Cover

Kerstin Hensel

Das verspielte Papier

Über starke, schwache und
vollkommen mißlungene Gedichte

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© 2014 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-13391-7
V002
www.penguinrandomhouse.de

Wodurch gibt sich der Genius kund?
Wodurch sich der Schöpfer

Kund gibt in der Natur, in dem unendlichen All.

Klar ist der Aether und doch von unermeßlicher Tiefe;

Offen dem Aug, dem Verstand bleibt er doch ewig geheim.

(Friedrich Schiller)

Und schneller drehn sich in der Welt die Dinge

Um die es, ginge es um noch was, ginge.

(Rainer Kirsch)

für Rolf (1935–2013)

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

TEIL 1

ZÜNDUNGEN

RATIO UND RÄTSEL

OHRENFÄLLIGES: DER REIM

GEBUNDEN FREI SEIN

VOM SPRINGEN UND WENDEN

BILDERWERKSTATT

WAS GEBRAUCHT WIRD

NEBELKRÄHE –
AUSFLÜGE UND AUSFLÜCHTE

BEDEUTUNG UND DEUTUNG:
GOETHE GEDREHT

KÜHLER KOPF UND HEISSER DRAHT

VIBRIERENDE EXISTENZEN

DAS VERSPIELTE PAPIER

TEIL 2

EIN KNOCHEN FÜR MAMA
Kunst & Kitsch

ICH ZWITSCHERE EINEN
MIT MEINEM SCHNABEL
Naturlyrik

DES MORGENS NÜCHTERNER ABSCHIED
Lyrik & Liebe

WO GOTTVATER WIE EIN
WERWOLF HAUST
Gott & Gedicht

SO KOCH ICH HEUTE
SCHMOR ICH MORGEN
Märchen & Mythen

ÄNGSTCHEN UND
WELTUNTERGÄNGELCHEN
Poesie & Politik

SIND SIE NICHT PFUI TEUFLISCH
ANZUSCHAUEN?
Lyrik & Lachen

DIE DEPPERNDE OEDE FRAU DOOD
Mundart im Gedicht

PF PF PFLO K N
Aus der Spielkiste der Poesie

GRENZÜBERGÄNGE. ZWISCHENNOTIZ
Das gespielte Gedicht

ARGH! ICH KÖNNT
RASIERKLINGEN KOTZEN!
Poetry Slam (Spoken Word Poetry)

… FEST IM GRIFF ALTER MAUERN
Vers & Tradition

UNTENRUM MIT HUSCHELWAR’
Gedichte für Kinder

DAS LEBEN IST EIN GEDICHTE
Gedichtgedichte

ANHANG

NAMENSVERZEICHNIS

KLEINES GLOSSAR

WEITERFÜHRENDE LEKTÜRE (Auswahl)

DANK

VORWORT

Der Plan zu diesem Buch entstand nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Lyrik. Sowohl als Verfasserin von Gedichten, als auch als Leiterin von Schreibwerkstätten, Schuldiskussionen, Lehrerfortbildungsseminaren und als Poetikdozentin an Universitäten und Hochschulen habe ich die Erfahrung gemacht, daß vielen Leuten, selbst wenn sie mit Lyrik sympathisieren, deren Wesenskern, der Zusammenhang von Komposition und Wirkung verschlossen bleibt. Stets verharren die gleichen Fragen im Raum: Was ist eigentlich ein Gedicht? Wie unterscheidet man ein gutes von einem schlechten? Was braucht man zum Lyriklesen und -schreiben?

Gedichte gelten in unserem Land als schwierig. Alles was schwierig ist, sortiert der Markt aus, denn es verkauft sich nicht. Oder der Markt definiert, wechselnder Mode folgend, Seichtes zu Tiefsinn bzw. Tiefsinn zu Seichtem um und vertreibt es als Ramsch. Gedichte sind Kunstwerke. Sie dürfen schwierig sein. Autor und Leser kommen nicht umhin, das poetische Handwerkszeug zu kennen und, sich an der Wirklichkeit reibend, eigenständig denkend und empfindend mit dem Kunstwerk auseinanderzusetzen. Das ist Arbeit. Das Ignorieren aller Gesetze ist keine Arbeit, zumindest wenn man die Gesetze nicht kennt. Beim Lyrikschreiben und -lesen sollte man sich also als Erstes die Frage stellen: Was will ich vom anderen, was von der Welt? Möchte ich simplen Spaß haben? dem Kitsch und Klamauk frönen? oder will ich etwas erkennen, begreifen und radikal anders sehen?

Es scheint jedoch, daß im Zeitalter der Globalisierung, (Multi)Medialisierung und Popkultur in beinahe allen Künsten allgemeingültige Maßstäbe verloren gegangen sind. Inhaltliche und formale Begrenzungen, die eine produktive Freiheit erwirken – soetwas empfinden heutige Markt- und Meinungsführer wie einen Keulenschlag aus der Steinzeit. Stattdessen gibt es die Maßgabe, jegliche Form zu ignorieren, jegliche Wahrnehmung zu relativieren. Einsichten, Erkenntnisse, gar Festlegungen gelten im gegenwärtigen Kunstbetrieb als altbacken-diktatorisch und werden oft mit großem theoretischem Brimborium für tot erklärt. Alles heißt es, ist möglich, also gleichermaßen gültig wie ungültig. So behauptet jeder, der künstlerisch tätig ist, ganz er selbst und frei zu sein. Das täuscht. Jemand, dessen Lyrikverständnis sich auf Urgroßmutters Poesiealbum gründet und keinen Schritt weiter geht, ist genausowenig frei, wie jemand, der im postmodernen Textspektakel die alleinige Berechtigung des Zeitgemäßen sieht. Da sich ständig alles zu wandeln scheint, glauben viele Lyriker, an ihrem Dahingeschriebenen nicht mehr arbeiten zu müssen. Das Sehen offenen Auges, das Finden einer Idee, die Suche nach passenden Worten, das Bemühen um den richtigen Ausdruck – alles mühseliges Zeug zum Abgewöhnen?

Das verspielte Papier will weder eine neuartige Poetik, noch ein Nachschlagwerk der Lyrikgeschichte und schon gar nicht eine Abrechnung mit dem Kunst- und Kulturbetrieb sein. Das Buch versteht sich als Einladung zur lustvollen und kritischen Auseinandersetzung mit Dichtkunst. Es ist gedacht für Schüler, Eltern, Lehrer, Studenten, Zirkelleiter, Schreibanfänger, Hobbydichter, Lyrikliebhaber und alle, die bereit sind für eine Entdeckungsreise ins Reich der Poesie.

Ich bin mir der Gefahren bewußt, die eine mehr oder weniger didaktische Handreichung über den Umgang mit Lyrik mit sich bringt, weil ich die Schwierigkeiten von Verführung und Abweisung von Texten kenne. Bei der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Lyrik bin ich, wie fast alle, die sich damit beschäftigen, befangen. Viele meiner Kollegen, auch Literaturtheoretiker, würden so ein Buch anders schreiben. Zahlreiche Poetiken, Postulate und Lyrikleitfäden gibt es schon, davon einige, auf die ich mich berufe. Trotz der Vermutung, daß Belehrendes und Eingrenzendes heutzutage kaum eine Lyrikmaus hinterm Ofen hervorlockt, hoffe ich, nach meiner Art, dem Leser nahebringen zu können, warum es in manchen Winkeln der Dichtung leuchtet, in anderen ausweglos finster bleibt. Meine ästhetischen Kriterien sind aus der Lektüre der Weltliteratur entstanden. Lyrikkenner und -könner mögen über mein Unternehmen lächeln.

Gegenwärtig wird viel lyrisch Anmutendes geschrieben und wenig Lyrik gelesen. Und, wie gesagt, behauptet einer zu wissen, was ein Gedicht ist oder sein soll, bekommt er von vielen Seiten sogleich Gegenwind. In der Tat ist die Wesensbestimmung von Lyrik, wie die aller Kunst, stets uneinheitlich und dem Wandel der Zeiten unterworfen. Schon vor mehr als 2000 Jahren, als der römische Dichter Horaz in seiner Lehrschrift »De arte poetica« der Frage nachgegangen war, was den Dichter zum Dichter macht, flogen unter den Disputanten die Fetzen. Horaz setzte nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl als literarisches Kriterium. Mit neuer Sicht auf alte Meister zurückgreifend wollte Horaz den Geschmack verständiger Leser bilden, Dillettanten, Nachahmern, Modepoeten das Handwerk erschweren und echte Begabung auf ihrem harten Weg ermuntern.

Auf deutschem Boden ergründeten Gelehrte vor zirka 600 Jahren das erste Mal theoretisch die Baugesetze der Verse. Auch dieser Versuch geschah nicht in friedlichem Einvernehmen, sondern brachte Streit und Sticheleien mit sich. Jede Epoche kämpfte ihre eigenen Kämpfe um das Was und Wie in der Kunst. Es waren Machtkämpfe. Heute ist es nicht anders: ob blitzgescheite Archepoeten, naive Reimeschmiede, beckmesserische Verspädagogen, lyrische Allesfresser, erleuchtete Genien oder Vertreter des unendlich erweiterten Kunstbegriffes (Lyrik-ist-auch-Leberwurst) – jeder will Recht behalten. Ich mache Angebote.

TEIL 1

ZÜNDUNGEN

Wir schreiben, und die

auf alles einen Reim finden,
führen das Wort wohin?

Gabriele Berthel

Als Kleinkind war ich eine schlechte Esserin. Meine Mutter entdeckte, daß ich, wenn sie mir ein Lied vorsang oder ein Gedicht aufsagte, den Mund öffnete und mich problemlos füttern ließ. Bald wollte ich ohne die mütterlichen Darbietungen keinen Bissen mehr zu mir nehmen. Reim und Rhythmus wurden zum Grundbedürfnis für mich. Meiner Mutter sei Dank, daß sie mir dieses geduldig erfüllt hat. Mit fünf Jahren hatte ich mir selbst Lesen beigebracht, allerdings anhand von Frakturschrift: Jungmädchenschrott und Liederbücher aus der Kaiser- und Nazizeit, die ich auf Großvaters Dachboden fand. Ich spielte mit meinen Gummiindianern und skandierte:

Es zittern die morschen Knochen

Der Welt vor dem roten Krieg…

Wir haben den Schrecken gebrochen,

Für uns wars ein großer Sieg…

Hans Baumann, 1932

Irgendetwas faszinierte mich an diesen Zeilen. Nach dem Rhythmus ließ sich prima auf dem Teppich stampfen, die O-Worte klangen wie Zaubersprüche aus meinen geliebten Hexenmärchen. Bei morschen Knochen dachte ich an Suppenknochen und Schälrippchen, die Vater in der Küche zubereitete. Bei Wir haben den Schrecken gebrochen sah ich Leute vor mir, die sich erbrechen mußten, wie ich es bei Mandelentzündungen tat. Ich verstand nur nicht, warum Mutter, als sie mich eines Tages beim Spielen überraschte, die Opa-Bücher wegnahm und verfeuerte.

In der Schule war ich keine Streberin, aber in den Fächern Lesen und Schreiben ohne Konkurrenz. Den größten Teil meiner Freizeit hockte ich über Büchern, die ich wahllos und begeistert schmökerte. Meinen Deutschlehrer in der Oberschule verblüffte ich mit Aufsätzen, die von mir im Stile Dostojewskis geschrieben waren. Von Schulbuchgedichten bekam ich kaum mehr mit, als daß wir sie auswendig lernen mußten: Goethes »Prometheus«, Erich Weinerts »Genosse John Schehr«, Heinrich Heines »Weber«. Ich rezitierte fehlerfrei aber ohne Verstand. Als ich sechzehn war reimte ich – aus welchem Anlaß auch immer – Verslein über den Frühling und den Frieden. Ich schickte sie der Zeitung »Junge Welt«, dem Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend. Dort gab es eine Wochenkolumne unter dem Titel »Poetensprechstunde«, wo junge Lyrik vorgestellt und besprochen wurde. Der Chef der Kolumne, Dr. Edwin Kratschmer, nahm sich meiner Versuche an und schrieb:

Liebe Kerstin Hensel, was Sie augenblicklich »Dichten« nennen: Man wähle ein Thema, suche dazu eine Reihe von beschreibenden oder bebildernden Sätzen und bringe sie u.U. in ein Reimschema. Etwa das probate Thema Herbst, zu dem bereits in jedem Schullesebuch entsprechende Klischeebeispiele vorgeprägt sind. Es stören Sie dabei auch nicht geblähte Wendungen (»im Herzen seines Schaffens«) oder Sprachvergewaltigungen (»sich jetzt Natur und Mensch verändern«), wenns nur dem Reim nützt. Ähnlich verhält es sich mit »Nacht«. In »Frühlingsanfang« ist wenigstens etwas von der Dialektik Kampf-Widerstand enthalten. In »Schön ist die Erde« wird schulaufsatzmäßig das Thema Frieden recht oberflächlich versifiziert. Sie sagen eigentlich nur, was man schon oft gehört hat. Doch wenn Sie von der Erde sprechen, dann ignorieren Sie bitte nicht, was es darauf noch an Veränderungswürdigem gibt: Hunger, Not, Haß, Mord, Unterdrückung… Zu »Du möchtest groß sein«: Sie verfügen über ein naives/ungebrochenes und doch schon fatalistisches Denkklischee: »warte nur, balde kommt jemand, nimmt dich an der Hand und zeigt…« Was sich in Ihren Texten also offenbart: noch zu geringe Weltsicht, ein bescheidener Erfahrungshorizont. Ich möchte ihn Ihnen recht lange bewahren!!! Aber Kunst kann man damit nicht schaffen.Versuchen Sie sich weiter, zum Eigenbedarf vorerst, doch vielleicht wächst wirklich ein richtiges Gedicht aus einer Sache, über die Sie etwas zu sagen haben. Mit freundlichen Grüßen…

Es war meine erste Kritikermaulschelle. Dr. Kratschmer empfahl mir eine Vorstellung im Zirkel Schreibender Arbeiter, ein Relikt des Bitterfelder Weges. Bei verantwortungsvoller Leitung konnte solch ein Zirkel, den es in jeder Bezirksstadt gab, für junge Autoren durchaus wegweisend sein. Meine Zirkelleiterin übertraf Kratschmers Kritik, indem sie mir die Augen öffnete und erstmal zwei wichtige Dinge beibrachte: Sehen und Lesen. Sie wies mich an, offen und kritisch durch die Welt zu gehen und gab mir Lektüre, die sie mir in völlig neuer Art erklärte: u.a. von Ingeborg Bachmann, Georg Büchner, Volker Braun, Bertolt Brecht, Franz Fühmann, Ernst Jandl, Günter Kunert, Heiner und Inge Müller. Auch hörte ich von dieser Zeit an Musik, die die ganze mich umgebende Schlager-, Operetten- und Folklorewelt zum Einsturz brachte: Klassik, Jazz, Blues und die wunderbar subversiven Lieder von Wladimir Wissotzky, Janis Joplin, Georg Kreisler, Wolf Biermann oder »Zupfgeigenhansl«.

Im Zirkel Schreibender Arbeiter erfuhr ich meine poetische Zündung. Mit dem Sehen und Lesen lernte ich: Zuhören, Kritisieren, Kritik einstecken, Diskutieren, Spotten. Ich übte poetisches Handwerk und vor allem: bewußtes Leben. Schreiben wurde für mich Rettung vor dem Wahnsinn des Alltags. Wie viele von uns schrieb ich aufbegehrend gegen die offizielle geist- und tonlose Sprache dieser Zeit. Nicht weil ich, die »schreibende Krankenschwester«, Schriftstellerin oder gar Dichterin werden wollte, sondern weil ich frech, neugierig und abenteuerlustig war, bewarb ich mich am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig. Ich besuchte das Institut von 1982–1985. Es bot mir, neben einigen ideologischen Scharmützeln, die ich auszufechten hatte, eine Reihe wichtiger Begegnungen mit Schriftstellern und Künstlern. Vor allem bot es mir Zeit. Zeit, in der ich lesen konnte.

Eine zweite Zündung für mein Poesieverständnis war 1985 die Begegnung mit Karl Mickel. Ein Freund hatte ihm Texte von mir zugesteckt. Der in Ostberlin lebende Dresdner Dichter bestellte mich zu sich, rauchte dicke Zigarren und öffnete die bei mir bislang verschlossenen Fenster zur klassischen Literatur. Mickel war berühmt und berüchtigt (beides zu Recht) und wurde mein wichtigster Lehrer. Seine kühnen welthaltigen Gedanken, doch auch sein apodiktisches Beharren auf Normen der Dichtkunst beeindruckten und beeinflußten mich sehr. Von 1988 an erhielt ich von Mickel eine Privatausbildung zur Poetik-Assistentin an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Es war für mich eine aufregende Lern- und Lehrzeit. Erst nach dem Tod des Argusauges Karl Mickel im Jahr 2000, wurde mir bewußt, daß es für mich auch eine etwas eingeschränkte Freiheit wiederzuerobern galt: die der eigenen, meiner Natur entsprechenden poetischen Entdeckungslust.

RATIO UND RÄTSEL

Kunst ist Form. Formen heißt Entformeln.

Kurt Schwitters

Was ist ein Gedicht? Jede Behauptung, was Kunst sei oder nicht, fordert Gegner heraus. Gewiß auch jene: es gäbe einen benennbaren Unterschied zwischen Prosa und Lyrik. Ein Gedicht besteht aus Versen, Prosa aus Zeilen – diese Aussage ist ein alter Hut, der auf gegenwärtigen Lyrikmodeschauen nur noch selten getragen wird. Der Hut scheint zu eng, aber ich vermute, viele sind nur nicht mutig genug, ihn – nach eigener Fasson – zu tragen.

Um den Unterschied Lyrik – Prosa zu verdeutlichen, spiele ich ein Thema in verschiedenen Sprachvarianten durch. Ich wähle »Selbstmord«.

In der Umgangssprache, die zur unmittelbaren Verständigung im Alltag dient, könnte das Selbstmord-Thema so klingen:

Haste von der schrecklichen Jeschichte jehört? die Peschke-Lisa hat sich jestern Abnd selbst um de Ecke jebracht. Liegt bei der inne Familie. Schon dern Jroßmutter hat sich offjehängt und dern Tochter, auch dern Söhne sin alle irjendwie hops jegangen. Ick vamute, det kommt, weil die ham früher mal am Moor jewohnt, und du weeß ja, wie sowat is…

Umgangssprache (mit oder ohne Jargon), die sich von der Standardsprache durch das Sprachniveau unterscheidet, ist die ungeformteste und ungenormteste aller Varianten. Sie gibt Auskunft über die soziale Schicht des Redenden. Umgangssprache ist keine Kunst, kann aber, bewußt eingesetzt, ein wichtiges Stilmittel sein. Auch im Gedicht.

Eine Zeitungsmeldung will eine breite Leserschaft auf allgemeinverständliche Weise über das Thema informieren, bzw. darüber berichten:

Am Abend des 23. Juni 1996 entdeckte ein Passant eine leblose Person am Ufer der Spree. Nach Ermittlungen der Polizei handelt es sich um die 54-jährige Lisa Peschke. Sie hat Selbstmord begangen und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie ihre Lebenssituation als nicht mehr tragbar schildert…

Texte im Lexikon oder einer wissenschaftlichen Schrift werden in Fachsprache verfaßt. Das Thema wird sachlich, ohne Emotionen, Phantasie oder sonstige sprachliche Ausschmückung erörtert:

Suizid (lat.: sui caedes ›Tötung seiner selbst‹), auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod, ist das willentliche Beenden des eigenen Lebens, sei es durch beabsichtigtes Handeln oder absichtliches Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen.

Bis hier hin ist alles Prosa, die unser Thema unterschiedlich, jedoch kunstfern behandelt. Kunst beginnt mit der künstlerischen Gestaltung der Sprache, d.h. sie verläßt die unmittelbare Informationsebene und somit die eindimensional wahrgenommene Realität:

An der dunkel, ins Nächtliche fließenden Spree, eine halbe Stunde entfernt vom Kino, aus dem ich an einem Novemberabend gekommen war, stieß mein Fuß plötzlich auf etwas weiches, tierhaftes, was da am Ufer lag. Ich erstarrte. Ich wagte nicht, mich zu bücken und nachzusehen, was mir im Weg lag. Schließlich tat ich es doch und sah: eine Frau, vielleicht fünfzig Jahre, in einem grauen, schäbig zerrissenen Mantel. Sie war tot. Sie lag da, so traurig und unheimlich war ihr erloschener Blick…

Das war erzählende Prosa: Epik. In der epischen Literatur werden die Dinge be-, das Thema somit umschrieben, Stimmungen geschaffen, Spannung erzeugt, also alles, was wir in Romanen, Erzählungen, Reportagen usw. finden. In der Epik leitet uns der Blick des Autors durchs Geschehen. Er will nicht mehr nur informieren, sondern andere Dimensionen des Erkennens schaffen.

Ebenfalls Prosa, aber mit lyrischen Einsprengseln, heißt dichterische Prosa. Sie kommt, wie die epische, in Zeilen daher, arbeitet aber mit komprimierten Bildern, ausgeprägtem Sprachrhythmus und oftmals eigenwilliger Syntax:

An der dunkel nächtlich verfließenden Spree, stößt der Fuß auf weiches Ufergetier. Erstarrung und Furcht! was seh ich, was schneidet den Weg mir ab, da liegt sie: die Tote, im grauen schäbigen Kleid. Sie liegt, als hätte sie selbst sich gerichtet, so traurig, unheimlich der erloschene Blick…

Zu allen Zeiten gab es die Mischung der Gattungen untereinander: Prosa mit Elementen der Lyrik, Lyrik mit Prosaelementen, lyrische Dramatik, epische Dramatik, dramatische Lyrik. Mischformen klingen interessant, gaukeln aber mitunter nur tiefere Bedeutung vor. Aus diesem Grund sehe ich die Erweiterung der Gattungen, ihre begriffliche Unbestimmbarkeit nicht immer als Bereicherung.

Wir erreichen nun die gebundene Sprache, das Genre Gedicht:

Lisa Peschke, welch ein Unglück,

nahm sich einen dicken Strick.

Hatte schon immer Pech im Leben:

Krieg, alle Söhne tot und vieles ging daneben.

Auch das Moor, wo sie wohnte, war für sie nicht gut,

Nun ist Lisa Peschke tot.

Was daran ist ein Gedicht? Der Text sieht aus wie ein solches und reimt sich. Formal kommt er als Gedicht durch – freilich als miserables: es fehlen die poetische Idee, sowie jegliches Sprach- bzw. Rhythmusgefühl. Das Metrum holpert, die Reime sind Mißklang, die Weltsicht ist naiv, und zum Thema Selbstmord erfahre ich: nichts.

Selbstmord

Aber bei der lag es in der Familie

Sie wohnten früher am Moor

Der Großmutter fiel regelmäßig

Ein Bild von der Wand wenn wieder

Ein Sohn gefallen war.

Sarah Kirsch, um 1970

Hier geht es um mehr als um eine Selbsttötung. Aber worum? Ich frage. Ich spüre, daß dieser Text, bei aller Einfachheit der Worte, ein Geheimnis in sich birgt. Dieses Geheimnis ist, was ein gutes Gedicht ausmacht. Der Dichter schafft es, der Leser muß es erkunden. Dieser Erkennungsprozeß soll Spaß machen, sonst ist die schönste Poesie nichts wert. Gewiß ist eine Interpretation, besser Gedichtanalyse, ein bißchen wie Rätselraten, aber Rätselraten gilt als eines der ältesten Menschheitsvergnügen, und es gehört zur poetischen Ursubstanz.

Schon das erste Wort verwundert. Es heißt Aber. – Aber bei der lag es in der Familie. Wer äußert so etwas wie über wen? Aber klingt wie eine hilflose, aber ahnungsvolle Erklärung eines unbestimmten lyrischen Subjektes. So könnten beispielsweise Klatschweiber hinter vorgehaltener Hand wispern. »Es liegt in der Familie« ist eine Redewendung. Man äußert sie über jemanden, in dessen Familie seit Generationen besondere Leistungen oder besondere Unglücke nachzuweisen sind. Es schwingt der Unterton mit: die kann ja nichts dafür, daß es ist, wie es ist: also schicksalhaft. Ohne, daß das Gedicht die gesellschaftliche Stellung der Betroffenen benennt, sondern nur durch das abfällige Wörtchen der (statt sie) ahne ich, daß die Person von den Klatschweibern schon länger beäugt wird.

Vers 2 gibt eine zweite Ursachenvermutung: Sie wohnten früher am Moor. Am »Moor wohnen« erinnert mich an Moorleichen, Irrlichter, Nebelgeister, Sumpffieber, arme Torfstecherseelen. »Moor« ist symbolisch verwandt mit »Sumpf«. In der Traumdeutung begegnet einem der Sumpf als Sinnbild des Unbewußten. »In der Familie liegen« und »am Moor wohnen« – das sind für die Klatschweiber Indizien, daß eine fatalistische Macht Frau Nachbarin zum Suizid verholfen hat.

Ab Vers 3 arbeitet das Gedicht mit der Wirkung von Zeilensprüngen: Der Großmutter fiel regelmäßig / Ein Bild von der Wand wenn wieder / Ein Sohn gefallen war. Im inneren Auge sehe ich eine düstere Kate, in welcher eine alte Frau wohnt. Daß wie von Geisterhand Bilder von der Wand fallen, ist mir unheimlich, doch ich beruhige mich: das Moor hat’s in sich, da kann doch keiner dafür. Erst der letzte Vers löst das Rätsel: die Söhne der Frau sind gefallen. Nicht hingefallen, sondern im Krieg gefallen. Da gibt es nichts mißzuverstehen. Der Krieg ist die eigentliche Ursache des Unglücks von Generationen.

Die Bilder, die der Großmutter von der Wand fallen, lassen mehrere Deutungen zu: auf der ersten Ebene sind es die üblichen Bilder, die Mütter in Kriegszeiten an der Wohnzimmerwand hängen hatten: kitschige Landschaften, Fotos der Männer und Söhne, vielleicht Dürers »betende Hände«. Aber auch der Kaiser oder das Bildnis Adolf Hitlers hing in vielen Stuben. Jedes Mal …wenn wieder / Ein Sohn gefallen war, fielen der Mutter also nicht nur die realen Bilder von der Wand, sondern auch das Führerbild, also: ihr Weltbild. Bei jedem toten Sohn brach es ein Stück mehr in Scherben. Trösteten sich viele Kriegsmütter bei der ersten Nachricht über einen gefallenen Sohn noch mit dem zynischen Begriff Heldentod, war es beim zweiten schon nicht mehr so. Spätestens beim dritten »für Volk und Vaterland« Gefallenen erwachten die meisten Mütter. Da war es zu spät. Da wollten sie selbst nicht mehr leben.

Aber bei der lag es in der Familie, unken die Klatschweiber im Gedicht. Das heißt im Fazit: Nicht der Krieg hat Schuld am Unglück, das über die Familie kam, sondern das allmächtige Schicksal, die Vorsehung, die vererbbare Veranlagung, das böse Moor. Die Klatschweiber zeigt Sarah Kirsch in subtiler Weise als jene Leute, die nichts aus der Geschichte begriffen haben.

Die Erkundung des Gedichtes Selbstmord ist, bei aller Ausführlichkeit, nur eine Teilerkundung geblieben. Keine mathematische Formellösung, sondern meine Wegweisung zum Verständnis. Das Gedicht, weil es nichts beschreibt oder ausspricht, arbeitet im Kopf des Lesers weiter. Kommt er ihm auf die Spur, wird es ihn bezaubern und erschrecken. Daß Sarah Kirsch ein gutes Gedicht vorgelegt hat, beweist, daß es auf kleinstem Raum viel zu entdecken, zu denken und zu enträtseln gibt.