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Sina Arnold

Das unsichtbare Vorurteil

Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition

© 2016 by Hamburger Edition

(Die vorliegende Arbeit wurde an der Technischen Universität Berlin, Fakultät I, als Dissertation zum Erwerb des Grades Dr. phil. vorgelegt und verteidigt.)

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Einleitung

Fragestellung und Forschungszugang

ITheoretische und historische Hintergründe

1Theoretische Bezüge und Forschungsstand

»Neuer Antisemitismus«

Antisemitismus von links

Begriffsklärungen I: Antisemitismus

Begriffsklärungen II: Antizionismus – Israelkritik – Kritik an israelischer Politik

Zur Analyse von Antisemitismusdiskursen und ihrer Ermöglichungsbedingungen

Frameanalyse und kulturelle Gelegenheitsstrukturen

2Antisemitismus in den USA – Ein historischer Überblick

Diskriminierung und Dualismen: Von den britischen Kolonien zum Ersten Weltkrieg

Institutionalisierung und Ideologie: Das frühe 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg

Assimilation und Amerikanisierung: Nach dem Holocaust bis 9/11

Merkmale und Ursprünge des amerikanischen Antisemitismus

3Traditionslinien linker Antisemitismusdiskurse

Vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg: Die Populists

Das frühe 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg: Die Old Left und ihre Vorläufer

Nach dem Holocaust: Die New Left und ihre Nachfolger

Das historische Erbe linker Antisemitismusdiskurse

4What’s left of the Left? Die US-Linke nach 9/11

»Ein totales, wenn auch edles Scheitern«? – Die Wellen einer Bewegung

Beschreibung einer heterogenen Bewegung

Aktuelle Antisemitismusdebatten

IIIm Gespräch – Empirie

5Datenübersicht und Methodik

Gruppenauswahl und -übersicht

Feldzugang und Schwierigkeiten im Forschungsprozess

Quellen

Der Leitfragebogen

Auswertung der Interviews

6Konzeptualisierungen von Antisemitismus und Juden

Antisemitismus in den USA und der Welt: Ausmaß und Bewertung

Definitionen und Erklärungen für Antisemitismus

Antisemitische Topoi

7Anschlussdiskurse

Antirassismus

Holocaust und Holocaustgedenken

Die USA und ihre politischen Strukturen

Kapitalismuskritik

8»Different ways of being Jewish«: Jüdisch-linke Identitäten

Historische Grundlagen linker und zionistischer jüdischer Identität in den USA

»Perfectly happy to be a Jew« – Jüdische Selbstidentifizierung

Antisemitismus- und Selbsthassvorwürfe als Angriff auf jüdische Identität

»Neue Rituale des Dissens« – Das Verhandeln jüdischer Identität

Zusammenfassung: Die Spezifik jüdischer Diskurse

9Schlüsse: Merkmale, Erklärungen, theoretische Implikationen

Zentrale Merkmale linker Antisemitismusdiskurse in den USA

Erklärungsansätze: Die Ermöglichungsbedingungen von Antisemitismusdiskursen

»I’ve been very silent« – Politische Implikationen

Theoretische Implikationen

Jenseits der Ohnmacht: Entwicklungen und Irrwege der Linken

Anhang

Übersicht der Expert_inneninterviews

Übersicht der Leitfadeninterviews

Transkriptionsregeln

Abkürzungsverzeichnis

Bibliografie

Danksagung

Zur Autorin

Einleitung

»If you have not been called anti-Semitic, you are not working hard enough for justice in Palestine.«1 Diese Aufschrift findet sich auf einem T-Shirt, welches die Mitbegründerin der für die Gaza Freedom Flotilla bekannt gewordenen Free Gaza Movement vermarktet.2 Die 73-jährige US-Amerikanerin Greta Berlin ist seit den 1960er Jahren Aktivistin in propalästinensischen und linken Bewegungen. Wie ist es zu erklären, dass eine selbsternannte Streiterin für eine Gesellschaft jenseits von Rassismus und Diskriminierung stolz darauf ist, als antisemitisch bezeichnet zu werden? Welcher Antisemitismusbegriff liegt diesem Wunsch zugrunde? Von welchen Akteuren und aus welcher politischen Richtung erwartet Greta Berlin den als Kompliment begriffenen Antisemitismusvorwurf?

Die Aufschrift verweist auf das ambivalente Verhältnis, welches linke soziale Bewegungen in den USA zum Antisemitismus haben und welches Gegenstand der vorliegenden Studie ist. Sie ist auch Ausdruck grundlegender Veränderungen in den Kommunikationsbedingungen antisemitischer Stereotype seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Zu diesen gehören globale Entwicklungen, Wendepunkte in der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik wie auch ein ideologischer Wandel in der amerikanisch-jüdischen Community.3 Auf diese Veränderungen reagierte wiederum die US-Linke mit eigenen inhaltlichen Paradigmenwechseln.

Eine dieser globalen Veränderungen wird mit dem Begriff »Neuer Antisemitismus« erfasst, welcher den Anstieg judenfeindlicher Straftaten und Einstellungen seit Beginn des Jahrtausends bezeichnet, aber auch auf qualitative Veränderungen antisemitischer Kontexte und Stereotype verweist: Antisemitismus basiert zunehmend seltener auf der Vorstellung »rassischer« Überlegenheit, sondern findet seinen Ausdruck vermehrt in antizionistischen Aussagen. Der Nahostkonflikt, nicht mehr der Nationalsozialismus, ist zentraler weltpolitischer Bezugspunkt für die Artikulation von Ressentiments. Und obwohl Antisemitismus weiterhin ein Phänomen der Rechten ist, wird neben muslimischen Communitys in Europa auch die Linke verstärkt als Trägergruppe und zentraler Akteur fokussiert. Antirassismus, Antiimperialismus oder Antikolonialismus gelten als erneuerte ideologische Anknüpfungspunkte für einen virulenten Antizionismus, der fließende Übergänge zum Antisemitismus zeigt. Diese Verbindung zu Ideologemen des »Neuen Antisemitismus« lässt sich exemplarisch an den Vorgängen rund um die dritte »Weltkonferenz gegen Rassismus, rassistische Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz« der Vereinten Nationen verdeutlichen, die im September 2001 im südafrikanischen Durban stattfand. 3000 Nichtregierungsorganisationen verabschiedeten eine Erklärung, in welcher Israel als rassistisch charakterisiert bzw. Zionismus mit Rassismus gleichgesetzt wurde, Antisemitismus keine Erwähnung fand und die Einwände jüdischer Organisationen ignoriert wurden. Die antirassistische Grundhaltung trug paradoxerweise zu dieser einseitigen Verurteilung Israels bei. Neben diesen ideologischen Veränderungen hatte die UN-Konferenz in den USA und anderswo auch praktische Auswirkungen, indem sie propalästinensische Aktivitäten wie die Boycott, Divestment and Sanctions-Campaign (BDS) beförderte, die bereits seit der zweiten Intifada 2000 erstarkt waren.

Auch die im gleichen Monat verübten Anschläge vom 11. September markierten in den hier untersuchten Sachverhalten eine Zäsur. Die Attentate erschütterten die amerikanische Gesellschaft und führten für viele zu dem Gefühl einer nationalen Krise. Das erste Mal seit dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 wurden die USA auf ihrem eigenen Territorium attackiert. Im Rahmen des darauf folgenden »Krieges gegen den Terror«4 kam es zu einem Anstieg von Nationalismus, militärischer Aufrüstung und der Verstärkung von Maßnahmen zur sogenannten inneren Sicherheit. Gesetze wie der Patriot Act und der Enhanced US Border Security and Visa Entry Reform Act beschränkten Bürgerrechte und führten weitreichende Erfassungs- und Verwahrungspraxen ein.5 Diese betrafen insbesondere die muslimisch-arabische Minderheit, die sich nach 9/11 zunehmendem Rassismus ausgesetzt sah.6 Auch ein kurzfristiger Anstieg antijüdischer Ressentiments konnte festgestellt werden: 2002 zeigten 17 Prozent der US-Amerikaner_innen7 manifest antisemitische Einstellungen – der höchste Wert seit mehreren Jahren.8 Überdies nahm in den darauffolgenden Jahren die Verbreitung antisemitischer und anderer Verschwörungstheorien zu, vor allem in der wachsenden Anzahl extrem rechter Gruppen.9 Doch Verschwörungstheorien, die den israelischen Geheimdienst für die Anschläge verantwortlich machten oder behaupteten, dass mehrere Tausend jüdische Angestellte am 11. September nicht im World Trade Center erschienen seien, zirkulierten auch in der amerikanischen Linken.10

Diese globalen und nationalen Entwicklungen riefen bei zahlreichen Juden und Jüdinnen in den USA Angst vor einem dauerhaft erstarkenden Antisemitismus hervor. Auch der Zusammenbruch des Osloer Friedensprozesses und der Ausbruch der zweiten Intifada hatten Auswirkungen auf Teile der amerikanisch-jüdischen Community, die sich nach ersten Brüchen in den 1990er Jahren nun wieder eindeutiger proisraelisch positionierte.11 Gleichzeitig können seit einigen Jahren grundlegende inhaltlich-identifikatorische Veränderungen gerade in der jüngeren Generation beobachtet werden: Die traditionelle Identifikation mit Israel schwindet, jüdische Gruppen vertreten als sichtbare Akteure antizionistische Positionen in der Linken. Diese konvergierenden Entwicklungen sind die Grundlage einer weithin diskutierten Krise des zeitgenössischen amerikanischen Judentums.

Ein letzter Einflussfaktor für die erwähnten Veränderungen in den Kommunikationsbedingungen antisemitischer Stereotype stellen außenpolitische Entwicklungen der USA dar: Nach den Anschlägen vom 11. September dominierten hier kriegerische Rhetorik, binäre Freund-Feind-Schemata und ein erneuter Unilateralismus gegenüber vorherigen Strategien multilateralen Agierens und defensiver Orientierung, z.B. im Mittleren Osten.12 Die Kriege in Irak und Afghanistan setzten Begriffe wie Imperialismus bzw. Imperialität in den USA wieder auf die Tagesordnung, sowohl in sozialwissenschaftlichen als auch in medialen Debatten.13 Wenige Jahre später erschütterte die USA die größte Finanzkrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre und stellte die Legitimation politischer und ökonomischer Institutionen und Grundprinzipien infrage.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts stellte die USA somit vor mehrere Krisen – wirtschaftlich, innenpolitisch, außenpolitisch.14 Da Antisemitismus historisch eine mögliche Reaktion auf Krisen darstellte, nahm es nicht wunder, dass kurz nach Beginn der Finanzkrise 2008 zahlreiche judenfeindliche Interpretationen derselben zirkulierten.15 Aber auch alternative Vorstellungen gesellschaftlicher Organisation werden in Krisenzeiten virulent, auch linke Ideen können somit an Relevanz gewinnen. Die fragmentierte und geschwächte Linke in den USA, für die Anfang des Jahrtausends eine neue »Post-9/11 Era«16 begann, reagierte zwangsläufig auf diese unterschiedlichen innen- wie außenpolitischen Entwicklungen. Nationalismus, Sicherheitsdiskurs, War on Terror, antimuslimischer Rassismus und Finanzkrise waren Themen, auf die progressive Bewegungen nun Bezug nehmen mussten. Anstelle der Kritik am Neoliberalismus, die die globalisierungskritische Bewegung 1999 noch initiiert und geleitet hatte, rückte der Protest gegen die US-amerikanischen Kriege in den Vordergrund des linken Aktivismus. Nach dem 11. September respektive der zweiten Intifada wurden Antiimperialismus und Antizionismus zu zentralen linken Themen.17 Propalästinensischer Aktivismus wurde wichtiger Bezugspunkt für außerparlamentarische Bewegungen und die BDS-Bewegung, vom Journalisten Thomas Friedman als »dritte Intifada«18 bezeichnet, erhielt insbesondere nach der israelischen Militäroperation »Gegossenes Blei« im Gazastreifen 2009 Aufwind. Und 2011 formierte sich mit Occupy Wall Street schließlich eine Antwort auf die Finanzkrise, die sich zur größten linken Mobilisierung in den USA seit dem kurzen Aufflammen der globalisierungskritischen Bewegung ausweiten sollte. Kritik an sozialer Ungleichheit und bestimmten Aspekten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurde nun erneut artikuliert.

Diese Entwicklungen in der Linken wirkten sich unweigerlich auf Positionierungen zu Antisemitismus aus: An amerikanischen Colleges und Universitäten hatten nicht nur propalästinensische Aktivitäten, sondern auch antisemitische Vorfälle zugenommen. Die United States Commission on Civil Rights konstatierte einen Zusammenhang und beschrieb diesen Campus Antisemitism als »ernsthaftes Problem«.19 Die Fokussierung auf Antiimperialismus führte in Teilen der Linken zu einer apologetischen Haltung gegenüber den Anschlägen vom 11. September und zu einer Unterstützung jedweder Form antiamerikanischen Widerstands im Irak. Antisemitische Einstellungen radikalislamistischer Akteure wurden ignoriert, in der propalästinensischen Bewegung Gruppen wie Hamas und Aktionsformen wie Selbstmordattentate teilweise entschuldigt. Wiederholt waren auf Antikriegsdemonstrationen wie auch bei Occupy Wall Street antisemitische Schilder zu sehen, die beispielsweise Bilder jüdischer Macht in der Regierung und im Finanzwesen heraufbeschworen.

Im Rahmen der Debatten um den »Neuen Antisemitismus« kam es zu verstärkten Vorwürfen gegenüber progressiven Bewegungen. Die US-Linke reagierte auf diese Anschuldigungen zumeist mit Abwehr, kritische Stimmen wurden oft ignoriert.

Diesen linken inhaltlichen Positionierungen und Dynamiken widmet sich die vorliegende Studie. Ihrem Gegenstand – kontemporären Antisemitismusdiskursen in der US-amerikanischen Linken – nähert sie sich aus zwei Richtungen: Aus der Perspektive der Antisemitismusforschung fragt sie nach den nationalen Spezifika des »Neuen Antisemitismus« nach 9/11 in den USA, unter besonderer Berücksichtigung der politischen Linken als eines oft genannten Akteurs. Vonseiten der Bewegungsforschung fragt sie nach Veränderungen in der US-amerikanischen Linken in diesem von einer politischen und einer wirtschaftlichen Krise gerahmten Jahrzehnt, und spezifisch nach der Bedeutung von Antisemitismus in der Reaktion auf diese Krisen und in deren Interpretation.

Die wenigen existenten empirischen Untersuchungen sind häufig auf den deutschsprachigen Raum beschränkt und zeigen somit nur bedingt, welche Merkmale dieser linken Antisemitismusdiskurse aus dem spezifischen nationalen und welche aus dem bewegungspolitischen Kontext heraus zu erklären sind – was also das »Deutsche« und was das »Linke« an ihnen ist. Während die Kontextabhängigkeit antisemitischer Stereotype für eine internationale Perspektive sprechen würde, ist neben dem generellen Mangel an empirischem Material ein ebensolcher insbesondere an transatlantischen Bezugspunkten zu konstatieren. Die USA weisen aber im Vergleich zu Deutschland zahlreiche Besonderheiten auf: Antisemitismus war hier zwar phasenweise auch virulent, nie aber Staatsprogramm. Mehr noch: Staatliche Politiken und das nationale Selbstverständnis richteten sich zumeist explizit gegen Antisemitismus. Seit den 1950er Jahren nahm dieser stark ab, einen Sekundärantisemitismus gibt es nicht in vergleichbarer Form. Nicht nur sind die Vereinigten Staaten Israels engster Alliierter, proisraelische Einstellungen sind auch in der Bevölkerung weit verbreitet. Die jüdische Minderheit ist gesellschaftlich fest verankert und politisch sichtbar, auch in der Linken sind Juden und Jüdinnen prominent vertreten. Diese und andere Spezifika müssen notwendigerweise Auswirkungen auf die Artikulationsbedingungen antisemitischer Stereotype, auf diese Stereotype selbst wie auch auf linke Politik haben. Eine Gesellschaft, in der offener Antisemitismus wenig sichtbar ist, gerät leicht aus dem Blick der sozialwissenschaftlichen Forschung, die für sich häufig die Beschäftigung mit drängenden gesellschaftlichen Problemen reklamiert. Wenn aber Antisemitismus als ein grundlegendes ideologisches Phänomen bürgerlichkapitalistischer Gesellschaften betrachtet wird, dann ist es umso notwendiger, dieses auch jenseits von unmittelbarer Sichtbarkeit zu analysieren – oder eben der Frage nachzugehen, warum es in manchen Ländern und den jeweiligen Subkulturen weniger virulent als in anderen ist. Eine international komparative Forschung erscheint umso wichtiger, da das »bewegliche Vorurteil«20 sich veränderten weltpolitischen Gegebenheiten anpasst. Trotz inhaltlicher und struktureller Kontinuitäten haben antisemitische Ideologeme spezifische Ausdrucksweisen und Funktionen in unterschiedlichen Kontexten. Dieses Buch setzt es sich zum Ziel, über die Analyse eines oftmals vernachlässigten nationalen Kontextes Ansatzpunkte für einen entsprechenden (Sub-)Kulturvergleich zu geben.

Fragestellung und Forschungszugang

Die vorliegende Studie untersucht, ob sich antisemitische Argumentationsmuster unter Mitgliedern linker sozialer Bewegungen der USA finden, um welche es sich handelt und in welchen Kontexten diese auftreten. Damit zusammenhängend analysiert sie die Perspektiven von Linken auf das Phänomen »Antisemitismus« und dessen Anschlussdiskurse seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Es wird gefragt, welche Vorstellungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diese spezifischen Positionierungen in einer Bewegung fördern und verstärken und welche sie einschränken. Im Fokus der Betrachtung stehen also die Ermöglichungsbedingungen von Antisemitismusdiskursen. Ihre empirisch-ethnografische Grundlage sind Leitfadeninterviews, die Analyse von Bewegungsliteratur, teilnehmende Beobachtung sowie unterstützende Expert_inneninterviews. Auf einer subjektiven Seite soll die Arbeit Wahrnehmungen in Form von Motivation und Argumentationsfiguren untersuchen. Darüber hinaus bettet sie entsprechende Sichtweisen in Lebenswelten und Alltagshandeln ein und somit in die praktischen Interventionen von Akteuren, die als politische Aktivist_innen Gesellschaft mitgestalten.

Unter »Antisemitismusdiskursen« verstehe ich im Folgenden sowohl antisemitisches Sprechen als auch Sprechen über Antisemitismus.21 »Linke Antisemitismusdiskurse« bezeichnen also die spezifische Verwendung von und den Umgang mit antisemitischen Stereotypen in linken sozialen Bewegungen sowie das vorherrschende Wissen um den Themenkomplex »Antisemitismus«, d.h. die Erklärungen und Definition für dieses Phänomen, die Haltungen und Umgangsstrategien. Die Betrachtung von Diskursen zielt auf die generalisierbare und gesellschaftliche Dimension ab: Es geht eben nicht um individuelle Einstellungen zu Juden, Jüdinnen und zum Themenkomplex »Antisemitismus«, sondern es gibt – so die Arbeitshypothese – eine verallgemeinerbare Dimension, die sich entlang der Selbstbeschreibung als »links« festmacht. Auseinandersetzungen über das Thema »Antisemitismus« sind nicht beliebig, sondern unterliegen bestimmten kommunikativen Strukturen. Es sind diese politische Öffentlichkeit und ihre Dynamiken, die im Fokus der Analyse stehen. Mit »Diskurs« sind also kollektive Wissensordnungen und Sinnsysteme gemeint, die über sprachliche und andere Handlungen produziert und reproduziert werden. Der Begriff bezeichnet »gesellschaftliche Praktiken und Prozesse der kommunikativen Konstruktion, Stabilisierung und Transformation symbolischer Ordnungen sowie deren Folgen«,22 die in der vorliegenden Arbeit in einem bestimmten subkulturellen Milieu analysiert werden.

Auch in linken Aussagen und Praktiken werden teilweise antisemitische Stereotype reproduziert. Linke Bewegungen haben aber auch ganz bestimmte Vorstellungen davon, was unter »Antisemitismus« zu begreifen ist (und was nicht), wie dieser entsteht, wie sich ihm gegenüber zu verhalten ist, wie das Phänomen historisch und gesellschaftspolitisch einzuordnen ist und wie es in Relation zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen sowie zu Institutionen und Akteuren steht. Dieses geteilte Wissen bezeichne ich als »Antisemitismusdiskurse«. Die Zusammenfassung zweier Diskursfelder – antisemitisches Sprechen und Sprechen über Antisemitismus – mag erklärungsbedürftig sein und ergab sich im Laufe des Forschungsprozesses. Zu Beginn der vorliegenden Untersuchung stand die Frage nach antisemitischen Topoi in linken Diskursen. Nach Sichtung der Quellen und dem Einstieg in die empirische Forschung wurde klar, dass antisemitisches Sprechen nicht getrennt zu begreifen ist vom Antisemitismusverständnis wie auch von gesamtgesellschaftlichen Sichtweisen auf den Gegenstand. Die entsprechenden Debatten in den USA werden emotionalisiert und mit kämpferischer Rhetorik ausgetragen. In einem solchen Fall orientieren sich Individuen und Bewegungen, wie es Michael Schetsche beschreibt, »in ihrem Denken und Handeln nicht mehr am Sachverhalt selbst, sondern an der zu einem Wahrnehmungskokon verdichteten Problemwahrnehmung, in welchen der Sachverhalt gleichsam eingesponnen ist«.23 Das bedeutet: In der Gegenwart können antisemitische Stereotype nur schwerlich ohne die Reflexion gesamtgesellschaftlicher Diskurse über das Phänomen geäußert werden. Dies stellt auch eine Herausforderung für die wissenschaftliche Analyse des Themenfelds dar, ist diese doch »nicht mehr in der Lage, den ursprünglichen Sachverhalt getrennt von den problematisierenden Zuschreibungen zu untersuchen«.24 Die vorliegende Studie wagt diesen Versuch trotzdem, muss aber gleichzeitig reflektieren, dass auch sie in eben dieses politisierte Diskursfeld eingebettet ist.

Die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Antisemitismusdiskursen wird basierend auf der Analyse von drei Ebenen versucht zu beantworten:

Auf der Makroebene werden der nationale Kontext und die von ihm zur Verfügung gestellten Gelegenheitsstrukturen untersucht, d.h. die Bedingungen, die sich gesamtgesellschaftlich für die Artikulation antisemitischer Äußerungen stellen. Oben ausgeführte politische Entwicklungen gehören ebenso dazu, wie in diesen Zugang notwendigerweise Historizität eingebaut ist, stellt doch die geschichtliche Ausformung gesamtgesellschaftlicher wie spezifisch linker Antisemitismusdiskurse eine Grundlage für gegenwärtige Ausformungen dar.

Auf der Mesoebene werden die theoretischen Grundlagen linker Bewegungen betrachtet, denn aktuelle Interpretationen politischer Gegebenheiten wirken sich auf die Wahrnehmung des Phänomens »Antisemitismus« aus. Unabdingbar ist hierfür die Analyse des theoretischen Verständnisses diskursiver Anschlussfelder, darunter Antirassismus, der Nahostkonflikt, der Holocaust und Holocausterinnerung, die USA und ihre politischen Strukturen sowie Kapitalismuskritik. Auch die Interpretation oben erwähnter globaler und nationaler Ereignisse spielt in diesen Feldern eine zentrale Rolle.

Auf der Mikroebene schließlich wird der Blick auf die identitären Bezüge von Bewegungsteilnehmenden gegenüber dem Themenfeld »Antisemitismus« gerichtet. Kollektive Identitätsvorstellungen, beispielsweise als »links« oder als »jüdisch«, haben eine unweigerliche Wechselwirkung mit Antisemitismusdiskursen.

Für diese Analysen bedient sich die vorliegende Untersuchung aus unterschiedlichen Disziplinen: Ihre theoretischen Ansätze entstammen der soziologischen Antisemitismusforschung und der sozialen Bewegungsforschung. Diese Teilbereiche der Soziologie weisen bisher erstaunlich wenig Überschneidungspunkte auf, obwohl antisemitische (und anti-antisemitische) Mobilmachung doch zumeist ein Kollektivprozess war und ist. Methodisch bedient sich die Arbeit ethnografischer Zugänge. Die qualitativen Methoden erlauben es, die Bedeutungssysteme, Selbstwahrnehmungen und Motivationslagen von Akteur_innen einzubeziehen. Mit diesem theoretisch fundierten empirischen Zugang hoffe ich, den von Werner Bergmann und Mona Körte proklamierten Forderungen gerecht zu werden: »Eine integrierte Forschung jenseits traditioneller Fachgrenzen könnte die positivistische Sammlung von Belegstellen als Form des wissenschaftlichen Arbeitens ablösen, da von diesem Typus eine bloße Auffindung vermeintlicher Konstanten anstelle einer seismografischen Erfassung der Beweglichkeit von Vorurteilen zu erwarten ist.«25 Durch eine dichte Beschreibung von Diskussionen um und Blickweisen auf Antisemitismus und angrenzende Diskurse in der US-Linken soll vielmehr die spezifische Ausformung bestimmter Stereotype und der Umgang mit ihnen erklärt werden.

Anlass zu dieser Auseinandersetzung waren nicht zuletzt persönliche Erlebnisse und Debatten in der deutschen Linken und die Beobachtung der hier in den letzten fünfzehn Jahren stattgefundenen Lernprozesse.26 Insofern ist die vorliegende Arbeit Ausdruck einer aufrichtigen, wenn auch kritischen Solidarität mit progressiven Bewegungen in den USA.27 Sie will durch einen wissenschaftlichen Zugang zu einer unaufgeregt-rationalen Beschäftigung mit einem politisch hoch emotionalisiertem Thema beitragen, um über ein analytisches Verständnis sowohl die Bekämpfung des Antisemitismus als auch das Projekt der globalen Linken zu befördern.

Entsprechend dem eben skizzierten Zugang befasst sich die Arbeit in Teil I mit den theoretischen und historischen Hintergründen, die der empirischen Untersuchung zugrunde liegen. Aufbauend auf diesen theoretischen, historischen und bewegungsspezifischen Grundlagen widmet sich die Arbeit in Teil II der Darstellung der empirischen Ergebnisse.

1»Wenn du noch nicht als antisemitisch bezeichnet wurdest, arbeitest du nicht hart genug für Gerechtigkeit in Palästina.« In der vorliegenden Arbeit wird, außer bei anderslautenden Zitaten in Originaltexten, die Schreibweise antisemitism bzw. antisemitic verwendet. Im Englischen ist ebenfalls anti-semitism oder häufiger noch anti-Semitism gebräuchlich. Da diese Formen jedoch indirekt eine Ablehnung gegen die Sprachfamilie bzw. »Rasse« der »Semiten« suggerieren, ist die Schreibweise ohne Bindestrich präziser (vgl. Almog, What’s in a Hyphen?; Chanes, Antisemitism in America Today, S. xv f.). Sie betont die Eigenständigkeit eines Begriffs, welcher seit seiner Prägung durch den deutschen Journalisten Wilhelm Marr 1879 immer und ausschließlich gegen »Juden« gerichtet war. In die USA wurde der Terminus in seiner Übersetzung erst langsam transferiert (Cohen, Antisemitism in the Gilded Age, S. 187), vielleicht auch, weil Bezeichnungen wie »Israelite« oder »Hebrew« gebräuchlicher waren als »Semite«.

2Die »Gaza Freedom Flotilla« versuchte im Mai 2010, mit einem Schiffskonvoi die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Bei dem Angriff der israelischen Armee auf eines der Schiffe wurden neun Personen getötet.

Das T-Shirt wird auf der Website des britischen Jazzmusikers Gilad Atzmon vertrieben, der für seine kontroversen antizionistischen und teilweise antisemitischen Aussagen bekannt ist, vgl. http://gilad.co.uk/writings/genius-t-shirt-truth-shirt.html [05. 02. 2016].

3Die Bezeichnungen »amerikanisch«, »Amerikaner« etc. beziehen sich in der folgenden Arbeit, wenn nicht anders markiert, ausschließlich auf die USA. Zur Definition der »Linken«, vgl. Kapitel 4.

4Definiert von Rainer Rilling als »nicht nur Bündel institutioneller Praktiken (militärische und diplomatische Operationen, Organisationsaktivitäten, Standardprozeduren der Gewaltproduktion und -einhegung), sondern auch ein parallel laufendes diskursives Projekt, das eine besondere Sprache des Antiterrorkrieges mit eigenen Annahmen, Texten, Symbolen, rhetorischen Figuren, Bildern, Metaphern, Gleichnissen, Vereinfachungen, Erzählungen und Bedeutungen praktiziert« (Rilling, Risse im Empire, S. 139, Hervorhebung i. O.).

5Ebd. S. 137.

6Kaplan, Islamophobia in America?; Panagopoulos, Arab and Muslim Americans and Islam in the Aftermath of 9/11.

7In dieser Arbeit wird auf geschlechtsneutrale Bezeichnungen oder auf Schreibweisen zurückgegriffen, die auch Frauen und Trans-Personen sprachlich einbeziehen. Damit wird den Erkenntnissen der feministischen Linguistik Rechnung getragen, nach der die männliche Pluralform Bilder an eine männliche Gruppe evoziert und somit entsprechende soziale Vorstellungen festigt (vgl. etwa Irmen/Linner, Die Repräsentation generisch maskuliner Personenbezeichnungen). Das generische Maskulinum wird in dieser Arbeit allerdings immer dann verwendet, wenn historische oder aktuelle Kontexte tatsächlich rein männlich oder männlich dominiert waren oder sind – dies auch, um reale vergeschlechtlichte Macht- und Herrschaftsverhältnisse, etwa in Politik und Wissenschaft, sichtbar zu machen. Außerdem greife ich auf die singuläre männliche Form zurück, um Stereotype zu markieren, etwa wenn »der Jude« zu einem Gattungsbegriff wird, der mit realen Juden und Jüdinnen nichts zu tun hat.

8Anti-Defamation League, Anti-Semitism in America 2002, 2002b, S. 7.

9Knickerbocker, Behind a Growth in Anti-Semitism across the US, S. 1; Stempel/Hargrove/Stempel, Media Use, Social Structure, and Belief in 9/11 Conspiracy Theories, S. 353.

10Kaplan, Antisemitism after September 11th, S. 26.

11Dies., The Jewish Divide on Israel; Rosenthal, Irreconcilable Differences?, S. 196.

12Rilling, Risse im Empire, S. 132.

13Vgl. Biskamp, Die Dramaturgie demokratischer Imperien, S. 140; Heinrich, Imperialismustheorie, S. 332f.; Seymour, American Insurgents, S. ix f.

14Klüver, Changed? Obama 2012, S. 3.

15Anti-Defamation League, ADL Reports Surge in Anti-Semitic Messages on Online Finance Sites in Response To Money Crisis; Pfeffer, Conspiracy Theory Faults Jews for Lehman Brothers’ Collapse.

16Dixon/Epstein, A Politics and a Sensibility, S. 454.

17Ebd., S. 455; Graeber, Direct Action, S. xvi f.

18Friedman, The Third Intifada, The New York Times, 5. 2. 2014, S. A23.

19United States Commission on Civil Rights, Findings and Recommendations of the United States Commission on Civil Rights Regarding Campus Anti-Semitism.

20Braun/Ziege, Das »bewegliche Vorurteil«.

21In vergleichbarer Form spricht Barbara Schäuble in ihrer empirischen Arbeit zu Antisemitismus unter Jugendlichen in Deutschland vom »Repertoire an antisemitismusrelevanten Äußerungen«, worunter sie sowohl antisemitische als auch gegen Antisemitismus gerichtete Haltungen und Aussagen begreift (vgl. Schäuble, »Anders als Wir«, S. 385).

22Keller, Diskursforschung, S. 59.

23Schetsche, Empirische Analyse sozialer Probleme, S. 44 (Hervorhebung i. O.).

24Ebd.

25Bergmann/Körte, Einleitung: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, S. 22.

26Vgl. Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt.

27Klaus Holz hat zurecht darauf verwiesen, dass anti-antisemitische Grundüberzeugungen und damit einhergehende Werturteile auf Seiten der Forscherin, bei aller gebotenen kritischen Distanz und Objektivität, für ein wissenschaftliches Verständnis des Antisemitismus »geradezu notwendig« sind »um das, was als soziale Gewißheit kommuniziert wird, zum Objekt der Analyse nehmen zu können« (Holz, Nationaler Antisemitismus, S. 70).

I

Theoretische und historische Hintergründe

1

Theoretische Bezüge und Forschungsstand

»Neuer Antisemitismus«

Die vorliegende Arbeit knüpft durch ihren Fokus auf Antisemitismus in der politischen Linken an Debatten an, die in der Antisemitismusforschung seit Anfang der 2000er Jahre unter dem Stichwort »Neuer Antisemitismus« behandelt werden. Darüber hinaus liegt ihr die Theoriebildung zu Antisemitismus »von links« zugrunde. Zur Einordnung sollen beide Diskussionen im Folgenden kurz skizziert werden.

Das Entstehen eines »neuen«Antisemitismus wurde von einigen europäischen Autoren bereits nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 konstatiert.1 Auch im amerikanischen Raum wurde diese Vorstellung schon in den 1970er Jahren diskutiert, die Anti-Defamation League veröffentlichte 1974 sogar ein Buch mit dem Titel The New Anti-Semitism.2 Das »Neue« an diesem Antisemitismus zeichnete sich laut der Autoren weniger durch eine Ablehnung denn durch eine Gleichgültigkeit gegenüber Juden und jüdischen Anliegen aus, wie auch durch antisemitisch motivierten Hass gegenüber Israel. Neben der radikalen Rechten und proarabischen Akteuren wurde erstmals explizit die radikale Linke als relevanter Träger von Antisemitismus benannt. Commentary, die Zeitschrift des American Jewish Committee, griff die These des Buches auf, stellte in einer Artikelüberschrift die Frage Is There a New Anti-Semitism?3 und beantwortete diese positiv. Auch hier wurden an prominenter Stelle antiisraelische Entwicklungen in der US-Linken als besorgniserregend verstanden.4

1982 sah der Journalist Ernest Volkman in A Legacy of Hate – Anti-Semitism in America abermals den Beginn eines »neuen Antisemitismus«:

»Ist es möglich zu erkennen, ob gerade ein ›neuer Antisemitismus‹ beginnt? Ist es möglich, dass die amerikanisch-jüdische Community, die weltweit größte und einflussreichste – in der Jüdinnen und Juden das höchste Maß an wirtschaftlicher und politischer Gleichheit erreicht haben –, einer neuen Welle von Antisemitismus ausgesetzt sein kann, die droht, sie zu zerstören? Leider lautet die Antwort ja.«5

Und gut ein Jahrzehnt später zeigte das Cover des New York Magazine einen brennenden Davidstern und den fettgedruckten Titel The New Anti-Semitism, der auf den gleichnamigen besorgten Leitartikel von Craig Horowitz verwies.6

Trotz dieser punktuellen, schlagwortartigen Verwendung in vier Jahrzehnten kann man von der transnationalen Diskussion eines gleichnamigen Konzepts erst mit Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000 und der Zunahme antisemitischer Straftaten in Europa zu Beginn des Jahrtausends sprechen.7 In den USA wurde die These eines »Neuen Antisemitismus« unter anderem von dem Autor Gabriel Schoenfeld, dem Vorsitzenden der Anti-Defamation League Abraham Foxman und der Feministin Phyllis Chesler einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.8 Diese ersten Publikationen sind im Vergleich zu den europäischen stark populärwissenschaftlich und zeichnen sich stärker durch ein politisches Anliegen denn durch eine grundlegende Analyse aus. Das Schlagwort wurde entsprechend in den USA auch in öffentlichen Debatten aufgegriffen und gewann hier stärkere Popularität als im deutschsprachigen Raum. Foxman spricht von einer drängenden neuen Gefahr: »Ich bin davon überzeugt, dass wir derzeit mit einer ebenso großen Bedrohung der Sicherheit und des Schutzes jüdischer Menschen konfrontiert sind wie in den 1930er Jahren – wenn nicht sogar einer größeren.«9 Cheslers Prognose liest sich ähnlich: »Etwas Grausames geschieht mit Juden weltweit. […] Ich befürchte, dass Juden wieder einmal einer verrückt gewordenen Welt zum Opfer fallen, die auf der Suche nach einem Sündenbock ist.«10 Charakteristisch für neue Entwicklungen im globalen Antisemitismus, so die Vertreter_innen der These eines »Neuen Antisemitismus«, sei ein grundlegender Wandel der Kontexte und Argumentationsfiguren: Nicht mehr der Nationalsozialismus, sondern der Nahostkonflikt sei zentraler Bezugspunkt antisemitischer Akteure. Zunehmend würde Kritik an Israel eine antisemitische Form annehmen. Nicht mehr der nationalstaatliche Rahmen sei Orientierungspunkt für antisemitische Diskurse, vielmehr würde die Debatte international geführt, nicht zuletzt dank der von neuen digitalen Medien gebotenen Möglichkeiten. Zunehmend reproduzierten Medien, Verwaltung und wissenschaftliche Institutionen in demokratischen Gesellschaften antisemitisches Gedankengut.11 Anknüpfungspunkte seien weniger die Vorstellungen angeblicher rassischer oder ethnischer Überlegenheit, sondern vielmehr die Bezugnahme auf Antirassismus und -imperialismus.12 Auch der Antiamerikanismus sei eng mit dem neuen Antisemitismus verzahnt. Der »Neue Antisemitismus« zeichne sich aber auch durch neue Akteure aus: Islamisch geprägte Länder und Diaspora-Communitys in Europa – und hierin vor allem männliche Jugendliche – rückten in den Fokus. Und aufgrund zentraler politischer Anknüpfungspunkte – Antirassismus, Antikolonialismus, Antiimperialismus, Antizionismus, Antiamerikanismus – würde die politische Linke zum zweiten zentralen Akteur.13 Neu sei auch die Kooperation zwischen diesen Akteuren: Gerade der antizionistische Antisemitismus mache »die unterschiedlichsten politischen Lager im Antisemitismus kooperations- und koalitionsfähig«, hier könnten sich der »der islamisierte, der rechtsradikale, der marxistisch-leninistische, der globalisierungskritische und der Antisemitismus der Mitte treffen«.14 Diese Konstellation war zu vorherigen Zeitpunkten kaum möglich.

Die Frage, ob diese Merkmale tatsächlich einen »Neuen Antisemitismus« ausdrücken, bewegt sich in einem bis in die Gegenwart politisch aufgeladenen Feld, Jonathan Judaken spricht für die USA von einem »wissenschaftlichem Revierkampf mit hohen Einsätzen«.15 Kritiken artikulieren sich sowohl entlang des Wortes »neu« als auch entlang des Wortes »Antisemitismus«.

Zu Ersterem: Quantitativ konnte gerade für Europa zu Anfang des Jahrtausends durchaus eine Steigerung antisemitischer Straftaten festgestellt werden. Bergmann zeigt allerdings anhand der vergleichenden Analyse empirischer Studien die Schwierigkeit auf, mit Bestimmtheit von einem »neuartigen« Klima des Antisemitismus zu sprechen. Auf der Einstellungsebene gebe es kurze Periodeneffekte ohne längerfristigen negativen Trend, auf der Ebene der Straftaten eine deutliche Zunahme mit teilweise ungeklärten Einflussfaktoren. Auf der Basis von Umfragedaten, so Bergmanns Fazit, ließe sich bisher nicht von einem »fundamentalen Wandel in der Struktur des Antisemitismus« sprechen.16

In Bezug auf die qualitativen Charakteristika des »Neuen Antisemitismus« analysiert Klaus Holz treffend, dass man nicht von einer grundsätzlich neuen Form des Antisemitismus sprechen kann.17 Vielmehr wird dieser an veränderte weltpolitische Gegebenheiten angepasst und somit der Nahostkonflikt in den Mittelpunkt gerückt. Auch ein globaler Wandel linker Selbstverständlichkeiten nach Zerfall des Realsozialismus, so möchte ich argumentieren und im Laufe dieser Studie erläutern, erleichterte diese Konstellationen des Antisemitismus. Aktuelle Studien aus dem deutschen Kontext deuten überdies darauf hin, dass antisemitische Einstellungen zumeist weiterhin Teil eines generell ethnozentrischen, rassistischen Weltbildes sind.18

Ein zweiter Strang der Kritik fokussiert das zweite Wort des Konzepts: »Antisemitismus«. Während in Europa die Debatten um den »Neuen Antisemitismus« durch die starke Zunahme antisemitischer Übergriffe ausgelöst wurden, liegt der Schwerpunkt der US-amerikanischen Debatten größtenteils auf dem antizionistischen Antisemitismus. Diese eher politisch denn theoretisch motivierte Kritik bezieht sich auf den konstatierten Zusammenhang zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus. Den Vertreter_innen der These eines »Neuen Antisemitismus« wird politischer Missbrauch des Konzepts vorgeworfen. Es möge zwar eine Zunahme an Antizionismus geben, aber: Der »Neue Antisemitismus« sei kein Antisemitismus, sondern lediglich legitime Kritik an Israel.19

Meines Erachtens kann der »Neue Antisemitismus« ein deskriptives Werkzeug darstellen, doch kein umfassendes theoretisches Analysekonzept. Etwas grundlegend »Neues« am »Neuen Antisemitismus« kann quantitativ wie qualitativ infrage gestellt werden, während gleichzeitig den oben genannten Beobachtungen der wandelnden inhaltlichen Bezugspunkte wie neuer Akteurskonstellationen zugestimmt werden muss. Es gilt zu erklären, warum Anschlussstellen seit Beginn des Jahrtausends auch und eventuell sogar verstärkt in linken Bewegungen zu finden sind. Auch das Verhältnis zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel muss historisch und theoretisch gefasst werden. Diesen Aspekten wird sich im Folgenden gewidmet. Inwieweit diese globalen Veränderungen einen neuen Antisemitismus darstellen, für diesen eingesetzt werden oder ihm dem Weg bereiten, wird durch die empirische Analyse exemplarisch zu zeigen sein.

Antisemitismus von links

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, dass sich Antisemitismus in der politischen Linken20 in seinen Grundstrukturen nicht von jenem anderer politischer Akteure unterscheidet, weshalb auch von »Antisemitismus in der Linken«, »von links«, »unter Linken« etc. und nicht von »linkem Antisemitismus« gesprochen wird. Warum dann aber dieses gesonderte Phänomen betrachten? Die Geschichte linker Bewegungen zeigt, dass in diesen immer wieder Antisemitismus artikuliert wurde. Die historische Genealogie von Antisemitismus und darum rankende Debatten in der politischen Linken werden in Kapitel 3 für die USA ausführlich dargestellt. An dieser Stelle soll lediglich an die Grundzüge der Debatten und den Forschungsstand erinnert sowie mein theoretischer Zugang verdeutlicht werden.21 So seien die zahlreichen Beispiele antijüdischer Ressentiments sowohl bei Frühsozialisten und Anarchisten wie Pierre-Joseph Proudhon, Charles Fourier oder Michail Bakunin22 als auch bei Vertretern der Aufklärung wie Voltaire oder Kant23 erwähnt. Das ambivalente Verhältnis des Marxismus-Leninismus zu Juden, Judentum und Antisemitismus haben Klaus Holz und insbesondere Thomas Haury ausführlich analysiert.24 Es fand seine Zuspitzung in stalinistischen Politiken, deren antisemitische Schauprozesse einen Höhepunkt in der Geschichte der Judenfeindschaft unter selbsternannten Linken darstellen. Damit zusammenhängend sind auch die Arbeiten zu Antisemitismus bei den Bolschewiki25, in der KPD26 und der DDR27 sowie in der Sozialdemokratie28 relevant.

Diese Beobachtung antisemitischer Vorurteile und Praktiken in der Linken mag überraschen, sprechen wir doch von einer politischen Strömung, die sich positiv auf Ideale wie Freiheit, Gleichheit oder eine Kritik an Herrschaft und Diskriminierung bezieht. Zwar zeigt linke Geschichte auch eine lange Tradition von Positionierungen gegen Antisemitismus, unter anderem bei so prominenten Sozialisten wie Friedrich Engels und August Bebel, der SPD des späten 19. Jahrhunderts wie auch den russischen Bolschewiki des frühen 20. Jahrhunderts.29 Doch steht diese Traditionslinie neben der Verbreitung judenfeindlicher Bilder, der Ablehnung speziell des jüdischen Nationalismus wie auch einer Abwehr der Beschäftigung mit gesamtgesellschaftlichem Antisemitismus und entsprechenden Ressentiments in den eigenen Reihen. Während etwa Edmund Silberner Antisemitismus als notwendig mit der Linken verbunden versteht, erscheint mir dieser Zusammenhang in linker Theorie und Praxis nicht konstitutiv, wohl aber erklärungsbedürftig.30

Hierfür müssen sowohl linke Traditionen und Theoriegrundlagen als auch der jeweilige gesellschaftliche Kontext betrachtet werden. Linke Theoriebildung bringt nicht nur eine Immunisierung gegen Antisemitismus aufgrund eines grundsätzlich egalitären, antirassistischen Grundverständnisses mit sich, sondern bietet auch theoretische Anknüpfungspunkte für antisemitische Ressentiments. Dass antiimperialistische, personifizierend-antikapitalistische und verschwörungstheoretische Weltbilder mögliche Anschlussstellen zu antisemitischen Stereotypen darstellen können, zeigt nicht nur die Geschichte, ihre theoretische Schlüssigkeit wird auch in den folgenden empirischen Kapiteln erläutert.

Darüber hinaus spielt der gesellschaftliche Kontext eine Rolle zum Verständnis von Antisemitismus in der Linken. Historisch tradierte Bilder und Ideologien werden auch hier, womöglich unbewusst, teilweise fortbestehen. Aufgrund linker Wertvorstellungen und der damit zusammenhängenden Tabuisierung offener diskriminierender Einstellungen wird dieser Antisemitismus allerdings spezifisch artikuliert. Es gibt »semantische Probleme«31 bei dem Versuch, Antisemitismus in das eigene Weltbild zu integrieren. Dies macht es wahrscheinlicher, dass antisemitische Vorstellungen vor allem über Umwege kommuniziert werden.

Und der spezifische nationale Kontext wird sich auch ganz unmittelbar auf Positionierungen auswirken. Ein Beispiel: Antisemitisch-antizionistische Einstellungen in der deutschen Neuen Linken der 1970er Jahre lassen sich nur verstehen, wenn die Einstellungen dieser Nachfolgegeneration der NS-Täterinnen und -Täter eingebettet werden in bundesdeutschen Sekundärantisemitismus und die vorherrschende Kommunikationslatenz nach der Shoah.32 Geteilte Erinnerungskulturen spielten hier ebenso eine Rolle wie innen- und außenpolitische Faktoren nach 1967, darunter Deutschlands Verhältnis zu Israel oder die Politik der Springer-Presse.33 Diese Traditionen prägen bis heute dominante Sichtweisen auf den Nahostkonflikt in der deutschen Linken.34

Angesichts dieser Relevanz des nationalen Kontextes ist es umso bedauernswerter, dass nicht nur die historische, sondern auch die gegenwärtige Analyse des Antisemitismus seit der Neuen Linken stark von deutschen Diskussionen geprägt ist, was eine Übersicht über die Forschungsliteratur zeigt.35 Dazu zählen Betrachtungen der Student_innen- und 68er-Bewegung36 und insbesondere militanter Gruppen.37 Aktuellere untersuchte Strömungen sind die Autonomen, die globalisierungskritische Bewegung oder die Partei DIE LINKE.38 Auch einige wenige aktuelle empirische Arbeiten sind in den letzten Jahren entstanden.39 Zwar existieren historische Werke mit internationaler Reichweite und transnationalen Bezügen,40 doch widmen sich diese nur selten spezifischen nationalen Kontexten. Für die gegenwärtige Linke gilt dies umso stärker. Hier stellt Peter Ullrichs Vergleich zwischen deutschen und britischen Nahostdiskursen eine Ausnahme dar.41 Für die USA wird der Mangel an Forschungen besonders deutlich. Lediglich Arthur Liebmans Studie Jews and the Left42 und die neueren Arbeiten von Stephen Norwood bieten umfassende historische Hintergründe.43

Die vorliegende Arbeit schließt also mehrere Forschungslücken: Sie stellt transatlantische Bezugspunkte und somit die Grundlage für vergleichende Forschungen zu Antisemitismus von links her. Sie bietet empirisch fundierte Erklärungen für gegenwärtige Antisemitismusdiskurse und leistet dabei Verknüpfungen zwischen Antisemitismus- und sozialer Bewegungsforschung. Und schließlich betritt sie mit der qualitativen Beforschung der gegenwärtigen US-amerikanischen Linken empirisches Neuland.

Zusammenfassend erscheint der Blick auf Antisemitismus »von links« als eigenständiges Phänomen lohnenswert und gerechtfertigt. Ob seine gegenwärtige Sichtbarkeit einen neuen Antisemitismus darstellt wird im Anschluss an obige Fragestellungen durch die empirische Analyse behandelt. Dafür muss analysiert werden, welche Rolle der nationale Kontext, aber auch linke Traditionen und Anschlussdiskurse spielen, darunter Antirassismus, Antiimperialismus, Antikolonialismus, Inter- bzw. Antinationalismus und Antizionismus. Gerade dem Letzteren kommt eine besondere Bedeutung zu, sodass im Folgenden eine Begriffsklärung vorgenommen wird.

Antisemitismus