Vorwort

H. P. Lovecrafts »Cthulhu-Mythos« ist ein stabiler Baustein der fantastischen Welten des 20. und 21. Jahrhunderts. Zwar stammt dieser Begriff nicht vom Autor selbst, und er wirft auch einige Probleme auf: Cthulhu ist keineswegs die Zentralgestalt der Lovecraftschen Mythen, und überhaupt lässt sich nur begrenzt von einer zusammenhängenden Mythologie sprechen, als wäre diese ein kohärentes gedankliches System oder auch nur ein festes Figureninventar. Es lässt sich aber doch sofort sehen, was damit gemeint ist, wenn wir also etwas vage und in Ermangelung eines besseren Begriffs vom »Cthulhu-Mythos« sprechen. Im Schatten der Erzählungen H. P. Lovecrafts ist eine ganze Literatur entstanden, die ihre typischen Konstanten hat. Nicht nur tauchen bestimmte Dämonen, Götter, verbotene Bücher, böse Kulte, halbmenschliche Zwischenwesen, änigmatische Orte und monströse Ereignisse immer wieder auf. Das ist sozusagen nur die Außenseite, und viele Autoren haben nur diese Außenseite nachgeahmt. Der eigentliche Charme der Erzählungen Lovecrafts liegt aber in ihrer Leidenschaft, das Einbrechen von etwas Fremdem, Mythischem, Unheimlichem, Gewaltigem, Grausigem in eine vertraute, »nahe« Lebenswelt zu schildern. Das gelingt ihm oft besser als allen seinen Nachahmern, und das ist die »Innenseite« des Cthulhu-Mythos.

Die mythischen Züge in den Erzählungen dieses Bandes sind kein bloßes Beiwerk und schon gar keine beliebig verwendbaren Versatzstücke: Sie sind Bausteine eines ästhetischen Universums, einer Welt, die sich von anderen literarischen Welten radikal unterscheidet. Die Lovecraftsche Mythologie ist ein autarkes System, das durchaus mit Imaginationen wie der Tolkien-Welt oder der Star Trek-Welt verglichen werden kann. Allerdings ist Lovecrafts Mythologie keine Fantasy und auch keine SF, und viel weniger um Kohärenz bemüht. Das unterscheidet sie (wohltuend, würden manche sagen) von den zahlreichen Tolkien-Epigonen, die sich darin üben, Zwergen-, Elben- und Zauberernamen zu erfinden und diese in immer neuen Konflikten zwischen imaginativen Völkern mit wenig divergierenden Besonderheiten anzusiedeln. Insbesondere: Fantasy will im Anderen, im Fremden, das Eigene entdecken. Die Konflikte der Fantasy drehen sich letztlich genauso wie die der menschlichen Welt um Liebe, Erfolg, Erwachsenwerden, Konkurrenz, Macht, Ruhm und Ehre, Sex, Tod, die Themen des Menschseins. Die »Fremdheit« einer Fantasywelt ist in gewisser Hinsicht eine Maske: wir tragen diese Maske, um das Eigene verfremdet wiederzufinden und (vielleicht) neu sehen zu lernen. Fantasy kann große Literatur sein, aber sie ist etwas völlig anderes als das, was bei Lovecraft geschieht (obwohl Lovecraft auch einige Geschichten geschrieben hat, die stärkere Berührungen zur Fantasy haben, aber um diese geht es in diesem Band nicht).

Die artifiziellen Mythologien Lovecrafts haben eine völlig andere Absicht und entspannen eine völlig andere Ästhetik. Ihr Thema ist der Kosmos in seiner Fremdheit, das Abgründige als das, was der Mensch in seinen vertrauten Denkkategorien nicht begreifen kann, das Unheimliche als das Gegenteil des Heimeligen und Vertrauten. Darum kann der »Cthulhu-Mythos« gerade nicht kohärent sein, sondern besteht wesentlich in Anspielungen, die seine ästhetische Funktion prägen. Lovecrafts düstere, szientistische, an menschlichen Beziehungen und ihren Verwicklungen gänzlich uninteressierte (daher z. B. auch unerotische) Kunst spricht andere Teile unserer Persönlichkeit an als es Fantasy oder auch Mainstreamliteratur tut, und sie spricht vielleicht auch andere Menschen an. Lovecraft ist ein Autor unheimlicher Fantastik – genauer gesagt: Er ist für viele der Autor des Unheimlichen. Stephen King hat einmal gesagt, nach Lovecraft gäbe es in diesem Genre nur zwei Arten von Autoren: solche, die versuchten, zu schreiben wie HPL (wie ihn Amerikaner gerne abkürzen), also ihn nachzuahmen, und solche, die versuchten, nicht wie er zu schreiben. Es gab an Auflagenhöhe erfolgreichere unheimliche Autoren im 20. Jahrhundert – aber keinen, der in einem solchem Maße wie Lovecraft zu einer fast selbstverständlichen Referenzgröße des Genres geworden ist. Der Cthulhu-Mythos ist dabei eine wichtige Facette in seinem Werk.

Dabei ist Lovecraft kein Schriftsteller unserer unmittelbaren Gegenwart. 1890 in Neuengland geboren, hat er dort auch (bis auf zwei Jahre in New York) fast sein ganzes Leben verbracht und ist 1937 gestorben. Seine literarischen Ideale lagen im 18. Jahrhundert (nicht etwa im 19.), was für heutige Lesegewohnheiten befremdlich ist. Sein Markt waren die Pulpzeitschriften der amerikanischen Unterhaltungsliteratur, mit denen er einen ständigen Kampf um literarische Standards führte und die seine Geschichten gerne gnadenlos »modernisiert« und gekürzt hätten. Glücklicherweise hat Lovecraft aber auf die Wünsche seines Publikums keinerlei Rücksicht genommen, und ist so zum großen Klassiker des Unheimlichen im 20. Jahrhundert geworden, so wie es Edgar Allan Poe im 19. Jahrhundert war. Gerade als »erratischer Block«, als Fremdkörper in der Literatur, wurde Lovecraft nicht nur interessant, sondern auch zur bleibenden Herausforderung.

Und die bekannteste Spielart der Lovecraftschen Geschichten sind nun jene, die mit unserem etwas vagen Begriff »Cthulhu-Mythos« genannt wurden. Sie sind vielfach vernetzt: Tatsächlich hat man gesagt, dass alle Erzählungen des Cthulhu-Mythos als Kapitel eines einzigen großen Romans gelesen werden könnten. Vor allem aber sind sie verbunden durch ihre Leidenschaft für das Dunkle, Grausige, ihre Neugier.

Lovecrafts Stil ist wegen seiner Liebe für klingende Adjektive oft gerügt worden, aber er ist doch von erheblicher erzählerischer Raffinesse, vor allem in Hinsicht auf seine Erzählperspektive. Seine Ich-Erzähler (1. Person Singular ist häufig) wehren sich gegen ihre eigene Erkenntnis: Sie versuchen sozusagen noch einige Zeit, sich etwas vorzumachen, ehe sie von ihrer eigenen Erkenntnis des Schrecklichen überwältigt werden. Auch Erzählungen, die in 3. Person Singular geschrieben sind, setzen diesen Prozess der zögernden Einsicht um. Ein weiteres Stilmittel ist die Mehrdimensionalität des Unheimlichen: In der »Story« verbergen sich zahlreichen Andeutungen, die noch sehr viel Weitergehendes suggerieren als tatsächlich erzählt wird. Auf diese Feinheiten wird man oft erst bei einem zweiten und dritten Lesen aufmerksam.

Ist Lovecrafts Mythologie religiös? Sie ist es natürlich nicht in einem flachen und offensichtlichen Sinn. Lovecrafts Universum hat keinen guten Gott (und auch keinen bösen, denn Azathoth ist etwas anderes). Dennoch ist Lovecrafts Leidenschaft für das »Ganze«, für die Stellung des Menschen im Kosmos (ohne jeden New-Age-Kitsch) im Kern religiös, wie schon seinen Zeitgenossen auffiel und wie es etwa sein Freund Robert Bloch deutlich ausgedrückt hat. Daneben tritt die Verfremdung vieler traditioneller Motive. Robert M. Price hat schon vor Langem darauf hingewiesen, dass Lovecrafts »Götter« eigentlich Aliens sind. Man könnte Lovecraft insofern auch irgendwie in der Ahnenreihe der Präastronautik verordnen, etwa im Sinn eines Charles Hoy Fort (1874–1932), dessen Bücher er jedoch erst ab März 1927 kennenlernte. Allerdings hat er diese Ideen nur als literarische Vehikel benutzt und sich immer energisch von denen losgesagt, die ihm etwa okkulte oder fantastische Weltbilder unterstellen wollten: In seinem persönlichen Denken war Lovecraft dem wissenschaftlichen Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet, zugleich den neuen Entdeckungen am Beginn des 20. (Relativitätstheorie u.ä.), die er mit Faszination zur Kenntnis nahm, und lehnte jedes metaphysische Weltbild ab. In religiösen Fragen war er Atheist (kein Agnostiker).

Lovecrafts »Große Alte« und »Tiefe Wesen« (und wie sie sonst noch heißen) sind in diesem Sinn wirkliche »aliens« – völlig fremd, anders, sie sprengen die Grenzen dessen, was mit menschlicher Sprache ausgedrückt werden kann (das wird vielleicht am deutlichsten in ›The Colour Out of Space‹). Und so brechen sie in die heimelige Welt des vertrauten Neuengland ein. Diese zeichnet Lovecraft mit liebevollen Details und absoluter Realitätsnähe (z. B. existieren die meisten in Lovecrafts Erzählungen genannten Häuser wirklich). Dieser Kontrast zwischen »Nähe« und »Ferne«, »Vertrautem« und »Anderem« macht Lovecraft zu einem kosmischen Regionalschriftsteller, wenn wir eine paradoxe Begrifflichkeit wagen dürfen. Lovecrafts Obsession (bis zur Monomanie) ist Erkenntnis (nicht einfach Wissen). Seine Helden sind keine Actionfiguren, sondern Forscher, die mit einer unbezähmbaren Neugier selbst ihr eigenes Verderben in Kauf nehmen, um das Unbekannte zu erkunden. Dabei sind sie aber zugleich oft hilflos, ja eigentümlich gelähmt angesichts des Schrecklichen, das sie miterleben. In diesen Figuren spiegelt sich auch etwas von Lovecrafts Persönlichkeit. Dennoch passiert nicht wenig in diesen Geschichten, und Spannung ist ihnen nicht abzusprechen. Die Spannung kommt aber nicht aus menschlichen Beziehungsproblemen (die allenfalls am Rande eine Rolle spielen), sondern aus der Begegnung mit dem Fremden, Unerklärlichen, dem Grausigen und Monströsen.

In einem seiner zahlreichen Gedichte (eine zweisprachige kommentierte Gesamtausgabe ist 2008–2011 bei Edition Fantasia erschienen) schreibt Lovecraft:

»Can seeing intellect contented lie

Within the confines of our tiny race,

When overhead yawns wide the starry sky

Pregnant with secrets of unfathom´d space?«

(Phaëton, 1918).

Das ist sozusagen der Gestus, die Grundhaltung der Lovecraftschen Erzählungen. Durch den Schrecken hindurch meldet sich die Neugier zu Wort, und hinter dem Abscheulichen steht die Faszination, hinter dem Grauen das Staunen.

Die Vorworte zu den Einzeltexten im vorliegenden Band erschienen zuerst in der von mir, Joachim Körber und Uli Kohnle 1999–2001 herausgegebenen und inzwischen vergriffenen kommentierten Gesamtausgabe der Erzählungen Lovecrafts (Band 1–5 der mittlerweile 13 Bände umfassenden »großen« Gesamtausgabe Lovecrafts, von der weitere Bände in Planung sind). Sie wurden jedoch für diese Ausgabe überarbeitet und zum Teil erheblich verbessert, auch im Licht der explosiv weiterwachsenden Lovecraftforschung der USA. Ihr Zweck ist dabei nicht unbedingt wissenschaftlicher Art: Sie wollen nicht eine scheinbare literaturwissenschaftliche Objektivität erzeugen oder Ähnliches, sondern das Vergnügen an den Geschichten, die Lust an ihrer Welt durch konkrete Hintergrundinformationen vertiefen.

Marco Frenschkowski

Januar 2011

Vorwort zu »Das Fest« (The Festival)

Am 17. Dezember 1922 besucht Lovecraft zum ersten Mal das Hafenstädtchen Marblehead, wenige Kilometer nördlich von Boston gelegen. An seinen Freund James Ferdinand Morton schreibt er einige Jahre später über diesen Besuch: »Gott! Werde ich jemals meinen ersten überwältigenden Blick auf MARBLEHEADS gedrängte und altertümliche Häuser vergessen, wie ich sie im Schnee im Licht eines irrwitzigen Sonnenunterganges gesehen habe, an jenem 17. Dezember 1922, 4 Uhr nachmittags!!! Eine Stunde zuvor habe ich nicht gewusst, dass ich jemals einen solchen Ort erblicken würde, und bis zu jenem Augenblick selbst war mir das schiere Ausmaß des Wunders nicht bewusst, vor dem ich stehen würde. Ich zähle diesen Moment – 4.05 Uhr bis 4.10 Uhr am Nachmittag des 17. Dezember 1922 – als die emotional bewegendste Klimax meines bald vierzigjährigen Lebens. Blitzlichtartig schlug die gesamte Vergangenheit Neuenglands – die gesamte Vergangenheit des alten England – die gesamte Vergangenheit der Angelsachsen und der westlichen Welt – über mir zusammen und identifizierte mich mit der stupenden Totalität aller Dinge, in einer Weise, wie es nie zuvor geschehen war und niemals wieder geschehen wird. Das war der Höhepunkt meines Lebens. Ich war damals 32 – und seitdem gab es nur ein Regredieren zu einer zahmen Senilität; nur noch den Versuch, die Wunder der Offenbarung und Andeutung und kosmischen Identifikation wiederzugewinnen, die der Anblick damals in mir geweckt hat. […]« (vom 12.3.1930).

Was Lovecraft hier beschreibt, ist eine echte mystische Erfahrung, eine Schau von Ganzheit und Totalität, von Konfrontation mit einer Geschichte der eigenen Kultur, welche für ihn zu einem prägenden Schlüsselerlebnis werden sollte, und zwar nicht so sehr wegen des emotionalen Gehaltes der Erfahrung (das ist das Missverständnis jener, die niemals etwas Vergleichbares erlebt haben), sondern wegen des Inhaltes, dessen, wessen er in der Schau Marbleheads ansichtig geworden war.

In der Kurzgeschichte ›The Festival‹ vom Oktober 1923 hat Lovecraft nun diese Erfahrung aus dem Vorjahr umgesetzt, aber in etwas völlig Neues verfremdet. Nicht mehr die Geschichte der Zivilisation steht im Mittelpunkt, sondern ihr Verfall, ihre Abgründigkeit, ihr »Kellergeschoss«. Aus Marblehead wird »Kingsport«, ein Name, den er freilich schon in ›The Terrible Old Man‹ (1920) benutzt hatte (bevor er Marblehead kannte). Aber die Atmosphäre ist doch erkennbar, und Lovecraft hat den Zusammenhang zwischen dem fiktiven und dem realen Ort später immer wieder in Briefen erwähnt.

Wie so oft geht es um die Konfrontation mit der Vergangenheit: »Nur die Armen und Einsamen erinnern sich«. Der Erzähler begegnet der Vergangenheit seiner Familie; der Schluss scheint nahezulegen, dass das ganze als eine Vision zu sehen ist.

Die in ›The Festival‹ erwähnte unheimliche Kirche hat Lovecraft in Briefen auch identifiziert: Es ist die sehr malerische St. Michael’s Episcopal Church in Marblehead (Frog Lane), 1714 erbaut und 1754 um den Glockenturm erweitert, die älteste Kirche am Ort. Das unterirdisch-chthonische Totenreich, in das der Erzähler durch seine Evokation der Vergangenheit gerät, gibt ihn nur im letzten Augenblick frei: Lovecraft lässt dem Leser die Freiheit, das ganze Erlebnis bis zum Sturz in den winterlichen Ozean als suizidale Fantasie zu interpretieren. Man beachte auch Lovecrafts Remythologisierung des Weihnachtsfestes (das ja in der Tat in vielen Punkten – nicht zuletzt im Datum – auf vorchristliches römisches Brauchtum zurückgeht). Das Motto der Erzählung stammt von dem lateinischen Kirchenvater Lactantius (ca. 250 – ca. 325 n. Chr.) und heißt übersetzt: »Die Dämonen bewirken, dass sie Dinge, die nicht existieren, die aber gewissermaßen sein könnten, vor den Menschen als Anschauung erscheinen lassen« (Lovecraft übernimmt das Zitat aus Cotton Mather, Magnalia Christi Americana, London 1702, S. 64; ein Buch, das er selbst besaß).

›The Festival‹ erschien zuerst in Weird Tales, Januar 1925 und noch einmal im Oktober 1933.

Das Fest

Efficut Daemones, ut quae non sunt, sic tamen quasi sint,

conspicienda hominibus exhibeant.

– Lactantius

Fern weilte ich von zu Hause, und das Meer des Ostens hatte mich in seinen Bann gezogen. In der Dämmerung hörte ich es gegen die Klippen branden und ich wusste, dass es unmittelbar hinter der Anhöhe lag, wo die krummen Weiden sich vor dem klaren Himmel und den ersten Abendsternen bogen. Und weil meine Ahnen mich zu der alten Stadt an der Meeresküste gerufen hatten, eilte ich durch den dünnen, frisch gefallenen Schnee auf der Straße voran, die einsam den Hügelkamm erklomm, wo zwischen den Bäumen Aldebaran blinzelte; jener uralten Stadt entgegen, die ich nie gesehen, doch von der ich so häufig geträumt hatte.

Es war die Zeit des Julfestes, das die Menschen Weihnachten nennen, wenngleich sie tief in ihren Herzen wissen, dass es älter ist als Bethlehem und Babylon, älter als Memphis und die ganze Menschheit. Es war die Zeit des Julfestes und ich war endlich in die alte Küstenstadt gekommen, wo die Meinen ehedem gelebt und das Fest begangen hatten, als das Fest verboten gewesen war; wo sie auch ihre Söhne bestimmt hatten, das Fest einmal in jedem Jahrhundert zu feiern, auf dass die Erinnerung an uralte Geheimnisse nicht in Vergessenheit gerate. Meine Vorfahren waren ein altes Geschlecht, das bereits alt gewesen war, als dieses Land vor dreihundert Jahren besiedelt wurde. Und sie waren wunderlich, denn sie waren als ein dunkler, verstohlener Menschenschlag aus berauschend duftenden Orchideengärten des Südens gekommen und hatten eine fremde Sprache gesprochen, ehe sie die Sprache der blauäugigen Fischer erlernten. Und jetzt lebten sie weit versprengt und teilten nur noch die geheimnisvollen Riten miteinander, die kein Lebender zu verstehen vermag. Ich war der Einzige, der während jener Nacht in die alte Hafenstadt zurückkehrte, wie es die Legende gebot, denn nur die Armen und die Einsamen bewahren die Erinnerung.

Dann erblickte ich jenseits der Hügelkuppe Kingsport frostkalt hingebreitet in der Dämmerung, das verschneite Kingsport mit seinen alten Wetterfahnen und Kirchturmspitzen, Firstbalken und Kaminkronen, Hafenmolen und schmalen Brücken, Trauerweiden und Friedhöfen; mit seinen endlosen Irrgärten aus steilen, engen, krummen Gassen und seinem schwindelerregend aus der Ortsmitte ragenden Kirchhügel, den die Zeit nicht anzutasten wagte; mit seinen unendlichen Labyrinthen aus Häusern der Kolonialzeit, die kreuz und quer, untereinander und übereinander hingewürfelt schienen gleich den verstreuten Bauklötzen eines Kindes; mit seiner Aura des Alters, die auf grauen Schwingen über winterlich weißen Giebeln und Walmdächern schwebte; mit seinen fächerförmigen Oberlichten über den Hauseingängen und den kleinformatigen Fensterscheiben in den Häusermauern, die eins nach dem andern in den kalten Nachtbeginn hinausleuchteten, um sich Orion und den Äonen alten Sternen beizugesellen. Und gegen die morschen Molen brandete das Meer; das geheimnisvolle, unvordenkliche Meer, aus dem meine Ahnen in alter Zeit emporgestiegen sind.

Neben dem Scheitelpunkt der Straße ragte ein noch höherer Bergzacken auf, trist und windumtost, und ich sah, dass es ein Totenacker war, wo schwarze Grabsteine ghoulisch aus dem Schnee stachen wie die verfaulten Fingernägel eines riesigen Leichnams. Die fährtenlose Straße war sehr einsam und zuweilen meinte ich, von fern das schreckliche Knarren eines Galgens im Wind zu vernehmen. Im Jahre 1692 waren vier meiner Ahnen wegen Hexerei gehängt worden, aber wo genau, das wusste ich nicht.

Sobald sich die Straße die meerwärts gelegene Hügelflanke hinabschlängelte, lauschte ich nach den fröhlichen Klängen einer abendlichen Gemeinde, doch ich hörte keine. Dann gedachte ich der Jahreszeit und sagte mir, dass dieses alte Puritanervolk sehr wohl Weihnachtsbräuche pflegen mochte, die mir fremd waren, erfüllt von stummen Gebeten am heimischen Herd. Daher lauschte ich nicht länger nach Frohsinn und hielt keine Ausschau nach Wanderern, sondern schritt weiter bergab, vorbei an den stumm erhellten Bauernhäusern und schattigen Steinmauern, an denen die Schilder altertümlicher Kaufläden und Fischerkneipen in der salzgetränkten Meeresbrise knarrten und die grotesken Klopfer säulengeschmückter Hauseingänge im Lichtschein kleiner, verhängter Fenster aufglänzten, die die menschenleeren, ungepflasterten Gassen beiderseits säumten.

Ich hatte Straßenpläne der Stadt gesehen und wusste, wo das Haus meiner Angehörigen zu finden war. Man hatte mir versichert, dass man mich erkennen und willkommen heißen würde, denn Dorflegenden sind zählebig. Daher eilte ich durch die Back Street zum Circle Court und über den frischen Schnee auf dem einzigen durchgehenden Stück Straßenpflaster des Ortes zur Einmündung der Green Lane hinter dem Market House. Die alten Stadtpläne stimmten noch und ich fand mich leicht zurecht; allerdings mussten sie in Arkham gelogen haben mit ihrer Behauptung, die Straßenbahn fahre bis hierher, denn ich sah nicht eine einzige Oberleitung. Ohnehin wären die Schienen unter dem Schnee verborgen gewesen. Ich war froh, mich für den Fußweg entschieden zu haben, denn die schneeweiße Stadt hatte vom Bergrücken aus einen wunderschönen Anblick geboten; und nun konnte ich es kaum erwarten, an die Tür meiner Verwandten zu pochen, am siebten Haus auf der linken Seite der Green Lane mit seinem altertümlichen Spitzdach und vorspringenden zweiten Stock, samt und sonders noch vor 1650 erbaut.

Das Haus war von innen erhellt, als ich näher kam, und an den rautenförmig unterteilten Scheiben erkannte ich, dass man es fast in seinem urtümlichen Zustand belassen haben musste. Der obere Teil überragte die schmale grasbewachsene Straße und berührte beinah das vorspringende Stockwerk des gegenüberliegenden Gebäudes, sodass ich mich geradezu in einem Tunnel befand und die niedrige steinerne Türschwelle von Schnee völlig frei war. Einen Gehsteig gab es nicht, doch besaßen viele Häuser hoch gelegene Eingänge, die über Doppeltreppen mit Eisengeländern erreichbar waren. Es war eine eigentümliche Szenerie, und weil ich Neuengland nicht kannte, hatte ich dergleichen nie zuvor gesehen. Obschon es mir gefiel, wäre mir wohler dabei gewesen, hätte es Fußspuren im Schnee und Passanten in den Straßen gegeben und ein paar Fenster ohne zugezogene Vorhänge.

Als ich den uralten eisernen Türklopfer benutzte, fürchtete ich mich ein wenig. Eine unbestimmte Angst war in mir aufgestiegen, vielleicht wegen meiner fremdartigen Abstammung und der Tristesse des Abends und der wunderlichen Stille in dieser alten Stadt sonderbaren Brauchtums. Und als man auf mein Klopfen reagierte, fürchtete ich mich erst recht, denn ich hatte keinerlei Schritte gehört, ehe die Tür knarrend aufschwang. Doch währte meine Furcht nicht lange, denn der alte Mann, der in Schlafrock und Pantoffeln im Türrahmen stand, besaß ein gütiges Gesicht, das meine Befürchtungen besänftigte; und obwohl er mit Gesten zu verstehen gab, dass er stumm war, schrieb er mir doch mithilfe des Griffels und der Wachstafel, die er bei sich trug, einen geschraubten und altväterlichen Willkommensgruß auf.

Er winkte mich in einen niedrigen, von Kerzen erhellten Raum mit mächtigen, frei liegenden Deckenbalken und wenigen dunklen, strengen Möbeln aus dem siebzehnten Jahrhundert. Hier war die Vergangenheit lebendig, denn nicht ein Merkmal fehlte. Es gab einen grottenartigen Kamin und ein Spinnrad, an dem eine gebeugte alte Frau in einem weiten Überwurf und einer tief gezogenen Schutenhaube mit dem Rücken zu mir saß und trotz des Festtags stumm die Spindel schnurren ließ. Eine undefinierbare Feuchtigkeit schien im Hause zu herrschen und ich wunderte mich, dass im Kamin kein Feuer brannte. Die hochlehnige Zimmerbank stand gegenüber der Reihe verhängter Fenster zur Linken und sie schien besetzt zu sein, doch sicher war ich mir dessen nicht. Mir gefiel nicht alles, was ich um mich herum sah, und wieder beschlich mich die Angst. Sie wurde durch eben das verstärkt, was sie zuvor gemildert hatte, denn je länger ich das freundliche Gesicht des alten Mannes betrachtete, desto mehr versetzte gerade diese Freundlichkeit mich in Schrecken. Die Augen bewegten sich nicht und die Haut war allzu wächsern. Schließlich glaubte ich fest, dass es überhaupt kein Gesicht war, sondern eine teuflisch schlaue Maske. Doch die schlaffen, seltsam behandschuhten Hände schrieben freundlich auf die Wachstafel und ließen mich wissen, dass ich mich eine Zeit lang gedulden müsse, ehe ich zum Festplatz geführt werden könne.

Indem er auf einen Stuhl, einen Tisch und einen Stapel Bücher deutete, verließ der alte Mann jetzt das Zimmer; und als ich mich zum Lesen niedersetzte, sah ich, dass die Bücher von Alter grau und schimmlig waren und dass sich unter ihnen des alten Morryster gewagte Marvells of Science befanden, das schreckliche Saducismus Triumphatus von Joseph Glanvil, veröffentlicht 1681, die schockierende Daemonolatreia des Remigius, gedruckt 1595 zu Lyon, und, schlimmer noch, das unnennbare Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred in Olaus Wormius’ verbotener lateinischer Übersetzung; ein Werk, das ich nie zuvor gesehen hatte, über das jedoch monströse Dinge geflüstert wurden.

Niemand redete mit mir, doch drang von draußen das Knarren von Schildern im Wind an mein Ohr und das Schnurren des Spinnrades, während die alte Frau mit der Haube wortlos weiterspann und spann. Ich fand das Zimmer und die Bücher und die Leute höchst morbide und beunruhigend, doch weil eine alte Überlieferung meiner Vorväter mich zu sonderbaren Festlichkeiten gerufen hatte, fügte ich mich der Erwartung wundersamer Dinge. Ich versuchte zu lesen und fand mich bald furchtvoll von etwas in den Bann gezogen, auf das ich in jenem fluchwürdigen Necronomicon stieß, ein Gedanke und eine Legende, zu grässlich für einen gesunden Verstand oder das Bewusstsein; und es wollte mir nicht behagen, als ich zu hören glaubte, dass eines der Fenster geschlossen wurde, die der Sitzbank gegenüberlagen, so als sei es zuvor heimlich geöffnet worden. Dem Anschein nach war dem Geräusch ein Schwirren vorausgegangen, das nicht vom Spinnrad der alten Frau herrührte. Dies musste jedoch nicht viel bedeuten, denn die Alte spann überaus emsig und soeben hatte die alte Pendeluhr geschlagen.

Nun verließ mich das Gefühl, dass Leute auf der Bank saßen, und schaudernd vertiefte ich mich in meine Lektüre, als der alte Mann zurückkehrte, in Stiefeln und in ein weites altmodisches Gewand gekleidet, und auf der Sitzbank Platz nahm, sodass ich ihn nicht mehr zu sehen vermochte. Es folgte eine fraglos nervenzerrende Warterei, und das blasphemische Buch in meinen Händen verschlimmerte es noch. Als jedoch die elfte Stunde schlug, stand der alte Mann auf, glitt zu einer wuchtigen beschnitzten Truhe in einer Ecke und entnahm ihr zwei Kapuzenumhänge; in einen schlüpfte er selbst, den anderen legte er der alten Frau um, die ihr monotones Spinnen eingestellt hatte. Dann gingen beide zur Haustür; die alte Frau lahm dahinschlurfend und der alte Mann eben jenes Buch ergreifend, worin ich gelesen hatte. Er winkte mir, ihnen zu folgen, und streifte die Kapuze über seine reglose Miene oder Maske.

Wir traten hinaus in das mondlose und verschlungene Gassennetz jener unvorstellbar alten Stadt; traten hinaus, als die Lichter hinter den verhängten Fenstern eins nach dem andern erloschen und der Hundsstern auf das Gewühl der kuttenumwallten, kapuzenverhüllten Gestalten herabglotzte, die lautlos aus jedem Hauseingang strömten und in ungeheuren Prozessionen Straße um Straße hinaufzogen, vorbei an den knarrenden Schildern und vorsintflutlichen Giebeln, den strohgedeckten Dächern und rautenförmigen Fensterscheiben; sie schlängelten sich durch steile Gassen, wo baufällige Häuser aneinanderlehnten und ineinandersanken, glitten über offene Plätze und Kirchhöfe, und die schwankenden Laternen in ihren Händen reihten sich zu gespenstisch trunkenen Spalieren.

Inmitten dieses schweigenden Gewimmels blieb ich hinter meinen stummen Führern; getrieben von Ellbogen, die widernatürlich weich anmuteten, und bedrängt von Oberkörpern und Bäuchen, die unnatürlich schwammig erschienen; doch ohne auch nur ein einziges Gesicht zu erblicken oder ein einziges Wort zu vernehmen. Empor, empor, empor krochen die gespenstischen Kolonnen, und ich beobachtete, dass die Pilgerschar zusammenrückte, als sie einer Art Knotenpunkt aus windschiefen Gassen entgegenströmte, die den Scheitel eines hohen Hügels im Stadtzentrum erklommen, auf dem eine große weiße Kirche kauerte. Ich hatte sie von der Straßenkuppe aus gesehen, als ich im frühen Abendzwielicht auf Kingsport hinunterblickte, und ein Schauder durchrieselte mich, weil einen Augenblick lang Aldebaran den Anschein erweckte, als balancierte er auf der geisterhaften Kirchturmspitze.

Ein Freiraum umgab die Kirche; er war zum Teil ein Kirchhof mit gespenstischen Totensteinen, zum Teil ein halb gepflasterter Platz, vom Wind beinahe schneefrei gefegt und gesäumt von ungesunden altertümlichen Häusern mit spitzen Dächern und überhängenden Giebeln. Totenlichter tanzten auf den Gräbern und schufen schaurige Bilder, obwohl sie keinerlei Schatten warfen. Jenseits des Kirchhofs, wo keine Häuser standen, konnte ich über den Hügelrücken hinausblicken und das Funkeln der Sterne im Hafenbecken betrachten, wenn auch die Stadt selbst unsichtbar in der Dunkelheit lag. Hie und da schwankte eine Laterne schaurig durch die gewundenen Gassen, um zur Menge aufzuschließen, die jetzt wortlos in die Kirche schlüpfte. Ich wartete, bis sämtliche Gestalten durch das Portal geströmt und auch die Nachzügler in seinem schwarzen Schlund verschwunden waren. Der alte Mann zog mich am Ärmel, aber ich war fest entschlossen, als Letzter zu gehen.

Als ich über die Schwelle in den wimmelnden Tempel unerahnbarer Finsternis eintrat, wandte ich ein letztes Mal den Kopf, um einen Blick auf die Außenwelt zu werfen, wo der Kirchhof im Flackerschein der Totenlichter ein kränkliches Glühen über das Pflaster der Hügelkuppe goss. Ich erschauderte, denn obwohl der Wind nur wenig Schnee zurückgelassen hatte, waren ein paar Stellen auf dem Weg neben dem Kirchenportal liegen geblieben; und während jenes flüchtigen Blicks über die Schulter kam es meinen entgeisterten Augen vor, als wiesen die Schneeflecken keinerlei Fußspuren auf, selbst meine eigenen fehlten.

Das Kircheninnere war kaum erhellt von all den Laternen, die hereingefunden hatten, denn der größte Teil der Menge war bereits verschwunden. Sie waren den Mittelgang zwischen den hohen Kirchenbänken zur Falltür der Grabgewölbe hinaufgeströmt, die direkt vor der Kanzel widerlich gähnend offen stand, und schlängelten sich nun lautlos hinein. Stumm folgte ich ihnen über die ausgetretenen Stufen in die dunkle stickige Krypta. Das Ende dieser dahinkriechenden Schlange von Nachtpilgern kam mir ganz entsetzlich vor, und als ich sah, dass sie in eine altehrwürdige Grabkammer hineinglitten, erschienen sie noch furchtbarer.

Dann gewahrte ich, dass der Boden der Grabkammer eine Öffnung aufwies, durch die die Schar nun in die Tiefe zog, und im nächsten Augenblick stiegen wir alle einen beklemmenden Treppenschacht aus roh behauenen Steinen hinab; einen engen, gewendelten Treppenschacht, feucht und von einem unsäglichen Geruch erfüllt, der sich endlos in die Eingeweide des Hügels hinabschraubte, durch immer gleiche Wände aus tropfenden Steinquadern und bröckelndem Mörtel. Es war ein stiller schockierender Abstieg und nach einer schrecklichen Zeitspanne bemerkte ich, dass die Wände und Stufen ihre Beschaffenheit änderten, so, als seien sie aus dem gewachsenen Fels geschlagen. Was mich am meisten besorgte, war, dass die Myriaden von Schritten keinerlei Geräusche verursachten und keinerlei Echos hervorriefen.

Nach weiteren Äonen des Abstiegs sah ich einige Seitengänge oder Tunnel aus unbekannten Kavernen der Finsternis in diesen Schacht nächtlicher Geheimnisse münden. Bald wurden es unglaublich viele, gleich gottlosen Katakomben namenloser Bedrohungen; und ihr beißender Verwesungsgestank wurde nahezu unerträglich. Ich wusste, wir mussten quer durch den ganzen Berg bis unter die Erde von Kingsport selbst hinabgestiegen sein, und es jagte mir einen Schauder über den Rücken, dass eine Stadt dermaßen alt sein konnte und madenzerfressen vom bodenlos Bösen.

Dann sah ich ein geisterhaftes Glimmen fahlen Lichtes und hörte das tückische Platschen sonnenloser Wasser. Abermals überkroch mich ein Schauder, denn mir gefielen die Dinge nicht, die die Nacht gebracht hatte, und ich wünschte bitterlich, keiner meiner Vorfahren hätte mich zu diesem uralten Ritual gerufen. Als die Stufen und der Schacht breiter wurden, vernahm ich ein neues Geräusch, das dünne, spöttische Winseln einer leisen Flöte; und plötzlich erstreckte sich vor meinen Augen das grenzenlose Panorama einer unterirdischen Welt – ein weites, pilzbefallenes Ufer, erhellt von einer speienden Säule kränklich grünen Feuers und durchschwappt von einem breiten öligen Fluss, der aus furchtbaren und unerahnten Abgründen hervorquoll, um sich mit den schwärzesten Tiefen eines unvordenklichen Ozeans zu vermählen.

Einer Ohnmacht nahe und nach Luft ringend, blickte ich auf den unheiligen Erebus titanischer Giftpilze, leprösen Feuers und schleimigen Wassers, und sah zu, wie die kapuzenverhüllte Menge einen Halbkreis um die flammende Säule bildete. Es war der Julbrauch, älter als der Mensch und bestimmt, ihn zu überdauern; der uranfängliche Brauch der Sonnenwende und der Verheißung des Frühlings nach der Zeit des Schnees; der Brauch von Feuer und Immergrün, von Licht und Musik. Und in jener stygischen Grotte sah ich sie den Brauch begehen; sah sie zu der ungesunden Flammensäule beten; sah sie Hände voll der ausgerupften, klebrigen Vegetation ins Wasser werfen, die im fahlen Feuerschein grünlich schimmerte.

Dies sah ich, und ich sah etwas konturlos Missgeformtes, das weit vom Licht entfernt dahockte und ekelhaft auf einer Flöte blies; und während das Ding spielte, glaubte ich, gedämpftes widerliches Geflatter in der stinkenden Finsternis zu hören, in der ich nichts sehen konnte. Doch was mich am meisten in Furcht versetzte, war jene flammende Säule, die lavagleich aus abgründigen unlotbaren Tiefen heraufschoss und das salpetrige Gestein mit einem üblen giftigen Grünspan übergoss – dabei warf sie keine Schatten wie eine gesunde Flamme. In dieser ganzen kochenden Feurigkeit lag auch keine Wärme, sondern einzig und allein die Feuchtigkeit von Tod und Fäulnis.

Der Mann, der mich hergebracht hatte, drängte jetzt zu einer Stelle unmittelbar neben der grässlichen Flamme und vollführte steife zeremonielle Gesten vor dem Halbkreis, dem er gegenüberstand. Bestimmte Stadien des Rituals begleitete die Menge mit unterwürfigen Huldigungen, besonders wenn er das grauenerweckende Necronomicon über den Kopf hielt, das er mitgebracht hatte; und ich fiel in sämtliche der Huldigungen ein, da ich schriftlich von meinen Ahnen zu diesem Fest berufen worden war. Anschließend gab der alte Mann dem schattenverhüllten Flötenspieler in der Dunkelheit ein Zeichen, woraufhin der Spieler sein schwaches Jaulen zu einem etwas lauteren Gejaule in einer tieferen Tonart steigerte. Dieses Vorgehen beschwor ein unvorstellbares, ungeahntes Grauen herauf, das mich beinahe auf den moosbedeckten Boden sinken ließ, erstarrt in einer Furcht, die nicht von dieser Welt noch von irgendeiner anderen kam, sondern einzig und allein aus der verrückten Leere zwischen den Sternen.

Aus der unvorstellbaren Schwärze jenseits des brennenden Strahlens jener kalten Flamme, aus den Tartarusklüften, durch die sich die öligen Fluten unheimlich, tonlos und unbeschreiblich dahinwälzten, flatterte rhythmisch eine Horde zahmer, abgerichteter, schwingenschlagender Mischwesen heran, die kein gesundes Auge je gänzlich erfassen, kein gesundes Hirn je gänzlich erinnern könnte. Sie waren weder Krähen noch Maulwürfe, noch Bussarde, noch Insekten, noch Vampirfledermäuse oder verweste Menschenleiber; sondern etwas, das ich mir weder in Erinnerung rufen kann noch darf. Sie flatterten lahm einher, teils mittels ihrer Schwimmfüße und teils mittels ihrer häutigen Schwingen; und als sie die Menge der Zelebranten erreichten, hielten die kapuzenverhüllten Gestalten sie fest, saßen auf und ritten eine nach der anderen über jenem lichtlosen Flusslauf entlang, hinein in Schlünde und Durchbrüche des Grauens, wo giftige Quellen entsetzliche und unauffindbare Wasserfälle speisen.

Die alte Spinnerin war mit der Menge auf und davon, und auch der alte Mann blieb nur zurück, weil ich mich geweigert hatte, auf sein Winken hin eines der Tiere zu ergreifen und den andern nachzufliegen. Als ich mich wieder auf die Füße kämpfte, sah ich, dass der formlose Flötenbläser außer Sicht gekrochen war, dass aber noch immer zwei der Kreaturen geduldig auf uns warteten.

Ich sträubte mich weiter, da zückte der alte Mann Griffel und Tafel und schrieb, dass er wirklich der ermächtigte Sendbote meiner Ahnen sei, welche die Julverehrung an diesem uralten Ort begründet hatten, dass meine Rückkehr befohlen worden sei und dass die geheimsten der Mysterien noch nicht vollzogen seien. Er schrieb dies in einer überaus altertümlichen Handschrift, und als ich noch immer zögerte, brachte er aus seiner weiten Robe einen Siegelring und eine Uhr zum Vorschein, beide mit dem Wappen meiner Familie geschmückt, um sich als derjenige auszuweisen, für den er sich ausgab. Doch es war ein scheußlicher Beweis, denn ich wusste aus alten Schriften, dass diese Uhr anno 1698 meinem Ururururgroßvater mit ins Grab gelegt worden war.

Daraufhin strich der alte Mann seine Kapuze zurück und deutete auf die Familienähnlichkeit in seinen Gesichtszügen, doch mich packte nur ein Schauder, denn ich hegte keinen Zweifel, dass dieses Gesicht lediglich eine teuflische Wachsmaske war. Die flatternden Tiere scharrten jetzt ungeduldig auf dem bemoosten Boden und ich erkannte, dass der alte Mann fast ebenso ungeduldig war. Als eines der Viecher loswatschelte und Anstalten machte, sich davonzustehlen, fuhr er rasch herum, um es aufzuhalten.

Doch durch die Plötzlichkeit der Bewegung verrutschte seine Maske – und legte das frei, was sein Kopf hätte sein sollen. Ich jedoch, da dieser entblößte Albtraum den Weg zum Treppenschacht versperrte, über den wir herabgelangt waren, warf mich in den öligen Unterweltfluss, der auf unergründlichen Pfaden den Grotten des Meeres entgegengurgelte; warf mich in die ranzige Brühe unterirdischer Schrecken, bevor der Wahnsinn meiner Schreie all die Leichenhaus-Legionen auf mich herabrief, die in diesen Pesthöhlen lauern mochten.

Im Krankenhaus erzählte man mir, ich sei beim Morgengrauen halb erfroren aus dem Hafen von Kingsport gefischt worden, an eine dahintreibende Spiere geklammert, die der Zufall zu meiner Rettung gesandt hatte. Man erzählte mir, ich hätte am Abend zuvor die verkehrte Gabelung der Hügelstraße genommen und sei bei Orange Point über die Klippen gestürzt; eine Schlussfolgerung, die man aus im Schnee gefundenen Fußspuren gezogen hatte.

Darauf wusste ich nichts zu erwidern, da einfach nichts mehr stimmte. Nichts stimmte überein mit den hohen, breiten Fenstern, die den Blick auf ein Meer von Dächern gewährten, von denen nur etwa jedes fünfte wirklich alt war, und mit dem Lärm der Straßenbahnen und der Motoren in den Straßen darunter. Meine Betreuer beharrten darauf, dass dies Kingsport sei, und ich konnte es nicht abstreiten.

Als ich einen Nervenzusammenbruch erlitt, weil ich hörte, das Krankenhaus stehe in der Nähe des alten Friedhofs auf dem Central Hill, verlegte man mich ins St. Mary’s Hospital von Arkham, wo ein Fall wie der meine besser behandelt werden konnte. Mir gefiel es dort, denn die Ärzte waren aufgeschlossen und ließen sogar ihren Einfluss spielen, um mir das sorgsam gehütete Exemplar von Alhazreds verfluchtem Necronomicon aus der Arkhamer Universitätsbibliothek auszuleihen. Sie sprachen von einer »Psychose« und stimmten mir zu, dass es besser sei, wenn ich mein Gehirn von jedweden quälenden Zwangsvorstellungen befreite.

So las ich also jenes verabscheuenswerte Kapitel und verspürte einen doppelten Schauder, denn es war mir in der Tat nicht neu. Ich hatte es bereits gelesen, da mögen irgendwelche Fußspuren sonst was bekunden; doch wo ich es gelesen habe, soll lieber vergessen sein. Es gab niemanden, der mich in meinen wachen Stunden daran erinnern konnte, doch meine Träume sind erfüllt von Schrecken, wegen der Sätze, die ich nicht zu zitieren wage. Ich wage nur einen einzigen Absatz wiederzugeben, den ich so gut ins Englische übertrage, wie ich es aus dem holprigen Latein vermag.

»Die allertiefsten Höhlen«, schrieb der wahnsinnige Araber, »sind der Auslotung durch schauende Augen entrückt; denn ihre Wunder sind befremdlich und furchtbar. Verflucht ist der Boden, wo tote Gedanken neuerlich Fleisch werden in grotesker Gestalt, und verdorben der Geist, der keinen Kopf bewohnt. Weisheit spricht aus Ibn Schacabaos Wort, dass glücklich jenes Grab, in dem nie ein Zauberer geruht, und glücklich die Stadt bei Nacht, deren Zauberer allesamt Asche sind. Denn es heißt seit alters her, die Seele, die des Teufels Lohn, dürstet nimmer nach der Lösung von dem Leib des Toten, sondern füttert und lehrt jenen einen Wurm, der nagt; denn die Fäulnis gebiert gräuliches Leben, und die trägen Aasfresser des Erdreichs wachsen tückisch, es zu quälen, und wuchern grässlich, es zu schinden. Gewaltige Löcher werden insgeheim gegraben, wo die Poren der Erde genügen sollten, und Dinge haben zu gehen gelernt, denen zu kriechen gebührt.«