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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Monika Ridinger

ADHS und Sucht im Erwachsenenalter

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023938-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024059-9

epub:    ISBN 978-3-17-024060-5

mobi:    ISBN 978-3-17-024061-2

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Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

    Track 1:   Grundlagen und Interventionsansätze

    Track 2:   Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

    Track 3:   Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom ist primär eine klassische Erkrankung des Kindes- und Jugendalters und damit eine Herausforderung für Kinder- und Jugendpsychiater, Kinderärzte, Lehrer und natürlich die Eltern und Angehörigen. In den letzten Jahren hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass insbesondere die schweren Fälle von ADHS sich nicht einfach »auswachsen«, sondern mit etwas veränderten Symptomen und Problemen in das junge und dann auch spätere Erwachsenenalter übergehen. Diese Tatsache ist unter dem Blickwinkel der Suchtentwicklung höchst bedeutsam, denn ADHS-Patienten sind in besonderer Weise gefährdet, Substanzen auszuprobieren, Risiken nur begrenzt einschätzen und bewerten zu können, stets für neue Reize offen zu sein und auch oft die Folgen ihres Tuns nicht richtig zu überblicken. Dies führt dazu, dass bei einem Drittel aller Jugendlichen mit ADHS eine Suchtgefährdung vorliegt und hier dringender Handlungsbedarf besteht.

Monika Ridinger stellt in ihrem Buch die ungünstige Konstellation einer ADHS-Erkrankung und einer Suchterkrankung dar, wobei zu bedenken ist, dass auch noch weitere sog. Komorbiditäten wie beispielsweise die Depression oder die Angsterkrankung hier eine wichtige Rolle spielen. Es bedarf also eines umfassenden Verständnisses des ADHS mit seinen vielfältigen Zusatzproblemen, um die entsprechende Suchtthematik adäquat angehen zu können. Monika Ridinger ist seit vielen Jahren in diesem Sektor wissenschaftlich, klinisch und beratend tätig und blickt auf eine große Zahl an Patienten zurück. So gelingt ihr eine Kombination aus wissenschaftlicher Basis und klinisch-praktischer Anwendung, die dem Leser bzw. der Leserin in diesem komplexen Feld eine Richtschnur sein wird. Die Herausgeber sind davon überzeugt, dass Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von ADHS-Patienten mit Suchterkrankungen hiermit gut unterstützt werden.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

 

Inhalt

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Fallvignetten
  4. 3 Allgemeine und klinische Epidemiologie des ADHS
  5. 3.1 Prävalenz des ADHS im Kindesalter
  6. 3.2 Prävalenz des ADHS im Erwachsenenalter
  7. 3.3 Prävalenz von ADHS und Sucht
  8. 3.4 ADHS und substanzungebundene Abhängigkeiten
  9. 4 Klinik, Verlauf und Prognose des ADHS
  10. 4.1 Symptome des ADHS in der Kindheit
  11. 4.2 Symptome des ADHS in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter
  12. 4.3 ADHS und weitere psychische Störungen
  13. 5 Ätiologie des ADHS
  14. 5.1 Dopamin und ADHS
  15. 5.2 Noradrenalin und ADHS
  16. 5.3 Serotonin und ADHS
  17. 5.4 Acetylcholin und ADHS
  18. 5.5 Strukturelle und funktionelle Veränderungen bei ADHS
  19. 5.6 Neuropsychologische Veränderungen bei ADHS und Zusammenhänge mit Sucht
  20. 5.6.1 Inhibitorisches System
  21. 5.6.2 Aufmerksamkeitssystem
  22. 5.6.3 Emotionsregulationssystem
  23. 5.6.4 Gedächtnis
  24. 6 Spezielle Suchtdynamik
  25. 6.1 Gemeinsame genetische Varianten bei ADHS und Sucht
  26. 6.2 Modell der fehlgeleiteten Selbstmedikation
  27. 6.3 Risikofaktoren für die Komorbidität von ADHS und Sucht
  28. 7 Diagnosen und Differenzialdiagnosen
  29. 7.1 ADHS-Diagnostik im Kindesalter
  30. 7.2 ADHS-Diagnostik im Erwachsenenalter
  31. 7.3 Diagnostik der Sucht
  32. 8 Interventionsplanung und interdisziplinäre Therapieansätze
  33. 8.1 Medikamentöse Behandlung des ADHS
  34. 8.2 Medikamentöse Behandlung von ADHS und Sucht
  35. 8.3 Ausgewählte Medikamente
  36. 8.3.1 Stimulanzien
  37. 8.3.2 Atomoxetin
  38. 8.3.3 Antidepressiva
  39. 8.3.4 Alpha-2-Agonisten
  40. 8.4 Nicht-medikamentöse Interventionen bei ADHS und ADHS und Sucht im Erwachsenenalter
  41. 8.5 Klinische Erfahrungen bei der Behandlung von ADHS und Sucht
  42. 9 Präventive Ansätze bei ADHS und Sucht
  43. 10 Ausblick
  44. Literatur
  45. Stichwortverzeichnis

 

 

 

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Einleitung

 

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine komplexe neurobiologische Störung mit den Hauptsymptomen Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität. Neben diesen Beeinträchtigungen können beim ADHS auch ausgeprägte Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und kognitive Defizite auftreten. Die insgesamt sehr vielschichtigen Symptome des ADHS werden neurobiologisch auf Veränderungen in verschiedenen Netzwerken des Gehirns zurückgeführt, an denen häufig das Stirnhirn (Frontalhirn, hier vor allem der präfrontale Kortex, PFK) beteiligt ist.

Werden die zahlreichen Symptome unter entsprechenden Überschriften zusammengefasst, so finden sich beim ADHS Beeinträchtigungen der zielgerichteten Handlungssteuerung sowie der Emotions- und Selbstregulation. Neuropsychologisch spricht man von Störungen der sogenannten Exekutivfunktionen, welche durch ausgewählte Testverfahren ermittelt werden können.

ADHS ist keine »neue« Krankheit. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Hauptsymptome des ADHS sehr treffend von dem britischen Kinderarzt George Frederick Still beschrieben. Leider hat es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert gedauert, die unterschiedlichen Symptome zum Symptomenkomplex ADHS zusammenzufassen und sie schließlich mit dem Namen ADHS zu versehen.

Da man beim ADHS von einem hohen erblich bedingten Anteil der Veränderungen ausgeht, zeigen die Betroffenen häufig bereits ab dem Säuglings- oder Kleinkindalter Verhaltensauffälligkeiten. Die Diagnose eines ADHS wird jedoch in der Regel nicht vor dem fünften bis siebten Lebensjahr gestellt, wenn das Kind lang genug in den verschiedenen Lebensbereichen beobachtet werden konnte. Hieran wird deutlich, dass ADHS immer noch eine klinische Diagnose ist, d. h. Testungen oder bildgebende Verfahren werden allenfalls als Ergänzungen zur Diagnosestellung oder für die Beurteilung des Verlaufs herangezogen.

Leider haben die meisten Kinder bis zur Diagnosestellung schon zahlreiche negative Erfahrungen mit den Symptomen des ADHS und den sich daraus ergebenden Folgen gemacht. Und nicht immer setzen Hilfeangebote und Förderungen frühzeitig ein.

Bereits im Kindergarten und in der Schule haben die Kinder mit ADHS Schwierigkeiten, die an sie gestellten Anforderungen und Leistungen zu erfüllen und sich in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen (Peer-Gruppe) zu integrieren. Sie fallen durch ihre gesteigerte motorische Unruhe und dadurch auf, dass sie Aufgaben nicht zu Ende führen oder zahlreiche Sorgfaltsfehler machen. Darüber hinaus sind sie leicht ablenkbar und können sich nur schlecht konzentrieren. Einschießende Impulse müssen unmittelbar ausgelebt werden, was dazu führt, dass sie nicht warten können, bis sie an der Reihe sind, oder sie unterbrechen andere Kinder in deren Handlungen und beim Gespräch. Es fällt den Kindern und Jugendlichen schwer, pünktlich zu sein. Oft trödeln sie herum und führen ihre Pflichten nicht zu Ende oder sie fangen gar nicht erst an, das zu tun, was ihnen aufgetragen wurde. Die Betroffenen vermeiden anstrengende Tätigkeiten, lassen sich zwar leicht für etwas Neues begeistern, reagieren aber schnell gelangweilt, wenn die Aufgaben zur Routine werden, und verlieren die Motivation. Die Folgen sind schließlich Schulverweise und Schulabbrüche oder später ein häufiger Wechsel der Arbeitsstellen mit fehlenden Berufsabschlüssen. Hinzu kommen ab der Adoleszentenzeit auch gehäuft Beziehungsabbrüche oder schnell wechselnde Partnerschaften (Barkley et al. 2006a).

Die Auswirkungen durch die Symptome des ADHS und die Einbußen im sozialen, schulischen und beruflichen Alltag tragen insgesamt dazu bei, dass auch Selbstwert und Selbstwirksamkeit im Vergleich zu Heranwachsenden ohne ADHS herabgesetzt sind. Betroffene mit ADHS geben schon als Kinder an, sie hätten das Gefühl, »anders« zu sein. Verunsicherungen, Selbstwertstörungen und Ausschlüsse aus der Peer-Gruppe führen zum Abdrängen ins soziale Abseits und begünstigen das Auftreten von Störungen im Sozialverhalten und in der Folge von Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung.

Schließlich stellen sowohl die Kernsymptome des ADHS als auch die Schwierigkeiten bei der sozialen Anpassung im Entwicklungsverlauf mit Erfahrungen von Versagen und Scheitern erhebliche Risikokonstellationen für eine Suchtentwicklung dar.

Merke

Das gleichzeitige Auftreten von ADHS und Sucht ist durch einen frühen Beginn und einen besonders schweren Verlauf der Suchterkrankungen gekennzeichnet.

Da sich die Sucht erst ab der Adoleszenz oder jenseits des 20. Lebensjahres ausbildet, können gezielte Unterstützungen und Förderungen von Betroffenen mit ADHS sowie Früherkennungsmaßnahmen bei Bestehen beider Störungsbilder erheblich zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen.

In diesem Sinne ist das Ziel dieses Buchs, das komplexe Thema ADHS und die Kombination von ADHS und Sucht bei Erwachsenen zu »entwirren« und »Lust« auf die Beschäftigung mit diesen beiden Störungsbildern zu vermitteln. Darüber hinaus soll dieser Überblick zu weiterführenden Diskussionen, zu Überlegungen und zu kreativen und neuen praktischen Vorgehensweisen anregen. Stets wird bei den Beschreibungen in diesem Buch Wert darauf gelegt, Handlungs- und Erfahrungswissen mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verknüpfen. Somit ist es für direkt und indirekt Betroffene und Professionelle geschrieben. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Allerdings ist es das Anliegen dieses Buchs, möglichst viel Hintergrundwissen aus der aktuellen wissenschaftlichen Literatur zu vermitteln und so aufzuarbeiten, dass die Zusammenhänge verständlich werden. Es ist die Überzeugung der Autorin, dass ein breites Wissen auch der komplexen neurobiologischen Zusammenhänge am ehesten dazu beiträgt, kreative Formen des Umgangs und der Unterstützung von Betroffenen mit ADHS zu fördern.

ADHS ist zwar eine psychiatrische Erkrankung, aber ADHS ist auch ein »So-Sein« von zahlreichen Menschen in unserer Gesellschaft. Es ist ein meist angeborenes »Anders-Sein«, dem wir als Gesellschaft gerecht werden müssen und sollen. Demzufolge sollten wir nicht nur damit beschäftigt sein, die besten Medikamente zur Behandlung dieses Störungsbilds zu finden, sondern auch Energie und Zeit damit verbringen, Funktionsbesonderheiten bei ADHS zu verstehen und den Menschen einen Platz in unserer Gesellschaft einzuräumen, der es ihnen ermöglicht, sich mit ihren Besonderheiten zu entfalten und zu entwickeln, wie es jedem Menschen zusteht.

Formal werden in der Regel die männliche Form für beide Geschlechter und die Begriffe »Sucht«, »Abhängigkeit« und »Substanzabhängigkeit« gleichermaßen für stoffgebundene Abhängigkeiten verwendet.

 

 

 

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Fallvignetten

 

Im Folgenden werden zwei Fallbeispiele für die Entwicklung des ADHS vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter vorgestellt. Die Personenangaben sind aus ethischen und datenschutzrechtlichen Gründen verändert. Auch die Inhalte der nachfolgenden Kapitel werden durch Fallbeispiele illustriert.

Fallvignette 1

Kurt war zum Zeitpunkt der Diagnose 44 Jahre alt. Er ist Professor der Physik. Seine Erstdiagnose erfolgte, nachdem er mit seinem 10-jährigen Sohn Lucas in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Abklärung eines ADHS war. Aufmerksam habe er als Vater verfolgt, welche Testungen bei Lucas durchgeführt und welche Fragen dem Sohn und ihm als Vater gestellt wurden. Als er nach Hause ging, wurde er sehr nachdenklich. Er besorgte sich im Internet einige Fragebögen für das ADHS im Erwachsenenalter und besprach sich mit seiner Mutter bezüglich seines Verhaltens in der Kindheit und Jugend. Fast alle Fragen, welche typisch für das ADHS in der Kindheit waren, konnten die beiden mit »Ja« beantworten. Somit kam er in die Praxis mit der Frage: »Könnte es sein, dass ich ein ADHS im Erwachsenenalter habe?« Im Verlauf der Untersuchungen und der Anamneseerhebungen stellte sich heraus, dass Kurt diese Diagnose erfüllte. Rückblickend konnte er dadurch eine Menge seiner Verhaltensweisen und Erfahrungen erklären, was ihm sehr half, sich nicht als verhaltensauffälliger Exot oder, wie seine Frau immer sagte, als liebenswerter Chaot zu empfinden, sondern als ein Mensch mit einer wahrscheinlich angeborenen Störung, die bis zum Diagnosezeitpunkt unerkannt und unbehandelt geblieben war. Kurt verstand sich als Mensch, den es viel Mühe gekostet hatte, seine Schwächen und Eigenheiten zu überwinden, und es erfüllt ihn mit Stolz, dass es ihm gelungen war, sich auf seine Stärken zu konzentrieren. Bereits in der Kindheit zeigte Kurt eine ausgeprägte motorische Hyperaktivität, er konnte als Junge nicht still sitzen, musste stets aufstehen und herumlaufen. Beruhigt haben ihn als Kind immer Legospiele. So habe er laut seiner Mutter stundenlang mit Lego spielen und die Zeit vergessen können. Später sei es die Beschäftigung mit einem kleinen Elektroflieger gewesen, den er sich zusammen gebaut hat. Dies sei auch während der Pubertät so weitergegangen. Kurt sei fast nie dabei gewesen, wenn seine Alterskollegen zusammen ausgingen und sich amüsierten. In diesen Zeiten habe er lieber etwas über Technik gelesen und sich in sein Zimmer zurückgezogen. Kurt erinnerte sich, dass er stets Mühe hatte, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren. In Mathe und Physik sei er hervorragend gewesen. Bei den anderen Fächern sei er immer durchgefallen und habe schließlich auch nur mit Ach und Krach den Realschulabschluss geschafft. Er begann eine Lehre in einer Elektrowerkstatt. Obwohl ihm die Arbeit sehr gefallen habe, sei er mit seinem Chef ständig aneinandergeraten. Er sei häufig nicht pünktlich zur Arbeit erschienen und habe oft die Aufgaben nicht erledigt, die ihm sein Chef gegeben habe. Demzufolge wurde ihm nach einem Lehrjahr gekündigt. Mit Hilfe der Eltern gelang es Kurt, eine zweite Lehrstelle zu finden. Da war ein älterer Meister, der ihn sehr gemocht und stets verständnisvoll unterstützt habe. Den habe Kurt sehr geschätzt, sich gehörig angestrengt und schließlich die Lehre auch abschließen können. Die Arbeit danach wurde schnell langweilig. Er wechselte ein paar Mal die Stellen und wurde eher zufällig als Hilfskraft in einem wissenschaftlichen Betrieb angestellt. Dort begann seine Liebe zur Physik aufzublühen. Kurt holte das Abitur nach. Er studierte Physik und habilitierte sich schließlich in der Experimentalphysik. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, also mit 44 Jahren, berichtete Kurt, er habe »den schönsten Arbeitsplatz der Welt«. Gefragt, wo und was das sei, gab er an, sein Labor sei tief unter der Erde. Es habe keine Fenster nach außen. Ganz selten sehe er mal einen anderen Menschen. Sein Lieblingsort sei ein abgedunkelter Raum. In der Mitte stehe ein Elektronenmikroskop und dort betreibe er seine Forschung. An diesem Ort konnte sich Kurt maximal konzentrieren und schrieb dort seine Manuskripte für Publikationen, von denen er zahlreiche hatte. Oft vergaß er die Zeit und kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Seine Frau lernte er auf einem Kongress kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie habe ihren Mann stets unterstützt und seine Art geschätzt. Das Paar hat zwei Söhne. Bei beiden wurde ein ADHS diagnostiziert. Auf eine Medikation bei Kurt wurde verzichtet. Er hat seine Störung »funktionalisiert« und Lebensräume gefunden, die ihm sein persönliches »So-Sein« ermöglichten. Ein begleitetes Training zur Förderung von Sozialkontakten und zur Steuerung der leichten Ablenkbarkeit führte schließlich dazu, dass Kurt auch zu Hause Publikationen schreiben und mit seinen Kindern mehr unternehmen konnte. Gemeinsam mit seiner Frau, pflegt er zunehmend Freundschaften und dient so seinen Söhnen, welche beide integrativ (medikamentös und psychotherapeutisch) behandelt werden, als Modell für eine positive Entwicklung bei bestehendem Störungsbild ADHS.

Fallvignette 2

Lisa ist 32 Jahre alt und meldete sich zur stationären Suchtbehandlung an, nachdem ihre Partnerschaft beendet war. Sie sei verzweifelt, fühle sich ausgenutzt, sei immer für den Partner da gewesen. In der Folge der Trennung habe sie ihre Arbeit nicht mehr ordentlich machen können. Sie habe schon immer viel Alkohol getrunken, um zu funktionieren. Jetzt sei es zu viel geworden und der Vorgesetzte habe sie auf den Konsum angesprochen. Zigaretten rauche sie bereits seit ihrem 12. Lebensjahr. Bald sei auch Alkohol dazu gekommen. Anfangs habe sie nur abends Alkohol getrunken. Er habe ihr geholfen, besser einzuschlafen. Wenn sie ins Bett gehe, dann kreisen die Gedanken um den Tag. Sie müsse über alles nachdenken, was sie hätte anders oder besser machen können, und komme nur sehr langsam zur Ruhe. Schließlich schlafe sie häufig vor Erschöpfung ein. Mit Alkohol könne sie viel leichter einschlafen. Schließlich trank Lisa auch schon tagsüber Alkohol. Sie sei in einer Teamleiterfunktion. Zu Beginn der Arbeit sei es wichtig, sich über die am Tag anstehenden Aufgaben zu orientieren und die Mitarbeitenden entsprechend einzuteilen. Es gelinge Lisa zwar immer sehr gut, die Aufgaben zu erkennen und zu verteilen. Aber nach ein oder zwei Stunden habe sie schon wieder vergessen, wem sie welche Aufgaben gegeben habe. Oder sie vergesse wichtige Unterlagen für einzelne Meetings. Dann habe sie häufig Wege mehrfach zurücklegen müssen. Manchmal renne sie einfach nur kopflos durch die Räume. Mit Alkohol könne sich Lisa besser auf die Dinge konzentrieren. Sie habe einen Plan, den sie Stunde um Stunde abarbeite. Abends war sie viel zufriedener mit sich, weil sie das Gefühl hatte, etwas geschafft zu haben. Damit der Alkoholkonsum am Arbeitsplatz nicht so auffiel, habe sie Wodka in kleinen Trinkgefäßen in einigen Zimmern bereitgestellt und immer mal einen Schluck genommen. Schließlich habe sie bemerkt, dass sie pro Tag eine Flasche Wodka geleert habe und unruhig wurde, wenn es keinen Wodka mehr gab. Das habe sie aber noch nicht bewogen, etwas an ihrer Situation zu ändern. Erst als sich ihr Partner von ihr getrennt habe, sei sie zusammengebrochen. Dieser sei zu einer anderen Frau gegangen. Er habe wohl schon seit längerer Zeit eine Parallelbeziehung geführt. Sie habe zwei Jahre zuvor mit einer großen Begeisterung die Beziehung begonnen. Es war ihr Traummann. Leider sei er bald arbeitslos geworden. Es habe Lisa nichts ausgemacht, ihn zu unterstützen. Jetzt habe sie alle finanziellen Reserven mobilisiert, um eine Eigentumswohnung für beide zu kaufen. Man sei vor zwei Monaten dort eingezogen. Das er eine Parallelbeziehung habe, sei ihr nicht aufgefallen. Als Trennungsgrund habe er angegeben, sie nehme nicht wahr, wie es ihm gehe. Rede nur über sich und ihren Tag. Da komme er zu kurz. Lisa konnte das gar nicht verstehen, hatte sie doch alles für diesen Mann getan. Der Partner habe ihr vorgeworfen, dass ihn ihre Stimmungsschwankungen stören. Ihre Stimmung wechsele sehr häufig von zu Tode betrübt zu himmelhoch jauchzend. Sie wirke auf ihn oft wie aufgezogen. Er wolle aber am Abend oder am Wochenende auch mal seine Ruhe und nicht immer etwas unternehmen. Auch wolle er nicht immer über alles nachdenken müssen. Da komme er nicht mit. Lisa war enttäuscht und verstand die Welt nicht mehr. Verzweifelt fragte sie sich, welchen Sinn ihr Leben noch habe. Es war nicht ihre erste Paarbeziehung. Jedes Mal spüre sie die große Begeisterung und habe das Gefühl, jetzt sei ihr der Traumpartner begegnet. Und jedes Mal falle sie in ein großes Loch, wenn sie wie aus heiterem Himmel höre, wie sie vom Partner wahrgenommen werde. Die Entscheidung für den Entzug war zugleich die Entscheidung, am Leben etwas zu ändern. Während der qualifizierten Entzugsbehandlung fand eine umfangreiche diagnostische Abklärung des ADHS statt. Lisa war sehr froh um die Diagnose, weil sie endlich etwas »in der Hand« hatte, was ihr Gefühl des »Anderseins« erklärte. Es gab viele Gespräche zwischen ihr und den Eltern. Die Beziehung hatte gerade in den letzten Jahren durch Lisas zunehmenden Alkoholkonsum sehr gelitten. Die Eltern brachten ihre Enttäuschung zum Ausdruck. Als Ältestes von zwei Kindern haben sich die Eltern gerade von Lisa gewünscht, dass diese nach außen der Stolz der Familie werde. Sie zeigten hohe Leistungsansprüche an die Tochter. Lisa war versucht, diese stets zu erfüllen. Beim jüngeren Bruder wurde bereits in der Kindheit ein ADHS diagnostiziert. Lisa hat die Eltern immer wieder einmal darauf aufmerksam gemacht, dass sie auch ein ADHS haben könnte. Die Eltern haben immer abgewunken. Das könne nicht sein. Bei den annähernden Gesprächen in der Therapie wurde deutlich, dass es nicht sein »durfte«. Jetzt leidet Lisa unter zwei Störungen, dem ADHS und der Sucht. Nun, da Lisa in Behandlung ist, zeigten die Eltern eine zunehmende Bereitschaft, sich mit den Störungen auseinanderzusetzen. Im Anschluss an die stationäre Behandlung besuchte Lisa die ambulante ADHS-Sprechstunde für Erwachsene. Sie wurde zunächst auf ein Langzeitpräparat von Methylphenidat eingestellt. Dies führte bereits nach wenigen Tagen zu einer Steigerung der inneren Ruhe und Förderung der Konzentration. Im ambulanten Setting wurde darüber hinaus an einer Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung gearbeitet. Schließlich gelang es Lisa zunehmend, sich auf andere Menschen einzulassen und ihre Sozialkontakte zu vertiefen. Parallel wurde die stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung durchgeführt. Insgesamt führten all diese Interventionen und Maßnahmen zu einer Symptomlinderung, einer allmählichen Stabilisierung des Gesamtsystems und trugen zu einer erheblichen Selbstwertsteigerung Lisas bei. Allerdings litt Lisa weiter unter Stimmungseinbrüchen vor allem in den Abendstunden, wenn das Präparat in der Wirksamkeit nachließ. Deshalb erfolgte schließlich die Umstellung auf ein Amphetaminpräparat mit Langzeitwirkung. Hierunter reduzierten sich die Stimmungsschwankungen deutlich. Lisa beschrieb sich im Zusammenhang mit den Symptomen des ADHS als ein »Fähnchen im Winde«. Sie sei schnell zu begeistern, könne eine Situation schnell erfassen und äußere schnell ihre Argumente. Häufig sei sie so schnell, dass die Mitmenschen sie nicht verstünden, was Lisa wiederum gar nicht verstehen könne. Sie reagiere dann schnell gereizt, was wieder zu entsprechenden Antworten bei ihren Gesprächspartnern führe. Solche Erfahrungen im Sozialkontakt ließen bei Lisa das »Gefühlschaos« entstehen: Erst die Begeisterung, dann die Enttäuschung, dass sie nicht verstanden wurde und schließlich noch die Frustration, wenn die Gesprächspartner zurückweisend reagierten. Diese früher als negativ wahrgenommenen Phänomene des ADHS konnte sie unbehandelt nicht steuern, d. h. sie platzte mit Antworten heraus, war umtriebig und gehetzt und musste sofort etwas umsetzen, ohne die Konsequenzen zu überdenken. Die Behandlung mit dem Langzeit-Amphetamin förderte nun bei Lisa die Steuerungsfähigkeit. Sie war zunehmend in der Lage, Situationen zu reflektieren, ihr Vorgehen zu bedenken und sich im sozialen Kontext so zu verhalten, dass es positive Rückmeldungen gab, was sich in der Folge positiv und stabilisierend auf Lisas Gefühle auswirkte.

 

 

 

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Allgemeine und klinische Epidemiologie des ADHS

 

Das ADHS ist eine der häufigsten neuropsychiatrischen Störungen mit Beginn in der Kindheit und einer sehr hohen erblichen Komponente.

3.1       Prävalenz des ADHS im Kindesalter

Die Prävalenz des ADHS im Kindesalter wird mit etwa 5% angegeben (Polanczyk et al. 2014). Es besteht ein Geschlechterverhältnis von zwei bis drei Jungen zu einem Mädchen. Als Ursprung für die auffälligen Verhaltensweisen geht man beim ADHS von einer angeborenen Störung der Spannungs- und Emotionsregulation aus. Bereits im Säuglings- und Kleinkindalter fällt auf, dass Kinder mit ADHS häufiger mit Schreien reagieren als Kinder ohne ADHS, z. B. wenn sie durch innere oder äußere Reize irritiert werden oder wenn sie sich nicht wohlfühlen, etwa durch Hunger oder Kälte. Dies führt nicht selten zu Fütter- und Schlafstörungen sowie dazu, dass die unruhigen Kinder nur sehr schwer beruhigt werden können und weiter schreien. Da derartige Symptome nicht spezifisch für ADHS sind, sondern auch bei anderen körperlichen, psychischen oder neurologischen Störungen auftreten können, wird die Diagnose erst gestellt, wenn ein ausreichender Beobachtungszeitraum vorliegt und andere Störungsbilder ausgeschlossen werden konnten, dies ist selten vor dem 5. Lebensjahr der Fall.

3.2       Prävalenz des ADHS im Erwachsenenalter

Die Symptome können in bis zu zwei Drittel der Fälle bis ins Erwachsenenalter bestehen (Faraone et al. 2006). Im Erwachsenenalter wird ein Geschlechterverhältnis von 1:1 bei Prävalenzzahlen zwischen 1 und 7% angegeben.

Worauf die unterschiedliche Geschlechterverteilung im Kindes- und Erwachsenenalter zurückgeführt werden kann, ist im Detail nicht geklärt. Zum Teil werden die Unterschiede auf sozioökonomische Faktoren oder methodische Schwächen bei der Diagnosestellung zurückgeführt. Zum anderen zeigte eine Langzeitstudie an über 1.000 Menschen in Neuseeland, dass bei einem Großteil der Erwachsenen mit ADHS in der Kindheit noch keine Symptome nachweisbar waren (Moffitt et al. 2015). Somit wären nach dieser Untersuchung die unterschiedlichen Geschlechteranteile darauf zurückzuführen, dass es sich bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS um unterschiedliche Betroffenengruppen handelt.

Auch die Prävalenzraten im Erwachsenenalter schwanken erheblich. Weltweit wurden für das ADHS im Erwachsenenalter Prävalenzraten um 2,5% gefunden (Simon et al. 2009). In den USA zeigten zwei große Repräsentativerhebungen Prävalenzraten des ADHS im Erwachsenenalter im Mittel von 4% (Kessler et al. 2006; Fayyad et al. 2007). Die Prävalenzraten sinken mit zunehmendem Alter der Betroffenen. Epidemiologische Studien an älteren Erwachsenen jenseits des 55. Lebensjahres ergaben Prävalenzraten zwischen 1 und 2,8% (Torgersen et al. 2016). Insgesamt ist das ADHS eine der häufigsten neuropsychiatrischen Störungen mit Beginn im Kindesalter.

Die Symptome des ADHS treten früh in der Kindheit auf, sind tiefgreifend und beeinflussen die Betroffenen und ihr Umfeld. Dabei finden sich bei ADHS die Auffälligkeiten in allen Lebensbereichen, da sie die Emotions- und Spannungsregulation betreffen und diese nicht in einem Lebensbereich funktionieren können und in einem anderen nicht. In mehr als zwei Drittel der Fälle treten im Entwicklungsverlauf neben dem ADHS weitere psychische Störungen auf.

Kessler und Mitarbeiter untersuchten in einer Repräsentativerhebung an 3.199 erwachsenen Amerikanern die Häufigkeiten des Auftretens von mehr als einer psychiatrischen Diagnose (Kessler et al. 2006). Hier ergaben sich gehäufte Kombinationen von ADHS mit sogenannten affektiven Störungen, insbesondere Angst und Depressionen sowie mit Abhängigkeitserkrankungen (image Tab. 3.1).

3.3       Prävalenz von ADHS und Sucht

Das zeitgleiche, gemeinsame Auftreten von ADHS und Sucht wird als Doppeldiagnose oder Komorbidität bezeichnet. Sowohl in längs- als auch in querschnittlichen Untersuchungen wurden erhöhte Prävalenzraten der Komorbidität von ADHS und Sucht gefunden.

Tab. 3.1: Wahrscheinlichkeit für Kombinationen von ADHS und weiteren psychischen Störungen bei Erwachsenen

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StörungWahrscheinlichkeitsfaktor für ein Erkranken an der Störung bei Vorliegen eines ADHS

Repräsentativerhebung an 3.199 US-amerikanischen Erwachsenen (Quelle: Kessler et al. 2006). Der Wahrscheinlichkeitsfaktor beschreibt die Lebenswahrscheinlichkeit, bei Vorliegen eines ADHS an der bezeichneten Störung zu erkranken im Vergleich zu Teilnehmern ohne ADHS. Dabei bedeutet der Wahrscheinlichkeitsfaktor 1, dass die Wahrscheinlichkeit, an der bezeichneten Störung zu erkranken, bei ADHS gleich hoch ist wie bei Teilnehmenden ohne ADHS.