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Thomas Nowotny

Das Projekt
Sozialdemokratie

Gescheitert? Überholt?
Zukunftsweisend?

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Das Ende einer Ära

1. Die Sozialdemokratie verliert Macht und Ansehen

1.1 Der scheinbar unaufhaltsame Abstieg

2. Statt Gestaltungswillen: Taktische Anpassung an Bestehendes

2.1 Das SPÖ Parteiprogramm 1998 – die SPÖ will nicht länger eine linke Partei sein

2.2 Die einstige „Arbeiterpartei“ wurde zu einer profillosen „Partei der Mitte“

2.3 Auf dem „Dritten Weg“ in politische Beliebigkeit und Profillosigkeit

2.4 Ohne glaubwürdige „Wirtschaftskompetenz“ verwirkt die demokratische Linke den Führungsanspruch

3. Die traditionellen Ziele der Sozialdemokratie sind zukunftstauglich

3.1 Die Sozialdemokratie hat Gesellschaften vorangebracht – auch wirtschaftlich

3.2 Die Sozialdemokratie – die einzige österreichische Partei, welche glaubhaft für eine bessere Zukunft kämpfen könnte

4. Linke Parteien müssen sich an Programmen orientieren

4.1 „Linke“ politische Programme machen nur Sinn, wenn es Fortschritt hin zu einer besseren Zukunft geben kann. In der Vergangenheit ist Fortschritt in der Tat immer wieder möglich gewesen

4.2 Mit politischen Programmen gegen die intellektuellen Verteidiger des Bestehenden

4.3 Die fortschrittsgefährdende, lähmende neo-liberale Ideologie

5. Ungleichheit im Zugang zu bezahlter Arbeit, in Einkommen und Vermögen

5.1 Bezahlte Arbeit breiter verteilen

5.2 Die Unterschiede in Vermögen und Einkommen weiten sich – mit bedrohlichen Folgen

5.3 Chancengleichheit alleine schafft noch nicht die gerechtere Gesellschaft

5.4 Der „neue Klassenkampf“ einer verunsicherten, abstiegsbedrohten unteren Mittelschicht

5.5 Es gibt Platz für einen „linken Populismus“

6. Politik kann sich zunehmender Ungleichheit entgegenstellen

6.1 Was wäre eine „gerechte“ Verteilung der Einkommen?

6.2 Eine Verringerung der Unterschiede von „Primäreinkommen“

6.3 Zur ausreichenden Finanzierung des Staates und im Sinne von mehr Einkommensgerechtigkeit: staatliche Beteiligung an privaten Unternehmen

6.4 Mehr Einkommensgerechtigkeit durch Gewerkschaften

6.5 Umverteilung durch den Staat

7. Moderne gerechte Gesellschaften verlangen nach einem starken Staat

7.1 Die Aufgaben des Staates steigen – und damit der staatliche Finanzierungsbedarf

7.2 Wirtschaftswachstum und Lebensqualität

8. Wirtschaftliche Dynamik ist unerlässlich

8.1 Die Wirtschaft kann und wird weiterhin wachsen – wenn auch viel langsamer

8.2 Ohne Wirtschaftswachstum droht ein „Neo-Feudalismus“

9. Eine starke Wirtschaft – ohne ideologische Scheuklappen

9.1 Eine stagnierende Wirtschaft und die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche

9.2 Eine aktive Industriepolitik

9.3 In der Regel sollten Versorgungsunternehmen im öffentlichen Besitz stehen

9.4 Die Herrschaft der Aktienbesitzer

9.5 Banken sind Dienstleistungsunternehmen. Sie hätten als solche zu handeln

9.6 Ein neues Welt-Finanz- und Geldsystem

10. Österreich ist ein Einwanderungsland

10.1 Demografische Entwicklung/Einwanderung/Asyl

11. Eine Aufgabengerechte Ordnung der Verwaltung

11.1 Eine aufgabengerechte Reform staatlicher Einrichtungen

11.2 Raumplanung

12. Weltordnungs- und Europapolitik

12.1 Eine Weltordnung, in der enger, zerstörerischer Nationalismus überwunden ist

12.2 Neutralität und militärische Sicherheitspolitik

12.3 Zur Abwehr von Terror: Ruhe bewahren und sich nicht aus der Bahn werfen lassen

12.4 Anhebung der österreichischen Entwicklungshilfe und von Hilfe in internationalen Notfällen

12.5 Ein klares, großes Ziel: der Europäische Bundesstaat

13. Für gesellschaftlichen Zusammenhalt

13.1 Den Begriff „Heimat“ nicht der Reaktion überlassen

13.2 Urbanismus – Mietrecht

13.3 Schwerpunkt: Förderung im frühkindlichen Alter

14. Die drohende Aushöhlung von Demokratie und die Rolle von Medien und Parteien

14.1 Gefährdete Demokratie

14.2 Verstärkte Förderung eines qualitätsvollen, von Partei-Begehrlichkeiten geschützten öffentlichen Rundfunks

14.3 Die Sklerotisierung der Sozialdemokratie

14.4 Wende vor dem Abgrund? Für einen linken Populismus

Schlussbemerkungen

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis aller Boxen

Zum Autor

1. Die Sozialdemokratie verliert Macht und Ansehen

1.1 Der scheinbar unaufhaltsame Abstieg

Die Sozialdemokratie profitierte einst von der vollen Entfaltung des „industriellen Zeitalters“. Sie hat offenbar Schwierigkeiten, auch im „postindustriellem Zeitalter“ attraktiv zu bleiben.

Emporgetragen vom sozialen Aufstieg der Industriearbeiter und in Einklang mit einem durch das rasche Wachsen von Wohlstand gefestigten Zukunftsglauben, stand die Sozialdemokratie vor vierzig Jahren am Gipfel ihrer Macht. Damals – in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – schien die Selbstsicherheit der Sozialdemokratie auch wohl begründet. Die Wirtschaft war in dem vorhergegangenen Vierteljahrhundert rasch gewachsen. Dieses Wachstum war der Entfaltung der Industrie geschuldet. Die damals reicheren Staaten nannten sich demnach auch „Industrie-Staaten“. Sie unterstrichen damit die weit verbreitete Meinung, dass es ihr industrielles Potential war, welches sie von den ärmeren Staaten der Welt1 abhob. Mit diesem Prestige der industriellen Produktion und mit diesem Aufschwung der gesamten Nachkriegswirtschaft verband sich ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein der Industriearbeiter. Sie bildeten die „Kernschicht“ der Sozialdemokratie und waren deren verlässlichste Wähler.

Dank des schnellen Wachstums der Wirtschaft2 war der Wohlstand so rasch gestiegen, dass man daraus neben persönlichem Konsum und Investitionen unschwer auch die Tätigkeit des Staates und insbesondere staatliche Sozialmaßnahmen finanzieren konnte. Die Einkommensunterschiede waren relativ gering und die gesellschaftliche Solidarität demnach noch dicht. Der Staat, der einen durch die harten Kriegs- und Nachkriegsjahre gesteuert hatte, war geachtet. Die Behauptung, dass man das eigene Wohlbefinden nur durch ein Zurückstutzen des Staates steigern könnte, hätte damals nur wenig Zustimmung gefunden.

Ein „sozialdemokratischer Diskurs“ bestimmte allenthalben die Politik. Selbst konservative Parteien bekannten sich zu den sozialen Aufgaben des Staates. Ein ähnliches Bekenntnis kam damals in den USA von der dortigen linkeren Partei – den „Demokraten“. Ihr Präsident Lyndon Johnson hatte in dem von ihm erklärten „Krieg gegen die Armut“ die staatlichen Sozialausgaben stark ausgeweitet. Weltweit war die Währungs- und Finanzpolitik im Sinne des „Keynesianismus“ dadurch „links“, dass sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steuerte und auf möglichst hohem Niveau hielt.

Kurzum – es war das ein sozialdemokratisches Zeitalter und die Sozialdemokratie stand am Gipfel ihrer Macht. In Österreich erzielte sie im Jahre 1979 mit 51 Prozent der abgegebenen Stimmen den bis dahin größten Wahlerfolg ihrer Geschichte. Das war aber auch der Wendepunkt. Von dort aus ging es bergab – sowohl in den Wahlen wie auch in der Organisationsdichte und Prägekraft der Partei.

Abb. 1 – Ergebnisse der Nationalratswahlen der 2. Republik Österreich

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Quelle: Privatarchiv Thomas Nowotny

Die Entwicklungen seither scheinen die Vorhersagen Ralf Dahrendorfs über das herandämmernde „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“3 zu bestätigen.

Dennoch und trotz des nach 1979 andauernden Machtverlustes blieb die Sozialdemokratie in Österreichs weiterhin die stärkste politische Partei. In ihrem letzten Programm aus dem Jahre 1998 ließ sie sich sogar noch zur selbstgefälligen Feststellung verleiten, dass „die Sozialdemokratie zur größten politischen Kraft in Europa aufgestiegen ist“.

Diese Behauptung lässt sich heute nicht wiederholen. Überall in Europa ist die Sozialdemokratie auf dem Rückzug. Die skandinavischen Sozialdemokraten haben trotz ihrer erfolgreichen Sozial- und Wirtschaftspolitik laufend an Einfluss verloren. Die stolzen französischen Sozialisten sind hinter den Konservativen und den National-Populisten auf den dritten Platz zurückgefallen. In den neuen östlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist die Sozialdemokratie weitgehend verkümmert. Stark geschwächt ist sie auch in den südlichen Staaten der Union.

Der Niedergang in Österreich war dramatisch. Der 51-prozentige Anteil an Wählerstimmen, den sich die SPÖ im Jahre 1979 noch zurechnen konnte, ist in den Wahlen des Jahres 2013 auf die Hälfte geschrumpft. Die Anzahl der Parteimitglieder hat sich von einem Höchststand von 721.000 auf 243.000, also auf ein Drittel verringert4.

In Reaktion auf diesen Niedergang wollte man ihm durch eine Anpassung an den von Konsumstreben und Egozentrik bestimmten Zeitgeist entgegenwirken. Man meinte, das durch eine Preisgabe traditionell „linker“ politischer Ziele tun zu können. In einigen seiner wichtigsten Passagen dokumentiert das Parteiprogramm aus dem Jahre 1998 dieses Abrücken von einst zentralen Forderungen der Sozialdemokratie.

 

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1 Verständlicherweise wollten die ärmeren Staaten dieses Defizit an industriellem Potential rasch beseitigen. Dazu bedienten sie sich auch des Werkzeugs einer geplanten Wirtschaft. Diesem Streben entsprach im November 1966 eine Resolution der Vereinten Nationen mit der die jetzt in Wien ansässige UNIDO (United Nations Industrial Development Organisation) gegründet wurde.

2 Begünstigt wurde das rasche Wirtschaftswachstum durch einen Prozess des Aufholens nach dem Weltkrieg, aber auch durch den Anstieg der Beschäftigungsquote.

3 Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise, Stuttgart 1983, S. 16ff.

4 Jens Gmeiner, Matthias Micus, Der lange Weg zur Bewegungspartei, Die Zukunft 2/2015, S 22ff.

2. Statt Gestaltungswillen: Taktische Anpassung an Bestehendes

2.1 Das SPÖ Parteiprogramm 1998 – die SPÖ will nicht länger eine linke Partei sein

Einige Kernaussagen aus dem SPÖ Programm des Jahres 1998 belegen die versuchte Anpassung an einen durch Egoismus bestimmten Zeitgeist und die damit einhergehende Preisgabe einst zentraler politischer Forderungen

 

a) Im Paragraph mit der Überschrift „Gleichheit“ findet sich im Parteiprogramm der SPÖ aus dem Jahre 1998 folgende Feststellung: Wir wollen für alle Menschen Chancengleichheit … unabhängig von ihren … Einkommen“.

 

Gegen diese Forderung lässt sich wohl nichts einwenden, außer dass sie nicht weit genug geht. Unterschiede im Einkommen und Vermögen schaffen nämlich so große Unterschiede in Entfaltungsmöglichkeiten, dass diese durch nachfolgende Maßnahmen nicht korrigiert werden können. Das ist nicht eine bloß theoretische Vermutung. Das bestätigt auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Trotz staatlicher Maßnahmen zur Herbeiführung von Chancengleichheit hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich fast überall geweitet. Gleichzeitig wurde es für jene am unteren Ende der Einkommenspyramide schwerer, nach oben zu gelangen.

Allenthalben hat man versucht, dieser Abriegelung des sozialen Aufstiegs entgegenzuwirken – etwa durch Stipendien, welche jungen Menschen aus ärmeren Schichten den Zugang zur Universität ebnen sollten. Aber auch bloße Chancengleichheit hat man dadurch nicht hergestellt. Die kann es nur geben, wenn es zugleich auch ein höheres Maß an Gleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen gibt. Die Sozialdemokratie müsste eine solche effektive Gleichheit ebenso nachdrücklich einfordern, wie sie es früher und durch die längste Zeit ihrer Geschichte getan hat und bevor sie dieses Ziel aus politischem Opportunismus und der Furcht aufgegeben hat, als „Gleichmacher“ gebrandmarkt zu werden. Seither will sie mehr Gerechtigkeit auf einfachere Weise und sozusagen unter Anwendung homöopathischer Medizin erreichen. Gleichheit könne man auch schon dadurch schaffen, dass man Menschen die Hindernisse auf dem „Weg nach oben“ beseitigt. Gerade die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrt jedoch: Trotz des Bemühens um Herstellung von „Chancengleichheit“ werden aus Tellerwäschern selten Millionäre. In der schon weit, seit 40 Jahren, zurückliegenden Zeit von überaus raschem Wirtschaftswachstum und sehr tiefgreifendem gesellschaftlichem Wandel mag man der Hoffnung erlegen sein, dass dieses Ziel der Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede dadurch erreichbar wäre, dass man eine natürliche Dynamik walten lässt und alles beseitigt, was ihr entgegensteht und dadurch den „Aufstieg der Arbeiterklasse“ behindert. Diese Hoffnung beziehungsweise Illusion durchtränkte dann auch noch das SPÖ-Programm aus dem Jahre 1989, obwohl sich die Umstände damals bereits völlig gewandelt hatten und sich der „Aufstieg der Arbeiterklasse“ bereits in deren Abstieg verkehrt hatte. Der Ruf nach bloßer „Chancengleichheit“ lenkt aber nicht bloß vom Ziel ab, dieser Dynamik steigender Ungleichheit und Ent-Solidarisierung entgegenzuwirken. Das Schlagwort impliziert nämlich auch die Vorstellung, dass eine „leistungsgerechte“ Gesellschaft notwendiger Weise eine hierarchische ist und sein muss. Man könne es Menschen leichter machen, auf dieser hierarchischen Leiter nach oben zu klimmen, aber daran, dass es ein „Oben“ und „Unten“ gibt, daran könne man auch dann nichts ändern, wenn sich die Abstände zwischen den Sprossen dieser Leiter weiten (siehe dazu ausführlich der Abschnitt 5.3).

 

b)Ungezügelte Märkte lassen … gefährliche Kapitalakkumulation und neue Monopole entstehen“ (Paragraph II/2.3). Diese Formulierung im Parteiprogramm kann man unterschiedlich interpretieren. Sie kann entweder als Aufforderung an die Politik verstanden werden, den Märkten einen Rahmen zu setzen. Das wäre eine Feststellung von fortdauernder Gültigkeit. Man kann den Passus aber auch anders und dahingehend verstehen, dass es im Verhältnis zu den Märkten die ausschließliche Funktion des Staates sein sollte, auf diesen Märkten für freie Konkurrenz zu sorgen und durch gesetzliche Vorgaben das Entstehen von Monopolen, Oligopolen und Kartellen zu verhindern. Würde das geschehen, dann käme es auf den Märkten auch zu keinen die Wirtschaft und das soziale Gefüge belastenden Verzerrungen.

 

Falls diese zweite Interpretation die Absicht hinter dem Text besser erfasst, dann würde die Sozialdemokratie damit Leitbilder des konservativen „Ordo-Liberalismus“ übernehmen. Dieser erachtet es ja auch als die hauptsächliche Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass auf den Märkten die Konkurrenz frei und unbehindert ist. Der „Ordo-Liberalismus“ stellt diese Forderung gestützt auf die Ansicht, dass eine solche dann freie und durch den Staat freigemachte Konkurrenz das Entstehen von ungerechtfertigten „Rentengewinnen“ und damit eine ungerechtfertigte Anhäufung von Kapital unterbindet.

Die bisherige Entwicklung zeigt, dass dies nicht zutrifft. Denn staatliche Gesetze und Behörden können nicht verhindern, dass es zu einer Anhäufung von Kapital in den Händen jener wenigen kommt, die ohnehin schon genug davon besitzen. Unter den zur Zeit in der Wirtschaft und der Finanz herrschenden Bedingungen ist das unvermeidlich (Näheres dazu in Kapitel 5.2).

 

c) In völligem Gegensatz zu den bis dahin geltenden Glaubenssätzen der Sozialdemokratie plädiert das Programm 1998 mit der folgenden Forderung NICHT für die Vorherrschaft der Politik über die Märkte, sondern umgekehrt für eine Priorität der Märkte, wobei die Politik nur subsidiär und bei einem Versagen der Märkte tätig werden soll: „Wo die Bedürfnisse der Menschen durch den Markt nicht sozialgerecht befriedigt werden können … treten wir für die Bereitstellung der Leistungen durch die öffentliche Hand ein“ (Paragraph III/8). Der Staat dürfte also nur tätig werden, nachdem Märkte versagt haben, und auch dann nur ausschließlich aus sozialen Motiven.

 

Würde man diese Forderung ernst nehmen, so sollte es zum Beispiel nur private Universitäten geben, und die Aufgabe des Staates würde sich darauf beschränken, bedürftigen Studenten durch Stipendien den Zutritt zu diesen privaten Universitäten zu ermöglichen. Polizisten ließen sich weitgehend durch Wachdienste ersetzen; Soldaten durch Söldner; Autobahnen durch private Mautstraßen. Es gäbe kein öffentliches Radio und kein öffentliches Fernsehen.

 

d)Nur der Staat … kann insbesondere den Schwächsten in der Gesellschaft helfen“ (III.3.4). „Es muss darauf geachtet werden, dass tatsächlich denen geholfen wird, die in Notlage geraten sind. … Zur Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger gehört auch die Bereitschaft, im Rahmen der gegebene Möglichkeiten selbst vorzusorgen“ (III.3.5).

 

Nun ist es ohnehin allseits und auch von Konservativen akzeptiert, dass der Staat für schwache, in Notlage geratene Bürger sorgt. Aber aus dem Text ergibt sich doch mehr als diese Selbstverständlichkeit. Ziel des Sozialstaates wäre demnach fast ausschließlich diese Aufgabe, den Allerschwächsten der Gesellschaft zu helfen. Alle übrigen Bürger hätten von sich aus für ihre Absicherung gegen die Risiken des Lebens zu sorgen und dazu etwa private Kranken-, Lebens- und Pensionsversicherungen abzuschließen.5

Die Forderung, dass Sozialmaßnahmen ausschließlich den Ärmsten in der Gesellschaft zugutekommen sollen, entspricht nicht dem Ideal des Sozialstaates, so wie er in Zentraleuropa oder in den skandinavischen Staaten eingerichtet wurde. Es entspricht diese – für Österreich neue – Zielsetzung des Parteiprogramms aus 1998 vielmehr der dem britischen oder amerikanischen „Welfare State“ zu Grunde liegenden Philosophie. Der anglo-sächsische „Welfare State“ sieht seine Aufgabe eben hauptsächlich in der Hilfe für die Ärmsten. Der Wohlfahrtsstaat6 zentraleuropäischen und skandinavischen Zuschnitts hingegen zielt auf die Konsolidierung einer alle Schichten umfassenden Solidargemeinschaft (mehr dazu in einem späteren Abschnitt des Buches).

 

e)wir glauben nicht, dass der Rückzug des Staates ein Wert an sich ist. (aber) … wir sehen die Gefahr eines Übermaßes an Regulierung und Bürokratie … (III.8.2) … Es muss mehr Autonomie, Eigeninitiative und Entscheidungsverantwortung des und der Einzelnen geben (III.8.3). Bürgerinnen und Bürgern muss mehr Freiraum und Eigenständigkeit eingeräumt werden (III.8.4). Solche Forderungen machen nur dann Sinn, wenn deren Autoren davon überzeugt sind, dass der Staat überfordert wird; und dass viele seiner jetzigen Aufgaben an die Einzelnen, an die Privaten zurückübertragen werden sollen. Die Forderung kann also als eine nach „weniger Staat – mehr privat“ verstanden werden. Für die Linke wäre sie wohl nicht typisch.

 

f) Es lässt sich gewiss nichts gegen die Formulierung einwenden „wir wollen die SPÖ zu einer Plattform für die Beteiligung Jugendlicher im politischen Prozess entwickeln (III.6.5). Es wird hier nur deshalb auf sie verwiesen, weil durch sie ersichtlich wird, wie sehr die tatsächliche Entwicklung hinter den programmatischen Zielsetzungen zurückgeblieben ist7. Zur Zeit vertritt die SPÖ nämlich schwerpunktmäßig die Interessen der älteren Bevölkerung.

 

g) Ob Serviceleistungen – unter anderem jene von Versorgungsunternehmen – von öffentlichen oder privaten Unternehmen erbracht werden, das entscheidet sich, dem SPÖ-Parteiprogramm 1998 zufolge, ausschließlich nach jenen Kriterien, die auch in der Privatwirtschaft maßgeblich sind. Das öffentliche Interesse bei einer Entscheidung zwischen Staat und Privat beschränkt sich demnach auf die Einhaltung der für alle und auch für private Betriebe geltenden arbeits-, sozial- und umweltrechtlichen Vorgaben (II:8.14): „Ob Leistungen gemein- oder privatwirtschaftlich erbracht werden, ist danach zu entscheiden, wer bei vergleichbaren arbeits-, sozial- und umweltrechtlichen Bedingungen die Anforderungen in Bezug auf Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit am besten erfüllt.“

 

Nimmt man diesen Text wörtlich, so wäre es etwa bei der Entscheidung über den privaten oder öffentlichen Charakters eines Elektrizitätswerkes unerheblich, ob dabei Versorgungssicherheit besser oder schlechter garantiert wird. Industriepolitische und standortpolitische Überlegungen hätten keinerlei Stellenwert bei einer Entscheidung über den entweder öffentlichen oder privaten Charakter eines industriellen Leitbetriebes.

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Die obigen Punkte sind allesamt Belege für das Abrücken der österreichischen Sozialdemokratie von Programmpunkten, die ihr früher wesentlich waren. Die Textstellen betreffen nicht etwas Zweitrangiges. Sie signalisieren vielmehr eine grundsätzliche programmatische Neu-Ausrichtung. Was hat sie verursacht? Warum dieser Versuch, sich dem Zeitgeist anzupassen, statt ihn zu formen?

2.2 Die einstige „Arbeiterpartei“ wurde zu einer profillosen „Partei der Mitte“

Als das Programm des Jahres 1998 geschrieben wurde, war klar, dass traditionell linke Parteien an Einfluss verlieren. Die mit diesem Programm versuchte Neu-Positionierung entspringt dem Versuch, einen weiteren Abstieg der Sozialdemokratie dadurch zu verhindern, dass man als einstmals linke Partei nach rechts rückt und zur „Partei in der Mitte“ wird.

Durch diese Richtungsänderung sollten Wählerschichten angesprochen werden, die weder „rechts“ noch „links“ sein wollen und die daher gezögert hätten, für eine eindeutig „linke“ Partei zu stimmen. Denn es war für die Partei unumgänglich geworden, andere Gruppen als bloß ihre Stammwähler anzusprechen. Deren Zahl schrumpft und bietet einer Massenpartei nicht länger eine ausreichend breite Basis.

In der Zeit vor dem österreichischen Bürgerkrieg und dem Ende der demokratischen Ersten Republik war das Wort „Arbeiter“ noch Teil des Eigennamens der Sozialdemokratie. Sie nannte sich „Sozialdemokratische Arbeiterpartei – SDAP“. Diese Identifikation mit Arbeit und Arbeitern blieb auch nach dem Wiedererstehen der Partei im Jahre 1945 lebendig. Damals war das auch durchaus berechtigt. Denn in der Tat waren in der Nachkriegszeit die damals noch zahlreichen und politisch mächtigen Industriearbeiter die verlässlichen „Stammwähler“ der SPÖ. Doch mit dem fortschreitenden Wandel der Wirtschaft, mit der Automatisierung der Produktion und mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors verringert sich der Anteil der Industriearbeiter an der gesamten Wählerschaft.

Das einst so enge und automatisch vertrauensvolle Verhältnis zwischen Industriearbeitern und SPÖ begann sich einzutrüben. Die noch verbleibenden Industriearbeiter sind nicht länger allesamt Parteigänger der Sozialdemokratie. Gerade sie sind von den zahlreichen Veränderungen der Wirtschaft und von der damit einhergehenden Unsicherheit besonders hart betroffen. Sie, deren sozialer Aufstieg in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts so unaufhaltsam schien, gerade sie sehen sich nunmehr von sozialem Abstieg bedroht. Diese Unsicherheit und Furcht lässt ihnen die Vergangenheit besser als die Zukunft erscheinen. Misstrauen und Angst setzen sich an Stelle von Fortschrittsglauben und an Stelle der einstigen selbst- und klassenbewussten Zuversicht.

Zukunftsängste und Sozialdemokratie sind schwer vereinbar. Sie ist ihrem Wesen nach eine fortschrittsgläubige Partei und muss daher die Zuversicht ausstrahlen, dass die Zukunft besser ist oder besser sein könnte als die Vergangenheit. Angst treibt Menschen aber in die andere Richtung – hin zum Konservativismus und gelegentlich darüber hinaus zum Rechtsextremismus.

Das Wahlverhalten der Arbeiter bestätigt diesen Stimmungswandel. In den Arbeiter- Bezirken und Gemeinden Österreichs gelingt es nun schon seit mindestens 20 Jahren der rechtpopulistischen, nationalistischen und fremdenfeindlichen FPÖ, ehemals sozialdemokratische Wähler zu einer Änderung ihrer politischen Präferenzen zu veranlassen. Die FPÖ gewinnt Stimmen zu Lasten der Sozialdemokratie.

Österreich ist da kein Einzelfall und keine Ausnahme. Ähnliche Entwicklungen gibt es in fast allen reichen „postindustriellen“ Staaten. Britische Gewerkschafter hatten bei einer früheren Parlamentswahl statt wie üblich für ihre Labour Party (wörtlich übersetzt: „die Partei der Arbeit“) mehrheitlich für die rechts-konservative Regierungschefin Margaret Thatcher gestimmt. Sie taten das, obwohl sich Thatcher durch ihre Worte und Taten offen als Erzfeindin der Gewerkschaften profiliert hat. Ähnlich verhält es sich jetzt in Frankreich, wo die rechtsradikale „Front National“ von Arbeitern mehr Stimmen erhielt als die „Parti Socialiste“. Auch in den USA haben bei den letzten Präsidentschaftswahlen die (weißen) Industriearbeiter mehrheitlich nicht, wie durch lange Zeit üblich, die „linkeren“ Demokraten gewählt, sondern die extrem-konservativen „Republikaner“8, obwohl diese einen radikal anti-sozialen Kurs fahren, dessen Kosten vor allem die untere Mittelschicht, also auch die Industriearbeiter zu tragen haben.

Es sollte also nicht verwundern, dass sich, so wie in vielen anderen reichen und demokratischen Staaten, Arbeiter auch in Österreich von einer Linkspartei ab- und einer radikalen Rechtspartei zuwenden. Bei den österreichischen Nationalratswahlen im Jahre 2008 hatten die weniger qualifizierten Arbeiter bereits mehrheitlich für die FPÖ gestimmt.

Abb. 2 – Stimmanteile der SPÖ und FPÖ bei Arbeitern bei Nationalratswahlen von 1999 bis 2008

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Quelle: Profil, 41, 8. Oktober 2012

Der Irrtum ist weit verbreitet, dass es in der Politik hauptsächlich um materielle Interessen geht; darum, wer mehr oder weniger Steuern zu zahlen hat; oder darum, wer oder wer nicht staatliche Sozialhilfe erhalten soll. Natürlich ist das nicht nebensächlich und natürlich zählt das in der politischen Auseinandersetzung. In gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch ruhigen Zeiten können solche materiellen Fragen sogar im Vordergrund stehen. Das ist aber nicht der Fall, wenn die Gesellschaft und insbesondere die Industriearbeiterschaft, so wie jetzt, durch schnellen Wandel und seine unabsehbaren Folgen verunsichert ist. Status und Identität werden da in Frage gestellt. Das macht Angst und diese Angst fördert ihrerseits Aggression und die Suche nach Sündenböcken, denen man die Schuld an all dieser Unannehmlichkeit zuweisen kann. Minoritäten, Juden, Roma, Immigranten eignen sich vorzüglich für diese Rolle. Sie sind die offensichtlich „Anderen“, die einem schon bloß durch ihr Fremdsein bedrohen. Kann man Furcht und Aggression nicht an solchen Gruppen festmachen, dann wird sie auf anonyme Kräfte projiziert: auf die Machinationen einer fernen Bürokratie in Washington, Brüssel oder Wien; auf die „politischen Kaste“; oder schließlich überhaupt und undifferenziert auf das ganze „System“ – sei es das wirtschaftliche, sei es das demokratische.

Rechtspopulistische Parteien müssen solche Ressentiments lediglich aufnehmen und artikulieren. Anders als linke Parteien benötigen sie kein rational begründbares Programm darüber, wie sie die Zukunft gestalten wollen. Sie florieren im Treibhaus wachsender Unsicherheit und Angst. Dabei sind sie auf bedrohliche Weise erfolgreich.

Das erschütterte Selbstvertrauen und der unsichere Status der Arbeiterschaft ist freilich nur einer der Gründe für deren Abdriften aus dem „linken Lager“. Der Prozess wurde auch vorangetrieben durch Veränderungen in den Werthaltungen und in der Lebenseinstellung der übrigen sozialdemokratischen Wählern. Die Folge war eine gegenseitige Entfremdung, denn es haben sich in diesem übrigen Teil der sozialdemokratischen Wählerschaft Anliegen in den Vordergrund geschoben, die der Arbeiterschaft unverständlich sein mussten; oder die sogar in klarem Gegensatz zu den Wertvorstellungen standen.

BOX 1: Die Arbeiter verlieren ihre einstigen Verbündeten aus dem liberal/progressiven Bürgertum

In der Hainburger Au an der östlichsten österreichischen Flussstrecke der Donau hatten sich im Dezember 1984 Arbeiter jugendlichen Demonstranten entgegengestellt, die dort den Bau eines Kraftwerkes verhindern wollten. Wie hätten Arbeiter Sympathien für diesen Protest aufbringen sollen? Der Bau hätte Arbeitsplätze geschafft und das Kraftwerk wäre das letzte Glied in einer Kette österreichisches Donaukraftwerke gewesen. Es hätte billig, verlässlich und für lange Zeit Strom erzeugt und damit die Wirtschaft gestärkt. Ihren Widerstand und Protest konnten die Jugendlichen daher nicht mit wirtschaftlichen Argumenten begründen; aber auch nicht mit soliden umweltschützerischen Argumenten. Der Hainburger Au hätte die Errichtung des Kraftwerkes nicht geschadet, sondern genützt. Sie wäre durch die durch das Kraftwerk verursachte Anhebung des Grundwasserspiegels und die damit einhergehende stärkere Durchflutung langfristig besser gesichert worden, als sie es jetzt ist. Denn ohne Kraftwerk fließt die Donau dort schnell und die damit einhergehende Erosion des Flussbettes senkt dieses ab. Damit sinkt auch der Grundwasserspiegel und die Au trocknet aus.

Nach ökologischen Kriterien ist die Erzeugung von Elektrizität durch Wasserkraft die vorteilhafteste Art der Elektrizitätsgewinnung. Sie hat weniger schädliche Folgen für die Umwelt als die Erzeugung von Elektrizität durch Kohle- oder Gaskraftwerke, die dann an die Stelle des Donaukraftwerkes treten musste.

Es ging hier also nicht um einen echte Abwägung von wirtschaftlichen und/oder ökologischen Interessen. Den Jugendlichen ging es um die Symbolik eines Widerstandes gegen wirtschaftliche Sachzwänge und gegen das Prinzip der Wirtschaft als solches. Die Jugendlichen gewannen9. Die Arbeiter verloren. Die Sozialdemokratische Partei versagte ihnen die Rückendeckung und schlug sich schließlich auf die Seite der Protestierenden. Die Au wurde per Verfassungsgesetz geschützt und die Errichtung eines Flusskraftwerkes damit für alle Zeit ausgeschlossen10.

Hätte man jede der beiden Gruppen in der Au – die Arbeiter und die Protestierenden – gefragt, wie sie sich im politischen Spektrum zwischen „Rechts“ und „Links“ einordnen, so hätten sich wohl beide Gruppen als „Linke“ bezeichnet. Aber es war dennoch nicht länger möglich, diese beiden Gruppen unter dem Dach ein- und derselben Partei zusammenzuhalten. Ihre Interessen und die von ihnen vertretenen und symbolisierten Werte waren zu unterschiedlich. Die in der Au Protestierenden bildeten denn dann auch später den Kern der neuen „Grünen“-Partei. Heute sind die österreichischen „Grünen“, so wie Schwester-Parteien in anderen europäischen Staaten, fester und offensichtlich dauerhafter Teil der politischen Landschaft.

Wie die meisten Menschen, die unter weniger privilegierten Umständen leben, sind auch Arbeiter großteils konservativ in ihren Werthaltungen. Multi-Kulturalität etwa werden sie wohl weniger enthusiastisch begrüßen als sich „links“ gebende „bürgerliche Bourgeois“, die sogenannten BOBOs. Traditionelle Arbeiter befürworten mehrheitlich einen härtere Bestrafung von Kriminellen11 und Disziplin in den Schulen und bei der Kindererziehung. Solche Unterschiede in kulturellen Werten sind also ebenfalls Grund für die zunehmende Distanz zwischen zwei sozialdemokratischen Wählerschichten: zwischen der einst in der Partei dominanten Arbeiterschaft auf der einen Seite und auf der anderen eine wachsende Mittelschicht von ebenfalls Lohnabhängigen, die – zumindest bislang – in gesicherten und besseren Umständen leben konnten. Dieses schwer überbrückbare Auseinanderklaffen ist mitverantwortlich für die zunehmende Schwäche der Sozialdemokratie.

Auch die Verschiebungen im weltpolitischen Gefüge haben die Sozialdemokratie benachteiligt. Dem „kapitalistischen Westen“ war durch lange Zeit der „kommunistische Osten“ als Gegner gegenübergestanden. Dieser Gegner ist dem Westen abhanden gekommen. Zwar hatte diese Gegnerschaft zum Kommunismus das „westliche Lager“ konsolidiert12; und in diesem Sinne einer Gegnerschaft zum sowjetischen Machtanspruch waren auch die österreichischen Sozialdemokraten durchaus „westlich“. Aber andererseits sah sich der „reine Kapitalismus“ doch durch eine gegnerische Ideologie herausgefordert, die versprach, die Interessen der Arbeiter gegen die Interessen des Kapitals zu verteidigen und für jenes Gemeinwohl zu sorgen, das dem „reinen Kapitalismus“ oft nebensächlich scheint. Diese Drohung von „Links“ hat die Interessenvertreter der Wirtschaft und der Wohlhabenden zu Konzessionen an die übrige Bevölkerung motiviert13. Diese Motivation verschwand zugleich mit dem Verschwinden der von der Sowjetunion symbolisierten Alternative zur „kapitalistischen“ Ordnung. Für die Sozialdemokratie wurde es dadurch schwieriger, mit ihren Anliegen durchzudringen.

2.3 Auf dem „Dritten Weg“ in politische Beliebigkeit und Profillosigkeit

Auf dem von der europäischen Sozialdemokratie ab den 90er Jahren eingeschlagenen „Dritten Weg“ verwischen sich weitgehend die Abgrenzungen selbst zu konservativen Parteien. Die traditionelle „Linke“ rückte zur politischen Mitte.

Seit der Hochzeit der Sozialdemokratie in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts verengt sich die gesellschaftliche Basis der Sozialdemokratie. Es schrumpft die einstige Kernschicht an Stammwählern unter Industriearbeitern. Auf der anderen Seite lockert sich die Verbindung zu jenen Teilen der Mittelschicht von Angestellten und Akademikern, die bereit gewesen waren, die Sozialdemokratie “auf einem Stück ihres Weges zu begleiten“14, oder die sich ihr als Intellektuelle zur Seite gestellt hatten.

Das hat die österreichische und auch die europäische Sozialdemokratie dazu motiviert, die durch solche Entwicklungen bedingte Verkleinerung der bisherigen Wählerschaft durch Stimmgewinne unter solchen Bürgerinnen und Bürgern zu kompensieren, die sich bislang noch nicht mit den Anliegen der Sozialdemokratie identifiziert hatten. Um das zu erwirken, war man bereit, im Programm-Angebot vieles von dem aufzugeben, was bei solchen potentiellen Wählern Anstoß hätte erregen können.

Man meinte, sich dabei selbst von solchen Traditionen lösen zu müssen, welche der Sozialdemokratie bislang Zusammenhang und Identität geboten hatten. Im Werben um eine breite politische Basis suchten sozialdemokratische Spitzenpolitiker Stütze bei jenen sozialdemokratischen Kollegen, die sich aus einer ähnlichen Zwangslage in eine ähnliche Richtung bewegten. Die so entstandene Koalition umfasste den Regierungschef und Parteiführer der britischen Labour Party Tony Blair, den deutschen Regierungschef und Parteivorsitzenden Gerhard Schröder, den holländischen Parteiführer und Premierminister Wim Kok sowie dessen italienischen Kollegen Massimo d’Alema. Der österreichische Parteivorsitzende und Bundeskanzler Viktor Klima war ebenfalls, allerdings auf eher nachvollziehende Art, beteiligt.

In dieser Gruppe fungierte Tony Blair als ideologisch-programmatischer Schrittmacher. Ausschließlich auf seinen Einsatz ist die Einbindung des US Präsidenten Bill Clinton zurückzuführen. Aus Sicht der traditionellen Sozialdemokratie ist dieser transatlantische Brückenschlag recht überraschend. Denn es ist die amerikanische „Demokratische Partei“ des Präsident Clinton zwar die linkere unter den zwei amerikanischen Großparteien. In vielen Fragen – etwa zur Außen- und Wirtschaftspolitik – steht sie allerdings den europäischen Konservativen näher als der europäischen Sozialdemokratie.

Wäre das so entstandene transatlantische Programm wirklich umfassend und präzise umschrieben gewesen, dann wären dadurch auf beiden Seiten des Atlantiks beachtliche und innenpolitisch kostspielige Konzessionen notwendig geworden. Das ist vermeidbar, wenn man aus allzu Konkretem in wohltönende Beliebigkeit flieht. Unschärfe und Schwammigkeit charakterisiert denn auch über weite Strecken den „Dritten Weg“, auf den sich zahlreiche europäische sozialdemokratische Parteiführer geeinigt hatten, und denen sich streckenweise auch der damalige US-Präsident anschloss. Die neue Orientierung findet ihren Niederschlag in der Umbenennung der britischen Labour Party in „New Labour“ und die Umbenennung der amerikanischen Demokraten in „New Democrats“. In einem von Gerhard Schröder und Tony Blair am 8. Juni 1999 veröffentlichten Papier definieren sie ihre jeweiligen Parteien auch nicht länger und im Sinne der sozialdemokratischen Tradition als „moderat – links“. Das Wort „Links“ verschwindet überhaupt und wird ersetzt durch den Begriff einer „Neuen Mitte“15.

Vielleicht sollte man vermeiden, diesen Enthusiasmus für einen neuen Kurs als Ergebnis tiefschürfender, theoretisch-programmatischer Überlegungen zu deuten. Vielleicht war er nicht anders begründet und brachte er, nach den Worten des amerikanischen Intellektuellen Tony Judt, nichts anderes als einen „Opportunismus mit menschlichem Antlitz“16. Tony Blair selbst hat, über das Motiv für die Richtungsänderung befragt, dazu mit erstaunlicher und fast zynischer Offenheit eingestanden, dass es ihm in erster Linie darum ging, der europäischen „Linken Mitte“ den Machterhalt für viele lange Jahre zu sichern17.

BOX 2: Der „Dritte Weg“ – Flucht aus dem Zwang die eigene Position zu definieren

Dem Wortkonstrukt „Dritter Weg“ sollte man überhaupt und wo immer es verwendet wird, mit Skepsis begegnen. Es wirkt vernebelnd und wird wahrscheinlich gerade deshalb in der Politik gerne verwendet. In einem Verfahren der Triangulierung werden zunächst zwei unwahrscheinlich extreme Positionen konstruiert. Verständlicherweise stößt jede dieser beiden Extrempositionen auf breite Ablehnung. Wer wünscht sich zum Beispiel einen von keinen staatlichen Eingriffen gehemmten und durch keine sozialen Kompromisse gemäßigten Kapitalismus; oder, auf der anderen Seite, einen Kommunismus so extremer Art, dass es in ihm nur staatliche Gängelung gibt und keinerlei Raum für irgendeine Form individueller Entfaltung? Hat man einmal die Schreckbilder dieser beiden Extreme in den Raum gestellt, kann man sich leicht und zum allgemeinen Applaus als die dritte, moderate Alternative und eben als Kompromiss zwischen solchen Extremen darstellen.

Im Wesentlichen erklärt man so, was man nicht sein will. Das enthebt einen der Aufgabe, klar zu umschreiben, was man im positiven Sinn sein will. Überdies ist bei einer solchen „negativen“ Definition die eigene Identität weitgehend davon bestimmt, wie man die beiden Extrempositionen umschreibt, zwischen denen man zu liegen wünscht.

Bei dem von Tony Blair und seiner Gefolgschaft propagierten „Dritten Weg“ geht es jedenfalls nicht um einen Kompromiss zwischen Kommunismus und Kapitalismus, sondern um einen Kompromiss zwischen einem extremen, „reinen“ Kapitalismus und den ohnehin schon moderaten traditionellen Forderungen der zentraleuropäischen und skandinavischen Sozialdemokratie. Der „Dritte Weg“ ist also das politische Projekt, mit dem die Sozialdemokratie weiter nach rechts und näher an die Konservativen herangerückt werden sollte. Im Kernbereich der Wirtschaftspolitik geht das so weit, dass dabei sämtliche Unterschiede zu konservativen wirtschaftspolitischen Überlegungen verschwinden18. Charles Clarke, Unterrichtsund Innenminister unter Tony Blair, kommt nach seinem Ausscheiden aus der Regierung zur einer sehr kritischen Bewertung des „Dritten Weges: We should discard the technique of triangulation … which leads to the not unjustified charge, that we simply follow proposals from the Conservatives or the right wing media, so as to minimize differences and remove lines of attack against us. [Wir sollten uns von der Taktik des „Triangulierens“ verabschieden. Sie resultiert lediglich in dem nicht unberechtigten Vorwurf, dass wir den Vorschlägen der Konservativen und der rechtsgerichteten (Boulevard-)Medien einfach und in der Absicht folgen, die Differenzen zwischen ihnen und uns möglich gering zu halten und ihnen so keine Angriffsflächen zu bieten.]“19

Der ehemalige britische Minister ist also ebenfalls der Ansicht, dass sich hinter dem Schlagwort vom Dritten Weg hauptsächlich inhaltslose Taktik verbirgt. Aber auch bloßer Taktik lässt sich eine theoretisch-ideologische Hülle verpassen. Geschneidert hat sie der britische Soziologe Anthony Giddens20. Er betont die Bedeutung der sogenannten „Zivilgesellschaft“ und den Stellenwert persönlicher Verantwortung. „Linke“ mag die Einbringung solcher Überlegungen zunächst stören, bilden sie doch oft Grundlage konservativer Programme. Sie sind aber trotzdem Ausdruck einer Selbstverständlichkeit. Denn natürlich ruht jede politische Ordnung auf einer gesellschaftlichen Grundlage. Es ist das die Fähigkeit der Bürger, zusammenzuarbeiten und Anderen dabei den zu einer solchen Zusammenarbeit unabdingbaren Vertrauensvorschuss zu gewähren. Dieses Sozial- Kapital21 einer „Zivilgesellschaft“ bildet sich in einem langsamen Prozess. Erst wenn es möglich wird, Anderen zu vertrauen, wird man bereit sein, seine eigene Leistung in eine arbeitsteilige Wirtschaft einzubringen, oder seine Interessen und Vorstellungen in eine gemeinsame, alle verbindende Politik. Ist diese Voraussetzung einer funktionierenden Zivilgesellschaft nicht vorhanden, dann fehlt der politischen und wirtschaftlichen Ordnung die Grundlage. Diese Ordnung ist damit eine künstliche und brüchige22.

Ähnlich selbstverständlich ist der von Anthony Giddens so stark betonte Stellenwert persönlicher Verantwortung. Menschen und Bürger sind ja nicht bloß passive Opfer ihrer Umstände. Sie schaffen diese Umstände auch selbst und müssen dafür Verantwortung tragen. Eine arbeitsteilige Wirtschaft existiert, weil alle (oder zumindest die meisten) der an ihr Beteiligten eigene Leistungen in diese Wirtschaft einbringen. Das gilt auch für die Politik. Einen demokratischen Staat kann es nur geben, wenn sich die Bürger durch ihr eigenes Engagement und ihre eigene Leistung (z. B. durch Steuern) an ihm beteiligen.

 

Das sind – wie erwähnt – Selbstverständlichkeiten. Problematisch wird es aber dann, wenn man diese Selbstverständlichkeiten ideologisch überhöht und die andere Seite der Gleichung ausblendet. Denn wenn Menschen einerseits die gesellschaftlich-wirtschaftlichen und politischen Strukturen schaffen, so sind sie andererseits auch von diesen Strukturen abhängig und durch diese geformt23. In diesem Wechselspiel zwischen Zivilgesellschaft und persönlicher Verantwortung auf der einen Seite, und andererseits dem „Überbau“ wirtschaftlicher und politischer Einrichtungen bilden sich Gruppen, welche sich in ihrem Selbstverständnis, ihren Interessen und ihrer gesellschaftlichen Stellung voneinander unterscheiden. Es bilden sich gesellschaftliche Klassen.

In der Sicht der traditionellen Linken ergibt sich aus diesem Prozess eine Zweiteilung der Gesellschaft. Auf der einen Seite stünden die Lohnabhängigen. Auf der anderen Seite stünden die Kapitalbesitzer und die ihnen angegliederten Gruppen.

Anthony Giddens hält dieses Schema für überholt. Zwar gäbe es weiterhin den schwer zu leugnenden Gegensatz zwischen Arm und Reich. Aber in der heutigen Gesellschaft sei das nur eine von vielen Aufgliederungen in unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen oder Klassen. Wahrscheinlich sei diese Trennung in Ärmer und Reicher auch nicht jene mit den wirksamsten politischen Folgen. Die Sozialdemokratie müsse ihr Programm dieser neuen gesellschaftlichen Gliederung anpassen. Sie dürfe sich nicht länger ausschließlich als Sprachrohr und Interessenvertretung der Benachteiligten und Lohnabhängigen inszenieren. Für eine Massenpartei sei das heute eine zu schmale Basis.

Eine allzu enge und ausschließliche Bindung an diese Gruppen von Benachteiligten und Lohnabhängigen sei auch deshalb untunlich, weil diese dazu neigen sich als Opfer des Systems zu definieren. Wenn dann „ihre Partei“ bereit ist, das anzuerkennen und ihnen bedingungslos Transferzahlungen zukommen zu lassen, ermuntert diese Partei ihre Gefolgschaft zu Passivität und zu unbegrenzten weiteren Forderungen. Sie erniedrigt sie überdies, denn durch solche bedingungslose Transfers werden die von ihnen Begünstigten von selbstbestimmten Bürgern zu Almosenempfängern degradiert.

Ähnliches verkünden Konservative ja schon lange und es wäre dennoch auch für „Linke“ falsch, das Körnchen von Wahrheit zu übersehen, das hinter solchen Thesen steckt. Es ist eben gefährlich, alle Unzulänglichkeiten nur dem „System“, seinen Fehlleistung und seiner Ungerechtigkeit zuzuschreiben und die Bürger aus ihrer Verantwortung für Teilnahme und der Gestaltung des Systems zu entlassen.

1)   Es schadet zum Beispiel der Gesellschaft, aber auch den so Begünstigten, würde man allen, die das wünschen, ein Mindesteinkommen zukommen lassen, ohne dass diese zu irgendeiner Eigenleistung oder Arbeit verhalten wären.

2)   Es hätte auch üble Folgen, würde man Eltern sämtlicher Verpflichtungen für das Aufwachsen ihrer Kinder entheben.

 

Die Gesellschaft käme also zu Schaden und den Menschen wäre nicht geholfen, würde man von diesen nicht auch persönliche Anstrengungen zum Erhalt der Gesellschaft einfordern. Es tragen Individuen daher Verantwortung sowohl für ihr eigenes Schicksal wie auch für das Gesamtwohl der Gesellschaft. Aber diese Verantwortung hat Grenzen, denn auf der anderen Seite und in viel höherem Ausmaß ist der Einzelne auch von der Gesellschaft abhängig. Schaden, der durch ein Versagen des „Systems“ entsteht, kann daher nicht dem einzelnen Bürger angelastet werden.

Giddens stellt sich nicht dieser Frage nach einem Versagen des Systems. Er untersucht nicht, ob – vor allem am wirtschaftlichen – System etwas grundsätzlich falsch ist. Höchstens konzediert er, dass – aus welchen Gründen auch immer – Unterschiede in Einkommen entstehen. Vom Staat könnten diese Unterschiede ein wenig abgeschliffen werden. Aber damit hätte es auch schon seine Bewandtnis; denn ohnehin sei kein anderes politisch-wirtschaftliches System denkbar, in dem solche Unterschiede in Einkommen und Wohlstand um vieles geringer wären. Das herrschende Wirtschaftssystem sei daher legitim. Es ist wichtig, dass es sich entfaltet; und das könnte dann in optimaler Weise geschehen, wenn die Politik es vermeidet, in die Mechanismen der freien Wirtschaft einzugreifen.

Der „Dritte Weg“ zielt also nicht darauf ab, das „System“ den Menschen anzupassen; sondern umgekehrt, die Menschen dem System. Dessen Sachzwänge könnten nicht umgangen werden. Der Staat könne bestenfalls dafür sorgen, dass alle zum wirtschaftlich-sozialen Wettlauf antreten können. Dass es in diesem Wettlauf dann Sieger und Verlierer gibt, das liegt im Wesen eines Wettlaufs und kann daher auch nicht verhindert werden. Der Staat soll und kann nicht für Gleichheit im Ergebnis des Wettlaufs sorgen.

 

2.4 Ohne glaubwürdige „Wirtschaftskompetenz“ verwirkt die demokratische Linke den Führungsanspruch

Im „Dritten Weg“ hat die Sozialdemokratie keine eigenständige, von der Konservativen unterschiedliche Wirtschaftspolitik entwickelt. Das war ein schwerwiegender Fehler: Gerade angesichts der fortdauernden wirtschaftlichen Probleme verliert sie jeglichen Führungsanspruch, ja jede Legitimität, kann sie für diese Probleme nicht glaubwürdige Lösungen anbieten.

Die Sozialdemokratie war oft in der Irrmeinung verfangen, von schweren wirtschaftliche Krisen begünstigt zu sein. In solchen Krisen würden die Schwächen des existierenden Systems offenkundig. Wähler würden sich für die von der Sozialdemokratie angebotenen Alternativen erwärmen. Die Marxisten unter den frühen Sozialdemokraten hatten sogar vermutet, dass es in einer schweren „Endkrise“ des Kapitalismus automatisch zu einem „Kippen“ des Systems und zur proletarisch-sozialistischen Revolution kommen würde. Die Geschichte hat das widerlegt. Die schwere Wirtschaftskrise in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte nicht den Sieg der Sozialen Demokratie begünstigt, sondern in vielen Staaten Europas die Machtergreifung autoritär-faschistischer Regime.

Die zum „Dritten Weg“ verkümmerte Sozialdemokratie konnte sich in der wirtschaftlich wohltemperierten Zeit um die Jahrtausendwende noch politisch behaupten. Insbesondere seit der im Jahre 2008 einsetzenden wirtschaftlichen Stagnation beschleunigt sich ihr Niedergang. Sie wird von Krisen also nicht begünstigt. Von ihnen profitieren vor allem ihre konservativen, beziehungsweise populistisch-nationalistischen Gegner.

In solchen Krisenzeiten finden sich Menschen von existentiellen Ängsten bedrängt. Sie sehnen sich vor allem nach Sicherheit. In Änderungen, die ihnen von linken Parteien versprochen werden, sehen sie nur die Risiken von Experimenten mit ungewissem Ausgang. Auf das Experiment einer Reise in eine versprochene, bessere Zukunft lässt man sich nur ein, wenn man die Reise vom Hafen einer gesicherten Existenz aus antreten kann. Den Hafen verlässt man aber nicht bei stürmischem, unvorhersehbarem Wetter. Wirtschaftliche Schwäche und Unsicherheit nützt linken Parteien nicht. Sie schadet ihnen.

Zu Ängsten über die künftige wirtschaftliche Grundlage der eigenen Existenz gesellen sich heute andere, durch den beschleunigten Wandel der Lebensumstände verursachte. Man ist verunsichert durch die Lockerung von primären sozialen Bindungen in der Familie und in der kleinen Gemeinschaft. Man ist verunsichert durch das Einstürmen von Fremden, wenn man zum Beispiel in Bus und Straßenbahn nur eine fremde Sprache hört. Man ist verunsichert durch den härter werdenden Druck im Wettlauf um einen Status, der nicht länger abgesichert ist etc.