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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Annne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Wolfgang Mertens

Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Eine Standortbestimmung

Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022273-1

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023901-2

epub:  ISBN 978-3-17-024791-8

mobi:  ISBN 978-3-17-024792-5

Geleitwort zur Reihe

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber:

Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Inhalt

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. 1   Psychoanalyse als Methode, Theorie und Praxis
  3. 1.1   Warum Psychoanalyse?
  4. 1.2   Zur Aktualität der Psychoanalyse
  5. 1.3   Psychoanalytische Theorie
  6. 1.4   Psychoanalyse als eine spezifische Methodologie
  7. 1.5   Psychoanalytische Praxis
  8. 1.6   Angewandte Psychoanalyse
  9. Zusammenfassung
  10. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  11. 2   Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse als ein Projekt der Aufklärung – Warum die Psychoanalyse auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar bleibt
  12. 2.1   Die Psychoanalyse als Erbe der Aufklärung
  13. 2.2   Das Kant’sche »sapere aude« wird von Freud vom Kopf auf die Füße gestellt
  14. 2.3   War Freud mit seinem Aufklärungsanliegen allzu optimistisch?
  15. 2.4   Ist die Aufklärung gescheitert?
  16. 2.5   Inwieweit ist das Aufklärungsanliegen nicht nur befreiend, sondern auch überfordernd?
  17. 2.6   Zur dialogischen Form der Aufklärung
  18. 2.7   Das psychoanalytische Projekt der Aufklärung ist weiterhin unverzichtbar
  19. Zusammenfassung
  20. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  21. 3   Was bleibt von der klassischen Triebtheorie?
  22. 3.1   Die Triebtheorie im Kontext der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse
  23. 3.2   Tiefenpsychologie nach Freud – ein Überblick
  24. 3.3   Die Triebtheorie Freuds
  25. 3.4   Sind Sexualität, Narzissmus und Aggression noch als Wesensbestimmung des Menschen denkbar?
  26. 3.5   Einwände gegen die klassische Triebtheorie
  27. 3.6   Grundriss einer zeitgenössischen psychoanalytischen Triebtheorie
  28. Zusammenfassung
  29. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  30. 4   »Ich ist ein Anderer« – Die Abhängigkeiten des Ich
  31. 4.1   Die Entthronung des Bewusstseins: Was ist aus der narzisstischen Kränkung geworden?
  32. 4.2   Das Ich ist kein einheitliches
  33. 4.3   Der Mensch ist ein Wesen, das andere täuscht, sich aber auch über sich selbst täuscht
  34. 4.4   Ich – ein Anderer?
  35. 4.5   Die Natur lässt sich nicht austreiben
  36. 4.6   Die Symbolbildung erleidet nicht nur durch Verdrängungen Einschränkungen
  37. 4.7   Die Verletzlichkeit des Menschen
  38. 4.8   Die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Normen und Einflüssen
  39. 4.9   Unentrinnbarkeit des ödipalen Schicksals?
  40. Zusammenfassung
  41. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  42. 5   Wissenschaftstheoretische Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Psychoanalyse
  43. 5.1   Die grundsätzliche Verfehltheit der bisherigen Einschätzungen von Psychoanalyse als Wissenschaft
  44. 5.2   Philosophische und wissenschaftstheoretische Positionen im 20. und 21. Jahrhundert
  45. 5.3   Gedanken zur Pluralität von Wissenschaftsformen
  46. 5.4   Wird das Bemühen um Objektivität in der Psychoanalyse überflüssig?
  47. Zusammenfassung
  48. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  49. 6   Psychoanalytische Psychotherapieforschung
  50. 6.1   Psychoanalytische Psychotherapieforschung: Ein kurzer Rückblick
  51. 6.2   Forschung ist keineswegs nur Psychotherapieforschung
  52. 6.3   Konzeptforschung und interdisziplinärer Dialog
  53. 6.4   Mehrere Generationen psychoanalytischer Psychotherapieforschung
  54. 6.5   Nachdenkliches zur empirischen Psychotherapieforschung
  55. 6.6   Ein Ausblick in die Zukunft der Therapieforschung, die hoffentlich nie eintreten wird
  56. 6.7   Ein Beispiel für ein Forschungsprojekt aus der vierten Generation der Psychotherapieforschung
  57. Zusammenfassung
  58. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  59. 7   Bewusste und unbewusste Prozesse – Wird das Bewusstsein vernachlässigt?
  60. 7.1   Wo bleibt das Bewusstsein?
  61. 7.2   Was wird uns überhaupt bewusst?
  62. 7.3   Der unaufhörliche »Strom des Bewusstseins«
  63. 7.4   Bewusstsein ist nicht gleich Bewusstsein – nicht bewusste sensorische Registration, primäres und höheres Bewusstsein
  64. 7.5   Die Selbstgewissheit und Transparenz unseres bewussten Erlebens – Sind wir immer noch Cartesianer?
  65. 7.6   Freud aktueller als je zuvor?
  66. 7.7   Ist Bewusstsein überhaupt erforderlich?
  67. Zusammenfassung
  68. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  69. 8   Bewusste und unbewusste Prozesse – Höheres Bewusstsein ist notwendig
  70. 8.1   Unbewusste Wahrnehmungs- und Denkprozesse bei Freud
  71. 8.2   Unbewusste Wahrnehmung und unbewusste Denkvorgänge aus heutiger Sicht
  72. 8.3   Von einfachen Rückkoppelungsprozessen hin zu einem Meta-Selbstbewusstsein
  73. 8.4   Verschiedene Bewusstseinsauffassungen und -definitionen: Ein Ordnungsversuch
  74. 8.5   Top-down-Bewusstseinsprozesse dienen der Fehlerkorrektur – »Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht …« (Freud)
  75. 8.6   Der Ursprung des höheren Bewusstseins liegt in den Emotionen
  76. 8.7   Zurück zur klinischen Wirklichkeit
  77. Zusammenfassung
  78. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  79. 9   Für ein neues psychoanalytisches Verständnis von Spiritualität
  80. 9.1   Die neue spirituelle Wende – ein Rückschlag für das psychoanalytische Aufklärungsprojekt?
  81. 9.2   Die Freud’sche religionskritische Position
  82. 9.3   Gründe für Freuds Ablehnung des religiösen Erlebens
  83. 9.4   »Das Himmelreich ist in euch«
  84. 9.5   Unterschied zwischen Religion und Religiosität
  85. 9.6   Rückgängigmachung der Aufklärung oder eine notwendige Erweiterung der psychoanalytischen Religionskritik?
  86. 9.7   Religiöser Trieb oder implizite Gedächtniserfahrungen?
  87. 9.8   Das Problem, ethisch richtig zu handeln
  88. 9.9   Träume – Botschaften aus dem Unbewussten
  89. Zusammenfassung
  90. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  91. Literatur
  92. Sachregister
  93. Personenregister

1          Psychoanalyse als Methode, Theorie und Praxis

Einführung

Es ist immer noch zu wenig bekannt, dass die Psychoanalyse nicht nur die älteste, am gründlichsten beforschte und wohl auch anspruchsvollste Psychotherapieform darstellt, sondern dass sie ihre Theorien und Konzepte einer Methode verdankt, die sich von den herkömmlichen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden deutlich unterscheidet. Dabei gibt es kein menschliches Thema, bei dem nicht psychoanalytisches Denken und Forschen gefragt sind.

Nach einem kurzen Überblick über eine kulturkritisch eingestellte psychoanalytische Erkenntnishaltung und über die Aktualität der Psychoanalyse erfolgt in diesem Kapitel eine erste Übersicht über Theorie, Methode und Praxis, eine Einteilung, die bereits Freud vornahm, die aber auch für die zeitgenössische Psychoanalyse grundlegend ist. Weitere Überblicke sind den Themen der mittlerweile zahlreichen Therapieverfahren sowie den diversen Anwendungsfeldern der Psychoanalyse gewidmet.

Lernziele

•  Einschätzen können, warum psychoanalytisches Denken zentral für menschliches Erleben und Handeln ist und warum diesem so viele Widerstände entgegengesetzt werden

•  Mit den Argumenten für die Aktualität der Psychoanalyse vertraut werden und sich mit kritischen Gegenargumenten auseinandersetzen können

•  Die Unterscheidung von psychoanalytischer Theorie, Methode und Praxis kennenlernen

•  Sich einen Überblick über die Disziplinen der Psychoanalyse verschaffen

•  Die Grundzüge der psychoanalytischen Methodologie kennenlernen

•  Einen Überblick über die Verfahren der psychoanalytischen Praxis in der Klinik und in anderen Anwendungsfeldern bekommen

1.1      Warum Psychoanalyse?

Auf Schritt und Tritt begegnen jedem von uns tagtäglich Phänomene, die unserem Wunsch, etwas unmittelbar zu verstehen, Grenzen setzen: Wie kommt es, dass sich ein für seine herausragende intellektuelle Kritik bekannter Rhetorikprofessor an seinen NSDAP-Beitritt als junger Mann nicht mehr erinnern kann? Wie kann es geschehen, dass ein erfolgreicher Liedermacher auf dem Höhepunkt seiner Karriere sein Leben durch Drogen und Alkohol zu zerstören beginnt? Warum haben zwei junge Menschen, deren Liebe wie ein Fels in der Brandung zu sein schien, sich nach wenigen Jahren völlig auseinander gelebt? Wie kommt es, dass auch intelligente Menschen immer wieder von narzisstischen Politikern angezogen werden und diesen ihre Stimme geben? Warum töten sich scheinbar friedliebende Menschen im Namen ihrer religiösen Ideale? Wieso werden missbrauchte Kinder später selbst häufig zu Vergewaltigern? Warum verliert jemand an der Börse viel Geld, obwohl er zuvor viele Artikel über die Risiken von Börsenspekulationen gelesen hat? Warum wählt ein Firmeninhaber einen untauglichen Manager als seinen Nachfolger, der die Firma innerhalb weniger Jahre in den Konkurs treibt? Wie kann es geschehen, dass ein erfolgreicher Mensch eine außereheliche Affäre beginnt und damit seinen Beruf und seine Reputation aufs Spiel setzt? Wie lässt sich verstehen, dass ein engagierter Verfechter eines ökologiebewussten Umgangs mit endlichen Ressourcen mit dem Gedanken liebäugelt, sich ein überdimensioniertes SUV anzuschaffen?

Meistens werden dafür biologische, genetische oder umweltbedingte Ursachen gefunden wie hormonelle Veränderungen, Midlife crisis, schlechte Erbanlagen, Gedächtnisverlust, strukturelle Gewalt; aber auch psychologische Konzepte wie posttraumatisches Belastungssyndrom, kognitive Dissonanz, Gruppendenken und Herdentrieb werden bemüht, um Unverständliches erklärbar zu machen.

Es ist naheliegend, dass bei all diesen Themen psychoanalytische Konzepte und – sofern es sich ergibt – auch psychoanalytische Praxis und ihre Methoden gefragt sind. Genau genommen gibt es kein menschliches Thema, bei dem nicht psychoanalytisches Denken und Forschen erforderlich sind und dies aus einem einfachen Grund: Menschliches Handeln ist immer ein Geflecht aus bewussten Vornahmen und unbewussten Handlungsgründen, die im Kontext einer spezifischen Kultur und Gesellschaft entstanden sind. Und da diese als eine Art biographische Aufschichtung zu denken sind, kommt man ohne eine diachrone Betrachtung von lebensgeschichtlichen Einflüssen und Verarbeitungsprozessen in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld nicht aus.

Was aber waren und sind immer noch die Gründe dafür, dass psychoanalytische und im weiteren Sinn tiefenpsychologische Erkenntnisse es so schwer haben, auf eine breitere Akzeptanz zu stoßen? Ist es die narzisstische Kränkung, nicht »Herr im eigenen Hause« zu sein, die Freud als Rezeptionsbarriere formulierte und die in den letzten Jahren interessanterweise von Hirnforschern wieder geltend gemacht wird, wenn sie behaupten, dass das bewusste Ich eine illusionäre Größe und die Willensfreiheit eine Fiktion sei? Sind es die aus forschungstechnischer Sicht sehr viel größeren Schwierigkeiten, das Unsichtbare unbewusster Vorgänge, die erschlossen werden müssen und nicht einfach am sicht- und messbaren Verhalten abgegriffen werden können, zu erforschen? Aber hat schließlich nicht auch die moderne Atomphysik erst einmal das Zeitalter der klassischen Physik überwinden müssen und letztere wiederum den unmittelbaren Augenschein des konkret Erfahrbaren? Stellt psychoanalytisches Denken vielleicht größere Anforderungen an das abstrakte Denken, deren Konstrukte nicht unmittelbar beobacht- und messbar sind?

Und hängen damit vielleicht auch die Schwierigkeiten im Denken zusammen, die viele Menschen empfinden, wenn sie sich unbewusste Prozesse in sich selbst vorstellen sollen? Allenfalls kann man anderen Menschen noch ein unbewusstes Seelenleben zugestehen, aber sich selbst? Alle Gedanken sind doch bewusst gedachte und alle Entscheidungen bewusst getroffene. Einzig in einer übermäßig affektiven Handlung oder in einem z. B. durch äußere Substanzen veränderten Gehirnzustand lassen sich unbewusste Vorgänge vorstellen. Ansonsten aber gelten alle Handlungen doch überwiegend als rational geplant. Dass der Augenschein eines angeblich über sich selbst autonom verfügenden Ichs trügt, ist mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu vereinbaren.

Sollten wir deshalb nicht doch unsere psychische Entwicklung und unsere geistige Gesundheit ausschließlich biologisch orientierten Psychiatern überlassen, die uns schon die richtigen chemischen Dosierungen empfehlen, wenn uns unsere Selbstbeobachtung im Stich lässt? Sind nicht Stimmungsaufheller heutzutage viel besser geeignet, allgegenwärtige Depressionen zu bekämpfen? Wozu dann noch eine aufwändige Auseinandersetzung mit sich selbst? Es sollte uns aber auf jeden Fall aufhorchen lassen, wenn wir erfahren, dass Psychopharmaka nicht nur bislang noch ungenügend erforschte Nebenwirkungen für den Menschen zur Folge haben können, sondern auch dass Fische wie z. B. Barsche aufgrund der gewaltigen Mengen an Arzneimittelrückständen, die in den Weltmeeren gelandet sind, bereits ein verringertes Sozialverhalten aufweisen und ihr Immunsystem dadurch verändert wird (Brodin et al., 2013).

Gegen diese introspektive und selbstreflexive »Denkfaulheit«, die sogar die Ökobilanz zu beeinträchtigen beginnt, wird in den folgenden Kapiteln dafür plädiert, den Umgang mit den Manifestationen unbewusster Prozesse nicht allein der pharmazeutischen Industrie oder der neurowissenschaftlichen Forschung zu überlassen, die uns jeden Tag mit neuen Erkenntnissen überrascht, die freilich nur auf den ersten Blick wirklich erstaunlich und neu wirken, sondern sich der Bewusstmachung, der Auseinandersetzung und den »Individuationsaufgaben« zu stellen. Dies soll heißen, sich quer zu dem derzeitigen Boom der Neurowissenschaften und Pharmakotherapie mit den psychologischen Phänomenen der eigenen Existenz im gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir gegenwärtig leben, zu befassen und auseinanderzusetzen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Selbstverständlich können neurowissenschaftliche Erkenntnisse faszinierend sein und in den letzten Jahren wurde die Neuropsychoanalyse als neue Disziplin mit einer eigenen Fachzeitschrift gegründet, in der international bekannte Wissenschaftler und Psychoanalytiker als Herausgeber und Autoren fungieren (s. auch den in dieser Reihe erscheinenden Band »Psychoanalyse und Neurowissenschaften«).

Gewarnt wird aber vor einer ausschließlich instrumentellen und auf technische Verwertung abzielenden Naturbeherrschung der positivistischen Wissenschaften, die ungeachtet aller nicht mehr wegzudenkender Erleichterungen, die der wissenschaftlich-technische und medizinische Fortschritt mit sich brachte, nicht nur bedauernswerte reflexive und ethische Leerstellen hinterlassen, sondern auch die Gefahr einer potenziell sich selbst zerstörenden Menschheit hervorgebracht hat, deren Anzeichen nicht mehr zu übersehen sind (s. arrow Kap. 2). Vor allem die psychoanalytische Kulturkritik hat mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen immer wieder auf die Grenzen eines überwiegend an ökonomisch verwertbaren Fakten orientierten Menschen- und Weltbildes aufmerksam gemacht (s. den in dieser Reihe geplanten Band »Psychoanalyse und Sozialwissenschaften«).

So ist die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen, dass auch im Bereich der Psychotherapie eine unpersönliche und von Sinnzusammenhängen abgeschnittene Zweckrationalität Einzug halten könnte, die dann die Ausgangsbasis für ökonomische Kosten-Nutzen-Analysen darstellen soll (s. arrow Kap. 6). Da viele heutige Menschen sich vermutlich in ihrem Selbstverständnis nach derartigen Vorgaben zu modellieren beginnen und in der Konsequenz ihre eigenen, zutiefst menschlichen Belange als überflüssig empfinden, wenn sie sich nicht einem unmittelbaren Verwertungs- und Karriereinteresse unterwerfen lassen, werden ethische und politische Dimensionen in der psychoanalytischen Kulturkritik von großer Brisanz.

Zwar mutet das Eintreten für eine Erkenntnishaltung, die einer humanistischen und aufklärerischen Disziplin verpflichtet ist, gelegentlich wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel an, aber dennoch darf das Einstehen für eine andere Erkenntniskultur nicht aufgegeben werden. Damit wird einer überwiegend zweckrationalen und instrumentellen Wissenschaftsauffassung und ihrer von ökonomischen Eliten gesteuerten Verwertungspraxis eine Auffassung entgegengesetzt, die sich vor allem durch Respekt vor der Eigengesetzlichkeit und Autonomie innerer wie äußerer Natur charakterisieren lässt.

1.2      Zur Aktualität der Psychoanalyse

Die Schriften psychoanalytischer Autoren – angefangen von Sigmund Freud, über Melanie Klein, Donald Winnicott, Michael Balint, Heinz Kohut, Jacques Lacan bis hin zu Judith Butler, Julia Kristeva, Jessica Benjamin, Stephen Mitchell, Jean Laplanche und anderen – werden in der Gegenwart auch von Nichtpsychoanalytikern wie Kulturwissenschaftlern, Historikern, Literaturwissenschaftlern und Philosophen gründlich beforscht. So haben sich zum Beispiel Gernot und Hartmut Böhme, Pierre Bourdieu, Donald Davidson, Jacques Derrida, Michel Foucault, Peter Gay, Axel Honneth, Norman Holland, Odo Marquard, Paul Ricoeur, Richard Rorty, Richard Wolheim mehr oder weniger intensiv mit der Psychoanalyse Freuds und seiner Nachfolger im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt (s. die in dieser Reihe geplanten Bände »Psychoanalyse als transdisziplinärer Diskurs«, »Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse« und »Psychoanalyse als Erkenntnistheorie – psychoanalytische Erkenntnisverfahren«).

Viele Wissenschaftler beschäftigen sich somit bis zum heutigen Tag mit den Fragen, die Freud und diejenigen, die sein Werk fortsetzten, aufgeworfen haben. Denn nicht nur als klinische Behandlungspraxis, mit der die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit oftmals ausschließlich – allerdings zu Unrecht – gleichgesetzt wird, ist sie bekannt geworden, sondern ihre Konzepte und Methoden wurden auch für viele human- und sozialwissenschaftliche Forscher attraktiv. Denn die Psychoanalyse ermöglicht es, als eine einzigartige Methode in großer Differenziertheit und Dichte unbewusste Prozesse zu studieren und diese nicht etwa nur in der klinischen Praxis einzusetzen, sondern sie auch auf das Studium gesellschaftlicher und kultureller Phänomene anzuwenden. Und die zurzeit so sehr im Mittelpunkt stehende Psychotherapieforschung sollte nicht übersehen lassen, dass sich psychoanalytische Forscher im 20. Jahrhundert mit vielen Phänomenen der menschlichen Natur beschäftigt haben.

Die Psychoanalyse ist aber nicht nur deswegen für andere Disziplinen von Interesse, weil sie sich mit unbewussten Prozessen im Menschen befasst, sondern auch weil psychoanalytische Forscher den veralteten szientifischen Denkrahmen verlassen haben (s. arrow Kap. 5). Denn dieser bleibt entweder an Verhaltensdaten oder bewusstseinspsychologischen Phänomenen fixiert, reflektiert nicht oder kaum die philosophischen Voraussetzungen der jeweiligen als wissenschaftlich postulierten Methoden, hinterfragt zu wenig den gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Kontext von Erkenntnisprozessen und Institutionen und bleibt deshalb an ein veraltetes naturwissenschaftliches Menschenbild fixiert (s. den o. g. Band »Psychoanalyse als Erkenntnistheorie …«). Gleichwohl genießt dieses in der medialisierten Öffentlichkeit wegen seiner an den gesunden Menschenverstand appellierenden Einfachheit und Komplexitätsreduktion durchaus noch Ansehen, auch wenn sich zunehmend Zweifel an wissenschaftlichen Ergebnissen, die mit diesem methodologischen Hintergrund gewonnen werden, einstellen. Denn Menschen sind mehr als ihre Gehirne und ihre Gene; sie sind aber auch mehr als die Geschichte ihrer Lernerfahrungen, mehr als ihr bloßes Geformtwerden durch soziale und politische Kräfte. Obwohl all diese Faktoren bedeutsam sind, fehlt in diesen Erklärungsmustern die subjektive Aneignung, die vermittelnde und gestaltende Kraft unbewusster emotionaler und triebhafter Einflüsse, aber auch die tätige Auseinandersetzung mit diesen kraft der menschlichen Reflexionsfähigkeit und nicht zuletzt auch des Willens.

Trotzdem schätzen nun manche Kritiker die Erklärungskraft psychoanalytischer Konzepte bereits als erschöpft ein, weil sie entweder vom Alltagsdenken längst eingemeindet oder von anderen Wissenschaften teilweise in ihre eigenen Modelle übernommen worden seien. So sei z. B. die Redeweise vom Unbewussten, von der traumatischen Kindheit und deren Folgen, von Verdrängung und Fehlleistungen längst in den alltäglichen Wortschatz eingegangen und Stoff unzähliger Talkshows und Filme. Ja, die Psychotherapeutisierung des Alltags, das permanente und übersteigerte Interesse am eigenen Ego führe allmählich zum Überdruss, wie die israelische Soziologin Eva Illouz (2007) argumentiert. Oder das, was an der Freud’schen Psychoanalyse überlebensfähig sei, würde längst in anderen Disziplinen, wie der Klinischen Psychologie, der Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie oder der Neurophysiologie auf nunmehr endlich wissenschaftliche Weise untersucht und sei damit von irrtümlichen Annahmen und Spekulationen Freuds und seiner Nachfolger befreit worden.

Dies ist jedoch nur zu einem geringen Teil richtig: Zwar stimmt es, dass einige psychoanalytische Begriffe längst Teil der Kultur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts geworden sind. Aber es sind zumeist Begriffe, die aus dem Kontext des psychoanalytischen Denkens herausgelöst worden sind und in vereinfachter Redeweise benützt werden. Und zweifelsohne trifft es auch zu, dass psychoanalytische Fragestellungen, wie z. B. die Fähigkeit, unbewusst Entscheidungen zu treffen, mittlerweile ebenfalls von anderen psychologischen Disziplinen untersucht werden (s. arrow Kap. 8). Hierbei hatten Psychoanalytiker allerdings oftmals den Eindruck, dass andere Forscher sich aus der psychoanalytischen Disziplin wie aus einem Steinbruch bedienen. Dies könnte durchaus legitim sein, wenn sie nur die Quelle der Fundstücke benennen würden. Dies geschieht aber nur sehr selten. Noch wichtiger ist allerdings, dass die jeweiligen Konzepte aus dem psychoanalytischen Gesamtkontext herausgelöst werden und damit ihre gefühlsmäßige und existenzielle Intensität einbüßen. So wird z. B. aus der Verdrängung von Bewusstseinsinhalten, die in einem Kind immer wieder ablaufen, um massive Todes- oder Verlustängste abzuwehren, das Unterdrücken oder Ausblenden unangenehmer Stimuli, die im Laborexperiment studentischen Versuchspersonen dargeboten werden. Und wenn sie dann im Sinne dieser empirisch zurechtgestutzten und dekontextualisierten Verdrängungshypothese statistisch nicht signifikant reagieren, wird daraus der Schluss gezogen, dass diese zentrale Freud’sche Annahme nun endgültig empirisch widerlegt sei.

Die Erklärungskraft psychoanalytischer Konzepte ist also keineswegs bereits erschöpft. Die Psychoanalyse befindet sich derzeit eher in einer Phase der Konsolidierung, in der eine weltweite Pluralität von theoretischen Richtungen, Konzepten und Methoden, die aber alle ihre Abstammung mehr oder weniger dem ursprünglichen psychoanalytischen Anliegen Freuds verdanken, entstanden ist. Wird dies von einigen Autoren als ein Zustand der Babylonisierung bezeichnet, so erblicken andere in der gegenwärtigen Vielfalt psychoanalytischer Zugangsweisen zu unbewussten Prozessen und entsprechender Konzepte eine adäquate Antwort auf die Komplexität der zur Diskussion stehenden Phänomene. Denn kein einzelner Forscher, keine Denkrichtung, keine Methode allein ist heutzutage in der Lage, die zu untersuchenden Themen differenziert und erschöpfend genug zu erfassen. Aus diesem Grund braucht es die Vielfalt der unterschiedlichen Methoden und Konzepte sowie den multi- und interdisziplinären Abgleich, soweit dieser sinnvoll ist.

Die Entwicklungsdynamik der Psychoanalyse, die seit dem Tod ihres Gründers nunmehr schon seit einem dreiviertel Jahrhundert anhält, steht in der Geschichte der Wissenschaften durchaus einzigartig da. Ansonsten sterben Forschungsprogramme, die sich der Entdeckung weitgehend eines einzigen Menschen verdanken, in aller Regel mit dem Tod des Betreffenden aus. So ist es z. B. der Soziobiologie mit der Postulierung eines »egoistischen Gens« von Edward O. Wilson ergangen oder so wird auf die wissenschaftstheoretische Auffassung Karl Poppers innerhalb der Wissenschaftsphilosophie mittlerweile nur noch in historischen Darstellungen Bezug genommen (s. arrow Kap. 5).

Die Psychoanalyse jedoch erfreut sich eines kräftigen Daseins. Ihre Verbreitung über die ganze Welt, ihre begeisterte Aufnahme selbst oder vor allem in Ländern, die staatsdiktaktorisch oder kommunistisch sind, die vielfältigen interkulturellen Diskurse (für China z. B. Gerlach, 2011, Haag, 2011, Schlösser, 2011), viele Dutzende von renommierten internationalen Fachzeitschriften und eine ungebrochene Flut von Veröffentlichungen legen davon ein beredtes Zeugnis ab. So viel Erfolg schließt natürlich nicht aus, dass sich ein Heer von Kritikern gebildet hat, die sich bis zum heutigen Tag zumeist das Werk des Gründungsvaters Freud vorknöpfen, um seine angebliche Unwissenschaftlichkeit zu belegen (einen guten Überblick zur »Anti-Freud-Literatur« gibt Thomas Köhler, 1996). Diese dezidierten »Anti-Freudianer« hefteten sich zwar wie Jagdhunde an die Fersen Freuds, waren aber nur sehr vereinzelt dazu in der Lage, sich einen Überblick über die Weiterentwicklung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert zu verschaffen. Und wenn sie dazu ansatzweise fähig waren, wie z. B. der Wissenschaftsphilosoph Adolf Grünbaum, verblieben sie in einem sehr engen und mittlerweile überholten Verständnis von Wissenschaftlichkeit (s. arrow Kap. 5).

1.3      Psychoanalytische Theorie

Der Beginn der Psychoanalyse wird auf das Jahr 1895 datiert, in dem Sigmund Freud den Entwurf einer Psychologie ausarbeitete und zusammen mit Josef Breuer die Studien über Hysterie herausgab. Im allgemeinen Bewusstsein gilt jedoch das Jahr 1900 mit der Traumdeutung als der eigentliche Beginn des weitgespannten Werks von Freud, das von der Psychologie des Alltags über die Entwicklungspsychologie, Klinische Psychologie, Behandlungstechnik, Persönlichkeitspsychologie, Kulturtheorie bis hin zur Institutionenkritik reicht.

Oftmals verstehen Laien unter der Psychoanalyse nur eine Theorie und Kunst der Krankenbehandlung, dabei ist sie eine umfassende Theorie über den Menschen. Denn was sollte sie sonst sein? Wenn man unbewusste Prozesse des Psychischen zum Thema der wissenschaftlichen Beforschung und des Nachdenkens macht, kommt man nicht umhin, selbstverständlich auch normalpsychologische Vorgänge zu untersuchen, denn unbewusste Vorgänge zeigen sich ja nicht nur bei Menschen, die Probleme mit sich selbst und anderen haben, sondern bei jedermann (s. die geplanten Bände der Reihe zu den Themen »Psychoanalyse – die Lehre vom Unbewussten«, Wahrnehmen, Erinnern, Fühlen, Denken, Entscheiden und »Emotion und Motivation«). Und des Weiteren studieren Psychoanalytiker natürlich nicht ein von allen kulturellen und historischen Bezügen abstrahierendes Modell der menschlichen Psyche, sondern die Beziehungen der Menschen zu ihrer Gesellschaft und Kultur, in der sie leben (s. den geplanten Bd. »Sozialpsychologische Grundlagen der Psychoanalyse«). Wenn man die Kultur aber nicht als ein Gebilde betrachtet, das losgelöst von menschlichen Einwirkungen entstanden ist, muss man umgekehrt auch thematisieren, warum sich Menschen bewusst und unbewusst diejenige Kultur schaffen, in der sie leben und unter der sie möglicherweise auch leiden (s. die geplanten Bde. »Psychoanalyse als transdiziplinärer Diskurs« und »Psychoanalyse und Soziologie«).

Des Weiteren leben Menschen nicht nur als atomistische Individuen, sondern erfahren sich von Geburt an in Beziehungen. Sozialpsychologische, persönlichkeitspsychologische und entwicklungspsychologische Konzepte, mit dem spezifisch psychoanalytischen Erkenntnisinteresse beforscht, gehören somit ebenfalls zur psychoanalytischen Theoriebildung (s. die geplanten Bde. »Sozialpsychologische Grundlagen der Psychoanalyse«, »Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse« und »Persönlichkeitspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse«).

Während die akademische Psychologie und die Medizin im 20. Jahrhundert dem psychoanalytischen Denken aus Konkurrenzgründen eher ablehnend gegenüberstanden, wurde es in vielen Nachbardisziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften, vereinzelt auch von Naturwissenschaftlern eher wohlwollend aufgenommen. In der Gegenwart empfinden viele Außenstehende allerdings zunehmend mehr Schwierigkeiten, mit der starken Diversifizierung innerhalb der einzelnen Richtungen Schritt halten zu können und rekurrieren deshalb oftmals allein auf das Denken Freuds. Auch wenn dieses zweifelsohne der Ursprung tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Denkens bleibt, entsteht dennoch das Problem, dass die vielen Weiterentwicklungen kaum noch zur Kenntnis genommen werden können (Ermann 2009, 2010 und s. den geplanten Band »Psychoanalyse im 20. Jahrhundert. Ein historischer Überblick«).

Selbstverständlich gehören die Konzepte Freuds aber keineswegs bereits zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Viele seiner klinischen Einsichten, anthropologischen und kulturkritischen Ideen sind zeitüberdauernd und tauchen auch im gegenwärtigen Denken, manchmal in anderen sprachlichen Verpackungen wieder auf. Ja, manche seiner Erkenntnisse gewinnen sogar eine überraschende Aktualität (s. arrow Kap. 8). Das oftmals konstatierte »Veralten der Psychoanalyse« lässt sich zudem auch gegen den Strich lesen: Das mittlerweile oftmals als wissenschaftlich überholt eingeschätzte Menschenbild Freuds enthält Aussagen über die Conditio humana, wie z. B. die der Ratio zugrunde liegende Dimension des dranghaften Wünschens und intensiver Gefühle, die nicht nur als massive Sehnsucht nach einem sinnhaft erfüllten Leben bei vielen heutigen Menschen angesichts einer immer stärkeren Erlebnisverdünnung, Virtualisierung und Fragmentierung der Lebensbedingungen erfahrbar wird. Diese stellt auch das emotionale Fundament unserer Existenz dar (Panksepp 1998, 2005).

Dennoch beschwor Freud gegen die Auflösungserscheinungen des Subjekts, die bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten und vor allem in Friedrich Nietzsche und Karl Marx ihre Fürsprecher fanden, die »leise Stimme des Intellekts«, die sich trotz aller Abhängigkeit von neurotisch verqueren Triebwünschen und fehlgeleiteten Sozialisationsprozessen letztlich doch noch ausreichend Gehör verschaffen und die Einheit des Ichs verbürgen soll (s. arrow Kap. 4 u. 8).

Im Folgenden (arrow Tab. 1.1) werden die psychoanalytischen Theorien lediglich aufgezählt, da die meisten in den Bänden der Reihe Psychoanalyse im 21. Jahrhundert eine ausführliche Darstellung erfahren.

Tab. 1.1: Überblick über psychoanalytische Theorien

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Psychoanalytische Theorien

Die Psychoanalyse hat sich im Lauf der Jahrzehnte zu einem umfangreichen Theoriegebäude entwickelt, deren Fundamente von Freud gelegt wurden. Da die Forschungsgegenstände, mit denen sie sich befasst, in kulturelle, geschichtliche und gesellschaftliche Kontexte eingebunden sind, gibt es kein axiomatisches Wissen, das linear fortschreitend aufeinander aufbaut. Dennoch können selbstverständlich Theoriekomplexe voneinander abgegrenzt und innerhalb der jeweiligen Disziplinen natürlich durchaus Erweiterungen und Revisionen der ursprünglichen Konzeptbildungen identifiziert und beschrieben werden, wie dies exemplarisch anhand der psychoanalytischen Triebtheorie (s. arrow Kap. 3) geschehen soll.

1.4      Psychoanalyse als eine spezifische Methodologie

Psychoanalytische Theorie lässt sich nicht ohne Nennung ihrer Methoden beschreiben, die ein spezifisches Forschungsfeld konstituieren. In einem jahrzehntelangen Diskurs wurde erörtert, dass die Psychoanalyse methodisch als ein Wissenschaftstypus definiert werden kann, der sich weder auf die herkömmliche naturwissenschaftliche Methodik noch auf eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik festlegen lässt (s. arrow Kap. 5 und die geplanten Bde. »Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse« und »Psychoanalyse als Erkenntnistheorie – Psychoanaltische Erkenntnisverfahren«). Sie nimmt zwar Elemente dieser beiden Wissenschaftstraditionen in sich auf, wie z. B. in der Grundlagen- und Psychotherapieforschung, hat aber vor allem im klinischen Setting ein eigenes Erkenntnisverfahren und eine eigene Methode entwickelt, um über die geläufigen Methoden des Erklärens und Verstehens hinauszugehen und das »innere Ausland« (Freud) zu erschließen. Die Psychoanalyse hat mit Freud beginnend eine Forschungshaltung entwickelt, bei der es zu einer tendenziellen Aufhebung der herkömmlichen Subjekt-Objekt-Erkenntnisrelation kommt. Dies wird am deutlichsten, wenn wir an das positivistische Ideal des »Von uns selbst schweigen wir« (Rauschenbach, 1996) denken: Dieser Ausblendung der inneren Welt des Forschers setzt die Psychoanalyse die Reflexion der eigenen Subjektivität entgegen, die gerade nicht unterdrückt, sondern als fühlendes Erkenntnisinstrument eingesetzt wird, um sich dem »Anderen der Vernunft« anzunähern.

Weil der Psychoanalytiker nur am Rande an bewusstseinsfähigen und abfragbaren Wissensbeständen interessiert ist, hauptsächlich aber an Beziehungsszenen, in denen sich autobiographisch verdrängte und/oder nicht-bewusste Interaktionszusammenhänge manifestieren, erschließt er diese in einem intuitiven und abduktiven Vorgehen mittels seiner eigenen introspektiv wahrnehmbaren Bilder- und Gefühlswelt. Aus diesem Grund muss er seine eigenen, jeweils in ihm anklingenden sinnlich-emotionalen Reaktionsformen als seine Subjektivität ernst nehmen.

Der Einsatz kontrollierter Subjektivität wird zwar in jahrelangen Erkenntnisprozessen theoretisch und praktisch geschult, bleibt aber trotzdem fehleranfällig und deshalb permanent reflexionsbedürftig (s. arrow Kap. 5). Der noch in der ersten und zweiten Analytikergeneration nach Freud relativ selbstverständlichen Evidenz des Gegenübertragungseindrucks werden deshalb heute in der Praxis zumeist Supervision und Intervision, in der Forschung eine Triangulation des methodischen Vorgehens an die Seite gestellt: Die intuitive, ganzheitliche und abduktive Erkenntnishaltung im psychoanalytischen Setting wird nach Möglichkeit durch Offline-Forschung (Moser, 1991), Instantiierung von Modellen z. B. anhand von Computersimulationen (Moser et al., 1969), komparative Kasuistik (z. B. Stuhr et al., 2001), Hypothesenprüfung in Experimenten (z. B. Leuschner et al., 1994) sowie durch interdisziplinäre Forschung validiert (z. B. Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, 2002) (s. arrow Tab. 1.2).

Tab. 1.2: Psychoanalytische Methoden

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Psychoanalytische Methoden

1.5      Psychoanalytische Praxis

»Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren … Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind« (Freud, 1919, S. 192 f.).

Seitdem ist fast ein Jahrhundert vergangen und über Gold, Kupfer, »rite Psychoanalyse« und Suggestion, hohe und niedrige Frequenz, Liegen oder Sitzen u. a. m. ist viel diskutiert und gestritten worden. Dabei ist ein stattlicher Korpus an Abwandlungen und Modifizierungen des ursprünglichen Standardverfahrens entstanden (arrow Tab. 1.3), das nunmehr je nach psychischer Verfassung des Patienten, seiner spezifischen Erkrankung und seinen mentalen Möglichkeiten eine differenzierte Indikationsstellung ermöglicht, die im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung durch ein umfangreiches Regelwerk definiert wird (Rüger et al., 2012).

Tab. 1.3: Psychoanalytisch begründete Therapieverfahren sowie Anwendungen in nichttherapeutischen Berufsfeldern

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Überblick über psychoanalytisch begründete Therapieverfahren

1.6      Angewandte Psychoanalyse

Unter angewandter Psychoanalyse werden jene Formen verstanden, die nicht im klassischen psychoanalytischen Setting mit der Grundregel der freien Assoziation und der analogen Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und einer fest vereinbarten Stundenfrequenz, sondern im Feld, d. h. zum Beispiel in Wirtschaftsunternehmen, sozialen Einrichtungen, Klassenzimmern, Krankenhäusern, Gefängnissen, stattfinden (s. arrow Tab. 1.4).

Tab. 1.4: Einige Bereiche der Angewandten Psychoanalyse

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Angewandte Psychoanalyse

Und schließlich sollen noch die Dialoge und Projekte erwähnt werden (s. arrow Tab. 1.5), die die Psychoanalyse seit Freud mit vielen Nachbardisziplinen geführt hat (z. B. Böker, 2010):

Tab. 1.5: Psychoanalyse im Dialog mit Nachbarwissenschaften

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Weitere Disziplinen, die psychoanalytisch studiert werden und mit denen Dialoge und gemeinsame Projekte stattfinden

Beispiel: Psychoanalyse und Sozialgeographie

Auch eine auf den ersten Blick scheinbar fernab von der Psychoanalyse liegende Disziplin wie die (Sozial-)Geographie kann nicht umhin, sich mit der Psychodynamik des Raums, v. a. des heimatlichen Raums auseinander zu setzen.

So hat z. B. nach Jüngst (2000) die herkömmliche Geographie diesen Bezug zum fühlenden Menschen weitgehend außer Acht gelassen. Nicht nur Landschaften, sondern auch von Menschen geschaffene Gebilde wie Häuser, Markt- und Spielplätze, Parkanlagen und Brücken werden von ihren Benutzern und Betrachtern mit allen Sinnen erlebt; sie weisen eine präsentative Symbolik auf, wie Jüngst in Anlehnung an die Sprachphilosophin Marie Langer und an den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer aufzeigt. Diese präsentative Symbolik geschieht vor und jenseits einer diskursiven Symbolik, die verbalisierbare Zeichen verwendet, und ist doch in unseren Sinneserfahrungen ständig lebendig. Vor allem hat sie einen Zugang zu unseren emotionalen Tiefenschichten, die – wenn sie auch keineswegs immer bewusst in Worte zu fassen sind – doch unser atmosphärisches Wohlbehagen auf Schritt und Tritt regulieren. Warum schätzen wir eine bestimmte Architektur? Warum fühlen wir uns in bestimmten Räumen behaglich? Warum lieben manche die endlosen Weiten, andere hügelige Landschaften, wiederum andere steil aufragende Berge? Seit Mitscherlichs Klassiker über die »Unwirtlichkeit der Städte«, in denen er die lieblose Billigarchitektur und die öden Einfamilienhäuser entlang den Vorortstraßen der Städte mit psychoanalytischen Argumenten anprangerte, sind einige Arbeiten erschienen, die eine Verbindung von Geographie, Raum- und Stadtplanung sowie Architektur zu gehaltvollen psychodynamischen Fragestellungen geknüpft haben.

Zusammenfassung

In diesem Einführungskapitel wurde nach einigen Bemerkungen über die Aktualität der Psychoanalyse eine Übersicht über ihre verschiedenen Theorien, ihre Methoden, ihre je nach Indikation angezeigten klinischen Therapieverfahren sowie über weitere Möglichkeiten ihres Einsatzes in diversen Bereichen gegeben. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker machen von ihrem reichhaltigen Erfahrungswissen Gebrauch, wenn sie zum Beispiel mit Ärzten, Juristen, Lehrern, Seelsorgern Balintgruppen veranstalten, Architekten, Diplomaten, Stadtplaner beraten oder in Institutionen und Organisationen psychodynamische Einzel- und Gruppenarbeit durchführen.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

Bohleber, W. & Drews, S. (Hrsg.) (2001). Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta.

Ehlers, W. & Holder, A. (2009). Psychoanalytische Verfahren. Basiswissen Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.

Hamburger, A. (2013). »Arbeit in der Tiefe«. Vorarbeiten zu einer skeptischen Kulturanalyse. In H. Hierdeis (Hrsg.), Psychoanalytische Skepsis – skeptische Psychoanalyse (S. 123–183). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Haubl, R. & Habermas, T. (Hrsg.) (2008). Freud neu entdecken. Ausgewählte Lektüren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Kutter, P. & Müller, P. (2008). Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewusster Prozesse. Stuttgart: Klett-Cotta.

Roudinescou, E. (2002). Wozu Psychoanalyse?