Umschlag

Ute Wehrle ist gebürtige Freiburgerin und studierte Touristik-Betriebswirtschaft in Heilbronn. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Jürgen Wiesler
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-198-7
Originalausgabe

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Für Hans Jürgen

Silva nigra, 61 nach Christus

Beim Jupiter, warum musste es hier auch ständig so elend kalt sein? Tiberius spürte, wie ihm der Wind schneidend ins Gesicht blies und seine Augen feucht werden ließ. Eilig wischte er sich mit seiner Hand über die Wangen. Das fehlte noch, dass jemand seine Tränen sah. Als jüngster Legionär der Truppe musste er sich eh schon viel zu viele derbe Späße von seinen Kameraden gefallen lassen.

Missmutig kämpfte er sich weiter durchs Unterholz, vorbei an riesigen Tannen, die den Blick auf den Himmel versperrten. Selbst wenn Jupiter höchstpersönlich an selbigem aufgetaucht wäre – Tiberius hätte ihn nicht sehen können, so dicht klebten die Baumwipfel aneinander. Aber warum sollte der Gott auch ausgerechnet hier auftauchen? Es gab nun wirklich bessere Flecken auf dieser Erde. Obwohl Tiberius göttlichen Beistand dringend gebraucht hätte.

Seine Kameraden waren wirklich ein Fall für sich, sinnierte er betrübt weiter. Besonders der narbenübersäte Flavius und sein Kumpel Lucius, wegen seiner Trinkfestigkeit auch gern »das Weinfass« genannt, schienen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihm das Leben zu vergällen. Und das gründlich.

Wut stieg in Tiberius auf, als er an jene unselige Nacht in Brigobannis zurückdachte. Lautlos hatten sich die beiden an seine Lagerstatt geschlichen und ihn mit wüstem Wolfsgeheul aus dem Schlaf gerissen. Anschließend hatten sie sich schenkelklopfend darüber amüsiert, wie er schreiend in die Höhe gefahren war. Tagelang musste er ihren Spott ertragen und konnte keinen Fuß in die Taverne setzen, ohne mit Knurren und Heulen, gefolgt von schallendem Gelächter, empfangen zu werden. »Säugling« war noch die schmeichelhafteste Bezeichnung, die ihm der Vorfall in seiner Einheit eingebracht hatte.

Ein anderes Mal hatten ihm die beiden seinen Helm geklaut und versteckt. Fast zwei Stunden lang hatte er suchen müssen, bis er ihn in einer riesigen Dornenhecke wiederfand. Tagelang hatte er ausgesehen, als ob er in einen Nahkampf mit einer Wildkatze verwickelt gewesen wäre, so viele Kratzer hatte er von der Aktion davongetragen.

Und jetzt noch diese unglückselige Exkursion, die ihn mitten in diesen unheimlichen Wald verschlagen hatte. Seit drei Tagen war die achtköpfige Truppe nun schon auf der Suche nach einem geheimnisvollen See, der angeblich wie ein Saphir in der Sonne glitzern sollte. Wer auch immer Titus diesen Bären aufgebunden hatte – ihr Befehlshaber war nicht mehr davon abzubringen, dieses Gewässer zu finden. Und wenn Titus sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte … Tiberius seufzte tief.

»Weint unser Säugling etwa schon wieder? Will er zu seiner Mama?« Natürlich. Es war Flavius, der feixend neben ihm aufgetaucht war.

»Bestimmt fürchtet sich der Kleine vor Wölfen.« Die Bemerkung kam von Lucius, der neben Flavius hereilte.

Jetzt ging das schon wieder los. Als ob Jugend eine Schande wäre. Vor Zorn stieg Tiberius die Röte ins Gesicht. Doch aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass es besser war, sich auf keine Diskussion einzulassen. Also tat er so, als hätte er nichts gehört, und richtete seinen Blick beim Weitermarschieren stur geradeaus. Was er sah, machte ihn nicht fröhlicher: Bäume und Gestrüpp, wohin das Auge reichte. Hörte das denn gar nicht mehr auf? Irgendwann musste doch wieder der Horizont zu sehen sein.

»Hat es unserem Grünschnabel die Sprache verschlagen?«, setzte Flavius noch eins drauf. Doch als Tiberius immer noch nicht reagierte, ließ er es gut sein und konzentrierte sich wieder darauf, den herabhängenden Tannenzweigen auszuweichen.

Immer diese Anspielungen auf sein Alter, ärgerte sich Tiberius im Stillen weiter, peinlichst darauf bedacht, keinerlei Regung zu zeigen. Seinen siebzehnten Geburtstag hatte er schon längst hinter sich, sonst wäre er ja wohl kaum hier, um die römischen Straßen zu überwachen. Und so wie jeder andere Legionär hatte auch er eine harte Grundausbildung überstanden und war besser in Form als so manche der alten Haudegen, mit denen er sich auf diesem schwachsinnigen Erkundungszug befand. Besonders Lucius keuchte beim Marschieren wie ein erschöpftes Schlachtross, das kurz davor steht, sein Leben auszuhauchen. Es war offensichtlich, dass ihm das süße Leben in Brigobannis nicht bekam.

»Jetzt sag doch was, Grünschnabel. Oder hast du Angst vor der Eichkatze? Vielleicht wäre es besser, Fersengeld zu geben, bevor sie dir noch die Augen auskratzt.« Kichernd deutete Lucius auf ein possierliches Tierchen, das mit ausgestrecktem buschigen Schwanz eine Tanne hochflitzte.

Grünschnabel. Pah. Obwohl, wenn Tiberius ehrlich war, war ihm selbst die Lust aufs Eichhörnchenjagen gründlich vergangen. Was hatte er nur angestellt, um in dieser gottverlassenen Gegend zu landen, die nur aus Bäumen zu bestehen schien? Und weit und breit keine Schänke, wo er etwas zu essen bekommen hätte. Anstatt sich von der schönen Tullia verwöhnen zu lassen, musste er sein Kochgeschirr selbst mit sich herumschleppen. Und nicht nur das. Allmählich kam es ihm so vor, als legten sein Kurzschwert und sein Schild mit jedem Meter unaufhaltsam an Gewicht zu. Und dann noch dieses Wetter. Wenn es nicht regnete, windete es, und wenn es nicht windete, krochen Nebelschwaden über den matschigen Waldboden. Einfach widerlich.

Wehmut überkam Tiberius, während er schweigend neben seinen Kameraden durch den dunklen Wald schritt. Könnte er jetzt doch nur in der Taverne von Brigobannis vor einem Honigwein sitzen und tief in die rehbraunen Augen von Tullia, der hübschen Bedienung mit den langen blonden Haaren, blicken, die es ihm mehr als angetan hatte.

Aber nein. Stattdessen kämpfte er sich nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit ohne Rast durch diesen dunklen Wald, den jeder nur »silva nigra« nannte. Und alles nur, weil einer dieser bärtigen einheimischen Schwindler ihrem Präfekten den Floh mit dem See ins Ohr gesetzt hatte, der ein Geschenk der Götter war, so hatte es ihm zumindest ein Soldat hinter vorgehaltener Hand erzählt. Als ob die hier etwas von Göttern wussten.

Er für seinen Teil hatte die Nase gründlich voll von dem ungehobelten Volk, das hier hauste. Keine Kultur, kein Anstand, kein Benehmen. Trotzdem wäre er froh gewesen, wenn einer der Wilden in diesem Moment aufgetaucht wäre und ihnen den richtigen Weg gewiesen hätte.

Denn zu allem Unglück hatte sich die kleine Truppe auch noch verirrt, auch wenn keiner ein Wort darüber verlor. Tiberius war sich sicher, an der Baumwurzel, die so aussah wie ein umgefallener Weinbecher, schon mindestens viermal vorbeimarschiert zu sein. Titus war zwar im Kampf ein begnadeter Stratege, aber Orientierungssinn war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Allerdings traute sich keiner, ihm das zu sagen. Wenn es um Kritik an seiner Person ging, verstand der Befehlshaber absolut keinen Spaß, da konnte er richtig giftig werden. Überhaupt wirkte Titus seit ein paar Wochen sehr ungehalten, was sonst nicht seine Art war. Dennoch war Tiberius froh, unter seinem Kommando zu stehen. Trotz seiner Strenge war Titus ein gerechter Anführer – ganz anders als sein kleiner Bruder Domitian, der eine echte Ratte war. Kein Wunder, dass ihn sein Vater von allen wichtigen Ämtern fernhielt, was nach Meinung von Tiberius auch ruhig so bleiben konnte.

Ob er Rom wohl jemals wiedersähe? Vermutlich nicht, ging es Tiberius trübsinnig durch den Kopf, denn bestimmt würde er vorher verhungern. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Wie auf Kommando begann sein Magen, lautstark zu knurren.

Hoffentlich fand Titus bald einen Lagerplatz, damit sie endlich etwas zwischen die Zähne bekamen. Und dann wollte er nur noch schlafen, am besten drei Tage am Stück. Und von zu Hause träumen, ohne von irgendwelchen wilden Tieren massakriert oder von seinen eigenen Kameraden zu Tode erschreckt zu werden.

»Hört ihr das?« Titus, der den kleinen Trupp anführte, hob die Hand.

Die Männer hielten mitten im Schritt inne.

Tiberius überkam ein mulmiges Gefühl. Erst gestern waren sie von einem hungrigen Wolfsrudel umringt worden, das sich zum Glück durch das laute Gebrüll der Männer hatte vertreiben lassen. Sollten die stinkenden grauen Bestien etwa schon wieder auf Beutezug sein? Ohne dass er es verhindern konnte, sträubten sich ihm die Nackenhaare.

Flavius und Lucius indes wirkten fast schon erfreut über die Unterbrechung des Marsches. Es war offensichtlich, dass sie dankbar für jede Abwechslung waren.

Ein Hoffnungsschimmer glomm in Tiberius auf: Der dicke Lucius würde bestimmt eine prima Beute für die Tiere abgeben. Bei dem Gedanken daran, wie eine der hässlichen Kreaturen ihre Zähne in Lucius’ fetten Wanst schlug, verspürte er fast schon so etwas wie Schadenfreude. Bis ihm einfiel, dass sein eigenes junges Fleisch vermutlich der saftigere Braten war.

Plötzlich ein Rascheln im Unterholz, gefolgt von lautem Knacken. Ohne Titus’ Befehl abzuwarten, stellten sich die Männer mit dem Rücken zusammen und bildeten einen Kreis, in einer Hand den Schild, in der anderen das Schwert. Die Spannung war förmlich greifbar, selbst Lucius hielt seinen Mund. Wieder ein Knacken – dann sprang der erste Wolf mit hochgezogenen Lefzen direkt auf Tiberius zu.

EINS

Hatten die Kroaten denn nichts Besseres zu tun gehabt, als so ein überflüssiges Ding zu erfinden? Seit einer gefühlten Ewigkeit kämpfte Max Futterer jetzt schon mit einer dunkelgrauen Krawatte, die sich einfach nicht binden lassen wollte. Wie eine ohnmächtige Blindschleiche baumelte sie schlaff um seinen Hals.

Herrschaftszeiten, fluchte er lautlos. So schwer konnte das doch nicht sein, andere bekamen das schließlich auch hin. Doch egal, wie er es anstellte – der Knoten ließ sich einfach nicht bis zum obersten Hemdknopf schieben. Krawattenbinden war wohl eine Wissenschaft für sich. Zugegeben mangelte es ihm in dieser Disziplin an Übung, denn Max konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so einen Henkerstrick aus Seide getragen hatte. Vermutlich bei seiner Kommunionsfeier, als ihm in der Christkönigskirche übel geworden war. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, der es furchtbar peinlich gewesen war, dass er sich beinahe übergeben hatte, als ihm der Pfarrer erstmals die Hostie auf die Zunge legte. Als ob es seine Schuld gewesen wäre, dass die Ministranten ausgerechnet an jenem Tag beschlossen hatten, mit geschickten Dreihundertsechzig-Grad-Schwenkungen des Weihwasserkessels das ganze Kirchenschiff unter Dampf zu setzen. Seither konnte Max Weihrauch nicht mehr riechen, ohne dass sich ihm der Magen umdrehte. Und Kirchen betrat er nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.

Ob es in Einsegnungshallen auch so fürchterlich nach dem Zeug roch? Hoffentlich nicht, ihm war auch ohne Weihrauch schon schlecht genug.

Erneut fummelte Max an seiner Krawatte herum, kapitulierte dann aber und warf sie in die Ecke seines Badezimmers, wo bereits eine schmutzige Jeans, drei Hemden und ein mit Kaffeeflecken verziertes graues T-Shirt lagen und sehnsüchtig auf die Waschmaschine warteten. Normalerweise konnte es Max nicht leiden, wenn sich in seiner Wohnung Unordnung breitmachte, aber momentan hatte er wahrlich andere Sorgen als seine Schmutzwäsche.

Erleichtert öffnete er den obersten Knopf seines weißen Hemdes, das er in den Bund seiner schwarzen Hose gesteckt hatte, und fuhr sich mit der Hand durch seine kurz geschnittenen Haare.

Seine Oma würde ihm die fehlende Krawatte bestimmt nicht übel nehmen, sie hatte noch nie viel auf Konventionen gegeben. Bei seiner Mutter war er sich da nicht so sicher, doch darauf konnte er jetzt echt keine Rücksicht nehmen.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel verließ Max eilig das Badezimmer und zog sich seine schwarzen Schuhe an, die er sonst nur im Theater trug, weil sie so unbequem waren. Obwohl in Freiburg der Frühling schon lange Einzug gehalten hatte und die Forsythien in voller Pracht standen, schnappte er sich vorsichtshalber seine dunkle Lederjacke, die an der Garderobe hing, bevor er die Wohnungstür hinter sich zuzog. Er hatte keine Lust, sich zu erkälten, denn in seinem Heimatort konnte es sogar noch Anfang Mai empfindlich kühl sein, wie er aus eigener leidvoller Erfahrung wusste.

Max seufzte unwillkürlich. Dem rauen Klima im Schwarzwald, wo er aufgewachsen war, hatte er noch nie etwas abgewinnen können. Wenn er nur daran dachte, wie oft er Ostereier im Schnee hatte suchen müssen. Es grenzte an ein Wunder, wenn sie nicht tiefgefroren waren. Nein, da waren die milden Temperaturen in Freiburg schon eher sein Ding, auch wenn es in seiner Altbauwohnung mitten im Stühlinger im Sommer ganz schön heiß werden konnte.

Im Treppenhaus kam ihm seine Nachbarin, eine resolute Dame Mitte siebzig, entgegen. Sie wies starke Ähnlichkeit mit Klementine aus der Waschmittelwerbung auf – nur dass Frau Willmann keine Klempnerhosen, sondern eine graue Leinenhose mit dazu passendem Blazer trug. Mit einer Hand zog sie eine leicht übergewichtige Promenadenmischung an der Leine hinter sich her, in der anderen hielt sie einen Strauß Tulpen, der bestimmt aus ihrem kleinen Garten hinter dem Haus stammte.

Der Hund, dessen Schnauze im selben Farbton ergraut war wie die Dauerwelle seines Frauchens, knurrte bei Max’ Anblick bedrohlich.

Frau Willmann hingegen lächelte erfreut, als sie stehen blieb. »Grüß Gott, Herr Futterer. Sie haben sich heute aber schick gemacht«, versuchte sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Ihr neugieriger Blick wanderte zu seinen glänzend polierten schwarzen Schuhen, und die Frage, ob er mit einer Frau verabredet sei, hing unausgesprochen im frisch geputzten Treppenhaus. Ihrer Ansicht nach wurde es als Mann mit sechsundzwanzig Jahren nämlich höchste Eisenbahn, eine Familie zu gründen. Oder sich wenigstens eine Freundin zu suchen.

Eine Einschätzung, die Max nicht wirklich teilte. Seit seine letzte Beziehung in die Brüche gegangen war, wusste er sein Single-Leben durchaus zu schätzen. Gut, dieser Zustand musste nicht ewig anhalten, aber momentan kannte er keine einzige Frau, mit der er gewillt gewesen wäre, sein Leben zu teilen.

»Ist das Wetter nicht traumhaft heute? Da kommen selbst in mir Frühlingsgefühle hoch«, plauderte Frau Willmann weiter. »Als ich noch in Ihrem Alter war, ich kann Ihnen sagen …« Sie kicherte wie ein Teenager.

Unauffällig warf Max einen Blick auf seine Uhr. Normalerweise nahm er sich immer ein paar Minuten Zeit, um mit seiner verwitweten Nachbarin ein Schwätzchen zu halten, aber heute war ihm wirklich nicht nach Small Talk zumute. »Tut mir leid, ich habe einen Termin und bin eh schon spät dran«, wimmelte er sie im Weitergehen ab. Was nicht einmal gelogen war. Denn wenn er sich jetzt nicht sputete, würde er zur Beerdigung seiner eigenen Großmutter zu spät kommen.

»Was sagst du dazu, Willi?«, hörte er Frau Willmann noch enttäuscht sagen, als er aus dem Haus stürmte. »Die jungen Leute heutzutage. Immer im Stress, immer in Hektik. Das kann auf Dauer doch nicht gesund sein.« Was der Hund dazu meinte, bekam Max nicht mehr mit, weil die Tür bereits ins Schloss gefallen war.

Er spurtete die Ferdinand-Weiß-Straße entlang, wo er am Abend zuvor unter einer der vielen Linden seinen weißen Toyota abgestellt hatte.

Beim Einsteigen richtete sich sein Blick nach oben zu den Baumkronen. So schön die Bäume auch waren, manchmal hätte er sie am liebsten eigenhändig umgehackt. Nicht mehr lange, dann würde klebriger Blütenstaub sein Auto gelb färben, die Scheiben verschmieren, und er wäre wieder Dauergast in der Waschstraße.

Als er den Zündschlüssel herumdrehte, entlud sich Vivaldis Sommergewitter mit voller Wucht im Fahrzeuginnern. Auch wenn er das Violinkonzert sonst zu schätzen wusste – heute vertrug er die spannungsgeladenen Töne absolut nicht. Mit einem Knopfdruck würgte er die Streichinstrumente ab, griff ins Handschuhfach und holte eine andere CD heraus, die besser zu seiner trüben Stimmung passte. Begleitet von »The End« von The Doors machte er sich auf den Weg nach Titisee-Neustadt.

Ach, Oma. Während sich Max durchs Höllental quälte, spürte er, wie seine Kehle eng wurde. Er mochte gar nicht daran denken, dass seine Großmutter, zu der diese altmodische Bezeichnung nie gepasst hatte, in knapp einer Stunde unter den Boden gebracht wurde. Gerade mal sechsundsechzig war sie geworden, bevor sie einem Schlaganfall zum Opfer gefallen war. Die Nachricht von ihrem Tod hatte Max bis ins Mark erschüttert. Irgendwie hatte er immer geglaubt oder besser gesagt gehofft, dass Oma ein biblisches Alter beschieden wäre. Von wegen, mit sechsundsechzig fängt das Leben an, schoss es ihm bitter durch den Kopf.

Wenigstens konnte niemand behaupten, sie hätte ihr Leben nicht bis zum Schluss genossen, versuchte er sich zu trösten.

Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Oma war schon immer eine Nummer für sich gewesen. Mit neunzehn hatte sie dem Titisee den Rücken gekehrt und war nach Freiburg gezogen, um Germanistik zu studieren. Sie wollte unbedingt Journalistin werden, was in ihrem Heimatort schon für genügend Befremden gesorgt hatte. Eine junge Frau allein in der Stadt, weit weg von ihren Eltern und Verwandten, das konnte einfach nicht gut gehen.

Noch größer war das Entsetzen gewesen, als Oma nach wenigen Wochen ihr kleines Zimmer im Wohnheim aufgab und mit Sack und Pack zu zwei bärtigen Studenten zog, die jede Menge Zeit damit verbrachten, sich gegen die herrschende Klasse aufzulehnen – zumindest theoretisch in nächtelangen Diskussionen, wie ihm Oma später schmunzelnd erzählt hatte.

Etwa ein halbes Jahr lang hatte sie mit den beiden Tisch und – wie hinter vorgehaltener Hand im Ort gemunkelt wurde – auch Bett geteilt. Die Empörung über Omas ungebührlichen Lebensstil legte sich erst, als sie für alle völlig überraschend mit einem durch und durch bürgerlichen Geschäftsmann, den sie als Aushilfsbedienung in einem Café kennengelernt hatte, vor den Traualtar trat.

Ein wüstes Hupen, das von einem Lastwagen hinter ihm kam, ließ Max hochschrecken. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er immer langsamer geworden war. Schleunigst stieg er wieder aufs Gaspedal, um den Lkw-Fahrer nicht zu waghalsigen Überholmanövern zu animieren. Im Rückspiegel sah er, dass der Mann am Steuer »Jupp« hieß, zumindest prangten die vier Buchstaben groß auf einem Schild, das an der Windschutzscheibe klebte. Mit einer Hand hielt Jupp ein Handy an sein Ohr, mit dem Zeigefinger der anderen tippte er sich erregt an die Stirn. Vermutlich galt die beleidigende Geste nicht seinem Gesprächspartner, sondern dem langsamen Fahrer vor ihm.

Ob Jupp wohl gelenkig genug war, seinen Lastwagen mit den Füßen zu lenken?, fragte sich Max irritiert, dann wanderten seine Gedanken wieder zurück zu seiner Oma.

Kaum verheiratet, war Oma auch schon schwanger geworden. Alles verlief so, wie es sich für eine anständige Frau gehörte. Nun, dass ihr Ehemann sie schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter Lina, Max’ Mutter, mit seiner Sekretärin betrügen würde, war schließlich nicht vorauszusehen gewesen. Oma machte das Beste daraus, ignorierte seinen Seitensprung und fing stattdessen an, als freie Journalistin für die »Freiburger Zeitung« Artikel zu schreiben, während ein Schweizer Au-pair-Mädchen auf Lina aufpasste. Ihrem Mann ging sie, so gut es eben möglich war, aus dem Weg.

Als er sich während eines Betriebsfestes in aller Öffentlichkeit an das minderjährige Lehrmädchen heranmachte, hatte Oma die Nase von ihm endgültig voll. Bevor sie jedoch die Scheidung einreichen konnte, besaß ihr untreuer Ehemann immerhin so viel Anstand, in einem Porsche an einer Eiche sein Lotterleben auszuhauchen, was Oma zu einer vermögenden und unabhängigen Witwe machte.

Während die kleine Lina die meiste Zeit bei ihren Großeltern verbrachte, reiste ihre Mutter in der Weltgeschichte herum und verfasste Reportagen über ihre Erlebnisse in Indien und Südamerika – sehr zum Missfallen ihrer Verwandtschaft, die selbst nie weiter als bis zum Bodensee gekommen war. Bis Lina an einer Lungenentzündung erkrankte, die sie beinahe das Leben gekostet hätte.

Nach diesem Vorfall hängte Oma ihren Job als Journalistin stillschweigend an den Nagel und ließ das Reisen sein. Stattdessen kaufte sie ein Einfamilienhaus in Titisee-Neustadt, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter bezog.

Bestimmt war Oma diese Entscheidung nicht leichtgefallen, sinnierte Max nicht zum ersten Mal, als er am Hofgut »Sternen«, eine in der Ravennaschlucht gelegene Touristenattraktion, die sich rühmen konnte, Marie Antoinette und Goethe beherbergt zu haben, vorbeifuhr. Ihn jedenfalls würden keine zehn Pferde mehr in seinen Heimatort zurückbringen, wo jeder jeden kannte.

Erst als Lina das Haus verlassen hatte, um Max’ Vater, Eigentümer eines gut gehenden Andenkengeschäfts, zu heiraten, drehte Oma wieder richtig auf – und sorgte aufs Neue für Gesprächsstoff.

Sie war nicht nur die erste Frau, die ihren Enkel mit einer Kawasaki von der Schule abholte, sondern feierte an den Wochenenden oft rauschende Partys mit ihren Freiburger Freunden – sehr zum Missfallen ihrer Nachbarschaft. Die hatte so gar kein Verständnis dafür, dass eine Frau in Omas Alter mehr vom Leben haben wollte als einmal im Jahr am Ausflug des Kirchenchors teilzunehmen. Selbst als sie die fünfzig überschritten hatte, gelang es ihr immer noch, ihre Mitmenschen zu schockieren, denn Oma hatte eine völlig neue Leidenschaft entdeckt: Mit ihrer rauchigen Zarah-Leander-Stimme sang sie auf diversen Kleinkunstbühnen mit großem Erfolg erotische Lieder, für die sie selbst die Texte schrieb.

Max erinnerte sich gut daran, dass sich seine Mutter nicht mehr auf die Straße getraut hatte, als die Sache im Ort bekannt wurde. Er hingegen war immer stolz auf seine coole Großmutter gewesen, und daran hatte sich bis zu ihrem Tod nichts geändert. Oma war so ganz anders als seine konservativen Eltern gewesen.

Beim Blick in den Rückspiegel stellte Max fest, dass ihm Jupp und sein Laster erneut auf die Pelle gerückt waren und fast schon an der Stoßstange seines Toyotas klebten. Er legte noch einen Zahn zu. Nachdem er rechts die Skischanze hinter sich gelassen hatte, verließ er wenig später die Bundesstraße, bog nach Titisee-Neustadt ab und fuhr in rasantem Tempo den Bärenhofweg Richtung Friedhof hinauf.

Zwischen den vielen Autos, die bereits auf dem Parkplatz davor standen, war noch eine kleine Lücke frei, in die er seinen Wagen quetschte. Max griff nach seiner Lederjacke, schlängelte sich aus seinem Fahrzeug und spurtete zur Aussegnungshalle.

Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Tür und trat ein.

ZWEI

»Da bist du ja endlich«, zischte ihm seine Mutter ohne Begrüßung ins Ohr, als er sich neben sie auf den einzigen noch freien Stuhl fallen ließ. Keine Minute zu früh, denn der Pfarrer war bereits im Anmarsch.

Sein Vater beschränkte sich auf ein missbilligendes Kopfschütteln.

»Warum trägst du keine Krawatte? Was sollen denn die Leute denken?«

Max schwieg. Was sollen denn die Leute denken? Dieser Spruch war so was von typisch für seine Mutter. Hätte er für diese Bemerkung jedes Mal fünf Euro bekommen, wäre er schon lange Millionär, schoss es ihm durch den Kopf, als sein Blick an dem mit Lilien geschmückten Sarg hängen blieb, der vor ihm aufgebahrt war. Auf dem Deckel stand ein mit schwarzem Band geschmücktes Foto, das seine Oma zeigte. Max schluckte trocken.

»Liebe Trauerfamilie, liebe Trauergemeinde. Wir versammeln uns hier, um Rosi Winterhalter die letzte Ehre zu erweisen. Lasset uns beten.« Mit monotoner Stimme hob der Pfarrer an, die Messe abzuhalten.

Eigentlich hatte sich Max eine weltliche Trauerfeier erhofft. Soweit ihm bekannt war, war Oma nie sonderlich gläubig gewesen. Besonders an der katholischen Kirche hatte sie kein gutes Haar gelassen. Bestimmt hatte seine Mutter darauf bestanden, sie mit kirchlichem Segen unter die Erde zu bringen, damit es im Ort kein Gerede gab.

Was Oma wohl davon gehalten hätte? Er konnte es sich lebhaft vorstellen. Der war nämlich im Gegensatz zu seiner Mutter die Meinung anderer Leute herzlich egal gewesen. Als Max sich als Zehnjähriger mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, wie viele andere in seinem Alter der örtlichen Trachtenkapelle beizutreten, hatte sie ihm kurzerhand eine E-Gitarre geschenkt und den Unterricht bezahlt. Wofür er ihr heute noch mehr als dankbar war. Genauso wie für ihre Unterstützung, als er nach dem Abi beschlossen hatte, Archäologie in Freiburg zu studieren, anstatt in das elterliche Andenkengeschäft einzusteigen. Trotz des Protests seiner Mutter hatte sie ihm die Zweizimmerwohnung in der Ferdinand-Weiß-Straße finanziert, wo er immer noch wohnte.

Oma war stolz wie Oskar gewesen, als er ihr seinen Masterabschluss präsentierte. Obwohl – viel genutzt hatten ihm seine guten Noten bisher nicht; auf dem Arbeitsmarkt herrschte ein sehr überschaubarer Bedarf an Archäologen. Die einzige Alternative wäre für Max gewesen, in irgendeiner philosophischen Fakultät als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu versauern, was er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Deshalb verdiente er sich sein Geld seit einem Jahr als Aufsicht im Museum für Ur- und Frühgeschichte, wo er es nicht nur mit interessanten Exponaten, sondern auch mit lebendigen Menschen zu tun hatte. Nebenher spielte er Gitarre in einer Rockband, wovon seine Mutter zum Glück keinen blassen Schimmer hatte. Beides machte er gern und gut, auch wenn er damit in diesem Leben bestimmt nicht mehr reich werden würde. Steile Karrieren sahen anders aus. Oma hingegen war nicht davon abzubringen gewesen, dass er eines Tages die versunkene Stadt Atlantis oder das Bernsteinzimmer ausgraben oder, noch besser, Rockstar werden würde. Sie war eben bis zu ihrem Tod eine unverbesserliche Optimistin gewesen und hatte an ihren Enkel geglaubt.

Max schluckte erneut. Er würde sie schmerzlich vermissen.

Die einsetzenden Orgelklänge ließen ihn hochschrecken. Das »Ave Maria« von Schubert erfüllte den Raum. Ein Song von The Doors hätte Oma bestimmt besser gefallen, dachte Max fast schon verärgert. Aber ihn hatte ja keiner um seine Meinung gebeten.

»Komm schon.« Seine Mutter war bereits aufgestanden und folgte gesenkten Kopfes den Sargträgern, die Oma zu ihrer letzten Ruhestätte bringen sollten. In ihrem schwarzen Kostüm, dessen Rock weit übers Knie reichte, und den flachen Schuhen, die sie dazu trug, wirkte sie noch biederer als sonst. Sie sah aus, als ob sie Bibeln verkaufen wollte.

Max erhob sich und trottete ihr hinterher. Erst jetzt nahm er wahr, wie viele Leute sich zu Omas Beisetzung versammelt hatten. Die Aussegnungshalle platzte schier aus allen Nähten, denn trotz oder vielleicht gerade wegen ihres exzentrischen Lebensstils war Oma außerordentlich beliebt gewesen, sah man großzügig von ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ab.

Im Vorbeigehen entdeckte er den Bürgermeister, der eine ernste Miene aufsetzte, während er verstohlen auf das Display seines Smartphones schielte. Neben ihm stand ein Mann Mitte sechzig, der sein halblanges weißes Haar zu einem Zopf gebunden hatte. Sein über der Hose getragenes Baumwollhemd zierte nicht nur eine schwarze schmale Lederkrawatte, sondern auch ein gelber Button, auf dem »Atomkraft, nein danke« stand. An der Hand hielt er eine pummelige kleine Frau, unter deren langem geblümten Hosenrock spitze Cowboystiefel hervorragten. Auch das Paar dahinter – sie in einem viel zu kurzen Kostüm mit grafischem Schwarz-Weiß-Muster, er in Fransen-Wildlederjacke – sah aus, als wäre es direkt von einem Pink-Floyd-Konzert zur Beerdigungsfeier geeilt. Bestimmt gehörten sie zu Omas Freundeskreis in Freiburg, dem keiner gesagt hatte, dass die siebziger Jahre schon lange vorbei waren, vermutete Max. Trotz seiner Trauer beschlich ihn ein Hauch von Erleichterung, dass in seiner Jugendzeit schlicht Jeans angesagt gewesen waren.

Die etwas unauffälliger gekleideten Damen aus Omas Französischkurs waren genauso vollzählig erschienen wie die Nachbarn, die sich vermutlich mit eigenen Augen davon überzeugen wollten, dass sie nie mehr von Omas Lieblingssong »Moon of Alabama« aus dem Schlaf gerissen werden würden. Doch die meisten, die sich in der Aussegnungshalle versammelt hatten, waren Max gänzlich unbekannt, zumindest konnte er sie nicht auf Anhieb einordnen.

Plötzlich blieb sein Blick an einem aparten sommersprossigen Gesicht hängen, auf dem eine Träne hinabkullerte. Die blonde Lockenmähne der jungen Frau wurde von einer Haarspange gebändigt, die enge schwarze Hose und der dazugehörige kurze Blazer betonten ihre mädchenhafte Figur. Um den Hals trug sie ein schwarzes Tuch mit weißen Punkten.

Meine Güte, es war eine Ewigkeit her, seit er Lilli zuletzt gesehen hatte. Genau wie er hatte sie die Schulbank im Neustädter Kreisgymnasium gedrückt und war das hübscheste Mädchen in seiner Klasse gewesen. Natürlich waren ihr die Jungs in Scharen nachgelaufen, doch keiner hatte eine Chance bei ihr gehabt. Leider auch nicht Max, der ebenfalls für sie geschwärmt hatte, wenn auch mehr im Verborgenen.

Kurz vor dem Abitur hatte dann doch noch einer ihrer zahlreichen Verehrer das Glück gehabt, bei Lilli zu landen. Er besuchte die Parallelklasse, sprach als Einziger blütenreines Hochdeutsch, trug teure Klamotten und war zu jeder Tages- und Nachtzeit makellos gestylt. Mit seinen schwarzen Haaren und Augenbrauen wirkte er wie die Miniaturausgabe von Mr. Big aus der Serie »Sex and the City«, auf die die Mädels total abfuhren – was ihm den entsprechenden Spitznamen eingebracht hatte. Max erinnerte sich, wie Lilli und Mr. Big, den er selbst nie hatte leiden können, bei der Abifeier unentwegt rumgeknutscht hatten. Bestimmt war sie zwischenzeitlich mit dem Typen verheiratet und hatte jede Menge Kinder.

Nun, vielleicht würde es nachher, wenn das Ganze hier endlich vorbei war, eine Gelegenheit geben, sich mit ihr zu unterhalten. Dann würde er ja hören, ob er mit seiner Vermutung oder vielmehr Befürchtung richtiglag.

Als die Trauergesellschaft den Friedhof betrat, war Max mehr als dankbar für seine Lederjacke. Obwohl die Sonne schien, pfiff ihm ein unangenehmer Wind um die Ohren. Er fröstelte.

Auch seiner Oma war das raue Klima im Schwarzwald stets ein Gräuel gewesen. Bis zuletzt war sie jeden Februar nach Teneriffa geflüchtet, um der Kälte wenigstens vorübergehend zu entkommen. Die Ansichtskarte mit dem Teide drauf, die sie Max vor einem Vierteljahr geschickt hatte, hing immer noch an seinem Küchenschrank. Bestimmt hatte sie nicht geahnt, dass dieser Urlaub ihr letzter sein würde. Wie auch? Zumal Oma nie der Typ gewesen war, der sich allzu viele Sorgen machte. Was nichts daran änderte, dass man in dem kleinen Hotel mitten in Puerto de la Cruz im nächsten Jahr vergeblich auf sie warten würde.

Warum war sie eigentlich nie von hier weggezogen?, überlegte Max. Ihm fiel nichts, aber auch gar nichts ein, was sie im Ort gehalten haben könnte.

Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, vorbei an kupfernen Kreuzen und Steinen mit vergoldeten Inschriften, bis der Trauerzug im hintersten Teil des Friedhofs endlich vor einem offenen Grab stoppte, neben dem sich ein Berg aus Blumenkränzen mit Trauerschleifen türmte. Vorsichtig setzten die schwarz gekleideten Männer den Sarg ab, und der Pfarrer wartete schweigend, bis die Trauergesellschaft komplett war.

Eine alte Frau, die bis eben noch damit beschäftigt gewesen war, mit einer grünen Gießkanne die Stiefmütterchen auf einem Grab zu wässern, streifte sich die Hände an ihrer dunklen Kittelschürze ab und stellte sich unauffällig dazu. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie allzu viel Abwechslung in ihrem Leben.

Max platzierte sich neben seine Mutter, die mit starrer Miene ihre Handtasche an sich drückte. Am liebsten hätte er den Friedhof fluchtartig verlassen. Ihm graute regelrecht davor, mit ansehen zu müssen, wie Oma für immer und ewig im Boden verschwand. Und mit ihr ihr fröhliches Lachen, das er nie mehr hören würde. Bei dem Gedanken daran zog sich sein Magen empfindlich zusammen, und er spürte einen leichten Würgereiz. Lieber Himmel, das fehlte noch, dass er sich mitten auf dem Friedhof übergeben müsste. Mit oder ohne Weihrauch, seine Mutter würde ihm das nie verzeihen. Verzweifelt versuchte er, sich abzulenken, und starrte wie hypnotisiert auf die Blumenkränze. »Wir werden dich nie vergessen«, las er auf einer weißen Schleife. Die Buchstaben drohten vor seinen Augen zu verschwimmen, sodass er auch nicht richtig mitbekam, wie sich die Sargträger bereit machten, den Sarg abzusenken.

Der Pfarrer drehte sich um und schickte sich an, Omas letzte Ruhestätte zu segnen.

Plötzlich hielten alle inne, als hätte ihnen jemand den Stecker herausgezogen.

Max hob irritiert den Kopf. Was war denn jetzt los? Ungläubig registrierte er, wie Omas Sarg ein paar Sekunden lang in leichter Schieflage über dem Grab pendelte, bevor er von den Trägern mit einem entschlossenen Ruck zurückgezogen wurde und unsanft auf den Boden prallte.

Entsetzt hielt die Trauergesellschaft den Atem an. Die vier Sargträger standen da wie zu dunklen Salzsäulen erstarrt, genauso wie der Pfarrer, der entgeistert in das offene Grab hinabschaute. Das Gebetsbuch glitt ihm aus den Händen und fiel ins Gras. Abrupt wandte er sich ab und bekreuzigte sich. Drei Mal hintereinander, was nichts Gutes bedeuten konnte.

Unter den Trauergästen machte sich Unruhe breit.

»Wäre es Ihnen möglich, die Beerdigung fortzusetzen?«, hörte Max seine Mutter mit bebender Stimme sagen.

»Nein, leider nicht«, beschied ihr einer der Sargträger, der durch einen kessen Ziegenbart auffiel.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« Sie quetschte ihre Handtasche immer enger an ihre Brust. Offensichtlich konnte sie sich nur mühsam beherrschen, dem Mann nicht an die Gurgel zu gehen.

»Weil da schon einer drin liegt«, klärte er sie auf und zeigte mit dem Finger in das ausgehobene Loch.

»Jesus Maria!« Die alte Frau in der Kittelschürze verließ fluchtartig den Friedhof, ohne sich noch einmal umzuschauen. Die Gießkanne blieb einsam zurück.

Was sollte das denn heißen? Wieso lag schon jemand in Omas Grab? Max glaubte, sich verhört zu haben.

Seiner Mutter schien es ähnlich zu gehen. »Wie bitte? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein. Sind Sie betrunken?«, keifte sie los.

Alle Blicke richteten sich auf sie.

»Betrunken? Leider nicht! Aber ich wünschte mir, ich wär’s«, versicherte ihr der Mann. Er war der Einzige, dem es nicht die Sprache verschlagen hatte. »Da unten liegt einer«, wiederholte er klar und deutlich. »Und den müssen wir erst rausholen, vorher geht es hier nicht weiter.«

Wie zur Bestätigung bekreuzigte sich der Pfarrer erneut. Er war so bleich, als wäre ihm der Leibhaftige begegnet.

»Das will ich sehen! Und gnade Ihnen Gott, wenn Sie uns zum Narren halten.« Bevor sie jemand zurückhalten konnte, stürmte Max’ Mutter los, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass der Mann kompletten Unsinn redete.

Als ihr Blick in die Grube wanderte, war es mit ihrer Selbstbeherrschung endgültig vorbei. Entsetzt schnappte sie nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Was sollen bloß die Leute sagen?«, bekam sie gerade noch heraus, bevor sie ohnmächtig zu Boden sank. Es machte ganz den Eindruck, als ob der Sargträger die Wahrheit gesagt hätte.

Das erregte Gemurmel der Trauergesellschaft wurde lauter. Alle reckten die Köpfe, weil sie sehen wollten, was los war.

Max, der sich vor Schreck nicht von der Stelle gerührt hatte, fühlte sich immer mehr wie ein Statist in einem Horrorfilm. Auch sein Vater machte ein Gesicht, als ob er soeben eine Einladung bekommen hätte, seinen nächsten Skatabend gemeinsam mit Frankenstein und Dracula zu verbringen. Er kümmerte sich nicht einmal um Max’ Mutter, die immer noch bewusstlos auf dem Rasen lag.

Wenigstens der Bürgermeister bewies, dass er bei den jüngsten Kommunalwahlen mit der Behauptung, ein Mann der Tat zu sein, nicht gelogen hatte. Mit seinem immer noch griffbereiten Handy verständigte er erst den ortsansässigen Arzt und dann die Polizei, bevor er zu der bewusstlosen Lina Futterer eilte und unsanft an ihren Schultern rüttelte.

DREI

War Rosi Winterhalter schon immer für alle möglichen Skandalgeschichten gut gewesen – ihre Beerdigung toppte alles. Mit offenem Mund beobachtete die Trauergemeinde wenig später, wie zwei junge Polizisten den leblosen Körper eines Mannes aus dem Grab wuchteten und mit dem Gesicht nach oben vorsichtig ins Gras betteten.

Bei seinem Anblick ging ein Ruck durch die Menge.

»Das ist doch … Aber das kann doch nicht sein«, stieß Max’ Mutter, deren Lebensgeister wieder zurückgekehrt waren, entsetzt aus. Dabei machte sie den Eindruck, als würde sie gleich wieder in Ohnmacht fallen.

»Donnerwetter, das hat mir gerade noch gefehlt«, fluchte der Bürgermeister herzhaft, dem vor Überraschung beinahe das Smartphone aus der Hand geglitten wäre.

»Ausgerechnet. Als ob der nicht schon zu Lebzeiten für genug Ärger gesorgt hätte«, meinte der Sargträger mit dem Ziegenbart erbost.

»Mon dieu«, hauchte die Französischlehrerin, deren Augen immer größer wurden.

Max warf einen vorsichtigen Blick auf den Mann, der schuld an der ganzen Aufregung war. Seinen erschlafften Gesichtszügen nach zu urteilen, hatte er mit dem irdischen Dasein abgeschlossen. Aber wieso hatte er sich dafür ausgerechnet Omas Grab ausgesucht? War er ausgerutscht, in das Erdloch gestürzt und hatte sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien können? So ein Grab war ganz schön tief, das wusste Max aus der amerikanischen Bestatter-Serie »Six Feet Under«. Aber selbst dann hätte der Mann doch bestimmt so lange um Hilfe gerufen, bis er gerettet worden wäre, rätselte er. Oder – was ihm wahrscheinlicher vorkam – hatte der Mann von allen Friedhofsbesuchern unbemerkt einen Herzinfarkt erlitten und war dabei unglücklicherweise direkt in Omas Grab gefallen? Meine Güte, was für ein makabres Ende, dachte Max. Wie in einem schlechten Film.

Nachdenklich musterte er den Toten, als er plötzlich stutzte. Die strähnigen Haare, die weißer waren, als er sie in Erinnerung hatte, die wässrigen Augen, die blicklos in den Himmel starrten. Und dazu dieser schlammbraune Rolli, der unter einem abgewetzten Cordblazer zum Vorschein kam. Das alles kam ihm bekannter vor, als ihm lieb war.

»Wahnsinn. Der Cäsar vom Titisee«, ertönte eine helle Frauenstimme neben ihm. »Der hätte sein Leben bestimmt viel lieber auf einem Schlachtfeld ausgehaucht, meinst du nicht?« Es war Lilli, die sich neben ihn gestellt hatte.

Der Cäsar vom Titisee. Eigentlich hieß er Lothar Sattler und hatte am Neustädter Kreisgymnasium mehr als dreißig Jahre lang Geschichte unterrichtet. Warum er ausgerechnet Lehrer geworden war, wusste keiner so genau. Aus Berufung sicher nicht, darin waren sich nicht nur seine Schüler einig, denn Sattler hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm Jugendliche schlicht ein Gräuel waren. Deshalb vermuteten viele, dass seine Berufswahl einen völlig anderen Grund gehabt und mit seiner fast schon krankhaften Leidenschaft für die alten Römer und deren Kriegskunst zusammengehangen hatte. Als römischer Soldat wäre Sattler mit Sicherheit eine steile Karriere bestimmt gewesen. Das Einzige, was ihn daran gehindert hatte, war die Tatsache, dass er dafür schlicht ein paar Jahrhunderte zu spät auf die Welt kam und ihm keine Legionäre zur Verfügung standen, die er hätte drillen können. Als Ersatz mussten seine Schüler herhalten – was zuweilen mehr als absonderliche Formen annahm.

Einmal hatte er es sogar fertiggebracht, die ganze Klasse in der Turnhalle antreten zu lassen, um mit den Schülern die Schildkrötenformation zu exerzieren. Sich nur mühselig das Lachen verbeißend waren Max und seine Mitschüler mit ihren selbst gebastelten Pappschilden von einer Sprossenwand zur anderen gestiefelt, während Sattler seine Befehle brüllte. Erst der Pausengong hatte dem Spuk ein Ende bereitet. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass seitens feindlicher Gallier ein Angriff erfolgen sollte, zeigte sich die ehemalige Klasse 10b seit dieser legendären Aktion jedenfalls bestens gerüstet.

Der Schuldirektor hingegen war nur mäßig begeistert von der, gelinde ausgedrückt, etwas eigenwilligen Interpretation des Lehrplans gewesen, zumal sich auch etliche Eltern mit pazifistischer Grundhaltung bei ihm beschwerten. Fortan musste sich Sattler darauf beschränken, seine zugegebenermaßen beachtlichen Kenntnisse über die Eroberungsfeldzüge der Römer nur noch eingeschränkt und vor allem theoretisch an die Schüler weiterzugeben.

Mochte er als Pädagoge auch noch so eine Fehlbesetzung gewesen sein, in Sachen Römisches Reich und allem, was dazugehörte, hatte ihm keiner so schnell etwas vorgemacht. Bei näherer Betrachtung hatte Max sogar viel von ihm gelernt, was ihm später im Studium ausgesprochen zugutegekommen war. Abgesehen davon hatte er bei Sattler immer gute Noten gehabt. Was nicht jeder seiner Mitschüler von sich behaupten konnte. Besonders der kleine Sascha, ein zarter, schüchterner Junge, der zu allem Unglück auch noch stotterte, hatte arg unter dem strengen Lehrer gelitten. Sattler zitierte ihn fast jede Geschichtsstunde vor die Klasse, um ihn aus »De Bello Gallico« vorlesen zu lassen, während er ihn genüsslich korrigierte und ihm eine Fünf nach der anderen verpasste.

Irgendwann war Sascha so fertig mit den Nerven gewesen, dass er sich Schlaftabletten von seiner Mutter gegriffen und mit einer halben Flasche Gin hinuntergespült hatte. Es war reiner Zufall gewesen, dass er rechtzeitig von seinem großen Bruder gefunden worden war, weil der sich bei seiner Rückkehr von einer nächtlichen Sauftour gewundert hatte, warum in Saschas Zimmer um zwei Uhr morgens noch Licht brannte.

Kurz nach diesem unschönen Vorfall zog die Familie nach München um – und Sattler wurde seitens der Schulleitung höflich, aber bestimmt der Vorruhestand schmackhaft gemacht. In seltener Eintracht hatten Lehrerkollegium und Schüler gleichermaßen erleichtert aufgeatmet, als er mit seiner schäbigen Aktentasche dem Kreisgymnasium ein für alle Mal den Rücken kehrte.

Während Max immer noch fassungslos auf die Leiche starrte, fiel ihm wieder ein, was ihm seine Mutter bei einem seiner letzten Besuche über Sattler erzählt hatte. Demnach war sein ehemaliger Geschichtslehrer nach dem Tod seiner Frau vor einem halben Jahr noch wunderlicher geworden und hatte immer häufiger zum Alkohol gegriffen. Einsam drehte er Tag für Tag seine Runden auf dem Friedhof, um ihr Grab zu besuchen. Nicht aus Sentimentalität, wie im Ort gemunkelt wurde, sondern weil sie aus naheliegenden Gründen nicht widersprechen konnte, wenn er Befehle wie »Ad arma!« oder »Movemini!« bellte. Nicht einmal ein Machtwort des Pfarrers, dem die Sache irgendwann zu bunt wurde, hatte Sattler von seinem Ritual abbringen können.

Mit der Zeit hatten sich die Friedhofgänger damit abgefunden, beim Pflegen der Gräber in lateinischer Sprache zum Strammstehen oder Abtreten aufgefordert zu werden. Die meisten von ihnen hörten eh schon nicht mehr so gut.

Auf wesentlich weniger Verständnis stießen hingegen Sattlers Bemühungen, im Ort für Recht und Ordnung zu sorgen, indem er der Polizei tatkräftig unter die Arme griff.

Max war immer noch felsenfest überzeugt davon, dass Sattler Oma vor einigen Jahren anonym wegen unerlaubten Drogenbesitzes verpfiffen hatte. Zum Glück war der damalige Polizeibeamte ein verständnisvoller Mann gewesen. Oma kam ohne Strafe davon, weil er den Begriff »Eigenbedarf« ausgesprochen großzügig ausgelegt hatte. Ihre kleine Cannabis-Plantage, die in der Wohnküche prächtig gediehen war, musste sie allerdings vernichten und das Versprechen geben, künftig nur noch Geranien zu züchten.

Soweit Max bekannt war, hatte sie ihr Wort gehalten. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, denn Oma hatte Geranien noch nie leiden können.

Trotzdem hatte sein früherer Lehrer so ein Ende nicht verdient.

»Max? Ist alles in Ordnung?« Lilli warf ihm einen fragenden Blick zu.

Endlich drehte er seinen Kopf zu ihr herum. »Hallo, Lilli. Echt schön, dich wiederzusehen. Allerdings hätte ich mir dafür schon etwas andere Umstände gewünscht.« Ihm fiel auf, dass ihre Augen immer noch gerötet waren.

»Ave, Caesar, morituri te salutant«, sagte sie feierlich. »Ave, Cäsar, die Todgeweihten grüßen dich.«

Bei Licht betrachtet passte die abgedroschene Phrase nicht so ganz zum Sachverhalt, der sich ihren Augen darbot. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, befand Max wider Willen amüsiert. Den Spruch hatte Lilli bestimmt aus einem Asterix-Heft. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie die Comics während der Schulzeit regelrecht verschlungen. Bevorzugt während der Mathematikstunden.

Zwischenzeitlich war auch der alarmierte Arzt erschienen. In der Hand trug er einen schwarzen Koffer, als wollte er verreisen. »Ich gehe davon aus, dass die Personalien des Toten bekannt sind«, wandte er sich an die Polizisten.

Beide nickten. Es war ihnen deutlich anzumerken, dass sie darüber nicht besonders glücklich waren. Sattlers Bemühungen, den Gesetzeshütern unter die Arme zu greifen, füllten im Neustädter Revier ganze Aktenschränke. Und jetzt hielt er sie selbst nach seinem Tod noch auf Trab.

»Na, dann wollen wir mal.« Der Arzt fackelte nicht lang und kniete sich neben Sattler ins Gras.

»Mon dieu«, murmelte die kleine Französischlehrerin schon wieder. »Mon dieu.« Ihre kurzsichtigen Eulenaugen begannen, hinter der Brille zu blitzen. So gut es ging, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, um ja nichts zu verpassen. Dabei geriet sie gefährlich ins Schwanken.