Wer wir sind.

Eine Annäherung

Meine Urgroßmutter ist eine kleine Frau. Wenn andere Menschen sagen „eine kleine Frau“, dann meinen sie mich, die gerade um einen Zentimeter die magischen Einssechzig nicht mehr geschafft hat. Wenn ich sage, meine Urgroßmutter wäre eine kleine Frau, dann heißt das, ich könnte ohne Probleme mein Kinn auf ihren Kopf legen. Früher war sie einmal größer. Das Problem an früher ist, dass ich da kleiner war. Ich weiß zwar nicht, ob Einstein seine Urgroßmutter noch kannte, aber ich nehme es stark an. Der Relativität wegen.

Ihr Name war Anna. Sie stand in der offenen Tür der Luftwache in Karnabrunn und griff abwesend nach dem Hütchen ihrer Wehrmachtsuniform, um es zurecht zu rücken. Ohne sich die Hand vor den Mund zu halten, gähnte sie lange und versuchte, die Augen dabei nicht zuzumachen. Draußen war es mittlerweile hell geworden, ein rosa Schein am Horizont, ungefähr in der Richtung, in der Wien liegen musste. Ihre Schultern schmerzten vom langen Wachbleiben, doch erst in sechs Stunden würde ihr Dienst vorbei sein. Keine Flugzeuge. Im Nebenraum lagen sechs andere Mädchen auf ihren schmalen Betten. Eine stand am Horchturm oben und versuchte, die zufallenden Augen offenzuhalten. Keine von ihnen war älter als einundzwanzig, denn wer einundzwanzig war, der musste an die Front. Ein halbes Jahr war sie nicht mehr zu Hause gewesen, doch es machte ihr nichts aus. Als die Sonne stieg, wurde es langsam warm und die Schläferinnen wurden unruhig. Sie blinzelte. War dort ein dunkler Punkt, der sich bewegte? Zuerst kniff sie die Augen zusammen, dann riss sie sie wieder weit auf. Angestrengt horchte sie nach dem dumpfen Brummen von Fliegermotoren. Sie sah zum Mädchen am Horchturm hinauf, das winkte ab. Es war nichts.

Wenn der Dienst zu Ende war, dann schlief man. Nach zwölf Stunden in den Himmel starren und horchen waren die Sinne überreizt, sodass man jedes Geräusch lauter wahrnahm, jeder Schatten einen aufschreckte. Die Bewegungen der Kameradinnen unter ihren Bettdecken, das leise Atmen, die gedämpften Stimmen derer, die eben ihren Dienst angetreten hatten vermischten sich mit den ersten Bildern des Halbschlafes. Sie hatte das Sitzen nicht mehr ausgehalten.

Ein drittes Mädchen trat neben sie. Die vierte der Schicht saß hinter dem Fernrohr. Sie drehte sich einmal im Kreis und verharrte immer wieder, um lange in eine Richtung zu starren. Es war ruhig. Aber man durfte nicht nachlassen.

Beim Mittagessen wurden mit vollem Mund die Erlebnisse des Vortages ausgetauscht, man war nach Klosterneuburg gefahren, im Kino gewesen. Die eine hatte im Dunkel des Kinos die Hand eines Soldaten gehalten, er hatte nach ihrem Knie gegriffen. Verhaltenes Lachen am Tisch. Annas Großmutter sagte immer, wer es mit den Männern hielt, der bekäme ein Kind. Ein lediges Kind war nichts, was sie sich erhoffte. Wer seinen eigenen Vater nicht kannte, brauchte nicht auch noch ein Kind, das nur eine Mutter hat. Sie kaute stumm und betrachtete die glühenden Wangen des braunhaarigen Mädchens, das erzählte.

Wenn die Sirene ging und alle in die Keller liefen, die Bürokräfte ihre wertvollen Schreibmaschinen in Sicherheit schleppten, dann blieben sie stehen und sahen in den Himmel. Wochenlang hatten sie gelernt, die Flugzeuge voneinander zu unterscheiden, Freund und Feind, Schulflugzeug und Bomber. Die Form, der Klang. Von fern konnten sie die Einschläge der Geschosse hören, nachts das Mündungsfeuer sehen. Wenn alle anderen liefen, unterdrückten sie den Impuls loszurennen und nahmen stattdessen Papier zur Hand, um alles zu notieren. Wie viele Flugzeuge, welcher Typ. Woher sie kamen und wohin sie verschwanden. Die Mädchen standen dicht, sodass sich ihre Schultern berührten. Scherzte eine, klang das Gelächter dünn und schrill. Bis es wieder vorbei war.

Die Tasse für den Tee muss ich mir selbst aus dem Küchenkasten holen. „Bleib sitzen“, sage ich. Meine Urgroßmutter trohnt auf ihren Polstern wie ein alt gewordener Geist aus Tausendundeiner Nacht. Die orangen Brillengläser, die eigentlich nur zur Sichtkorrektur eingefärbt sind, lassen mich immer wieder an Woody Allen denken. Obwohl in meinem Kopf kein konkretes Bild von Woody Allen existiert. Die Kunststoffoberfläche des Tisches, an dem wir sitzen, war die Bühne für die Mittagessen meiner frühen Kindheit. Ich weiß nicht mehr wann, ich weiß nicht mehr warum. Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann. Wir waren zu dritt, also konnte man nicht allzu weit abgeschlagen werden und schaffte es, selbst wenn man sich beim Essen Zeit ließ, immer noch in den Adelsstand. Heute würde ich vielleicht sagen, dass man so etwas mit Kindern nicht spielen sollte. Vom Aufessen werden sie fett und vom ewigen Kämpfen um den Adelstitel nicht gerade demokratisch erzogen. Aber Kinder denken nicht über solche Dinge nach und es hat mir und meiner Einstellung zur Gesellschaft auch nicht geschadet, im Fasching als Prinzessin verkleidet zu sein. Genauso wenig wie das Spielen mit Puppen mich nicht in einen typischen Frauenjob gedrängt hat. Ich sage zu ihr „Erzähl mir von früher“, und ich sehe in ihr Gesicht, in dem nicht nur die Augen, sondern auch Haut und Mimik müde geworden sind. Sie schüttelt leicht den Kopf, die Locken ihrer Dauerwelle sitzen nicht mehr ganz richtig im dünn gewordenen Haar. Wofür ich sie von Anfang an mochte war, dass sie nicht in die Kirche ging. Sie sagt immer, in die Kirche würden nur alte Weiber laufen, die Angst vor dem Sterben hätten. Jetzt zittert sie ein wenig beim Sprechen.

Es war Nacht. Das Abendessen war lange her und der Hunger schlich durch ihren Bauch, ein feiner, ziehender Schmerz. Aber dieser Hunger war nichts gegen den, der ihre Kindheit bewohnt hatte, denn nun wusste sie, das Frühstück würde kommen und es würde genug sein, ausreichend um ihren Magen zu füllen, denn nichts war schlimmer als zu wenig Essen auf den leeren Magen, der dann nach mehr verlangte und nichts mehr bekam. Die Nahrungsmittel, die ihre Großmutter von den Bauern erbettelt hatte, Tag für Tag. Ein Löffel Schmalz, ein paar Kartoffeln. Sie, das hungrige Mädchen, zum Nachbarn Äpfel suchen geschickt, die ihr nicht gehörten. Es war zu dunkel, um mit freiem Auge etwas erkennen zu können, ein paar Wolken vor dem Mond. Der Wachmann, der nur nachts hier war, alt, mit dünn über dem Gesicht verteilten grauen Bartstoppeln, war eingeschlafen und schnarchte pfeifend. Man schlief nicht im Dienst. Man durfte nicht schlafen. Wer schlief, wurde erschossen. Aber es war nicht zu dunkel für die Flugzeuge. Das Mädchen neben ihr hatte die Knie angezogen und die Arme um die Beine gelegt, es wippte hin und her und summte eine Melodie. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach, die sich hauptsächlich um das Frühstück drehten, aber auch um das Bett und um die Freizeit. Von Zeit zu Zeit war ein Geräusch vom Horchturm herunter zu hören, ein Strecken oder ein Seufzen. Das Hin- und Hertreten müder Füße.

Das Mädchen neben ihr schnippte eine Zigarette aus ihrer Packung und hielt sie ihr hin. Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Obwohl sie wusste, dass es lächerlich war, befürchtete sie, ein Pilot könnte von oben das Glimmen der Glut erkennen und sie erschießen, genau ins Herz. Oder mitten in die Stirn.

Als sie das Motorengeräusch hörte, dachte sie zuerst, es wäre nur in ihrem Kopf, ein tiefes Summen, das sich immer weiter steigerte. Vielleicht fühlte sich Wahnsinn so an. Doch auch das andere Mädchen neigte den Kopf und horchte. Suchend sahen sie in den dunklen Himmel und dann sich gegenseitig an. Sie pressten die Hände wie Schirme vor ihre Stirnen und drehten sich langsam im Kreis.

„Da!“, rief das Mädchen vom Horchturm herunter.

„Siehst du es?“

„Ja“, sagte sie. „Aber was für eines?“

„Ich weiß nicht genau. Es sieht aus wie ein Schulflieger.“

„Bist du sicher?“

„Nein.“

„Ich glaube aber auch.“

„Wirklich?“

Wieder sahen sie sich an. Das Flugzeug kam näher.

„Aber es herrscht Flugverkehr.“

„Ja. Es muss landen.“

Sie lief in den Raum und riss eine Schublade auf, warf zwei Kugeln zu Boden, bevor sie die richtigen fand.

„Gib sie mir.“

Das andere Mädchen lud die Pistole durch und richtete sie gegen den Himmel. Mit einem lauten Zischen stieg die Kugel hoch und erleuchtete die Nacht gelb. Gleich darauf begann das Feuer.

„Das Fahrwerk war falsch!“, schrie sie auf, als sie sich zu Boden warf.

„Was?“

Der Lärm war so laut, dass sie sich gegenseitig nicht mehr verstehen konnten. Nur noch die einschlagenden Geschosse waren zu hören, die Erde rund um sie spritzte hoch. Sie robbte in den Raum und griff nach der roten Kugel. Der Rückstoß war fast nicht zu spüren. Im roten Schein konnte sie das Flugzeug wenden sehen. Wieder hörte sie nur noch Schüsse. Doch die Leute am FLAK hatten die rote Leuchtkugel gesehen und die Maschinen begannen ihre Arbeit. Als es vorbei war, hielt sie sich noch eine Zeitlang die Ohren zu. Dann saßen sie atemlos, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

„Kein Schulflugzeug“, sagte das andere Mädchen.

„Das Fahrwerk war nicht eingezogen“, gab sie ihr recht.

Das Mädchen am Horchturm schwieg.

Am nächsten Morgen besahen sie die Einschusslöcher in den Wänden.

Ich habe nicht nur eine Urgroßmutter, sondern zwei. Natürlich habe ich biologisch gesehen wie jeder andere eigentlich vier Urgroßmütter, aber Kinder definieren „haben“ als „Diese Person ist noch am Leben“. Meine andere Urgroßmutter ist nicht ganz so klein, allerdings verbringt sie nicht mehr soviel Zeit in stehender Haltung, daher fällt es auch weniger auf. Das letzte Mal als ich sie sah, hat sie mich gefragt, wann ich nun endlich heiraten würde. Und dann gleich angefügt, dass ich genau jetzt, wo sie im Bett liegen bleiben müsste, aber sowieso nicht heiraten dürfe, sondern erst wieder, wenn sie dabei sein könne. Dass ich studiere, war ihr weniger wichtig. Die Zimmernachbarin meiner Urgroßmutter im Altersheim versteckt sich, wenn ich auf Besuch komme, am Gang. Meine Urgroßmutter kann sie nicht leiden. Wer im Bett liegen bleiben muss, der kann auch nicht weglaufen. Der Fernseher im Zimmer gehört auch der anderen. Aber meine Urgroßmutter sagt, sie möchte gar nicht mehr fernsehen, auch die Zeitung möchte sie nicht haben. Das einzige, was sie noch ein wenig interessiert, sind Bücher.

Es ist der nächste Tag. Die Frau im weißen Krankenbett vor mir habe ich nie gekannt. Ich kenne sie jetzt noch nicht. Ich sage Uroma zu ihr, weil sie es nun einmal ist. Sie hat ihren Sohn begraben und ihre Tochter wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Manchmal sage ich „Meine Urgroßmutter ist eine Halbspanierin“, um meine Stimmungsschwankungen als Temperament zu erklären. Ansehen kann man ihr das nicht mehr, ihre Haare sind schon lange nur mehr hellgrau und die Farbe ihrer Haut verschwindet in den vielen feinen Fältchen. Es kann sein, dass sie ein wenig dunkler ist. In meiner Geburtsurkunde steht irgendwo bei meiner Mutter der Name, den uns diese spanische Verwandtschaft beschert hat: Martinez.

„Wie ist eigentlich dein Vorname?“, höre ich mich sie fragen.

Ich hätte sie gerne gefragt. Aber man kann nicht fragen. Nicht eine Frau, die in meinem Leben nie da war. Ich erfinde mir eine Urgroßmutter, eine, die ich mögen kann, ganz ohne sie zu kennen, eine, die ich mögen kann, trotz allem.

Der Krieg war gerade vorbei, als sie an einer Landstraße saß und dem Staub nachsah, den die fremden Panzer aufwirbelten. Sie kauerte sich zusammen und rieb sich Erde in ihr Gesicht, damit man sie in Ruhe ließe. Im Keller des Hauses in der Stadt, in jener Hälfte davon, die noch stand, saßen die Eltern ihrer besten Freundin seit zwei Tagen auf ihrer Tochter, die dort unter einer Decke lag. Sie holte tief Luft und atmete den Geruch der von den Panzerrädern zerwühlten Erde ein.

Meine andere Urgroßmutter bewahrt ihr gesamtes Bargeld in einem kleinen durchsichtigen Plastiksäckchen in ihrer alten schwarzen Handtasche, die nicht aus echtem Leder ist, auf. In ihrem Doppelzimmer im Altersheim, dort wo jeder es sieht und jeder hinkann. Das ist sicherer als die Bank, sagt sie und lacht, dass man sehen kann, dass sie ihre falschen Zähne nicht trägt. Das Lachen ist kurz.

Ich starre auf den fast verwelkten Glücksklee am Küchentisch. Dass man fast erschossen wurde, erzählt sich nicht so leicht, dachte ich. Aber es ist fünfundsechzig Jahre her.

„Als Hitler gekommen ist“, sagt meine Urgroßmutter, „da hatten wir das erste Mal genug zu essen.“

Ich sehe sie an.

„Warum?“, frage ich sie und ich erwarte etwas, das man vielleicht damals mögen konnte an diesem Mann, etwas, das mich verstehen lässt, wa­rum Österreich seine Hand nur zum Gruß erhoben hat und nicht zur Verteidigung.

„Weil die Soldaten in unserem Hof gelagert haben.“

Ich warte noch immer.

„Wir haben mit ihnen gegessen, jeden Tag.“

Ich sehe ein Mädchen, gerade dem Volksschulalter entwachsen, das wartet bis das Gedränge der Männer um den Kessel vorbei ist, um sich dann die Schüssel füllen zu lassen. Diesem einen Mädchen kann ich nicht böse sein.

„Aber wenn du ein Buch schreibst“, sagt meine Urgroßmutter, „dann hätte ich dir mehr lustige Geschichten erzählen sollen. Aber ich kenne keine.“

Sie denkt nach.

„Doch. Ja, einmal, da hat der Fellner Franzi sich übergeben müssen und dabei sein Gebiss in den Kanal gespuckt.“

Ich lache. Ich weiß nicht, wer der Fellner Franzi ist.