so sehr einzubläuen versucht hatten, dass es schmerzhaft gewesen war. Es war die Ironie des Schicksals, dass ihr verkorkstes Leben so enden sollte, wie es begonnen hatte. Eingesperrt in einem Keller.

Auf einer der letzten Stufen rutschte Jennifer plötzlich weg und knickte mit dem rechten Fuß um. Mühevoll gelang es ihr, einen Sturz auf den Kellerboden abzufangen. Langsam ging sie in die Hocke. Im nächsten Augenblick wurde ihr schwindelig, für einen Moment war der Schmerz in ihrem Fuß so groß, als würde sie innerlich verbrennen. Doch war sie zu schwach, um auch nur aufzuschreien.

Sie war sich sicher, dass der bereits lädierte Knöchel gebrochen war oder zumindest die Bänder gerissen waren. Zitternd legte sie ihre Hände um den Fuß, zuckte jedoch sofort zurück. Sie konnte keine Konturen mehr ertasten. Der Fuß fühlte sich an wie ein unförmiger Klumpen.

Der Schmerz nahm Jennifer die Luft zum Atmen. An die Dunkelheit und Kälte des Kellers hatte sie sich in den letzten Wochen gewöhnt, doch die Verletzungen setzten ihr jetzt zu. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie spürte, dass sie auf dem Weg war, das Bewusstsein zu verlieren. Sie hatte keinerlei Kraft mehr, dagegen anzukämpfen.

Weißes, grelles Licht brach sich Bahn. Das Jenseits schien sie mit aller Macht auf seine Seite ziehen zu wollen. So schnell, dass Jennifer plötzlich Panik bekam. Jetzt, wo sie glaubte, tatsächlich zu sterben, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie alles andere als bereit war.

Ihr Leben hatte seit frühester Kindheit aus nichts anderem als Bestrafung und Qual bestanden, es gab keinen einzigen schönen Moment in ihrer Erinnerung, und sie hatte auch nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie diesem Horror hier entkommen sollte, aber in diesem Augenblick schwor sie sich, nicht aufzugeben. Sie musste kämpfen und alles daransetzen, aus dieser Hölle zu fliehen.

Das Licht wurde mit einem Mal noch greller. Jennifer hatte das Gefühl, die Strahlen blendeten sie nicht mehr nur hinter ihren Augen. Das Licht brannte jetzt regelrecht auf ihrer Netzhaut. Im nächsten Moment verblasste es wieder. Was zum Teufel geschah hier gerade? Befand sie sich womöglich bereits auf der anderen Seite?

Langsam tastete sie ihre Umgebung ab, um sich davon zu überzeugen, dass sie am Leben war und sich noch immer auf dem Boden dieses modrigen Kellers befand.

Sie stützte sich mit beiden Händen ab und richtete sich ein Stück weit auf. Ja, sie war am Leben, daran bestand kein Zweifel. Sie war noch immer in diesem Keller. Und sie spürte, dass der Schmerz in ihrem verletzten Fuß nachließ. Auch die trügerischen Lichter des Jenseits verschwanden jetzt wieder.

Jennifer atmete tief durch, merkte, wie sich ihr Herzschlag beruhigte. Erst einmal stand ihr eine weitere Nacht in diesem Keller bevor, in totaler Dunkelheit. Allein mit dem Schmerz, der sie zeit ihres Lebens verfolgt hatte.

Das Licht. Von einer auf die andere Sekunde war es wieder da. Sie blinzelte, dann fuhr sie herum.

Als sie in das hellweiße Licht der Taschenlampe blickte, wusste sie sofort, dass ihre Hoffnungen und Selbstbeschwörungen vollkommen sinnlos gewesen waren. Wie ein undefinierbares Monster umrahmte er den Lichtkegel und trat langsam auf sie zu.

Als er nur noch eine Körperlänge von ihr entfernt war, hörte sie ihn auch. Er atmete so schnell und laut, dass die grauenhaften Erinnerungen an die vergangenen Tage und Wochen, wenn er über sie hergefallen war, wie in einem Zeitraffer vor ihrem inneren Auge vorbeizogen.

Während sich der Lichtkegel der Taschenlampe langsam von ihr wegbewegte und immer mehr von seinem erbarmungslosen Gesicht zu erkennen war, stieß sie ein kurzes Gebet aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Obwohl ihr bewusst war, wie sinnlos es war. Denn es gab keinen Gott, der jemals auf sie aufgepasst hätte. Die schrecklichen Dinge, die ihr seit Kindheitstagen widerfahren waren, hätte ein barmherziger Gott niemals zugelassen.

Sein Blick war gnadenlos. Noch schlimmer als sonst. Das Gefühl der Angst steigerte sich zu Panik. Ihr Herz pochte, das rechte Augenlid flackerte unkontrolliert. Ihr ganzer Körper zitterte, während der verletzte Knöchel im Sekundentakt heftig pulsierte.

Sie fixierte ihn, suchte seinen Blick und fühlte eine innere Zufriedenheit, als sie ihn schließlich fand. Denn so durchdringend und gleichzeitig leer, wie er sie ansah, zweifelte sie keine Sekunde mehr daran, dass in wenigen Augenblicken endlich alles vorüber sein würde.

Augenblicklich ging eine Veränderung in ihrem Körper vor. Als hätte jemand einen Schalter gedrückt, der dafür verantwortlich war, ihre kompletten Körperfunktionen zurückzufahren. Das Zittern verschwand, selbst die Schmerzen waren plötzlich nicht mehr zu spüren.

Die Aussicht, dass im Jenseits alles besser sein würde als die Qualen im Hier und Jetzt, ließ ein kurzes Lächeln über ihre Lippen huschen. Sie stand auf und breitete ihre Arme aus. Dann trat sie noch näher an ihn heran und ließ es über sich ergehen.

NEBELMEER

Der Nebel trieb in dichten Schwaden vom Meer kommend über die Landschaft hinter den Dünen.

In Birger Andresens Kopf erschienen plötzlich verblasste Bilder eines Urlaubs im Süden Englands. Vor mehr als zwanzig Jahren war er gemeinsam mit seiner Exfrau Rita tagelang durch das nebelverhangene Dartmoor gewandert. Auf den Spuren von Sir Arthur Conan Doyle hatten sie ihren ganz eigenen Alptraum erlebt, als sie an einem späten Nachmittag in eine Herde aggressiver Hochlandrinder geraten waren. Auf der Flucht vor den Tieren hatten sie schließlich in einem alten Cottage Unterschlupf gefunden. Es musste die Nacht gewesen sein, in der sie Ole gezeugt hatten.

Andresen bremste ab, als er an einer Stelle vorbeifuhr, zu der er vor einigen Jahren schon einmal zu einem Leichenfund gerufen worden war. Die Sache von damals hatte sich am Ende nicht als Tötungsdelikt, sondern als Suizid herausgestellt, dennoch hatte sich die Erinnerung an diesen Tag – wenige Wochen bevor er erfahren hatte, dass seine Kollegin Ida-Marie Berg die Leitung der Lübecker Mordkommission übernehmen würde – tief eingebrannt. Die Enttäuschung, dass man ihn bei der Besetzung des Postens übergangen hatte, hatte ihm noch Monate danach zu schaffen gemacht. Es war auch die Zeit gewesen, in der er sich Stück für Stück von seiner Lebensgefährtin Wiebke entfernt hatte.

Doch seit damals war viel passiert. Andresen leitete seit mehr als einem Jahr die neu gegründete X-Einheit, in der er dafür verantwortlich war, ungelöste alte Fälle in Schleswig-Holstein aufzuklären. Ida-Marie arbeitete mittlerweile wieder an seiner Seite. Ihr Verhältnis war professionell und längst nicht mehr so vertraut wie damals, als sie sich auch privat nähergekommen waren.

Andresens Trennung von Wiebke lag inzwischen bereits mehr als ein Jahr zurück. Schlimmer als die Tatsache, dass die zweite langjährige Beziehung seines Lebens zerbrochen war, war jedoch, was anschließend passiert war. Wiebkes psychische Talfahrt, auf deren negativem Höhepunkt sie damit gedroht hatte, sich mit ihren Töchtern von der Klippe des Brodtener Steilufers zu stürzen, hatte auch ihn selbst derart belastet, dass er wochenlang kaum in der Lage gewesen war, seiner Arbeit mit dem Antrieb und der Akribie nachzugehen, dank deren er nach Ida-Marie doch noch zum Leiter der Mordkommission befördert worden war.

Der Nebel war derart dicht, dass er die Einmündung, die in Richtung Priwallstrand führte, erst im letzten Moment erkannte. Langsam steuerte er seinen Volvo V60, den er sich vor einigen Monaten gekauft hatte, durch den schmalen Weg. Die Sichtweite betrug kaum mehr als zehn Meter, und dennoch bewegte sich der Wagen, als hätte Andresen auf Autopilot geschaltet.

Er kannte die Straßen und Wege in dieser Gegend wie seine Westentasche. War oft genug hier gewesen, um im Sommer mit seinen Kindern am Strand zu spielen und auf die Wellen zu warten, wenn die großen Fährschiffe in den Hafen einliefen. Als junger Polizist hatte er noch die Zeiten miterlebt, in denen es hier – nur wenige hundert Meter entfernt – einen Todesstreifen gegeben hatte. Die innerdeutsche Grenze auf dem Priwall war irgendwo im Nirgendwo verlaufen. Nicht wenige hatten damals versucht, genau hier in den Westen zu flüchten. Schwimmend, über die Ostsee.

Andresen parkte seinen Wagen inmitten einer Siedlung von Ferienhäusern, die vor einigen Jahren errichtet worden waren. Die letzten Meter in Richtung Strand lief er mit gemischten Gefühlen. Ben Kregel, der aktuelle Leiter der Mordkommission, hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass Spaziergänger in den Dünen am Priwallstrand offenbar eine Leiche gefunden hatten. Mal wieder hatte Kregel sich bei ihm gemeldet, obwohl er mit der Mordkommission und der Aufklärung aktueller Verbrechen doch längst nichts mehr zu tun hatte. Andresen wusste allerdings auch, dass Kregel ihn nur dann anrief, wenn es sich um etwas handelte, das größer und brisanter war als die alltäglichen Fälle.

Die Sichtverhältnisse waren so schlecht, dass Andresen große Probleme hatte, sich zu orientieren. Irgendwo hier musste sich der Campingplatz befunden haben, auf dem er als Jugendlicher ein ums andere Mal gezeltet hatte. Heute standen hier Holzhäuser in skandinavischem Stil, die von Urlaubern angemietet werden konnten.

Obwohl die Landschaft hier an der Ostsee ganz anders aussah, kamen die Erinnerungen an den Urlaub in Südengland und die Wanderung im Dartmoor zurück. Das tagelange Tappen im Nebel. Die Ungewissheit, was ihn hinter dem nächsten Nebelschwaden erwartete.

Das laute Geräusch eines Schiffshorns riss ihn aus seinen Gedanken. Das monotone Wummern der Motoren dröhnte in seinen Ohren. Die Vorstellung, dass sich das Schiff nur wenige hundert Meter entfernt gewissermaßen unsichtbar an der Nordermole entlang in den Hafen von Travemünde schob, war gespenstisch.

Im nächsten Moment lenkten Lichter, die im Nebel unstet hin und her flackerten, seine Aufmerksamkeit zurück auf den immer schmaler werdenden Strandweg. Die Holzplanken unter seinen Füßen waren verschwunden, mühevoll stapfte Andresen durch den feinen Sand.

Direkt vor ihm türmte sich eine grellweiße Nebelwand auf. Die großen Strahler der Techniker und einige Taschenlampen sorgten dafür, dass Andresen die Hand vor die Augen halten musste, um nicht geblendet zu werden. Plötzlich tauchte Kregel wie aus dem Nichts vor ihm auf.

»Verdammt, hast du mich erschreckt«, sagte Andresen. »Der Nebel ist schon dicht genug, vielleicht solltet ihr mal diese Weihnachtsbeleuchtung ausschalten.«

»Sag das Seelhoff«, antwortete Kregel. »Ich beiße mir regelmäßig die Zähne an ihm aus.« Er wandte sich ab und verschwand durch die Nebelwand.

Andresen folgte dem Leiter der Mordkommission durch den immer tiefer werdenden Sand. Zwischen seinen Fingern spürte er Strandhafer und die Blätter vom Sanddorn. Sie verließen jetzt den Weg, der Richtung Wasser führte, und bewegten sich durch die Dünen direkt hinter dem Priwallstrand. Dort, wo bis vor knapp dreißig Jahren die Zonengrenze verlaufen war, die Honeckers bewaffnete Grenzschützer aus einem nahe gelegenen Wachturm rund um die Uhr gesichert hatten.

Erneut hallte ein Schiffshorn über den Strand. Es klang so laut und mächtig, dass Andresen einen Moment lang der absurde Gedanke kam, das Schiff würde in wenigen Augenblicken einfach aus dem Nebel direkt vor ihm erscheinen.

»Warum genau hast du mich eigentlich angerufen?«, fragte Andresen, als er Kregels Silhouette endlich wieder erkennen konnte. »Es ist Anfang März, deine Truppe hat weder Urlaub, noch hat sich, soviel ich weiß, irgendjemand krankgemeldet. Falls du es vergessen haben solltest, ich leite eine eigene Abteilung und habe dort genug zu tun.«

»Weshalb war mir nur klar, dass du genau so reagieren wirst«, sagte Kregel unbeeindruckt. »Allerdings kannst du deine Giftpfeile wieder einpacken. Ich hätte dich nicht gerufen, wenn es nicht vor allem für dich und deine Abteilung wichtig wäre. Komm mit, ich zeige dir, was ich meine.«

Sie näherten sich einer mehrere Quadratmeter großen Stelle in den Dünen, die notdürftig mit rot-weißem Plastikband abgesperrt war. Andresen erkannte einige Kollegen der Kriminaltechnik, die gerade dabei waren, mit stoischer Ruhe ihr Equipment aufzubauen. Harald Seelhoff, Leiter der Kriminaltechnik, trat auf die beiden zu.

»Diese Suppe ist wirklich ekelhaft«, sagte er statt einer Begrüßung und strich sich durch seine feuchten Haare. »Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht gerade unglücklich darüber bin, dass so niemand sehen kann, was wir hier machen.«

Andresen scannte die unmittelbare Umgebung ab, während er zu verstehen versuchte, weshalb Seelhoff so froh war, dass der Nebel neugierige Blicke von Strandspaziergängern verhinderte. Von einer Leiche, wie Kregel es ihm am Telefon berichtet hatte, war jedenfalls nichts zu erkennen. Die Absperrbänder waren nicht wie üblich in einem gewissen Radius um einen Leichenfundort herum platziert, sondern verteilten sich augenscheinlich kreuz und quer in der Dünenlandschaft.

»Was ist hier passiert?«, fragte er leise.

»Das dürfte tatsächlich die Frage sein, mit der du dich in den nächsten Tagen und Wochen beschäftigen musst.«

»Ich?«

Seelhoff bückte sich und griff mit seiner rechten Hand, über die er einen Einmalhandschuh gezogen hatte, in den Sand. Im nächsten Moment hielt er Andresen einen mehr als zehn Zentimeter langen Knochen vor die Nase.

»Das ist eine Speiche«, sagte er. »Von einem menschlichen Körper. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehören alle Knochen, die wir hier bislang gefunden haben, zu ein und demselben Menschen. Wir gehen von einer erwachsenen Frau aus. Noch nicht sonderlich alt, schätzungsweise um die fünfundzwanzig. Auf mehr Details lasse ich mich im Moment allerdings nicht festnageln. Ich weiß ja schließlich, wozu das führt. Dann heißt es am Ende noch, ich hätte behauptet, die Leiche liege hier schon seit mehr als zehn Jahren unbemerkt in den Dünen herum. Vielleicht sind es aber auch nur fünf Jahre. Diese Feststellungen überlasse ich gerne der Rechtsmedizin.«

»Soll das heißen, bei der Leiche, die gefunden wurde, handelt es sich gar nicht um –?« Andresen sprach seinen Satz nicht zu Ende, weil ihm Kregel ins Wort fiel.

»Nein, es wurden lediglich Knochenreste gefunden«, erklärte er. »Verstreut auf mehreren Quadratmetern. Und wie Harald gerade sagte, scheint es sich um die Überreste einer Frau zu handeln. Genaueres wird die Rechtsmedizin feststellen müssen.«

»Das habe ich verstanden«, sagte Andresen ungeduldig. »Wer hat die Knochen denn gefunden?«

»Einheimische, die mit ihrem Hund unterwegs waren«, antwortete Kregel. »Sie drehen seit Jahren täglich dieselbe Runde. Der Sturm in den vergangenen Tagen muss den Sand in den Dünen so stark in Bewegung gebracht haben, dass die Knochen freigelegt wurden.«

»Nachdem sie jemand vor Jahren etwa hier vergraben hat?«, hakte Andresen nach.

»Du stellst schon wieder Fragen, die nicht ich, sondern du selbst beantworten musst.«

»Könnt ihr denn schon sagen, ob es irgendetwas gibt, das nicht auf einen natürlichen Tod schließen lässt?«

»Eine seltsame Vorstellung, dass diese Person hier an dieser Stelle einfach zusammengebrochen und verstorben ist, aber von niemandem in all den Jahren entdeckt wurde«, antwortete Seelhoff süffisant.

»Pass auf, dass man in ein paar Jahren nicht deine Knochen hier ausgräbt«, entgegnete Andresen trocken.

Er wandte sich ab und stapfte unentschlossen durch den Sand. Erst jetzt erkannte er die vielen Markierungen, die die Techniker gesetzt hatten. Offenbar hatten Seelhoffs Leute in den letzten Stunden überall an diesen Stellen Knochenteile gefunden. Eine Puzzlearbeit für die Rechtsmedizin, allen voran Professor Birnbaum.

»Woran erinnert dich das?« Kregel war ihm unauffällig gefolgt und blickte ihn nachdenklich an.

»Die Schellbruch-Tote?« Andresen sah auf.

»Das war auch mein erster Gedanke, als ich das hier gesehen habe«, sagte Kregel. »Ich musste sofort an unser Gespräch letzte Woche denken, als du davon erzählt hast, dass du dir den Fall von damals noch einmal vorknöpfen willst.«

»Ich ahne, worauf du hinauswillst, aber außer der Tatsache, dass wir es mit zwei skelettierten Leichen zu tun haben, spricht meiner Meinung nach nicht sonderlich viel dafür, dass hier ein Zusammenhang vorliegt.«

»Frauenleichen«, warf Kregel ein. »Und wenn diese tatsächlich auch schon mehrere Jahre hier liegt, könnte es zeitlich gesehen zu der Toten aus dem Schellbruch passen.«

»Denkbar ist vieles«, sagte Andresen. »Erst einmal müssten wir uns aber sicher sein, dass es sich bei der Toten tatsächlich um eine Frau handelt. Und eine verlässliche Bestimmung ihres Alters würde helfen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir uns mit unserem Lieblingsmediziner Birnbaum auseinandersetzen müssen.«

»Du kennst ihn doch gut«, sagte Kregel. »Besser als jeder andere von uns.«

»Du brauchst dir keine Mühe zu geben, ich habe schon verstanden.« Andresen ging einen Schritt auf Kregel zu und fixierte ihn. »Damit das gleich von Anfang an klar ist«, sagte er, »wenn ich die Sache übernehme, dann ist das ganz allein mein Fall. Keine Abstimmungen zwischen uns. Wenn überhaupt, berichte ich Zeichner direkt. So wie die letzten Monate gelaufen sind, wird er mir alle Freiheiten bei den Ermittlungen lassen.«

»Das hört sich gut an.«

»Tatsächlich?«

»Ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass das eine Sache für dich und Ida-Marie ist«, sagte Kregel. »So wie ich die Situation einschätze, haben wir es mit einem Todesfall zu tun, der mehr als fünf Jahre zurückliegt. Das Ganze fällt also in den Bereich deiner X-Einheit. Meinen Segen habt ihr. Findet heraus, ob ein Zusammenhang besteht und wer diese Frauen umgebracht hat.«

»Sehr großzügig, vielen Dank.« Andresen nickte und klopfte Kregel beinahe väterlich auf die Schulter. Dann blickte er ihn jedoch ernst an.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, fragte er. »Weshalb du diese Ermittlung gleich abgeben willst. Ich weiß bislang genauso wenig wie du über diese Sache, aber wir könnten es mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun haben. Reizt dich das gar nicht?«

»Wie lange kennen wir uns mittlerweile?«, fragte Kregel. »Zehn Jahre? Du solltest doch auch wissen, dass wir beide unterschiedlich ticken. Mir geht es nicht darum, mein eigenes Ego zu pflegen. Ich muss mich nicht als Lone Ranger beweisen, der es mit allen und jedem aufnehmen kann. Mein Ansatz ist ein anderer, wie du mittlerweile eigentlich gemerkt haben solltest.«

Er trat ein paar Schritte zur Seite. »Ich bin ein Teamplayer, und seitdem ich die Mordkommission leite, muss ich vor allem eines: die richtigen Entscheidungen treffen. Mir ist klar, dass ich in der Hierarchie nicht wirklich über dir stehe und dir deshalb keine Anweisungen geben kann. Da ich aber glaube, dass du für diese Angelegenheit der richtige Mann bist, werde ich das Zeichner auch so sagen.«

»Ich habe dich auch anders kennengelernt«, sagte Andresen. »Du bist nicht immer so uneigennützig, wie du gerade tust. Du wusstest im Großen und Ganzen immer ganz genau, was zu tun ist, damit es für dich positiv ausgeht. Im Gegensatz zu mir hast du nämlich einen Plan für dein Leben.«

»Schön wär’s.« Kregel lachte bitter. »In den letzten Jahren ist so einiges bei mir schiefgelaufen. An meiner Scheidung knabbere ich jeden verfluchten Tag aufs Neue. Und natürlich weiß ich auch selbst, dass ich nicht die erste Wahl für die Kommissariatsleitung gewesen bin und den Posten nur innehabe, weil Seelhoff keine Lust auf eine Doppelfunktion hatte. Aber je länger ich die Verantwortung für das Kommissariat trage, desto mehr verinnerliche ich, was diesen Job auszeichnet. Ich muss Entscheidungen treffen und meine Leute richtig einteilen. Alles andere ergibt sich dann von selbst.«

»Und warum greifst du dann bei dieser Sache hier nicht auf deine eigenen Leute zurück?«

»Das ist momentan mein größtes Problem«, antwortete Kregel. »Ich habe kaum noch jemanden in meinem Team, dem ich solch einen Fall anvertrauen kann.«

»Was ist mit Julia? Sie hat auf jeden Fall das Zeug, diese Ermittlungen zu leiten.«

»Julia ist schwanger. Sie tritt in zwei Monaten für eine ganze Weile aus dem Dienst.«

»Das wusste ich nicht, wir haben uns letzte Woche noch unterhalten, da hat sie nichts davon erwähnt.«

»Ich weiß es auch erst seit ein paar Tagen«, erklärte Kregel. »Sie wirkte ziemlich unglücklich, ist wohl keine gewollte Schwangerschaft.« Sein Blick verfinsterte sich. »Mit Zeichner stehe ich übrigens seit einiger Zeit auf Kriegsfuß. Jeden meiner Schritte beäugt er, als warte er nur darauf, mir ans Bein pinkeln zu können. Seitdem er selbst in der Kritik steht, hat er es auf mich abgesehen. Er will mich loswerden, weil er ein Bauernopfer sucht.«

»Immer noch wegen der Ermittlungen während des G7-Treffens letztes Jahr?«

»Du weißt, dass ihn das um ein Haar seinen Job gekostet hätte. Seit damals habe ich einfach das Gefühl, dass er mich loswerden will. Und dass ausgerechnet du dem amerikanischen Außenminister das Leben gerettet hast, hat die Sache nicht besser gemacht.«

»Schon klar, vorher war ich schließlich derjenige, der auf seiner Abschussliste ganz oben stand. Trotzdem verstehe ich nicht, weshalb du denkst, dass sich dein Standing bei Zeichner verbessern wird, wenn ausgerechnet ich dir den Arsch rette.«

»Ganz so muss es ja gar nicht sein.«

»Wie meinst du das?«

»Stell dich doch nicht dümmer, als du bist«, sagte Kregel energisch. »Selbst wenn du jetzt nicht mehr unter seiner Beobachtung stehst, wird Zeichner nicht wollen, dass du schon wieder einen spektakulären Fall übernimmst und alle Aufmerksamkeit auf dich ziehst. Also hilfst du mir einfach, ohne dass Zeichner groß davon erfährt.«

»Merkst du eigentlich selbst, wie sehr du dich verändert hast?« Andresen lächelte müde. »Wahrscheinlich bringt es der Job mit sich. Als ich damals die Leitung des Kommissariats übernommen habe, wurde es um mich herum auch immer einsamer. Man geht seiner Arbeit nicht mehr wie ein einfacher Kriminalbeamter nach, plötzlich steht man nämlich in der Verantwortung und wird von ganz oben beäugt. Das führt dazu, dass man nur noch mit sich selbst und seiner Rolle beschäftigt ist. Man ist auf der Hut, will keine Fehler begehen. Und das wiederum führt unausweichlich dazu, dass man anderen vor den Kopf stößt, ohne es zu merken.« Er trat auf Kregel zu. »So wie du es dir vorstellst, kannst du es vergessen«, sagte er schließlich. »Ich werde nicht den Handlanger für dich spielen, damit du nachher die Lorbeeren einfahren kannst. Entweder dieser Fall wird eine Sache für die X-Einheit, und zwar ohne jede Einmischung von dir, oder aber ich bin raus. Überleg es dir gut, ich kann mit beiden Entscheidungen leben.«

»Weshalb legst du mir Steine in den Weg, anstatt mich zu unterstützen?«, fragte Kregel provokant. »Sollte es dir nicht auch darum gehen, diesen Fall schnellstmöglich aufzuklären?«

»Ich werde niemals damit aufhören, für Sicherheit und Gerechtigkeit zu kämpfen«, antwortete Andresen so ruhig, wie es ihm in diesem Moment möglich war. »Doch darum geht es hier gerade nicht. Zieh mich nicht in deine Spielchen –« Andresen brach ab, als er erkannte, dass Seelhoff plötzlich aus dem Nebel vor ihnen auftauchte. Sein Gesichtsausdruck war für seine Verhältnisse ungewohnt aufgeregt.

»Steht hier nicht herum mit den Händen in den Taschen«, sagte er streng. »Kommt mit, meine Leute haben gerade etwas gefunden, das euch die Arbeit erleichtern wird.«

Nach einigen Metern blieb Seelhoff stehen und zeigte auf etwas Metallenes im Sand. Andresen brauchte ein paar Momente, ehe er verstand, was da vor ihm lag.

»Geht näher ran«, sagte Seelhoff. »Dann seht ihr, dass es sich um Handschellen handelt, die wahrscheinlich an den Handgelenken der Toten befestigt waren. Man kann es an den einzelnen Knochen noch genau erkennen.«

Andresen bückte sich und inspizierte die Handschellen. Dann erhob er sich wieder. »Du liegst mit deiner Vermutung tatsächlich richtig«, sagte er zu Kregel. »Auf meinem Schreibtisch liegt ein Foto mit einem Paar Handschellen, das genauso aussieht wie das hier.«

»Die Schellbruch-Tote«, rief Seelhoff aus dem Hintergrund. Das hier hat verdammt noch mal ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem Fund von damals.«

»Die Medien werden die Sache auf Seite eins bringen.« Kregel begann plötzlich, unruhig auf und ab zu laufen. »Wir werden reichlich öffentlichen Druck bekommen. Und Zeichner wird mir die Hölle heißmachen, damit ich Ergebnisse liefere. Ich sehe keine andere Möglichkeit: Du musst diesen Fall übernehmen, Birger.«

»Du kennst meine Antwort.«

Unschlüssig drehte sich Kregel im Kreis. Dann blieb er stehen und blickte einige Sekunden lang auf die Knochenteile zu seinen Füßen.

Schließlich nickte er stumm. Als Zeichen dafür, dass er Andresens Bedingungen wohl oder übel akzeptierte.

IMMER WIEDER WINTER

Es gab nur ganz wenige Menschen in Andresens Leben, die ein Gefühl der Unruhe in ihm auslösten, wenn sie denselben Raum betraten, in dem auch er sich gerade befand.

Seine Nemesis Boris Roloff gehörte sicherlich zu diesen Menschen. Genau wie seine Exfreundin Wiebke, bei der er vor jedem neuerlichen Treffen noch immer ein unangenehmes Gefühl der Anspannung empfand. Die Wut auf sie, weil sie vor mittlerweile fast vier Jahren aus Eifersucht sein Altstadthaus in Brand gesteckt hatte, wollte einfach nicht verrauchen. Gleichzeitig belastete ihn die Erkenntnis, dass er durch sein Verhalten für die schlimme psychische Verfassung, in der sie sich noch immer befand, mitverantwortlich war.

Lange Zeit hatte auch Ida-Marie zu den Menschen gezählt, bei denen sein Herzschlag sich beschleunigt hatte, sobald sie auftauchten. Anfangs war es vor allem das Körperliche gewesen, das seinen Blutdruck in die Höhe getrieben hatte. Später kam dann die Angst dazu, als er befürchtete, sie würde ihre kurze Affäre, die ihm zahllose schlaflose Nächte eingebracht hatte, nicht für sich behalten.

Seit damals war viel passiert. Umso erstaunlicher, dass Ida-Marie in diesem Moment direkt neben ihm saß, Andresens Herz jedoch überhaupt keine Reaktion mehr zeigte. Ihre Köpfe steckten eng zusammen, während sie in den Akten des Falls der skelettierten Frau im Schellbruch blätterten. Nicht etwa im Präsidium, sondern in ihrer Wohnung in der Altstadt. Am Küchentisch. Dort, wo sie vor Jahren einmal übereinander hergefallen waren.

Doch die Erinnerung an damals war derart verblasst, dass es Andresen schwerfiel, sich die Bilder wieder vor Augen zu rufen. Besser gesagt, er wollte es auch gar nicht mehr zulassen. Ida-Marie war ihm schlichtweg fremd geworden. Eine Tatsache, die er für ihre gemeinsame Arbeit in der X-Einheit durchaus als Vorteil betrachtete.

»Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den Tag damals vor sechs Jahren«, sagte Andresen und lehnte sich mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl zurück. »Es war ein ähnlich nebliger Tag wie heute, als der Anruf einging, dass man im Schellbruch eine Leiche gefunden hat. Ich fuhr gemeinsam mit Julia dorthin, die damals noch ziemlich unerfahren war. In dem festen Glauben, wir hätten es mit einer ganz normalen Leiche zu tun. Tatsächlich waren wir dann sogar erleichtert über das, was uns erwartete.«

Ida-Marie wandte sich ihm zu und blickte ihn fragend an.

»Ein menschliches Skelett, dessen Knochen verstreut im Schlamm einer Lagune liegen, ist bei Weitem leichter zu ertragen als eine frische Leiche mit all den Spuren, die zu ihrem Tod geführt haben.«

Ida-Marie nickte wortlos.

»Natürlich wirkte die ganze Szenerie im Schellbruch ziemlich gruselig, aber gleichzeitig auch seltsam abstrakt. Dass es sich überhaupt um Knochen eines menschlichen Körpers handelt, war schwer zu erkennen. Erst als Seelhoff uns auf die Handschellen aufmerksam gemacht hat, haben wir verstanden, womit wir es da tatsächlich zu tun haben.«

»Wenn ich das richtig sehe, haben wir im Grunde nie so richtig verstanden, was damals eigentlich passiert ist«, sagte Ida-Marie kopfschüttelnd. »Ich kam etwa ein halbes Jahr nach dem Fund im Schellbruch nach Lübeck und erinnere mich, dass wir den Fall ziemlich schnell zu den Akten gelegt haben. Angesichts der Tatsache, dass wir es zweifellos mit einem brutalen Mord zu tun gehabt haben, frage ich mich schon, wie das sein konnte.«

»Ich könnte jetzt sagen, dass die Mordkommission auch damals schon chronisch unterbesetzt war, aber das wäre nur die halbe Wahrheit«, sagte Andresen. »Der eigentliche Grund war vielmehr der, dass wir vollkommen im Nebel gestochert haben. So wie ich es bei keinem anderen Fall zuvor oder danach erlebt habe.« Er nahm die Akte in die Hand.

»Wir wissen bis heute nicht, um wen es sich bei der Toten handelt. Geschweige denn, warum sie sterben musste. Birnbaum hat sich lediglich darauf festlegen wollen, dass die Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt gewesen sein muss und höchstwahrscheinlich mitteleuropäischer Abstammung war. Nicht einmal die genaue Todesursache hat er bestimmen können. Ich erinnere mich noch genau an die Diskussionen mit ihm. Er ging davon aus, dass die Frau an den Folgen der zahlreichen Knochenbrüche gestorben ist, konnte es aber nicht nachweisen. Hier steht es.«

Er schlug die Seite in der Akte auf, in der Birnbaum die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung notiert hatte. »Kalottenfraktur, Nasen- und Jochbeinfraktur, Schultereckgelenksprengung, Frakturen an mehreren Rippenknochen –«

»Danke, es reicht.« Ida-Marie griff nach der Mappe und klappte sie zu. Dabei berührten sich für einen kurzen Moment ihre Hände. Andresen spürte, dass sie zusammenzuckte.

»Alles okay?«

»Klar«, antwortete sie unsicher lächelnd. »Deine Beschreibungen gerade waren allerdings nicht so schön.«

»Tut mir leid. Ich dachte nur, wir sprechen über alle Details von damals, bevor wir morgen in die Rechtsmedizin fahren, um mit Birnbaum über den heutigen Fund auf dem Priwall zu reden.«

»Auch ein Glas Wein?«, fragte Ida-Marie, ohne auf seine Erklärung einzugehen. Sie stand auf und öffnete den Kühlschrank.

»Danke, bin auf Diät«, antwortete Andresen. »Ich habe mir vorgenommen, mindestens fünf Kilo abzunehmen.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Denk nicht, dass mir das leichtfällt. Aber wenn ich nicht ein bisschen auf mich und meinen Körper achte, kann ich bald nur noch vom Schreibtisch aus arbeiten. Ich war vor einigen Wochen schon aus der Puste, wenn ich nur daran gedacht habe, dass mein Büro im sechsten Stockwerk liegt. Und das, obwohl ich immer mit dem Aufzug gefahren bin. Neuerdings nehme ich allerdings die Treppe.«

»Und das alles für die Arbeit?«, fragte Ida-Marie argwöhnisch.

»Klar, die jüngeren Kollegen hängen mich andernfalls ab«, antwortete Andresen achselzuckend. »Fitness zählt in unserem Job doch heutzutage mindestens genauso viel wie Verstand.«

»Netter Nebeneffekt, dass deine neue Freundin auch davon profitiert, wenn du etwas für deinen Körper tust.« Ida-Marie stand noch immer mit dem Rücken zu Andresen vor dem geöffneten Kühlschrank. »Sie ist einige Jahre jünger als du, habe ich gehört.«

»Hast du das?«, fragte Andresen. »Und von wem bitte schön?«

»Das erzählt man sich so auf den Fluren im Präsidium.«

»Man erzählt sich das also«, wiederholte Andresen. »Und was genau ist an meinem Privatleben so interessant, dass man sich darüber das Maul zerreißen muss?«

»Findest du nicht, dass ich nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, ein Recht darauf habe, zu wissen, was du so treibst?«