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AFRIKA Image WUNDERHORN

Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur
Herausgegeben von Indra Wussow

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IMRAAN
COOVADIA

VERMESSENES
LAND

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN
VON SUSANN URBAN

AFRIKAWUNDERHORN

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen

Amts unterstützt durch Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur

aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V.

Titel der Originalausgabe: Tales of the metric system

Copyright © by Imraan Coovadia, 2014

By Agreement with Pontas Literary & Film Agency

© 2016 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche

Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung

elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autorenfoto auf S. 2: © Autor

Gestaltung: Image sans serif, Berlin

ISBN 978-3-88423-534-8

Ich legte in einer großen Ansprache dar, wie ich im Lichte von Gottes Wort die Geschichte meines Volkes sah, und richtete mich an meine Zuhörer: »Volk des Herrn, du altes Volk des Landes, Ihr Fremdlinge, Ihr Neuankömmlinge, ja selbst Ihr Mörder und Diebe.«

Paul Kruger, Lebenserinnerungen

1970
SCHULZEIT

Der Jaguar wollte nicht anspringen. Ann saß hinter dem Lederlenkrad und beobachtete, wie das rubinrote Licht im Armaturenbrett schwächer wurde. Neils verstorbene Mutter hatte ihr das Auto vermacht, damals, als sie im Krankenhaus lag und trotz eines Halskatheders mit Füllfederhalter Briefe ans Parlament schrieb. Geschenke ihrer Schwiegermutter abzulehnen war schwierig. Manchmal wirkte das Gesicht der alten Frau geradezu versteinert.

Ann erspähte ihren Nachbarn auf seiner Veranda. Sie stieg aus und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Mackenzie war ihre einzige Chance. Er half ihr gern. Als die Stromversorgung einmal ausgefallen war, ließ Mackenzie seinen Diener eine Trittleiter bringen, war zum Schaltkasten hochgestiegen und hatte nacheinander die schwergängigen, grünen Schalter umgelegt, bis er die kaputte Sicherung fand. Im Juli, als die Leute vom Special Branch kamen, Neil war nicht da, hatte Mackenzie sich zur moralischen Unterstützung ins Wohnzimmer gesetzt. Er las auf dem Sofa seine mitgebrachten Zeitschriften, das Scope, ein Männermagazin sowie die Creamer’s Illustrated News, ein Technikjournal, während die Polizisten Neils Schreibtisch unter die Lupe nahmen, die im Adressbuch umkringelten Nummern überprüften und Schränke durchwühlten.

Mackenzie brachte seinen Diener mit, einen muskulösen Alten in den Sechzigern, der kerzengerade hinten im Hillman Avenger seines Arbeitgebers saß. Einen Augenblick lang glaubte Ann, Mackenzie würde ihr die Hand auf die Schulter legen. Stattdessen legte er sie auf die Motorhaube des Jaguars.

– Es liegt an der salzhaltigen Luft. Ein Motor, der fünf Jahre London übersteht, schafft hier gerade mal achtzehn Monate. Ihr Mann sollte sich mal um seine Wartung kümmern.

– Ich richte es ihm aus.

– Setzen Sie sich rein und lösen Sie die Handbremse. Der Bursche hier schiebt Sie die Straße rauf und Sie können dann den Motor anlassen. Wenn Sie zurückkommen, müsste alles wieder in Ordnung ein. Auf der Autobahn lädt sich die Batterie von selbst wieder auf.

So betagt er auch war, Mackenzies Diener fing an zu schieben. Dick traten auf seinen dunklen Armen die braunen Adern hervor. Sofort überzog ein Schweißfilm seine Haut. Am oberen Ende der Straße hielt er ein. Abwärts sprang der Motor sofort an. Als Ann an der Caltex-Tankstelle vorbeikam, hatte er bereits Fahrt aufgenommen.

Beim Blick in den Rückspiegel sah sie Mackenzies Diener erschöpft auf der Straße stehen. Ihr fiel ein, dass sie seinen Namen nicht wusste. Aber sie war sich ja nicht einmal ihres eigenen sicher. In erster Ehe hatte sie noch Ann Rabie geheißen, davor war sie Ann Bowen, deren Vater, ein Kommodore der Royal Navy, ihre Mutter während eines Landurlaubs in Durban auf einem Ball kennengelernt hatte. Aus Gründen, die in der Beziehung zwischen ihr und Neil lagen, hatte sie den Wechsel zu Ann Hunter nie ganz vollzogen.

In der Innenstadt parkte sie vor dem Kaufhaus Greenacres. Einige Verkäuferinnen kleideten gerade die Schaufensterpuppen neu ein, mit Nadeln zwischen den Lippen, um die Kleider festzustecken. Irgendetwas an den Drahtgestellen und den klebrigen Pinselstrichen auf den Armattrappen verstörte sie. Die Puppen würden den Wagen mit einem Fluch belegen. Nach ihrem Gespräch mit Edward Lavigne würde sie in dieser Pappmascheegesellschaft warten müssen, bis der Laster von der Automobile Association angefahren kam.

Sie beeilte sich. Ihr Sohn Paul war mit Alkohol auf dem Schulgelände erwischt worden. Derartige Vergehen wurden im Curzon College schwer geahndet. Die Strafe konnte zu einem Schulausschluss für das gesamte Michaelmas Trimester führen. Edward Lavigne war der Sprecher des Schulaufsichtsrats. In einem seiner ersten Briefe hatte Paul geschrieben, für Lavigne sei das College ein Ort, an dem Pünktlichkeit gleich nach Gottesfurcht komme. Eine zwanzigminütige Verspätung würde einen äußerst ungünstigen Eindruck machen.

Ann ging an Telefonzellen vorbei, die von weißen Männern und Frauen belegt waren. Der Zeitungshändler breitete, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt, seine ausländischen Presseerzeugnisse aus. In den Läden wurden Schilder und Flaggen verkauft, auf denen die Provinz Natal als letzter Außenposten des British Empire gepriesen wurde. Als Schmiede desselben zog das Curzon College die Söhne von Fabrikbesitzern und Farmern aus den Midlands an, Mitglieder der United Party, die mit dem Gedanken spielten, den einen oder anderen gebildeten Bantu, Rechtsanwalt und Bankmanager aus Durban in ihre erlauchten Kreise aufzunehmen.

Lavigne stand am Eingang des Royal Hotel. Er hatte breite Schultern, trug einen Blazer, eine graue Hose und schwarze Schuhe, die er wahrscheinlich ebenso energisch bürstete wie seine Zähne. Jedermann in Curzon College putzte seine Schuhe selbst, egal ob Neuling oder Aufsichtsschüler, Lehrer oder Schulleiter.

Mit seinen tadellos polierten Schuhen stand Lavigne zwischen den Portiers, den Blick auf die vorbeiratternde Straßenbahn gerichtet. Er bemerkte Ann erst, als sie neben ihm stand.

– Mr Lavigne, Edward, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Aber mein Wagen sprang nicht an. An jeder roten Ampel hatte ich Sorge, er bleibt stehen.

– Macht nichts, Mrs Rabie. Ich muss Sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass ich um 13 Uhr am anderen Ende der Stadt den nächsten Termin habe. Die wenigen Tage, die ich in der Stadt verbringe, sind völlig ausgefüllt. Ich habe einen Tisch im Teesalon reserviert.

Ann ging an den Portiers vorbei, nahm deren lange weiße Lederhandschuhe und hohen, roten Kopfbedeckungen wahr.

– Übernachten Sie hier?

– Das College hat eine Vereinbarung mit dem Hotel, wir bekommen die Zimmer günstiger.

– So meinte ich das nicht.

– Der Vorstand der Hotelgruppe ist ein Ehemaliger. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Aufsichtsrats, dass unsere Schule einen gewissen Standard hält. Zum Teesalon müsste es hier langgehen.

Ann ging an tapezierten Räumen und einer Reihe Pflanzen in großen Messingkübeln vorbei. Neben dem Fahrstuhl hing ein langer, messinggerahmter Spiegel, in dem sie sich selbst erblickte und einen Kellner mit Weste, der einen Servierwagen in die entgegengesetzte Richtung schob. Die Hotelbelegschaft war in Lauerstellung, auf der Suche nach irgendeinem Grund, sich auf einen Gast stürzen zu können. Seit ihrer Rückkehr aus Paris missfiel ihr diese Omnipräsenz von Bediensteten.

Der Teesalon war mit einem durch die Ösen von vier glänzenden Messingständern geführtes Seil abgetrennt. Ann und Edward Lavigne saßen sich an einem Tisch an der Wand gegenüber. Der Kellner, ein Inder mit Windpockennarben, trug außer der vom Hotel vorgeschriebenen steifen, roten Tunika einen Turban. Während er den Tisch für den Tee deckte, alles auf das saubere Leintuch stellte, als positionierte er die Figuren auf seiner Seite eines Schachbretts, murmelte er in seinen langen Schnurrbart hinein und zog sich anschließend wieder auf seinen Wachposten zurück.

Neil hatte recht. Hier hatte man als sogenannter Europäer stets ohne Fehl und Tadel zu agieren, eine ewige Zwickmühle. Man stand unter Beobachtung, hauptsächlich der anderen Europäer, aber auch der Einheimischen, einschließlich indischer Kellner mit Turbanen, die etwas zu gewinnen oder verlieren glaubten. Mit Frauen wie Ann gingen die Europäerinnen besonders hart ins Gericht. Sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass Lavigne, seinem untadeligen Geschäftsgebaren zum Trotz, sie im Namen der öffentlichen Meinung bestrafen sollte.

– Mrs Rabie?

– Nennen Sie mich bitte Ann.

– Also gut, Ann. Seit Paul in der siebten Klasse zu uns kam, beobachte ich ihn. Wenn ich mich nicht irre, hat er damals ein Stipendium erhalten, das berechtigte zu gewissen Hoffnungen. Später war ich sowohl sein Hauserzieher als auch sein Geografielehrer. Man hat mich ausgewählt, die besten unserer Schüler unter meine Fittiche zu nehmen, diejenigen, die anschließend möglicherweise nach Cambridge gehen. Nach dem letzten Rugbyspiel habe ich Paul mit drei anderen vielversprechenden jungen Männern zum Abendessen ins Balfour Hotel eingeladen.

– Edward, ich weiß, dass Sie ein gutes Verhältnis zu Paul haben. Was auch vorgefallen sein mag, an der Loyalität meines Sohnes zu Curzon hat sich nichts geändert.

– Loyalität ist eine Tugend, die unsere Schule zu vermitteln bestrebt ist. Darf ich Ihnen einschenken?

Lavigne goss den Tee durch das kleine Sieb und reichte ihr, ohne aufzusehen, die Tasse. In seinen tat er einen Würfel Zucker sowie zwei Milchtropfen, so vorsichtig, als hantierte er mit einer Pipette. Er setzte sich aufrecht hin und trank; der blaue Blazer mit den schweren Goldknöpfen war bis oben geschlossen, seine langen Hände verschwanden fast in den Ärmeln. Sie sah, dass er Manschettenknöpfe trug, und ihr fiel das Paar ein, das Neil von seinem Vater geerbt und Sartre geliehen hatte. Er hatte die Manschettenknöpfe nie wiedergesehen.

– Ich finde es bedauerlich, dass Sie und Ihr Mann bisher bei keinem der wichtigen Spiele anwesend waren.

– Mein Mann ist sehr beschäftigt, Edward. Seit unserer Rückkehr aus Paris hat er an der Universität große Verantwortung übernommen, was leider bedeutet, dass andere Dinge zurückstehen müssen.

– Die Anwesenheit der Eltern ist keineswegs Pflicht. Manche der Jungen reisen von Johannesburg oder London an. Andere von Farmen aus dem rhodesischen Hinterland. Wir wissen um die unterschiedlichen Lebensumstände der Eltern. Trotzdem ist es bedauerlich, dass unsere erste richtige Unterhaltung unter derartigen Umständen stattfindet.

– Das stimmt.

– Dann verstehen wir uns ja. Sie verstehen die Sachlage. Einer der Aufsichtsschüler vertraute mir seinen Verdacht an. Natürlich oblag die Untersuchung des Vorfalls und die Durchsuchung von Pauls Schließfach mir. Dabei fand ich die Spirituosen.

– Finden Sie es richtig, die Jungen zur gegenseitigen Spionage anzuhalten?

– Ich würde es nicht als Spionage bezeichnen. Die Aufsichtsschüler müssen für Ordnung in den Häusern sorgen. Dasselbe System wird auch in den führenden Schulen Großbritanniens angewandt. Ich habe eine praktische Frage, Ann, die bisher nicht zufriedenstellend geklärt worden ist. Ich habe zwei Flaschen billigen Brandy gefunden, Klipdrift. Paul weigert sich, dessen Herkunft preiszugeben, was seine Situation verschlimmert. Hat er sie von daheim mitgenommen? Manche Schüler räumen die Hausbar ihres Vaters aus, weil sie sich auf diese Weise beliebt machen wollen.

– Das hört sich nicht nach Paul an. Neil rührt keine harten Getränke an. Für gewöhnlich haben wir Wein im Haus, ich trinke abends gelegentlich ein Glas.

– Das ist ja keine Sünde.

Lavigne und sein trockenes Lachen gingen ihr auf die Nerven. In ihre Unterhaltung hatte sich eine Vertraulichkeit eingeschlichen, die Ann missfiel, als wollte der Lehrer zeigen, dass er um ihre Geheimnisse wusste. Es schien ihm egal zu sein, ob er sie beleidigte. Sie betrachtete ihn genauer. Selbst in Neils Utopia würde es einen Lavigne geben.

– Wahrscheinlich ist Paul in einen der indischen Läden gegangen, Mrs Rabie, die in der Nähe des Schulgeländes liegen. Von Rechts wegen dürfen Inder in dieser Gegend keinen Grundbesitz erwerben. Wer also verpachtet ihnen das Land? Auf Bitte des Schulaufsichtsrats forsche ich nach den betreffenden Grundstückseigentümern. Wenn wir die Schuldigen herausfinden,werden wir entsprechende Maßnahmen ergreifen. Sie müssen sich an die Gesetze halten oder ihren Pächtern wird die Geschäftserlaubnis entzogen.

– Das klingt hart, Edward.

– Bei Menschen, die keine Skrupel haben, ist Härte angebracht. Ich bin keineswegs Rassist, das dürfen Sie mir glauben, aber in diesem Land werden mit Sicherheit erst dann Ruhe und Frieden einkehren, wenn wir allen gewisse Wertvorstellungen vermittelt haben. Mich interessiert die Universität sehr. Darf ich fragen, an welcher Fakultät Ihr Mann tätig ist?

– An der Philosophischen. Wir kamen aus Paris zurück, damit er die Stelle annehmen konnte. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich gerne länger in Frankreich geblieben. Bei meiner ersten Eheschließung war ich noch sehr jung und hatte daher nie die Gelegenheit, ein Jahr lang durch Europa zu streifen.

Ann war nicht klar, warum sie mehr preisgab als nötig. Sie wollte sich gut mit ihm stellen, wollte Paul helfen.

– Ich habe drei Jahre auf dem Kontinent, in Oxford, verbracht, Mrs Rabie, die mich davon überzeugt haben, dass mein Platz hier ist, wo unsere Zivilisation auf die Probe gestellt wird.

Lavigne entschuldigte sich, um zur Toilette zu gehen. Ann sah seiner kräftigen Gestalt nach, wie er voller Überzeugung den Hotelflur hinunterging, dieses und das folgende Leben ganz und gar zu beherrschen. Im anglikanischen Jenseits würde Lavigne jenen Jungen die Hand schütteln, deren Hinterteile er in der Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers so vorzüglich mit dem Rohrstock traktierte. Sie würden sich bei ihm bedanken, dass er sie aufs rechte Gleis gebracht hatte.

Ann war katholisch, das Erbe ihrer irischen Großeltern. Zwar war sie gefirmt worden, zündete aber, wenn sie eine Kirche betrat, höchstens eine Kerze an. Zudem war sie geschieden und fiel nicht in dieselbe Kategorie wie andere Eltern. Ihr kam der Gedanke, dass Privatschulen der Kirche ähnelten, beide standen unter der Kuratel einer universellen Herrschaft. Edward Lavigne hätte genauso gut Bischof sein können.

Vor zehn Jahren wäre Ann beeindruckt gewesen. Doch nach den schönen Jahren in Paris, in denen sie am Boulevard Saint-Michel gewohnt und bei Lévi-Strauss und de Beauvoir verkehrt hatte, verwechselte sie eine Privatschule in Natal nicht mehr mit der Krönung der Zivilisation. Sie wollte einfach nicht, dass Paul ein Jahr versäumte. Er hatte sich im Curzon College schnell eingelebt, war am Trimesterende, angetan mit schwarzem Blazer und Krawatte, aus dem Bus gestiegen und hatte ihr von den typischen Jungenthemen wie Motorräder und Kricketspieler erzählt und den Gerüchten über die Lage an der Grenze, die von den älteren Schulkameraden durchsickerten.

Neil war in einer ähnlichen Institution Klassenbester gewesen. Seitdem hatte sich der Strafkatalog nicht verändert. Die Jungen wurden entweder mit einem Kricketschläger oder einem Rohrstock geschlagen, einzeln im Arbeitszimmer des Hauserziehers oder wenn eine Gruppenbestrafung fällig war, aufgestellt in Reih und Glied in der Turnhalle. Oder die Jungen mussten meilenweit durchs Gelände rennen, lateinische Verben konjugieren, teilweise wurde das Privileg der Heimfahrt am langen Wochenende gestrichen.

Ein erstaunliches Programm an Menschenopfern. Zwischen ihr und einer Aztekenmutter gab es weniger Unterschiede als Historiker gemeinhin annahmen.

Als Lavigne zurückkam, hatte Ann beschlossen, seinen unterschwelligen Hohn zu ignorieren. Er hatte sich das dünne sandfarbene Haar so über den Kopf gekämmt, dass sie deutlich seine graue Kopfhaut sah. Beim Sprechen neigte er den Kopf, als wollte er ihr seine Blöße absichtlich darbieten.

Sie fühlte sich durch seine Überheblichkeit verletzt. Dieselbe Eigenschaft hatte sie in Paris, bei Theaterautoren und Universitätsphilosophen, Konzertpianisten und Chirurgen als harmlos empfunden, wenn diese egoistisch und voller Leidenschaft über sich und ihre Überzeugungen sprachen.

Lavigne wollte das Thema vom Tisch haben.

– Zu diesem Zeitpunkt des Trimesters können wir, das ist der Standpunkt des Schulaufsichtsrats, der in dieser Sache den Rat eines Anwalts eingeholt hat, Pauls Schulgeld nicht zurückerstatten. Es ist jedoch möglich, dass Sie Paul selbst von der Schule nehmen. Ich bin bereit, den Rektor von Kearsney, einen guten Freund, anzurufen, oder stelle ihm, falls Ihnen das lieber ist, ein Empfehlungsschreiben für eine der besten staatlichen Schulen aus, beispielsweise die Durban High School. Viele Jungen, die das College verlassen mussten, sind bedeutende Persönlichkeiten geworden.

Genauso gut hätte Lavigne ihr über den Tisch hinweg mit einer seiner wohlgeformten Hände eine Ohrfeige geben können.

– Wir haben uns noch nicht darauf verständigt, dass Paul von der Schule genommen werden muss. Andere Jungen lassen sich auch etwas zu Schulden kommen, ohne dass sie von der Schule verwiesen werden.

– Mrs Rabie, die verschiedenen Fälle lassen sich schlichtweg nicht miteinander vergleichen, jeder Fall liegt anders. Wenn ich ehrlich sein darf, bisher haben Sie mir kein Argument geliefert, weshalb ich Pauls Fall in einem anderen Licht sehen sollte. Daher bleibt es, wenn es nach mir geht, bei der Entscheidung des Rektors.

Sie warteten auf die Rechnung. Neue Guerilla-Gruppen machten die Grenzen unsicher. Rubel und Dollar hatten das Pfund Sterling ersetzt. Kilometer, Kilogramm und Liter hatten Meile, britisches Pfund und Flüssigunze verdrängt. In Zaire war Patrice Lumumba bereits 1961 im Auftrag des Weißen Hauses ermordet worden. Ihr Sohn sollte wegen zwei Flaschen Brandy der Schule verwiesen werden. Die Maßstäbe des Curzon College hatten ebenso ausgedient wie Yard und Inch. Man wusste dort nicht, was wirklich zählte.

Es ergab sich, dass Ann Edward Lavigne zu seinem Auto brachte. Er hatte es in einer Parallelstraße hinter dem Rathaus abgestellt, wo es keine Parkuhren gab, und nahm ihre Begleitung an.

Ann hatte das Gefühl, dass sie sich in einer Sackgasse befanden. Gern hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass Pauls Vater Gert mit den alten Familien der National Party gut befreundet und im Transvaal Bildungsminister gewesen war. Den Privatschulen war sehr wohl bewusst, dass sie von der Regierung finanziell unterstützt wurden. Man widersprach Geldgebern nie, egal ob es nun um die Entfernung von »Lady Chatterleys Liebhaber« aus der Bibliothek ging, den Ausschluss von Schülern nichtweißer Hautfarbe oder die Aufnahme des Sohns eines japanischen Geschäftsmanns als Europäer ehrenhalber. Gut möglich, dass sich der Special Branch mit der Schule in Verbindung gesetzt und geäußert hatte, die Aufnahme von Neil Hunters Stiefsohn sei nicht erwünscht.

Lavignes Auto stand vor der Post. Paul hatte ihr erzählt, dass sein Geografielehrer einen Bugatti fuhr, diesen für seine Schnittigkeit bekannten italienischen Sportwagen. Lavigne, dieser für gewöhnlich mit schicker Fliege angetane Junggeselle, war gesehen worden, wie er durch Margates Kurort Curzon brauste und um die Hotels in den Drakenbergen in der Nähe von Champagne Castle kurvte. Wen er dort besuchte, blieb ein Geheimnis. Vielleicht einen anderen Mann? Während Lavigne seinen Autoschlüssel aus dem gestreiften Seidenfutter seines Blazers zog, überlegte Ann, ob er wohl homosexuell war. Das würde seinen Stil und seine geschraubte Ausdrucksweise erklären, seine stocksteife Haltung in allen Dingen und seinen schnörkellosen Sadismus. Sie sollte ihn damit erpressen. Das wäre nur gerecht.

– Eins noch, Edward, bevor Sie losfahren. Sie leiten eine Schule, kein Kloster. Junge Burschen machen nun mal Streiche. Deshalb die Frage, hat diese Entscheidung mit meinem Mann zu tun? Tatsächlich ist Paul nicht Neils Sohn. Paul ist der Sohn von Gert Rabie. Ich verstehe, dass die Schule politische Rücksichten nehmen muss, aber Sie können Paul nicht für die Ansichten meines Mannes bestrafen. Das wäre nicht fair.

Lavigne öffnete den Wagenschlag, legte die Hand auf die grüne Motorhaube und sah zum ersten Mal so aus, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Durch die Windschutzscheibe sah Ann ein paar Handschuhe auf dem Armaturenbrett liegen, cremefarben, an den Fingern abgesteppt, mit einem Druckknopf zu verschließen, besonders beliebt bei Mitgliedern von Automobilklubs, die rein um des Fahrens willen unterwegs waren. Sie stellte sich vor, wie Lavigne sich die Handschuhe überstreifte, um eine bestimmte Aufgabe in Angriff zu nehmen. In diesem Fall sie.

– Falls Sie mich nach meiner ganz persönlichen Meinung fragen, Mrs Rabie, dann sage ich Ihnen unter uns, ja, Paul wird nicht mit besonderer Nachsicht behandelt. Aber Sie müssen auch unsere Position verstehen.

– Ich begreife nicht, inwiefern der Ausschluss meines Sohns Curzon College nutzen sollte.

Lavigne bückte sich, holte seine Handschuhe aus dem Auto, hielt sie in der Hand, als wollte er sie wiegen. Wahrscheinlich hatte die Sonne sie auf dem Armaturenbrett so sehr aufgeheizt, dass er sie nicht gleich überstreifen konnte.

– Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie der Schulaufsichtsrat denkt. Es geht nicht nur um den Alkoholkonsum. Paul hat eine Unterschriftenaktion gegen das Kadettentraining angezettelt. Das hat er Ihnen wohl nicht erzählt, Mrs Rabie. Politische Agitation wird an unserer Schule nicht geduldet. Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihrem Mann reden, inwiefern es angemessen ist, dass er Ihrem Sohn seine Ansichten aufdrängt. James Nicholson ist niemand, der seine, auf relevanten Fakten basierende Meinung im Handumdrehen ändert, so viel kann ich Ihnen verraten. Nichtsdestotrotz lassen Fakten sich ändern. Beispielsweise benötigt Curzon derzeit Geld für einen neuen Musiktrakt.

Mütterlicherseits stammte Ann aus Southampton, ihre Vorfahren waren Bäcker, Schiffsausrüster, Marinebuchhalter und Kontoristen gewesen waren, ehe sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Südafrikanische Republik aufgemacht hatten, ein Land, das keinen eigenen Hafen besaß.

Die Rabies, eine Familie, von der Ann sich trotz Scheidung nicht hatte lösen können, brachte Lehrer hervor, Priester, die die Gemeinden im Boland betreuten, einen Bergbauingenieur, der unter Jan Smuts diente und später ins Parlament gewählt wurde sowie Gert Rabie, der eine Arztpraxis mitten in Natal hatte und sich um die Agrarstädte, abgelegene Häuser und die Farmen im Hochland zwischen Dundee und Newcastle kümmerte. Bereits während seiner ärztlichen Ausbildung war er für seine sensiblen Hände bekannt. Wenn eine Nabelschnur entwirrt oder die Herzkammer eines Säuglings operiert werden musste, rief man ihn. Er war vierzehn Tage jünger als sie. Als sie sich auf der Universität kennenlernten, war er nur an Rugby und seinem Medizinstudium interessiert. Am Tag ihrer Hochzeit waren beide zwanzig Jahre alt. Er bezeichnete sie gern als alte Frau.

Gert war ein Einzelgänger und führte einmal im Monat ein Ferngespräch mit seinem Sohn. Die anderen Rabies blieben in engerem Kontakt. Sie besuchten Paul im Curzon College, fuhren stundenlang für ein samstägliches Rugbyspiel, unterhielten sich mit dem Kapitän der gegnerischen Mannschaft, beurteilten die Leistung von Fly-Half und Flanker und packten am Spielfeldrand ihre Picknickkörbe aus. Paul verbrachte die Juliferien bei ihnen. Ann wurde weiterhin von ihnen eingeladen, wenn sie Paul zu sich holten. Sie hatte den Eindruck, dass sie von ihnen nicht als eigenständiges Wesen wahrgenommen wurde und daher für die Trennung nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie nahmen es ihr offensichtlich auch nicht übel, dass sie ihre Einladungen nie annahm.

Dann gab es da noch die Hunters, exzentrische Rotschöpfe allesamt. Neils Mutter hatte zwanzig Jahre lang die Farm betrieben. Seine Tante war die erste Anthropologin gewesen, die in einem Dorf in Fingoland lebte und die dortigen Bräuche aufzeichnete. Neils Großonkel spielte auf einem Kreuzfahrtschiff Klavier, schrieb Kriminalromane, war mit Randolph Churchill befreundet und ging hin und wieder in Durban von Bord, wo er Séancen veranstaltete.

Neil selbst war nicht unbedingt gutaussehend. Sein Gesicht war flach, die Arme knochig und die Beine lang, so dass er auf 1,90 m kam. Ständig arbeitete er an einem Projekt. Als sie sich kennenlernten, entwickelte er gerade ein neues englisches Rechtschreibsystem, das für die Eindämmung des Analphabetismus sorgen sollte. Er war der Einzige, der sich auf die Einführung des metrischen Systems vorbereitet hatte, indem er, lange bevor in den Läden die neuen Maßeinheiten allmählich eingeführt wurden, im Kopf alles in Meter und Liter und Kilogramm umrechnete.

Neil musste ja nicht zwangsläufig das Vorbild ihres Sohnes sein. Vermutlich würde Paul, anders als sein Stiefvater, Bantus nie für weiser und ehrlicher als Europäer halten. Paul war am Lernen interessiert. Nie würde er sein Ohr jedem dahergelaufenen Inder leihen, im Gegensatz zu ihrem Mann, der auf der Veranda sitzend, die hübschen sommersprossigen, von der Sonne gegerbten Hände flach auf den Oberschenkeln, den kleingeistigen Gedanken des tamilischen Elektrikers Chunu lauschte, dessen Ausführungen über ayurvedische Ernährung und die Bockshornkleesamen bewunderte, die ihm dieser auf der Handfläche entgegenstreckte. Neil bewunderte Chris Padayachee, einen dunkeläugigen Anwalt, der mit Gandhis in Natal verbliebener Verwandtschaft verkehrte und sich dem von ihm gegründeten Phoenix Settlement verbunden fühlte. Der Jurist mit den tiefdunklen Augen wusste alles über Nehru und Jinnah und gebärdete sich wichtigtuerisch wie ein Professor. Wäre er auf dem Land aufgewachsen, Neil hätte ihm keine Minute lang zugehört. Als Ann nach Hause kam, waren Mackenzie und sein Diener im Garten damit beschäftigt, auf der das Grundstück umgebenden Betonmauer Hühnerdraht zu befestigen. Sie verständigten sich grunzend, während sie den dünnen Flechtdraht abrollten. Vor ihnen senkten und hoben Hagedasche ihre Köpfe, durchstöberten mit schlauem Schnabel das Gras. Sie benahmen sich nicht aggressiv, hüpften aber auch nicht beiseite, als Mackenzies Gehilfe mit einer Schubkarre voller Drahtreste und ausgegrabenen Pfosten an ihnen vorbeischob. Er ignorierte Ann.

Sie betrat das Haus über die Küche. In Neils Arbeitszimmer lief das Radio. Sie hatte nicht erwartet, dass er schon da war. Häufig kam er erst heim, wenn es bereits dunkel war, und brachte einen Stapel mimeografierter Artikel mit, die bis zum nächsten Morgen gelesen werden mussten. Selbst nach vielen Ehejahren, klopfte Ann in Erwartung ihres Mannes das Herz. Sie ging nach oben, um sich über Lavigne zu beklagen.

Stattdessen fand sie Nadia Paulson vor, eine von Neils Studentinnen, die umgeben von aufgeschlagenen Wörterbüchern und Lexika im Minikleid im Schneidersitz dasaß. Zuerst rührte sich Nadia nicht, machte sich weiterhin Notizen. Dann drehte sie das Radio leiser und schob sich das gefärbte Haar aus dem Gesicht. Sie stand immer noch nicht auf, lächelte aber.

Jedes Mal, wenn sie aufeinandertrafen, dauerte es nicht einmal eine halbe Minute, bis Ann das Mädchen gern geohrfeigt hätte. Nicht aus Eifersucht, sondern weil Nadia sich bewusst provozierend verhielt.

– Ich dachte, es wäre Neil.

– Es gab eine Demonstration. Die Polizei hat die Bibliothek gesperrt. Neil hat mir den Schlüssel gegeben, damit ich einige Fußnoten überprüfen kann. Wir wollen nämlich den Artikel über Pixley Seme, Clements Kadalie und die Unterschiede zwischen Bürgerrechten und Arbeiterrecht für das Labour Bulletin fertigstellen.

– Dann lasse ich Sie mal allein. Ich muss noch etwas in den Ofen schieben.

In der Küche hielt Ann sich am liebsten auf, hier hatte alles seinen Sinn und Zweck. Der Raum besaß große Fenster und eine Halbtür führte in den Garten, es gab Holzregale, auf denen eine Schale mit glasierten Früchten und ein Stapel Goldrandteller standen, an Haken hingen Pfannen. In der Glasvitrine hatte sie Zinnbecher und -löffel und Pauls Schulpokale dekoriert.

In den untersten Schubladen, die sie höchstens einmal im Jahr herauszog, befanden sich Teesiebe und Kastendrachen, Fingerhüte, Eieruhren und weitere fossile Gegenstände, die Ann vor Augen führten, dass das Leben veränderlich war, sich dabei Plunder ansammelte und das seltsame Gefühl in ihrem Herzen an diesem Tag keinerlei Bedeutung hatte. Um sich zu beruhigen, strich sie über die angeschlagenen blauen und weißen Kacheln, die selbst am heißesten Tag beinahe kühl waren. Sie glaubte, ihr Leben mit Neil wäre ebenso stabil wie diese Kacheln.

Nadia, die kurz vor ihrem Abschluss stand, war seine fleißigste Studentin. Sie stammte aus Kapstadt, hatte aber auch Verwandte in Mauritius, wo sie ein Jahr verbracht und Französisch gelernt hatte. Für Neil machte sie Rohübersetzungen von Merleau-Ponty, Fanon und Alexandre Kojève und stenografierte die Sitzungsprotokolle der Free University mit. Mit ihrer hellbraunen Haut und den riesigen, fast dumpfen, schläfrig dreinblickenden Mandelaugen sah sie beeindruckend aus. In Durban, wo der Group Areas Act den Menschen bestimmte Gebiete zuwies, Busse, Drive-In-Lokale und Restaurants nach Rassen getrennt waren, gab es wenig Abenteuerspielraum für Nadia. Verständlicherweise wollte sie zu Neils Welt gehören. Jemand, der unbedingt hereinkommen möchte, kann nur schlecht daran gehindert werden.

Als Nadia mit ihrer Umhängetasche voller Bücher herunterkam, stellte Ann fest, dass ihr die Ablenkung gerade recht kam. Nach Lavigne war nahezu jeder eine Wohltat.

– Gehen Sie schon?

– Mittlerweile sollte die Bibliothek wieder geöffnet sein. Normalerweise geht die Polizei rein, sucht nach den Demonstranten und zieht ab.

– Sobald der Kuchen fertig ist, kann ich Sie zur Uni fahren. Ich habe ein Rezept aus der Fair Lady ausprobiert, wenn es etwas taugt, backe ich den Kuchen nochmals für meinen Sohn.

Nadia legte ihre Tasche auf den Tisch.

– Letztes Semester war Paul mal in Neils Büro, wartete darauf, dass eine Bio-Vorlesung anfing. Irgendwas über Farne. Er ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.

Ann holte bereits Gabeln und Teller heraus und setzte den Wasserkessel auf. Sie schnitt zwei schmale Stücke für die junge Frau ab, stapelte sie aufeinander, nahm sich dann, begeistert, wie locker der Kuchen geraten war, selbst ein Stück. Sie konnte gut backen und es kam nicht oft vor, dass sich ein Backwerk ihr verweigerte und nicht aufging.

– Paul weiß alles über Farne. Er ist ein echter Rabie, der Sohn seines Vaters, vertraut auf die Integrität der Obrigkeiten. Auch wenn man deren Heuchelei sofort durchschaut. Gerade vorhin hatte ich ein Treffen mit seinem Geografielehrer, der Geld für den neuen Musiktrakt der Schule will, wenn er Paul aus der Klemme helfen soll, eine Unverschämtheit.

– Neil hat mir erzählt, dass Paul in Schwierigkeiten steckt. Das überrascht mich nicht. Mein erster fester Freund war in Kearsney. Wir mussten unsere Beziehung vor seiner Familie verheimlichen. Da habe ich kapiert, wie die ticken. Sie bestehen darauf, dass es Regeln gibt, die eingehalten werden müssen, aber wenn es Ihnen in den Kram passt, existieren die Regeln auf einmal nicht.

Ann goss Tee in zwei Tassen und holte die Milch aus dem Kühlschrank.

– Was genau hat Neil über Paul erzählt?

– Nur, dass es Schwierigkeiten gibt und er nicht überrascht ist, sich aber nicht in Pauls Schulausbildung einmischen will. Sie wissen doch, dass für Neil im Endeffekt immer alles auf Bildung hinausläuft, dass man sich geistig freimacht. Er erlaubt uns nicht, dass wir bei Demonstrationen wie der am Howard College heute mitmachen, weil er weiß, wie schnell man als Nichteuropäer von der Uni fliegt.

Es dauerte einige Zeit, bis Ann den Grund für ihr Unbehagen begriff. Nadia trug einen knappen, dünnen Rock und eine enge, blaue Baumwollbluse, und wenn sie einem auf der anderen Tischseite gegenübersaß, nahm man unwillkürlich ihren quicklebendigen Körper wahr. Bevor sie nach unten kam, hatte sie ihre Lippen nachgezogen, unübersehbar wie anzüglich ihr schöner, üppiger Mund war. Er teilte Ann mit, dass sie bald aufs Abstellgleis gehörte, es nicht mehr lange dauerte und ihre Haut würde durch die Sonne runzlig, ihre Sehnen und Schenkel in der Hitze verdorren, ihr Körper nie wieder so atmen und lieben, erröten und brennen wie mit Gert und nie wieder ein Mann die Hand mit derartiger Lust über ihre Hüfte wandern lassen. Er teilte ihr auch mit, dass ihre zweite Ehe, dieser Traum einer Verbindung mit den Hunters, gleichfalls zu Ende sei und sie sich gefälligst den anstehenden Veränderungen ergeben solle.

Wenn etwas von vornherein feststand, wurde Ann ungeduldig. Noch ehe sie ein Buch halb durchhatte, las sie den Schluss. Wurde ein Problem zu nervenaufreibend, setzte sie alles in Bewegung, um der Sache ein Ende zu machen. Daher hatte sie kurz nach jedem Kennenlernen auch nicht gezögert und sehr schnell geheiratet, zuerst Gert, und später Neil. Einen Moment lang freute sie sich auf das Ende ihrer Ehe.

Auf dem Weg nach draußen schwieg sie. Das Auto sprang problemlos an und sie fuhr zum Howard College. Der Wind raschelte suchend durch die Bäume, über den Boden und in den Beeten, die vor der Buchhandlung, dem roten Backsteincafé und den Studentenwohnheimen angelegt waren. Von Polizei keine Spur. Zwei Männer schoben eine Walze über die Tennisplätze bei der Golf Road, schwerfällig drehten sich die Zylinder über den Sand. Die Fenster des neuen Bibliotheksgebäudes waren bronzefarben.

– Danke, dass Sie mich gefahren haben.

– Gern geschehen. Bis bald.

Nadia stieg aus, streckte dann den Kopf ins Auto.

– Findet das Treffen der Free University heute Abend nicht bei Ihnen daheim statt? Eventuell muss ich das Protokoll führen.

– Neil gibt mir nicht immer rechtzeitig Bescheid. Ich drehe mich um und im Haus wimmelt es von Menschen, die sich irgendwie getarnt haben. Glauben sie wirklich, dass man sie deswegen nicht schnappt? Letztes Mal hat einer seinen falschen Bart neben der Spüle vergessen. Erst als Paul ihn sich umhängte, habe ich begriffen, worum es sich handelt.

– An Ihrer Stelle würde ich mich heute Abend auf Besuch einstellen. Am Howard College haben sie den Hörsaal geschlossen, wo sich die Arbeiterräte getroffen haben. Sie haben Tränengas eingesetzt. Einige von ihnen sind mit Neil befreundet. Sie brauchen einen Unterschlupf.

– Mir war nicht bewusst, dass es so schlimm war. Warum haben Sie mir das nicht früher erzählt?

– Ich dachte, Neil hätte Sie gewarnt. Er macht sich Sorgen, dass sie als Nächstes sein Büro durchsuchen. Vorsorglich hat er einige seiner Bücher in unseren Institutsaufenthaltsraum ausgelagert.

– Die können auch ruhig zu uns kommen. Ich sollte aufräumen.

Ann rief Neil vom Telefon vor der Bibliothek an, aber die Vermittlung konnte sie nicht mit seinem Büro verbinden. Manchmal hörte sie, wenn sie daheim den Hörer abnahm, das Klicken des Aufnahmegeräts. Sie fuhr nach Hause, schloss das Gartentor und brachte die Bücher und Flugblätter ins Wohnzimmer. Neil gab sich Mühe, alle auf demselben Regal zu versammeln: Marx, Kropotkin und die rotbesternten Operaisten-Magazine, die im Kunstinstitut im Siebdruckverfahren hergestellt wurden und nur deshalb nicht verboten waren, weil niemand wusste, dass es sie gab.

Es war Routine geworden. Du bekamst mit, dass eine Razzia bevorstand. Du legtest die Türkette vor. Wenn es spät und er nicht im Internat war, schicktest du deinen Sohn ins Bett oder batst telefonisch einen Freund, er solle ihn abholen. Du überprüftest Pässe, Führerscheine, den Benzinstand im Auto und wie viel Geld sich im Handschuhfach befand, obwohl es nahezu undenkbar war, dass du das Land verlassen würdest. Du stelltest sicher, dass man das Schreibmaschinenband nicht entziffern konnte, und zerrissest das blaue und goldene Durchschlagpapier, das unter der Olivetti lag. Du konntest dich nicht daran erinnern, wo du das Scheckbuch gelassen hattest, an dessen Rand die Ausgaben vermerkt waren.

War genügend Zeit, dann riefst du deine Schwester in Schweizer-Reneke an und warntest sie vor, sie müsse vielleicht Paul abholen, und anschließend die andere Schwester in Graaff-Reinet, die mit einem Kapitän der Navy verheiratet war. Du hattest ihre Stimme schon so lange nicht mehr gehört, dass du dich fragtest, ob sie dich überhaupt noch erkennen würde. Das Herz schlug dir bis zum Hals, bis sie dich mit Namen ansprach, als wäre nichts geschehen und nie etwas, schon gar nicht der Zustand der Welt, zwischen euch gekommen.

Du lauschtest, ob an die Tür gehämmert wurde, was gewöhnlich in den frühen Morgenstunden geschah, und überlegtest krampfhaft, ob du etwas übersehen hattest, gingst nochmals nach oben und ließest den Blick über das Bücherregal schweifen und stelltest sicher, dass sämtliche Einträge im Adressbuch unleserlich waren. Leben ohne Spuren zu hinterlassen, war unmöglich. Unvermittelt, als hättest du ein Messer bis zum Heft im Leib stecken, sehntest du dich nach einem Leben in einem ganz gewöhnlichen Land, nach ganz normalem Glück und Unglück.

Ann packte die Unterlagen in einen Karton und nahm ihn mit in die Küche, setzte sich dort an den Tisch und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, was als Nächstes getan werden musste. In solchen Fällen übernahm sonst Neil das Kommando. Manchmal bekamen sie eine Stunde vorher mit, dass eine Razzia anstand. Dann packte Neil den Bücherkarton im Kofferraum seines Valiant und stellte ihn in der Garage eines Freundes unter, wo er unter einer verbogenen Tischtennisplatte Asyl fand. Dann stellte er das Auto gegenüber einem hellerleuchteten Hamburgerrestaurant ab und ging zu Fuß die zehn Minuten die Essenwood Road zurück, vorbei an den Altenheimen und mit freier Sicht auf den Rennplatz. Er traf rechtzeitig zum Empfang sämtlicher Polizisten wieder zu Hause ein.

Sie hatten so viel Aufwand in das Buchproblem gesteckt, und doch hatte der Security Branch bei keinem seiner Besuche großes Interesse an Neils Bibliothek gezeigt. Zwar konfiszierte der verantwortliche Major gelegentlich das eine oder andere verbotene Werk, aber anderes war ihm wichtiger. Er wollte wissen, ob Neil die Adresse einer bestimmten Person kannte, mit jemand auf der Liste, die der Major laut vorlas, Kontakt gehabt hatte, ob er schon vorab über die Pläne der Studentenvereinigung informiert war, und ob er sich an die Mitglieder einer bestimmten Gewerkschaft oder einer Black-Sash-Gruppe erinnerte, ob die wussten, wo sich der Sohn der Frau aufhielt, die dem Nachbarn die Wäsche machte. Nur in Paris dienten Lieblingsbücher, oder ob man Anhänger von Lévi-Strauss oder Sartre war, als Maßstab für die Einschätzung der Persönlichkeit.

Ann überlegte immer noch, was sie mit dem Karton machen sollte, als das Telefon klingelte. Eilig nahm sie den schwarzen Hörer ab, der sich kalt wie ein Hammer anfühlte.

– Ich habe versucht, dich im Institut zu erreichen.

– Hast du das mit der Bibliothek mitbekommen? Ich musste zur Bank, Kautionen für einige Studenten veranlassen. Es war ein harter Tag.

Gerne hätte sie gesagt, dass es nur noch besser werden konnte. Vielleicht könnte es sogar ein Tag werden, wie damals vor fünf Jahren in Rom, während eines von ihrer Schwiegermutter bezuschussten Urlaubs, als Neil ihr bei einem Juwelier eine Perlenkette umlegte, ihr über das Schüsselbein streichelte, dass sie ohnmächtig zu werden glaubte.

– Als ich heimkam, war Nadia Paulson hier und erzählte mir von der Demonstration. Sie meinte, unsere Freunde könnten uns einen Besuch abstatten. Davor habe ich mich mit Edward Lavigne auseinandergesetzt und jetzt überlege ich krampfhaft, was ich mit den Büchern machen soll. Warum hast du mir nichts gesagt, Neil?

Mit einminütiger Verspätung fiel Ann ein, dass dieser Anruf wahrscheinlich aufgezeichnet wurde. Sie konnte nicht ihr ganzes Leben verschlüsseln, das war unmöglich. Bücher waren denen egal.

– Du weißt genauso viel wie ich.

– Warum muss ich es dann von Nadia erfahren?

– Wie hätte ich das alles voraussehen sollen?

– Gar nicht.

Nichts war vorhersehbar. Unvorhersehbarkeit war zu einem bestimmenden Faktor geworden, gebärdete sich ebenso unerbittlich wie der Special Branch. In Durban gab es keinen Platz für extravaganten Schmuck oder zum Musikhören. Ann hatte das Gefühl, dass die furnierten Möbel, die sie bei Joshua Doore auf Raten gekauft hatten und die braunen Backsteinlagerhäuser an der Umbilo Road für etwas Anstößiges standen. Der Versuch, ein besseres Leben zu führen, war ein Vergehen. Was in Paris schön gewesen war, war hier doppelt so teuer und in diesem Umfeld abstoßend. Auf einer römischen Straße wirkte ein Mercedes mit Flügeltüren grandios, hier verabscheuungswürdig.

Manchmal glaubte Ann, die vielen Sorgen wären irgendwann ihr Tod. Es gab kaum genügend Zeit für die eine, da klopfte schon die nächste an die Tür und dann die nächste und bald hatten sie sämtliche anderen Gedanken in ihrem Kopf vertrieben. Neil ging mit dieser Herausforderung wesentlich besser um, da er alles, was sich nicht ändern ließ, aus seinen Gedanken verbannte.

– Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, Ann. Ich habe Nadia zu uns nach Hause geschickt, damit sie etwas fertigstellen konnte. Wenn du willst, soll sie mir morgen den Schlüssel zurückgeben. Einverstanden?

– Und jetzt komm bitte nach Hause.

– Ich möchte hören, was bei deinem Treffen mit Edward Lavigne herausgekommen ist.

– Wenn du daheim bist.

Auch wenn es wahrscheinlich falscher Alarm war, brachte Ann den Bücherkarton aus dem Haus. In der Gartenmauer, wo ihr Grundstück an das Mackenzie’sche angrenzte, befand sich ein Schrank mit Gartengeräten. Ann öffnete ihn und ihr Blick fiel auf ordentlich aufgeräumtes Werkzeug, den aufgerollten grünen Schlauch, ein Marmeladenglas mit Schlangengift und eine Schaufel.

Sie hob den schweren Schlauch hoch und schob den Karton darunter. Nicht, dass die Bücher so vor dem Zugriff des Special Branch verschont bleiben würden. Wenn sie Neils Bücher konfiszieren wollten, würden sie garantiert auch draußen und im Kofferraum suchen sowie sämtliche Gepäckstücke durchwühlen. Und wo würden sie die beschlagnahmten Sachen unterbringen? Eines Tages, ein Tag, der mit absoluter Gewissheit kommen würde, unter einer neuen Regierung würden die Menschen diese Bibliothek der verbotenen Bücher nutzen.

Für Durbaner Verhältnisse war ihr Haus, das ganz oben in Berea stand, alt und hatte mit der Zeit seine ganz eigene Persönlichkeit entwickelt. Es war von einem Zuckerbaron für seinen Aufseher erbaut worden, der auf der Schiffsreise von Lourenço Marques prompt an Gelbfieber erkrankte. Seitdem war es vermietet worden. In Anns Augen ähnelte es am meisten dem Haus draußen auf dem Land in Amiens, in das sie einmal eingeladen worden waren.

Neils Cousin war ein aus Großbritannien eingewanderter Baronet, der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die blumengesäumten Straßen entlangbrauste und sie beide zwei Wochen lange beherbergte, als Neil zurück zu seiner Dissertation in Paris wollte. Sie ernährten sich von Schweinshachsen und glücklosen, nach Schießpulver schmeckenden Hasen, literweise Rotwein und, unvergessen, Hummer aus dem Atlantik, deren grüngeflecktes Hirn er verbissen, aber voller Stolz zu einer Sauce verarbeitete. Das Haus in Amiens war ruhig und schmucklos, durchdrungen von trägen Sonnenscheinbahnen.

Ann wollte Pauls Stimme hören. Um diese Uhrzeit würde sie jedoch nicht mit Newnham House verbunden werden. Man konnte seinen Sohn unter der Woche zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr anrufen sowie samstagnachmittags zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr, nach Beendigung der Sportveranstaltungen.

Ann wusste nicht, mit wem sie sich als Nächstes würde auseinandersetzen müssen. Sie machte sich an die Zubereitung des Abendessens und holte die Lammkeule aus dem Kühlschrank, die fast genauso kalt war wie gestern beim Kauf, und immer noch vollkommen rosa, dass sie der großspurigen Behauptung des Metzgers glaubte, das Tier sei am Sonntag noch durch die Midlands getollt. Das Fleisch erinnerte sie an Lyoner. Ihr Metzger und seine Gesellen in Paris waren wahre Experten gewesen, ihre Schürzen so tadellos und in ihren Ansichten so unbeirrbar wie Ärzte und Rechtsanwälte. Sie machten nicht viel Worte. Wohingegen man sich darauf verlassen konnte, ein Metzger aus Durban, mit seinen rot verschmierten Wurstfingern klopfte noch Sprüche, ohne zu bemerken, dass der Kunde auf der anderen Seite der Sperrholztheke nicht lächelte

Ann schaltete den Backofen ein, wusch die Keule, drehte sie dabei unter dem Wasserhahn, damit alles sauber wurde, tupfte sie mit Küchenpapier trocken, legte sie aufs Schneidbrett und klopfte das Fleisch flach. Anschließend rieb sie die Keule mit Salz und dem Rosmarin vom Fensterbrett ein. Sie wartete, bis sich der Ofen auf zweihundert Grad erhitzt hatte. Der Geruch des gewaschenen Fleisches und das prasselnde Geräusch des Wassers im Küchenbecken, die Rosmarinzweige, die Hunde, die einander abends Gehör schenkten, die nach Hause gerufenen Kinder, die auf der Straße stehenden und auf den indischen Bus wartenden Dienstboten und der immer heißer werdende Backofen inmitten der verbliebenen Tageshitze, machten ihr bewusst, wie glücklich sie war. Dieses Glücksgefühl war wie die Meeresbrise, wenn das Wasser wärmer ist als die Luft und das hereinbrechende Dunkel Freiheit bringt.

Sie schaltete das Radio an, Radio Port Natal brachte die einheimische Version amerikanischer Popsongs, eine Sendung, die nach Beendigung des englischsprachigen Programms lief. Die Stimme des Moderators knirschte wie Schotter. Seltsam, dass sie glücklich sein konnte, obwohl sie zwei so unterschiedliche Männer geheiratet hatte, noch seltsamer, dass sie bei der Trennung von Gert geweint hatte, obwohl sie diejenige war, die die Scheidung wollte. Ann wusste, dass sie bei einer Trennung von Neil keine Träne vergießen würde und doch war sie ihm so unendlich mehr verbunden als Gert. So widersprüchlich war sie.

Widersprüchlichkeit war Neils Erklärung für alles. Dieses Land war ein einziger Widerspruch, angefangen bei der Wirtschaft, die vielen Reichtum brachte, aber viel zu viele in Armut versinken ließ. Auch der Einzelne befand sich in Widerspruch, zwischen Herz und Verstand, seinem Engel, seinem Dämon. Wo es Menschen gab, gab es Widersprüchlichkeiten.

Dass Ann die Keule in den Bräter legte, wobei sie darauf achtete, sich nicht zu verbrennen, und währenddessen das Ende ihrer Ehe herbeisehnte, war gleichfalls ein Widerspruch. Lieber hätte sie ihre Scheidungskunde auf diesem Büttenpapier vor sich, das Scheidungsanwälte für diese Zwecke einsetzten, als noch ein einziges Mal Nadia in ihrem Haus anzutreffen. Sie würde Nadia ihren Ehemann in Geschenkpapier eingewickelt überreichen, nur damit ihr nie wieder dieser große Mund unter die Augen kam.

Musste sie sich Sorgen machen? Die Studenten des Howard College, ebenso die Teilnehmer der Free University idealisierten ihren Mann. Der Mittdreißiger war gewissermaßen der hiesige Sartre, der König der Revolution. Königinnen gab es nicht. Zwar gab es im Ausland Frauen, die Miniröcke trugen, rauchten, öffentlich über Abtreibung sprachen, Flugzeuge in die Luft jagten, doch trotzdem maßten sich Heroen wie Sartre und Che Guevara an, wie Könige und Millionäre über den Frauen zu stehen.

So hatte beispielsweise an einem Nachmittag in Paris Jean-Paul Sartre, während sie auf dem Esstisch Schinken aufschnitt und dazu beide Hände benötigte, damit er nicht wegrutschte, und Neil auf der Suche nach einem Senf kurz nach unten gegangen war, einen Annährungsversuch unternommen. Sartre hatte Neils armselige Studentenbibliothek in Augenschein genommen, sich Bücher von Kojève und Heidegger herausgegriffen und einzelne Passagen kommentiert, die er ihr in exaltiertem Französisch vorgelesen hatte. Dabei bewegte er sich auf den Tisch zu, legte die Bücher ab, verkündete, wie der Schinken am besten aufzuschneiden wäre, und legte ihr, ohne das auswärts schielende Auge vom Schinken zu wenden, seine blasse, erstaunlich kräftige Hand auf den Schenkel, der ihn dennoch offenbar weniger interessierte, als die Breite der abgeschnittenen Scheiben und die Beschaffenheit des Fleisches. Sobald Ann begriff, was da eigentlich vor sich ging, schob sie die Philosophenhand fort, stellte Sartres Teller auf die gegenüberliegende Tischseite und ließ ihn wieder die Bücherregale studieren, wo er nach einem Moment des Unmuts, befriedigt einige seiner eigenen Werke entdeckte.