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Supervision im Dialog

 

Herausgegeben von Andreas Hamburger und Wolfgang Mertens

Wolfgang Mertens & Andreas Hamburger (Hrsg.)

Supervision – Konzepte und Anwendungen

Band 2: Supervision in der Ausbildung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029342-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029343-4

epub:    ISBN 978-3-17-029344-1

mobi:    ISBN 978-3-17-029345-8

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Einleitung zum zweiten Band
  2. Wolfgang Mertens & Andreas Hamburger
  3. 1.1 Literatur
  4. Teil I Supervision in der Ausbildung
  5. 2 Die Rolle der Supervision in der Ausbildung von analytischen Psychotherapeuten
  6. Wolfgang Mertens
  7. 2.1 Historischer Abriss und wichtige Konzepte
  8. 2.2 Zentrale Themen für die Praxis
  9. 2.3 Beispiel
  10. 2.4 Themen für die weitere Forschung
  11. 2.5 Empfohlene Literatur
  12. 2.6 Zitierte Literatur
  13. 3 Supervision in der Ausbildung zum Kognitiven Verhaltenstherapeuten
  14. Serge Sulz
  15. 3.1 Charakterisierung der wichtigsten Konzepte
  16. 3.2 Gegenwärtige zentrale Themen
  17. 3.3 Beispiel
  18. 3.4 Welche Themen bedürfen einer weiteren Erforschung?
  19. 3.5 Empfohlene Literatur
  20. 3.6 Verzeichnis der zitierten Literatur
  21. 4 Supervision in der Ausbildung zum Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
  22. Thomas Stadler
  23. 4.1 Historischer Abriss und wesentliche Konzepte
  24. 4.2 Zentrale Themen für die Praxis
  25. 4.3 Beispiel
  26. 4.4 Weitere Themen für die Forschung
  27. 4.5 Empfohlene Literatur
  28. 4.6 Zitierte Literatur
  29. 5 Balintgruppen für Medizinstudenten
  30. Vivian Pramataroff-Hamburger & Andreas Hamburger
  31. 5.1 Historischer Abriss und wichtigste Konzepte
  32. 5.2 Zentrale Themen für die Praxis
  33. 5.3 Beispiel
  34. 5.4 Themen für die weitere Forschung
  35. 5.5 Empfohlene Literatur
  36. 5.6 Zitierte Literatur
  37. Teil II Forschung zur Supervision
  38. 6 Forschung zur Ausbildungssupervision
  39. Lucia Steinmetzer, Waltraud Nagell & Ute Fissabre
  40. 6.1 Historischer Abriss und wichtige Konzepte
  41. 6.2 Zentrale Themen
  42. 6.3 Beispiel
  43. 6.4 Themen für die weitere Forschung
  44. 6.5 Empfohlene Literatur
  45. 6.6 Zitierte Literatur:
  46. 7 Wie Therapeuten sich bei der Arbeit beobachten – ein prozessforschungsbasiertes Modell der Supervision
  47. Michael B. Buchholz
  48. 7.1 Kurzer problemorientierter Abriss
  49. 7.2 Zentrale Themen: »Aufgaben« und »Entwicklung«
  50. 7.3 Illustrierende Fallvignette
  51. 7.4 Welche Themen bedürfen einer weiteren Erforschung?
  52. 7.5 Empfohlene Literatur
  53. 7.6 Zitierte Literatur
  54. 8 Supervision im Blick der Sozialforschung
  55. Jan Lohl
  56. 8.1 Wichtige Konzepte und historischer Abriss des Forschungsstandes
  57. 8.2 Zentrale Themen des Verhältnisses von Supervision und Gesellschaft
  58. 8.3 Themen für die weitere Forschung
  59. 8.4 Empfohlene Literatur
  60. 8.5 Weitere verwendete Literatur
  61. 9 Zur Inanspruchnahme von Supervision – ein rekonstruktiver Forschungszugang
  62. Gertrud Siller
  63. 9.1 Supervisionspraktischer Kontext und empirische Supervisionsforschung
  64. 9.2 Rekonstruktive Verfahren und ihr Beitrag zur Supervisionsforschung
  65. 9.3 Illustrierende Fallrekonstruktion: Das Bewältigungsmuster flexibler Anpassung an Reorganisationsprozesse und seine Inanspruchnahme von Supervision
  66. 9.4 Offene Forschungsfragen
  67. 9.5 Empfohlene Literatur
  68. 9.6 Literatur
  69. 10 Wirksamkeit von Supervision – ein Forschungsbericht
  70. Andreas Hamburger & Wolfgang Mertens
  71. 10.1 Historische Einleitung
  72. 10.2 Zentrale Themen
  73. 10.3 Eine beispielhafte Studie
  74. 10.4 Ausblick und Forschungsdesiderate
  75. 10.5 Empfohlene Literatur
  76. 10.6 Zitierte Literatur
  77. 11 Das PQS-D-Sup – ein Instrument zur Charakterisierung des Supervisionsstils
  78. Ingrid Erhardt, Jörg Bergmann, Carola Kalisch, Paulina Senf & Andreas Hamburger
  79. 11.1 Historischer Abriss und wichtige Konzepte
  80. 11.2 Zentrale Themen für die Praxis
  81. 11.3 Illustrierende Fallvignette
  82. 11.4 Themen für die weitere Forschung
  83. 11.5 Empfohlene Literatur
  84. 11.6 Zitierte Literatur
  85. Teil III Ausbildung zum Ausbildungssupervisor – Pflicht oder Kür?
  86. 12 Supervision – ein komplexes Mittel der psycho- analytischen Ausbildung
  87. Imre Szecsödy
  88. 12.1 Die Ambiguität von Supervisionen
  89. 12.2 Wie ist Lernen in einer Supervision möglich?
  90. 12.3 Die Ausbildung zum Supervisor
  91. 12.4 Zusammenfassung
  92. 12.5 Literatur
  93. 13 Sollte die Supervision in der psychotherapeutischen Ausbildung zertifiziert werden?
  94. Harald J. Freyberger
  95. 13.1 Historischer Abriss und wichtige Konzepte
  96. 13.2 Zentrale Themen für die Praxis
  97. 13.3 Themen für die weitere Forschung
  98. 13.4 Empfohlene Literatur
  99. 13.5 Zitierte Literatur
  100. 14 Die peer-to-peer Fortbildung zum psychoanalytischen Ausbildungssupervisor an der Akademie für Psycho- analyse und Psychotherapie München
  101. Andreas Hamburger, Christiane Bakhit, Anne Rauch-Strasburger & Agnes Schneider-Heine
  102. 14.1 Historischer Abriss und wichtige Konzepte
  103. 14.2 Zentrale Themen für die Praxis
  104. 14.3 Beispiele für die bisherige Arbeit
  105. 14.4 Themen für die weitere Forschung
  106. 14.5 Empfohlene Literatur
  107. 14.6 Zitierte Literatur
  108. Stichwortverzeichnis
  109. Personenverzeichnis

 

1          Einleitung zum zweiten Band

Wolfgang Mertens & Andreas Hamburger

 

Nachdem im ersten Band dieser zweibändigen Einführung in das Feld der Supervision die praktischen Anwendungsbereiche von Supervision im Vordergrund standen, behandelt der vorliegende zweite Band die Bereiche der Ausbildungssupervision und der Supervisionsforschung.

Supervision hat sich aus zwei historischen Wurzeln entwickelt: der fachlichen Aufsicht im Bereich der Sozialfürsorge und der kontrollierten Reflexion eigener Anteile am psychoanalytischen Prozess. Zwischen diesen beiden Polen hat sich mittlerweile ein weites Spektrum von Supervisionsansätzen entwickelt, die vom ergebnisorientierten Coaching bis zur reflexionsorientierten psychoanalytischen Supervision reichen. Deutlich zeigt sich diese polare Unterscheidung (bei allen graduellen Zwischenstufen) vor allem dort, wo Supervision als Teil der psychotherapeutischen Ausbildung eingesetzt wird – ein Bereich, wo der Supervision eine besondere Verantwortung zufällt.

In der psychoanalytischen Ausbildung wurde immer großer Wert auf eine genügend gute Selbsterfahrung in Form einer Lehranalyse oder -therapie und auf eine ausreichende Anzahl von Supervisionsstunden gelegt. Andere Ausbildungen zum Therapeuten, Berater oder Coach verstehen Supervision oft eher im Sinne einer Praxisanleitung, die die Anwendung des theoretisch Gelernten in der Praxis überwachen, begleiten und perfektionieren soll. Sehr unterschiedlich fallen auch die Anzahl der Supervisionsstunden und der zu supervidierenden Lehrfälle aus, ebenso wie die Anforderungen an eine Supervisorentätigkeit.

Verschiedene Verbände haben deshalb seit einigen Jahren auf die gesteigerten Professionalisierungsanforderungen mit eigenen Supervisionsausbildungen reagiert. Denn es ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, wie sehr die Anforderungen an die Qualität von Supervision gestiegen sind. So ist zum Beispiel auch in der Psychoanalyse die lange Zeit aufrechterhaltene Überzeugung, dass ein guter Lehranalytiker automatisch über die Qualifikation zum Supervisor verfüge, in Frage gestellt worden. Es handelt sich hierbei doch um recht unterschiedliche Kompetenzen, deren Einschätzung allerdings auch wieder innerhalb der verschiedenen psychoanalytischen Richtungen Meinungsverschiedenheiten unterliegt. In den zurückliegenden Jahrzehnten sind viele Erkenntnisse, die ursprünglich auf Freud und der ich-psychologischen Generation nach ihm zurückgingen, verändert, ja sogar in Frage gestellt worden. Dies ist in den anderen großen therapeutischen Richtungen des 20. Jahrhunderts, von denen in diesem Band exemplarisch die kognitiv-behaviorale und systemische Richtung dargestellt werden, selbstverständlich auch der Fall. Auch in ihnen haben mitunter revolutionäre Veränderungen und Paradigmenwechsel stattgefunden. Supervisoren müssen auf den sich immer schneller einstellenden Wandel des Wissens in den Humanwissenschaften und die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen entsprechend reagieren.

Im ersten Teil des Bandes geht es um Ausbildungssupervision. Die Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse schildert W. Mertens, wobei er insbesondere das Junktim von Lehranalytiker- und Supervisorenqualifikation hinterfragt und die Notwendigkeit konzeptueller, forschungsbasierter Klärung der Aufgaben des psychoanalytischen Ausbildungssupervisors hervorhebt. Die Supervision in der Ausbildung in kognitiv-behavioraler Psychotherapie inkl. 3rd wave-Therapien behandelt S. Sulz, wobei er den an evidence-based medicine angelehnten störungsorientierten manualisierten Therapien die Forschungen zu gemeinsamen Wirkfaktoren entgegenhält – eine Sichtweise, aus der Supervision und Selbsterfahrung einen deutlich erhöhten Stellenwert gewinnen. T. Stadler beschreibt die Supervision in der Ausbildung zum Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit Akzent auf der komplexen Entfaltung von Parallelprozessen in diesem Feld, versehen mit einem Ausblick auf »ein Modell des gemeinsamen Schaffens eines Raumes für Traum, Reflexion und Entwicklung«. Jenseits der Vermittlung der komplexen und spezialisierten Fertigkeiten des künftigen Psychotherapeuten spielt Supervision eine bedeutende Rolle für die Sensibilisierung künftiger Ärzte für psychodynamische Themen und für die eigene Beteiligung am Behandlungsprozess. V. Pramataroff-Hamburger und A. Hamburger schildern den Beitrag zur Rolle der Balintgruppe in der Ausbildung von Medizinstudenten.

Die eingangs dargestellte Polarität des Supervisionsfeldes zwischen Anleitung und Reflexion spiegelt sich auch in der Forschungslage, die im zweiten Teil des Bandes präsentiert wird. Ergebnisse zur Ausbildungssupervision werden von L. Steinmetzer, W. Nagell und U. Fissabre vorgestellt, zentriert um ihre sorgfältige Studie, in der Daten von Supervisand-Supervisor-Paaren ausgewertet wurden. M. B. Buchholz begründet die Notwendigkeit, Supervisionsprozesse aufbauend auf intensiver Prozessforschung zu gestalten und stellt ein eigenes Modell dazu vor. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive untersucht J. Lohl Supervision als soziale Praxis und stellt sie in den großen Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung mit besonderer Beachtung der westdeutschen Situation. Wie weit gespannt der Supervisionsbegriff ist und wie unterschiedlich demnach die Forschungsansätze sind, die herangezogen werden, um die Wirksamkeit von Supervision zu überprüfen, zeigen A. Hamburger und W. Mertens in ihrem Beitrag. Es wird noch vieler konzeptueller Klärungen bedürfen, um die wenig kompatiblen Wirksamkeitsstudien miteinander vergleichbar zu machen. Den Abschluss dieses Teils bildet die Darstellung eines neu entwickelten Instruments zur qualitativ-quantitativen Erfassung supervisorischer Prozesse. Mit dem auf dem Psychotherapy Q-Sort (Ablon u. a., 2008) aufbauenden PQS-D-Supervision können audiodokumentierte Supervisionssitzungen sowohl hinsichtlich ihrer Adhärenz zu einem definierten Prototyp beurteilt als auch hinsichtlich spezifischer Sitzungseigenschaften verglichen werden.

Abgerundet wird der Band durch eine Reihe von Beiträgen im dritten Teil, die sich dem umstrittenen Thema der Ausbildung von Ausbildungssupervisoren auf unterschiedliche Weise annähern. Supervision ist einer der zentralen Bausteine der psychotherapeutischen Ausbildung, und wird auch in anderen Bereichen zunehmend für die Ausbildung, etwa von Sozialpädagogen und Medizinern, eingesetzt. Mit dieser wichtigen Multiplikatorenwirkung kommt auf die in der Ausbildung tätigen Supervisoren besondere Verantwortung zu. Gerade hier aber hat sich das Feld recht heterogen entfaltet. Fachverbände haben sehr unterschiedliche Kriterien für die Zulassung von Ausbildungssupervisoren entwickelt, wie von H. Freyberger und W. Witte für die Psychotherapie und die soziale Arbeit darstellen. Besonders in der Psychoanalyse sind Bestrebungen, die Qualifikation zum Ausbildungssupervisor von derjenigen zum Lehranalytiker abzukoppeln, teilweise auf recht zähen Widerstand gestoßen. Dies ist einerseits verständlich aufgrund der selbsterfahrungsbasierten, reflexiven Supervisionstradition der Psychoanalyse, sollte aber andererseits eine Klärung der Funktion psychoanalytischer Supervision in der Ausbildung zum Psychoanalytiker nicht behindern. Wir präsentieren zwei Beiträge, die diese Frage innovativ und sehr unterschiedlich angehen: Das Stockholmer Modell der Ausbildung zum psychoanalytischen Ausbildungssupervisor wird dargestellt von I. Sczecödy; das Münchner Modell der Peer-to-Peer-Fortbildung in psychoanalytischer Ausbildungssupervision von A. Hamburger, C. Bakhit, A. Rauch-Strasburger und A. Schneider-Heine.

In allen Beiträgen wird jeweils ein kurzer historischer Problemaufriss gegeben, danach werden zentrale Konzepte und Themen behandelt und nach Möglichkeit an einem Fallbeispiel veranschaulicht. Um die Lesbarkeit der Beiträge zu verbessern und mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit des Verlagsprogramms haben wir uns in Absprache mit dem Verlag entschieden, auf ein sprachliches Gender-Mainstreaming grundsätzlich zu verzichten und das generische Maskulin zu verwenden bzw. die von den Autoren unterschiedlich gehandhabten Sprachregelungen diesbezüglich zu vereinheitlichen.

1.1       Literatur

 

Albani, C., Ablon, J. S., Levy, R. A., Mertens, W. & Kächele, H. (2008). Der »Psychotherapie Prozess Q-Set« von Enrico E. Jones. Deutsche Version (PQS-R-D) und Anwendungen. Ulm: Ulmer Textbank.

 

 

 

 

 

Teil I   Supervision in der Ausbildung

 

2          Die Rolle der Supervision in der Ausbildung von analytischen Psychotherapeuten

Wolfgang Mertens

2.1       Historischer Abriss und wichtige Konzepte

Seit nunmehr fast 100 Jahren ruht die psychoanalytische Ausbildung auf drei Säulen: Auf der persönlichen Selbsterfahrung, auf dem theoretischen Unterricht und der unter Supervision durchgeführten eigenen Behandlungsfälle. Während die Lehranalyse vor allem hinsichtlich ihrer Dauer und institutionellen Eingebundenheit seit Jahrzehnten kritisiert wird und psychoanalytische Lehrinhalte wegen des angeblichen oder tatsächlichen Überholtseins zentraler Inhalte immer wieder auf den Prüfstand kamen, wird die Supervision als unverzichtbarer Baustein betrachtet.

Die Ausübung von psychoanalytisch orientierten Therapieverfahren ist längst institutionalisiert und an eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft. Gegenwärtig gibt es aus diversen Gründen einen unübersehbaren Trend zu kürzeren Therapien und es wird diskutiert, inwieweit die Grundlagen der zeitgenössischen Psychoanalyse wieder im Rahmen einer universitären Direktausbildung gelehrt werden können. Hierbei besteht allerdings die Gefahr, dass einseitig nur solche Bestandteile in die Lehre einfließen, die mit derzeit anerkannten empirischen Verfahren überprüfbar sind, was eine Engführung mit sich bringen kann.

Der Beruf des analytischen und tiefenpsychologischen Psychotherapeuten scheint trotz einiger Schwankungen nach wie vor bei jungen Menschen sehr beliebt zu sein; eine lange Ausbildung, hohe Ausbildungskosten und ein durchaus anstrengender und belastender Berufsalltag werden dafür in Kauf genommen. Die Qualifikation der Bewerber ist – wie in allen Berufen – normalverteilt: Neben einigen Hochbegabten, und d. h. in diesem Fall emotional ausgeglichenen, sehr einfühlsamen und kreativen Personen, gibt es in der Mehrzahl Kandidaten, die eine genügend gute Eignung mitbringen; aber es gibt auch einige Bewerber, die aus unterschiedlichen Gründen problematisch sind.

Die Frage der Ausbilder lautet demzufolge: Wie können aus all diesen Personen kompetente Psychotherapeuten werden? Während die einen ein Naturtalent mitbringen und keine Schwierigkeiten mit dem Erkennen ihrer Gefühle und dem einfühlsamen Eingehen auf andere Menschen zu haben scheinen, sind andere zwar intellektuell durchaus begabt, aber ihr Gefühlsleben weist eher Defizite auf. Zwar wird Kandidaten mit einer Persönlichkeitsstörung, zum Beispiel narzisstischer, schizoider, hysterischer Art zumeist von einer Ausbildung zum Psychotherapeuten abgeraten, aber in der Gegenwart besteht die Tendenz, nahezu jeden Bewerber anzunehmen. Dies muss jedoch nicht immer ein Manko sein, denn Personen mit einer bestimmten problematischen Persönlichkeit können sich auf Patienten mit affinen Problemen durchaus gut einstellen. Dennoch taucht während der Ausbildung die Frage auf, ob und wie sich Auszubildende zu verantwortungsbewussten und kompetenten Psychotherapeuten entwickeln können, die leidenden Menschen ausreichend helfen, das Ansehen des Berufs sichern und zum Fortbestand der Profession beitragen können. Und sicherlich gilt eine Fürsorgepflicht der Ausbilder auch der Frage, ob der gewählte Beruf für die betreffende Person auf Dauer nicht zu anstrengend sein wird. Denn ohne Frage wird der Beruf des Therapeuten auch idealisiert.

Die psychoanalytische Ausbildung ist seit Jahrzehnten von Psychoanalytikern immer wieder heftig kritisiert worden (z. B. Kernberg 1986, 1996; Kahl-Popp, 2005). Ein Hauptkritikpunkt ist dabei die Infantilisierung der Kandidaten, die durch allzu viele Vorschriften, Kontrollen, Überwachung, Dogmatisierung der einzig richtigen Form, Psychoanalyse zu praktizieren u. a. m. zustande käme. Der antiautoritäre Zeitgeist hat mit zu dieser kritischen Einschätzung beigetragen, die dazu geführt hat, dass mittlerweile eine sehr egalitäre Atmosphäre an vielen Ausbildungsinstituten herrscht. Dies hat Vor- und Nachteile: Zum einen wird den jungen Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe begegnet; zum anderen scheuen sich die Ausbilder, ihre Qualitätsansprüche offen auszusprechen.

Dieses Spannungsfeld verweist auf das Problem, wie Supervision in der Ausbildung betrieben werden soll. Dass sie als Lernhilfe notwendig ist, wird von keiner Seite bestritten, aber wie sie im Einzelnen aussehen soll, ist Gegenstand von Kontroversen. Supervision beinhaltet einen lebenslangen Lernprozess: Gerade in einer Disziplin, die so viel Wert legt auf das intersubjektive Erspüren von Gefühlen und Wünschen in einem anderen Menschen, die diesem weder bewusstseinszugänglich noch verwörterbar sind, kommt es darauf an, die eigenen Emotionen von denen eines anderen Menschen unterscheiden zu lernen. Dazu ist ein Wechsel von einer Erste-Person-Perspektive zu einer Dritte-Person-Perspektive notwendig bzw. das Einnehmenkönnen einer triangulierenden Perspektive (z. B. Giampieri-Deutsch, 2002; Herrmann, 2013; Hohage, 1996).

Zwei Fragen standen beim Nachdenken über Supervision von Anfang an im Mittelpunkt der Diskussion: Wie kann man bei angehenden Therapeuten die Umsetzung von theoretischem Wissen in die Behandlung von kranken Menschen am besten fördern? Und wie geht man mit den neurotischen Einschränkungen der Therapeuten um, die diese zwar in ihrer Lehranalyse bearbeiten, die sich aber dennoch weiterhin im Umgang mit ihren Patienten unweigerlich äußern? Die Verantwortung für den kranken Patienten erfordert, dass beide Aufgaben auf bestmögliche Weise gelöst werden. Die Aufgaben des Lehrens und Heilens, »teach or treat«, führte in der Vergangenheit zu zahlreichen Kontroversen. Manche Psychoanalytiker lehnten jegliche Kontrolle des angehenden Therapeuten ab, weil diese sich immer nur negativ auf den Patienten auswirken könne; andere vertraten die Auffassung, dass sich die Rolle des Supervisors auf die Theorieanwendung zu beschränken habe und wiederum andere Psychoanalytiker plädierten dafür, den Supervisanden auf jeden Fall auch mit seinen neurotischen Einschränkungen zu konfrontieren und nicht nur darauf zu vertrauen, dass er diese von sich aus erkennt und in seiner Lehranalyse bearbeitet.

Bald zeigte sich aber, dass die Kontroverse zwischen »Lehren oder Behandeln« doch um Einiges zu einfach gestellt worden war. Denn jeder Lernprozess ist psychoanalytisch betrachtet immer auch ein Beziehungsgeschehen. In jede theoretische Erörterung fließt deshalb implizit ein Hinweis darauf ein, dass ein bestimmtes analytisches Vorgehen eine emotionale Bereitschaft des Lernenden beinhaltet und erfordert. Lernen bedeutet ein Abschiednehmen von der Gewissheit, alles bereits zu können; Lernen bereitet Scham und Unterlegenheitsgefühle; in der Regel lernt man nur von demjenigen, den man schätzt und von dem man sich nicht auf kränkende Weise belehrt fühlt.

Selbstverständlich übertragen aber nicht nur Supervisanden ungelöste Konflikte auf ihre Patienten und Supervisoren, sondern auch die »Lehrer« auf ihre »Schüler«, wobei die jeweilige Institution ebenfalls einen Einfluss ausüben kann. Zudem vermischen sich diese Beziehungsprozesse mit der vorgestellten Problematik des Patienten, so dass sich ein sehr komplexes Beziehungsfeld ergibt (image Kap. 2 Psychoanalytische Konzepte der Supervision in Bd. 1).

Somit wurde deutlich, dass Supervidieren auch dem Supervisor Einiges abverlangt. Zum einen kommen Psychoanalytiker nicht unbedingt als geborene Pädagogen und Didaktiker auf die Welt. Zum anderen erfordert der Umgang mit den unvermeidlichen Kompetenzmängeln und blinden Flecken des Supervisanden auch viel Feingefühl und analytische Kompetenz und dies in einem Setting, in dem es keineswegs ausschließlich um die Beziehung zwischen dem Supervisor und seinem Supervisanden geht, sondern primär um die Fürsorge für den Patienten und sein therapeutisches Weiterkommen.

Quod licet jovi, non licet bovi: Oftmals lehren Supervisoren ihre Supervisanden zwar die Prinzipien zeitgenössischer Psychoanalyse als einer Begegnung auf Augenhöhe und einer kontinuierlichen Reflexion der Beziehung, aber sie selbst nehmen erstaunlicherweise eine klassisch objektivierende Haltung ein: Zwar überträgt der Patient auf den Supervisanden und dieser wiederum auf seinen Supervisor, aber der Supervisor steht wie ein Schiedsrichter am Rande des Spielfelds und beobachtet mit neutralem und geschärftem Blick die Bemühungen seines Supervisanden mit dessen Patienten. Bereits Searles (1955) und Gediman und Wolkenfeld (1980) hatten darauf aufmerksam gemacht, dass Parallelphänomene nicht nur »bottom up«, sondern auch »top down«, also vom Supervisor ausgehen können (s. auch Bromberg, 1980; Caligor, 1981; Castellano, 2013; Gediman, 2001; McKinney, 2000)

2.2       Zentrale Themen für die Praxis

Psychoanalytisches Wissen verändert sich wie jegliches andere Wissen auch und dies geschieht zunehmend in einem immer schnelleren Tempo. Bindungs- und Kleinkindforschung, Erkenntnisse aus der Cognitive- und Neuroscience, aber auch praxis- und theorieimmanente Entwicklungen haben zu erstaunlichen Erkenntnisfortschritten geführt. Innerhalb der Psychoanalyse existieren diverse Richtungen, die unterschiedliche Aspekte dieses Erkenntnisfortschritts aufgreifen und in ihr praktisches Handeln zu integrieren versuchen. Supervisanden während und nach ihrer Ausbildung kommen mit zum Teil unterschiedlichen Orientierungen zur Supervision und erwarten nicht selten, dass ihr Supervisor ihnen einen Überblick über die verschiedenen Richtungen, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede vermittelt.

Eine zu enge Schulenzugehörigkeit des Supervisors kann immer dann zu Konflikten in der Supervision führen, wenn sich ein Supervisand in seinem theoretischen und praktischen Können nicht angemessen verstanden fühlt. Dann kann der Eindruck entstehen, dass er in seinem Bestreben, etwas Neues zu lernen, nicht ausreichend unterstützt wird, sondern sich stattdessen der Lehrmeinung seines Analytikers unterwerfen soll. Manche Supervisanden machen dies bereitwillig, andere sind beunruhigt, weil sie keinen Erkenntniszuwachs spüren können.

Manche Supervisoren sind der Auffassung, dass ihr Bauchgefühl untrüglich und dass jeglicher Wissensfortschritt demgegenüber unerheblich sei. Sie bestehen auf einigen Grundsätzen psychoanalytischer Praxis, die als Passepartout für alle schwierigen Behandlungssituationen herhalten müssen. So verstehen sie sich zum Beispiel als Selbstpsychologen in der Nachfolge Kohuts und sind davon überzeugt, alle auftretenden Probleme mittels einer empathischen Zuwendung lösen zu können. Diese Gewissheit gewinnen sie oftmals aufgrund ihrer Tätigkeit als behandelnder Analytiker und Lehranalytiker, die sie durchaus erfolgreich wahrnehmen. Natürlich ist die Empathie eine wichtige Methode einer psychoanalytischen Behandlungsauffassung, aber sie sollte nicht als alleiniger Verstehenszugang eingesetzt werden, zumal es Psychoanalytiker mit einem breiten Spektrum an Krankheitsbildern zu tun haben. Erst in den letzten Jahren ist aber deutlich geworden, wie sehr die Anforderungen an die Qualität der Supervision nicht zuletzt auch aufgrund des rapide sich vermehrenden Wissens gestiegen sind.

Seit geraumer Zeit existieren die Überzeugung und institutionelle Legitimierung, dass erfahrene und zumeist ältere Analytiker, wenn sie eines Tages zum Lehranalytiker ernannt werden, damit bereits die Qualifikation zum Supervisor aufweisen. Denn aufgrund vieler eigener Behandlungen, Intervisionen, Teilnahmen an Fallbesprechungen, ausgiebiger Beschäftigung mit Fachlektüre sind ihnen praktische Erfahrung im Umgang mit psychisch kranken Menschen und konzeptuelles Wissen über Krankheitsbilder, Pathogenese sowie Behandlungstechnik in der Regel gut vertraut. Wer sonst außer ihnen sollte für eine supervisorische Tätigkeit infrage kommen?

Nun sind aber in den letzten Jahren erhebliche Zweifel an dieser automatisch sich ergebenden Doppelkompetenz laut geworden. Stimmt es wirklich, dass ein guter Lehranalytiker unweigerlich auch ein guter Supervisor ist? Oder handelt es sich hierbei um unterschiedliche Qualifikationen, selbst wenn sie einen erheblichen Überschneidungsbereich haben? Vom Lehranalytiker erwartet man, dass er mit seinem Analysanden einen psychoanalytischen Prozess gestalten kann, in dem das Beachten von Beziehungsphänomenen und Übertragungsprozessen sowie die Bearbeitung von Widerständen einen zentralen Raum einnehmen; hierbei dienen ihm dessen Reaktionen als Orientierung. In der Supervision erfährt der Supervisor die Beziehung zwischen dem Analytiker und seinem Patienten aber lediglich aus der Sicht seines Supervisanden; gleichzeitig erlebt er eine Beziehung zu ihm, die vielfältige Übertragungsprozesse, Widerspiegelungen der Übertragungen, die sein Supervisand von seinem Patienten erfahren hat, aber auch eigene ungelöste Übertragungskonflikte aufweist. Dass ein Supervisor die therapeutische Beziehung nicht in ihrer Unmittelbarkeit erleben kann, weist Vor- und Nachteile auf. Zum einen ist er freier, seine eigenen Gefühlseindrücke erleben zu können, ohne zunächst in die abwehrbedingten Wahrnehmungen seines Supervisanden hineingezogen zu werden; zum anderen erlebt er den Patienten nur aus der Perspektive des Therapeuten bzw. die idiosynkratische Gestaltung der inter- und intrapsychischen Realität der beiden Beteiligten.

In diesem Prozess hat er eine teils kollegiale, teils lehrende und teils analysierende sowie therapeutische Beziehung zu seinem Supervisanden, die sich gelegentlich auf unübersichtliche Weise mit dessen Beziehung zum Patienten vermengt. Es handelt sich also um eine ziemlich komplexe Konstellation, die nicht nur analytische und therapeutische Kompetenzen verlangt, sondern auch pädagogische und didaktische Fähigkeiten, Letzteres aber immer vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Reflexion, inwieweit die lehrende Tätigkeit, die ja auch schnell als Belehrung verstanden werden kann, der Abwehr dient, die Beziehung nicht wahrnehmen und reflektieren zu müssen (z. B. Kahl-Popp, 2004, Szecsödy, 1994).

Wer sonst außer einem Lehranalytiker sollte aber für eine supervisorische Tätigkeit infrage kommen? Vielleicht macht diese Koppelung ja doch Sinn, auch wenn sich durchaus begabte Nicht-Lehranalytiker als Supervisoren qualifizieren könnten. Aber immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass es gut täte – egal ob nun der Betreffende ein Lehranalytiker oder Nicht-Lehranalytiker ist – sich über die Qualitätsanforderungen zeitgenössischer Supervision mehr Gedanken als bisher zu machen.

Erst in den letzten Jahren – nicht zuletzt auch aufgrund heftiger und nicht nachlassender Kritik an der institutionellen Bürokratisierung der Psychoanalyse (z. B. Kernberg, 2006, 2007), ist deutlich geworden, wie sehr diese Anforderungen gestiegen sind. Neben der erwähnten Vielfalt von Auffassungen und Schulrichtungen in der gegenwärtigen Psychoanalyse und der fragwürdigen Überzeugung, die Tätigkeit als Lehranalytiker sei bereits eine hinreichende Basis für die Qualifikation zum Supervisor, ist auch der letztlich positivistische Glaube, es reiche aus, sich lediglich auf sein Gefühl bzw. auf die Gegenübertragung zu verlassen, deutlich kritisiert worden. Denn auch Gefühle entstehen in einem bestimmten Kontext, sei es innerhalb der familiären Sozialisation, der bevorzugten Arbeitsweise und Theorien des eigenen Lehranalytikers oder eines Ausbildungsinstituts.

Auch das scheinbar untrügliche Spüren der Gegenübertragung kann deshalb nicht als unhinterfragbarer Beweis für das überlegene Können des Lehranalytikers/Supervisors gelten, sondern die intuitiven Entscheidungsprozesse sollten für den Supervisanden argumentationszugänglich gemacht werden. Dies hat vor allem zur Folge, dass die richtungsspezifischen Konzepte und Argumentationslinien zu explizieren sind. Diese Bewusstmachung der impliziten Hintergründe gilt natürlich auch für die Annahmen, mit denen ein Supervisand sein eigenes Vorgehen begründet.

Kantrowitz (2002) erforschte das Zusammenpassen von Stilen des Supervisors mit den Persönlichkeitszügen und Konflikten des Ausbildungskandidaten in Bezug auf die Konflikte eines bestimmten Patienten. Ein geglückter »triadischer Match« kann die persönliche und professionelle Entwicklung eines Kandidaten erheblich fördern. Zumeist haben Kandidaten im psychoanalytischen Training mehrere Supervisoren, wobei jeder einen unterschiedlichen supervisorischen Stil haben kann. Manche Kandidaten sind von sich aus an einem Pluralismus interessiert und wählen Supervisoren, von denen sie annehmen, dass diese komplementär zu ihrer bisherigen Auffassung von psychoanalytischer Therapie seien, andere wiederum suchen Ähnlichkeit mit ihren eigenen Auffassungen und wünschen sich den jeweiligen Supervisor als konkordant mit ihren bisherigen Erfahrungen.

Nagell et al. (2014) ermittelten in einer aufwändigen und differenzierten empirischen Studie die Wünsche von Therapeuten in der Ausbildung an ihre Supervisoren sowie deren Auffassungen darüber mit der Methode des zentralen Beziehungskonflikts (ZBKT) (vgl. Steinmetzer, Fissabre & Nagell, 2016, image Kap. 6).

Die Untersuchung und Problematisierung überhöhter Vorstellungen, was Supervision leisten kann, ist ein weiteres wichtiges Untersuchungsfeld (z. B. Lesser, 1983; Werbart, 2007). Die Wichtigkeit einer guten Real- und Arbeitsbeziehung betont vor allem Watkins (2012).

Damit sind einige der wichtigsten gegenwärtigen Probleme benannt, die in den zurückliegenden Jahren zu einer intensiven Erforschung supervisorischer Prozesse in der Ausbildung geführt haben (z. B. Kahl-Popp, 2010; Levin, 2006; Nagell et al. 2014; Szecsödy 2008, Hamburger & Mertens, 2016, image Kap. 10).

2.3       Beispiel

Ein Supervisand berichtet in einer Sitzung den folgenden Traum seines Patienten: Dieser befand sich in einer öffentlichen Toilette, in die sein Therapeut eintrat, sich neben ihn stellte und dabei offensichtlich bemerkte, dass er einen kleinen Penis habe, was ihn genierte.

Der Therapeut fragte seinen Patienten daraufhin ziemlich bald, warum ihm denn dies im Traum peinlich gewesen sei. Worauf dieser etwas erstaunt erwiderte, dass dies doch auf der Hand liegen würde. Der Therapeut gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Beide gingen nicht weiter auf den Traum ein.

War die Frage des Therapeuten, die die Scham des Patienten verringern helfen sollte, nun eher ein unreflektiertes Agieren? Oder war sie durchaus berechtigt, wie der Supervisand meinte? Hatte er mit seiner als einfühlsam empfundenen Frage das freie Mitteilen der Einfälle und damit auch die sich ergebende und zu untersuchende Szene unterbrochen? Der Supervisand gab zu erkennen, dass er mit dieser Frage eigentlich nur die Scham seines Patienten dialogisch und empathisch relativieren wollte: Muss man sich denn wirklich schämen, wenn man glaubt, einen kleinen Penis zu haben? Ist dies nicht eher eine kindliche Angst oder Scham, die man als Erwachsener nicht mehr zu haben braucht? Er hoffte damit, das Schamvolle des Traums abzumildern und auf diese Weise eine korrigierende Erfahrung bei seinem Patienten zu ermöglichen. Außerdem gehöre das Stellen von Fragen zu seiner bevorzugten behandlungstechnischen Auffassung, die er von einigen seiner Ausbilder gelernt habe. Sich nur zurückzuhalten und den Patienten frei assoziieren zu lassen, sei für ihn Ausdruck einer mittlerweile veralteten psychoanalytischen Auffassung.

Der Supervisor wies darauf hin, dass diese Frage aber das gesamte Beziehungsgeschehen zwischen den beiden zum Stillstand gebracht haben könnte. Denn der Therapeut könne doch nun überhaupt nicht mehr erfahren, welche Einfälle sein Patient zu seinem Traum hätte haben können, die zu einem weit verzweigten Netzwerk von Erlebnissen und Situationen hätten führen können und die als gemeinsamen Nenner ein Schamgefühl wegen eines »Zu-kurz-Gekommen-Seins« aufweisen würden. Des Weiteren, dass damit nicht zur Sprache komme, welches Beziehungserleben zwischen dem Patienten und seinem Analytiker sich im Traum ausdrücke. Welche Intervention in der vorangegangenen Stunde könnte zum Beispiel vom Patienten als überwältigend und beschämend wahrgenommen worden sein?

Als der Supervisor nun die leichte Verstimmung und das Gekränktsein seines Supervisanden bemerkte, fragte er sich, ob er jetzt selbst zu schnell und zu überwältigend für seinen Supervisanden reagiert habe. Spielte sich zwischen ihnen beiden nun eine ähnliche Szene ab wie zwischen dem Therapeuten und seinem Patienten? Und waren vielleicht in früheren Stunden erfolgte supervisorische Hinweise vom Supervisanden bereits wie ein beschämendes Sich-kleingemacht-Fühlen wahrgenommen worden, was dazu geführt haben könnte, dass er nun seinen Patienten indirekt dadurch beschämte, dass er ihm keine Möglichkeit zur Erkundung der Beziehung zwischen ihnen beiden einräumte? Stattdessen wehrte er mit einer scheinbar emotional korrigierenden Erfahrung das für beide peinliche Beziehungsgeschehen ab und ließ dem Patienten damit aber keine Möglichkeit, sich mit seiner Schamangst und mit dem Gefühl, von seinem Therapeuten real beschämt worden zu sein, tatsächlich auseinanderzusetzen.

Aber sollte nun der Supervisor dies seinem Supervisanden, der des Öfteren dazu neigte, das Beziehungsgeschehen mit einer alles verstehenden Geste zuzudecken, einfach »durchgehen« lassen? Bei allem Respekt vor den zeitgenössischen Auffassungen, Supervision auf Augenhöhe zu betreiben und selbstverständlich auch auf Spiegel- und Parallelphänomene zu achten, ging ihm dies dann doch zu weit. Er verstand es als ein Muss seiner professionellen Kompetenz, seinen Supervisanden auf seine blinden Flecke hinsichtlich des Beziehungsgeschehens aufmerksam zu machen. Und er hoffte auch, seinem Supervisanden trotz aller unterschiedlicher Auffassungen, die es gegenwärtig in der Psychoanalyse dazu gibt, verständlich machen zu können, an welchen Stellen derartige Fragen oder Aufmunterungen tatsächlich angebracht sein können und an welchen nicht.

Mit dieser Darlegung wären die Grundlagen für ein gemeinsames Lernen darüber geschaffen, welche Erkenntnishaltungen und Interventionen in einer bestimmten Beziehungssituation für den analytischen Prozess am förderlichsten sind. Damit könnte auch vermieden werden, dass ein Supervisand den Eindruck bekommt, eine bestimmte Auffassung seines Supervisors einfach übernehmen zu müssen. Nein, auch er hat selbstverständlich die Möglichkeit, seine Entscheidung für eine bestimmte Intervention, wie zum Beispiel eine Frage zu stellen, zu begründen und entsprechend zu rechtfertigen. Und es kann dann durchaus vorkommen, dass der Supervisor seine ursprüngliche Auffassung korrigiert, wenn die Argumente überzeugend sind. Dieser Diskurs, in dem sowohl Unterschiede diskutiert als auch Gemeinsamkeiten festgehalten werden können, setzt eine emotionale Offenheit und selbstverständlich auch eine geschützte Atmosphäre voraus, die im Rahmen von Ausbildungssupervisionen ein »non-reporting-system« zur Grundlage haben sollte (Nagell et al. 2014).

2.4       Themen für die weitere Forschung

Die viel stärkere Berücksichtigung des Beziehungsgeschehens sowie der Persönlichkeit des Analytikers und der Auswirkungen seiner Subjektivität auf den Patienten ist sicherlich die eindrücklichste Veränderung in der Theorie der psychoanalytischen Behandlungstechnik in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es verwundert nicht, dass diese Erkenntnis auch mit den Ergebnissen der Psychotherapieforschung korreliert (z. B. Wampold, 2001). Für viele zeitgenössische Psychoanalytiker besteht der psychoanalytische Prozess aus dem Verstehen des Zusammenspiels der jeweiligen individuellen subjektiven Realitäten mit den intersubjektiven Realitäten, die Therapeut und Patient miteinander erzeugen. Aber trotz dieser Aufmerksamkeit für das prozessuale Zusammenspiel von Therapeut und Patient sollte die Suche nach einem pathogenen Agens im Unbewussten des Patienten nicht vorschnell einer vergangenen Behandlungsauffassung zugeordnet werden.

2.5       Empfohlene Literatur

 

Hohage, R. (1996). Analytisch orientierte Psychotherapie in der Praxis. Behandlungsplanung – Kassenanträge – Supervision. Stuttgart: Schattauer (5., vollst. überarb. u. erweit. Aufl., 2011.).

Kahl-Popp, J. (2004). Lernziel: Kontextbezogene psychotherapeutische Kompetenz. Gedanken zur psychoanalytischen Ausbildung. Forum der Psychoanalyse, 20, 403–418.

Kernberg, O. F. (2010). Psychoanalytic supervision: The supervisor’s tasks. Psychoanalytic Quarterly, 79, 603–627.

Moga, D. E. & Cabaniss, D. L. (2014). Learning objectives for supervision: benefits for candidates and beyond. Psychoanalytic Inquiry, 34, 528–537.

Psychoanalytic Inquiry, 34,