cover

Pattie Mallette

mit A. J. Gregory

Hoffnung auf
den zweiten Blick

Die Geschichte von
Justin Biebers Mutter

Aus dem Amerikanischen
von Eva Weyandt

Über die Autorin

Pattie Mallette ist den meisten bekannt als die Mutter eines weltbekannten Popstars: Justin Bieber. Aber sie ist so viel mehr. Die gelernte Webdesignerin inspiriert Frauen rund um den

Globus, denen sie Mut macht als Rednerin, Autorin und über Twitter (@pattiemallette). Sie weiß, was es heißt, arm und verwundet, verlassen und hoffnungslos zu sein. Seitdem sie selbst Hoffnung und Heilung erlebt hat, hilft sie anderen, den Weg nach oben zu finden.

Für meinen himmlischen Vater,
meinen Retter.

Inhalt

Vorwort

Vorwort der Autorin

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Mein herzlicher Dank gilt

BILDTEIL

Vorwort

von Justin Bieber
»Ihre Geschichte muss gehört werden!«

Meine Mutter ist die stärkste Frau, die mir je begegnet ist. Irgendwie wusste ich das schon immer. Doch dieses Buch hat mir noch einmal klar gezeigt, wie ungewöhnlich stark sie ist. Ich habe sie schon immer bewundert. Sie ist ein großes Vorbild für mich als ein Mensch, der keine faulen Kompromisse eingeht und niemals aufgibt. Einfach durch ihre Art spornt meine Mutter mich an, ein guter Mensch zu sein. Und sie motiviert mich, niemals stehen zu bleiben, sondern mich immer weiterzuentwickeln.

Ich weiß, sie hat viel aufgegeben und große Opfer gebracht, um meine Mutter zu sein und für mich zu sorgen. Ich schaue begeistert zu, wie viel Neues jetzt in ihrem Leben Form gewinnt – wie dieses Buch. Es kann gut sein, dass ich als ihr Sohn und ihr größter Fan nicht ganz objektiv bin, aber ich glaube fest: Ihre Geschichte muss gehört werden! Während Sie dieses Buch lesen, werden Sie merken, dass ihr Leben nicht leicht war. Denn besonders ihre ersten Lebensjahre waren ein ständiger Kampf. Es fiel mir schwer, so viel über ihren Schmerz zu lesen. Aber ich weiß auch, wie wichtig es ist, dass sie ihre Geschichte erzählt.

Viele Frauen machen Ähnliches durch und brauchen jedes Fünkchen Hoffnung – die Gewissheit, dass da ein Licht ist am Ende des Tunnels. Genau das kann meine Mutter anderen schenken durch ihre Geschichte. Davon bin ich überzeugt. Wenn meine Mutter Ihnen nun erzählt, wie sie Kraft und Frieden gefunden hat, hoffe ich, dass Sie dasselbe finden. Für Ihre persönliche Reise wünsche ich Ihnen das Allerbeste. Gott ist mit Ihnen. Das sollten Sie wissen.

Ich hab dich lieb, Mom.

Justin

Vorwort der Autorin

Vielen Dank, dass Sie meine Geschichte lesen möchten. Bevor Sie einsteigen, würde ich Ihnen gern erklären, was ich mir von diesem Buch erhoffe. Es geht um viel mehr als mein Leben! Ehrlich gesagt, gibt es in meinem Leben vieles, das ich lieber vergessen würde und auf das ich ganz sicher nicht stolz bin. Doch es gibt auch »Amazing Grace«-Momente – Augenblicke voller unfassbarer Geschenke, für die ich unendlich dankbar bin. Ganz bewusst erzähle ich meine Geschichte nicht nur, um meine Vergangenheit zu verarbeiten, sondern vor allem, um anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, den Weg zu zeigen zu Heilung und Befreiung. Ein entscheidender Schlüssel zu meiner Heilung war, meine Stimme zu finden – die Stimme, die mir als kleines Mädchen fehlte. Mit diesem Buch gebe ich diesem kleinen Mädchen eine Stimme, und ich hoffe, dadurch anderen helfen zu können, ihre eigene Stimme zu finden und den Mut, sie auch einzusetzen. Ich wünsche mir sehr, dass meine Erfahrungen anderen die Hoffnung geben, die mir selbst in meinem Leben so sehr gefehlt hat.

Meine Worte richten sich besonders an diejenigen, die unter sexuellem Missbrauch und Angst leiden, verlassen oder abgelehnt worden sind. Ich schreibe für alle, die sich beschmutzt und »ramponiert« fühlen oder sich über die Wunden ihrer Vergangenheit identifizieren. Ich schreibe, damit Sie sehen: Es gibt Hoffnung, Licht und ein wertvolles Leben jenseits aller Schmerzen der Vergangenheit. Ich schreibe, weil ich von Herzen glaube, dass auch Sie – wie ich – den Weg der Heilung und Freiheit finden können.

So ehrlich und offen zu sein ist riskant. Das weiß ich. Die Welt ist voller Kritiker. Manche mögen meine Motivation hinterfragen, wenn ich Kleines und Großes aus meinem Leben erzähle. Wenn ich Wahres ans Licht bringe, das nicht gerade schön und manchmal schwer zu verkraften ist. Mit diesem Buch will ich niemanden anklagen, verunglimpfen oder mit dem Finger auf andere Leute zeigen. Es liegt mir fern, einen anderen zu verletzen. Glauben Sie mir, ich habe in meinem Leben selbst viele Fehler gemacht. Von einigen werde ich in diesem Buch berichten.

Lange habe ich mit mir gerungen, wie ich die schmerzlichen Erfahrungen meines Lebens authentisch schildern kann, ohne die Menschen an den Pranger zu stellen, die ich am meisten liebe. Ich bitte Sie, dieses Buch zu lesen, ohne Steine zu werfen. Wir sind alle Menschen und machen Fehler. Die meisten von uns bringen sie allerdings nicht für alle Welt zu Papier. Deshalb bitte ich Sie zu bedenken, dass Menschen sich ändern können. Ich bin das beste Beispiel dafür. Jeder hat Nachsicht und eine zweite Chance verdient. Und jede Geschichte hat zwei Seiten. In diesem Buch beschreibe ich meine Sicht der Dinge.

Meiner Familie und Jeremy möchte ich für ihr Verständnis danken, dass sie – und einige schwierige Momente mit ihnen – in diesem Buch vorkommen. Sie sind Teil des großen Ganzen. Ihre Erfahrungen können hilfreich sein für andere. Ich bewundere sie für ihren Mut, dass sie mir deshalb erlauben, einige schmerzliche Erinnerungen preiszugeben.

Besonders schwierig war meine Beziehung zu Justins Vater: Jeremy. Wir waren beide noch sehr jung und unreif. Deshalb möchte ich betonen, dass Jeremy sich verändert hat, genau wie ich. Er ist heute ein anderer Mensch. Ich bin stolz auf die Fortschritte, die er als Mensch und als Vater gemacht hat. Heute sind wir gute Freunde.

Ich danke allen Familienmitgliedern und Freunden, die Teil meiner Geschichte sind. Von Herzen habe ich euch lieb und bin dankbarer, als ich es in Worte fassen könnte.

Kapitel
Eins

Jahrelang habe ich gegen die Dunkelheit angekämpft. Gegen den Strudel, der mich in die Tiefe ziehen wollte. Als Erwachsene musste ich mich durch das verworrene Netz emotionaler Wunden arbeiten, die mich seit meiner Kindheit gefangen hielten. Mit zögernden Schritten bin ich zu den frühen Jahren meines Lebens zurückgekehrt und habe die schmerzlichen Erlebnisse neu durchlebt, die prägend waren für meine Kindheit. Und ich habe gelernt, dass man manchmal die Vergangenheit überwinden muss, um sich für die Zukunft zu öffnen.

Eines Nachts hatte ich einen Traum. Ich bekam die Aufgabe, ein großes Haus zu putzen: jedes Zimmer, viele davon Schlafzimmer. Die Schlafzimmer gehörten verschiedenen Mädchen – vom Baby bis zum Teenager – und waren zugemüllt mit Kleidern, Abfall und Spielzeug. Diese Aufgabe überforderte mich total. Im ersten Zimmer konnte ich mir ein wenig Platz für meine Füße verschaffen, indem ich den Kram einfach zur Seite schob. Ich beschloss, mir ein anderes Zimmer vorzunehmen. Aber darin sah es genauso aus. So ging ich von Zimmer zu Zimmer mit demselben Ergebnis: Ich fand keinen Anfang, konnte mir nur ein wenig Platz vor meinen Füßen verschaffen. Das frustrierte mich. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit dem Aufräumen beginnen sollte.

Während ich in einem jener Zimmer stand, unfähig mich zu rühren, hörte ich eine Stimme. Intuitiv wusste ich, dass es Gottes Stimme war: »Geh zurück zum Anfang des Hauses.«

Mein Traum-Ich wusste, was es zu tun hatte. Ich begab mich zum ersten Zimmer des Hauses, dem Wohnzimmer, und fing an, jeden einzelnen Gegenstand daraus zu entfernen. Ich schaffte alles nach draußen – Sofas, Lampen, Teppiche, Tische, Bilder, Bücher –, bis der Raum vollkommen leer war. Dann schrubbte ich die Wände ab, strich sie neu an und räumte nur die Gegenstände wieder hinein, die ich behalten wollte. Ein Zimmer war sauber. Jetzt wusste ich, wie ich weiter vorzugehen hatte.

Als ich aufwachte und über den Traum nachdachte, erkannte ich einen Zusammenhang zwischen dem Haus in jenem Traum und meiner eigenen Situation. Die Räume standen für verschiedene Phasen oder Bereiche meines Lebens, die ich als Erwachsene aufräumen wollte oder für die ich Heilung suchte. Die einfache Anweisung aus dem Traum verblüffte mich.

Geh zurück zum Anfang.

Aber in der Therapie hatte ich doch die frühen Jahre meiner Kindheit aufgearbeitet. Sollte der Traum mir etwa sagen, dass ich mich mit meinem Leben vor meiner Geburt beschäftigen sollte? Vielleicht hatte ich ja während der Schwangerschaft irgendein Trauma erlebt. Dieser Gedanke war natürlich abwegig. In den Mutterleib zurückgehen? Was machte das für einen Sinn? Wie konnte etwas, von dem man nichts wusste, sich später im Leben so traumatisch auswirken? Aber sogar dazu war ich bereit. Denn meine Verzweiflung war groß.

Mein Vater war ein Trinker. Er eiferte dem Vorbild seines alkoholkranken Vaters nach. Ich habe meinen Vater nie richtig kennengelernt, weil er uns, seine Familie, verließ, als ich zwei Jahre alt war. Allerdings weiß ich, dass er gewalttätig war. Einmal ging er sogar auf meine Mutter los, als sie mit mir schwanger war. Von anderen Mitgliedern meiner Familie erfuhr ich, dass mein Vater sehr wandlungsfähig war. Während manche ihn als liebevollen, charmanten und gutherzigen Ehemann und Vater erlebten, bekamen wir seine verborgene, dunkle Seite zu spüren.

Das Wissen, dass ich Gewalt erlebte, bevor ich auch nur das Licht der Welt erblickte, macht mir zu schaffen. Mich quält der Gedanke, dass ich nicht gewollt war. Mal im Ernst, kann ein Baby bei einer Familie, in der körperliche Gewalt herrscht, mit einem herzlichen Willkommen rechnen? Mir scheint, meine Zukunft war von Anfang an trübe.

Meine Mutter Diane war das älteste von zehn Kindern. Mit sechzehn lernte sie meinen Vater kennen und wurde schwanger. Sie heirateten und begannen ihr gemeinsames Leben in der Stadt Timmins in Ontario, Kanada. Später zogen sie nach Stratford, zehn Stunden Autofahrt entfernt.

Mein Bruder Chris wurde 1967 geboren, nur achtzehn Monate später kam Sally zur Welt, meine Schwester, die ich nie kennengelernt habe. Sally war vier Jahre alt, als sie auf tragische Weise aus dem Leben gerissen wurde. Meine Mutter war damals gerade mit mir schwanger. Mir wurde erzählt, es sei ein kalter Novembermorgen gewesen, als mein Bruder und Sally zum Haus der Babysitterin auf der anderen Straßenseite aufbrachen. Die Sonne ging gerade auf. Fröhlich marschierten Chris und Sally Hand in Hand zur Straße. Vielleicht ging es Sally zu langsam. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust, die Hand meines Bruders festzuhalten. Niemand weiß genau warum, aber ganz plötzlich ließ sie einfach los. Sie löste ihre kleinen Finger aus Chris’ starkem Griff und rannte fröhlich kichernd auf die Straße. Das herannahende Auto bemerkte sie nicht. Chris dagegen schon. Er schrie nach ihr, aber es war zu spät. Sally starb durch den Aufprall, noch bevor sie auf der Straße aufschlug.

Ich kann mir nicht vorstellen, welche Schuldgefühle meinen Bruder gequält haben müssen, nachdem er hilflos mit ansehen musste, wie der Wagen den schmalen Körper seiner Schwester in die Luft schleuderte. Chris und ich sprachen nur einmal über den Unfall. Ich bin sicher, die Verzweiflung war zu groß, als dass er immer wieder darüber reden konnte. Auch meine Mutter schaffte das nicht.

Mein Herz blutet, wenn ich mir vorstelle, welchen Schmerz meine Mutter aushalten musste – einen Schmerz, der nie mehr verschwindet, wenn man ein Kind verloren hat. Diesen Schmerz erlebte sie während der Schwangerschaft. Wie kann man um ein Kind trauern, während man ein anderes austrägt? Ist es überhaupt möglich, um das eine Kind zu trauern und sich gleichzeitig auf das neue Leben zu freuen?

Aber davon wusste ich natürlich nichts. Meine Mutter sprach nie über Sallys Tod. Erst mit zehn Jahren erfuhr ich, dass ich eine Schwester gehabt hatte. Dieses Mal war ich es, die von einem Auto angefahren wurde. An einem drückend heißen Sommertag war ich mit dem Fahrrad unterwegs. Ich achtete nicht auf meine Umgebung. Ohne mich zu vergewissern, dass kein Auto kam, schwenkte ich auf die Straße. Ich hatte den Wagen, der von hinten kam, nicht bemerkt. Er erfasste mich, und ich stürzte vom Fahrrad auf die asphaltierte Straße.

Ich war nicht verletzt, aber meine Mutter und mein Bruder, die den Unfall mit ansehen mussten, begannen hysterisch zu schreien. Sie machten ein großes Theater und zerrten mich, die ich nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, ins Haus. Ich war verwirrt, aber auch ein wenig verärgert über ihr Verhalten. »Was ist denn los?«, fragte ich.

Mom und Chris beruhigten sich schließlich so weit, dass sie mir erklären konnten, warum sie so panisch reagiert hatten. Sie fragten mich, ob ich mich an die Fotos von dem kleinen Mädchen erinnerte, die vor langer Zeit im Haus gestanden hätten. Ich konnte mich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte ich auch gedacht, das seien Fotos von mir und sie nicht beachtet.

Meine Mutter sagte: »Das war deine Schwester Sally. Sie wurde von einem Auto angefahren und starb, als sie fünf war.« Ich hatte das Gefühl, eine Folge von Twilight Zone zu erleben. Ich hatte eine Schwester gehabt? Die tot war? Das war alles höchst merkwürdig. Doch dann hob sich der Nebel meiner Erinnerung ein winziges Stück. Da war etwas. Ich erinnerte mich an Fotos von Sally in den Fotoalben – an Fotos, die mich zeigten, wie meine Mutter mir erklärt hatte. Meine Schwester und ich sahen uns sehr ähnlich. Manchmal, wenn meine Mutter mich anblickte, glaubte sie, einen Geist vor sich zu haben, den Geist meiner großen Schwester.

Später fragte ich mich, ob Sallys Tod vielleicht der Grund dafür war, dass meine Mutter keine Nähe zu mir ertragen konnte. Jahrelang glaubte ich, adoptiert zu sein, weil meine Mutter mir so distanziert begegnete. Immer war da das Gefühl, nicht dazuzugehören. Von Zeit zu Zeit wurde dieses unterschwellige Gefühl übermächtig, und ich begann zu randalieren. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem es besonders schlimm war. Ich war damals ein Teenager und suchte im ganzen Haus fieberhaft nach Hinweisen – nach irgendeinem Beweis dafür, dass ich adoptiert war. Ich hatte mir eingeredet, meine wirkliche Mutter lebe irgendwo da draußen. Vielleicht suchte sie sogar nach mir. Ich riss jeden Schrank in der Küche so heftig auf, dass die Gläser und das Geschirr klapperten. Ich durchwühlte jede Schreibtisch- und Kommodenschublade im Haus. Irgendetwas musste da sein. Irgendein mickeriges Dokument. Ich durchsuchte die Schränke, warf alte Schuhe, muffige Pullover und verstaubte Schachteln mit altem Krempel zur Seite. An jenem Tag stellte ich das ganze Haus auf den Kopf wie eine Drogenabhängige auf der Suche nach Stoff.

Mit einer unerklärlichen Verzweiflung schrie ich schließlich meine Mutter an: »Ich weiß, dass ich adoptiert bin! Hör doch auf, mich zu belügen. Sag mir einfach, wo die Papiere sind. Ich weiß, dass es so ist.« Meine Mutter dachte bestimmt, ich hätte den Verstand verloren. »Hör auf damit«, bat sie. »Was redest du da?« Sie kramte einige Fotos hervor und hielt sie mir unter die Nase, legte unsere Babyfotos nebeneinander. »Du siehst genauso aus wie ich! Wie kommst du auf die Idee, du seist adoptiert worden?«

Aber dieser Gedanke ließ mich einfach nicht los. Und ich konnte mich nicht beruhigen. Ich war immer noch restlos davon überzeugt, dass ich nicht dazugehörte. Das war nicht mein Elternhaus. Diese Frau war nicht meine Mutter.

Woher kamen solche Vermutungen? Und warum hatten sie eine so starke Wirkung auf mich?

Geh zurück zum Anfang.

Destruktive Gefühle entstehen nicht einfach aus dem Nichts. Sie sind meist die Folge von Erfahrungen und Erlebnissen, die uns prägen. Manchmal erkennen wir die Nachwirkungen solcher einschneidenden Ereignisse erst Jahre später.

Dass mein Vater uns verließ, schuf eine große Leere in mir – eine Leere, die dazu führte, dass ich mich gegen Gedanken und Gefühle, die meine Identität und meinen Selbstwert infrage stellten, nicht wehren konnte. Der Schmerz des Verlassenwerdens reicht tief und verändert einen Menschen für immer.

Selbst wenn ich heute die Augen schließe, spüre ich noch das emotionale Chaos, das in mir losbrach, als er von uns fortging. Ich war damals erst zwei Jahre alt. Trotzdem erinnere ich mich sehr lebhaft daran, als wäre es gestern geschehen. Es ist meine erste Kindheitserinnerung: Mein Bruder und ich standen neben der Haustür und blickten mit großen Augen zu unserem Vater hoch, der gerade seinen Mantel überstreifte. Er wirkt so ernst. Wo will er hin? Warum nimmt er den großen Koffer mit? Mommy? Mein Vater kniete sich vor uns beide hin und drückte mir ein Abschiedsgeschenk in die Hand, eine kleine Puppe. Als ich ihre Plastikhaut berührte und in ihre großen Augen blickte, die mich leblos anstarrten, fasste ich den Entschluss, dass sie meine beste Freundin werden sollte. Von da an schleppte ich sie immer mit mir herum.

»Ich liebe euch so sehr«, begann Daddy. »Aber ich muss weggehen.« Er umarmte meinen Bruder und mich und erhob sich langsam. Ich war noch so klein damals; mir kam er vor wie ein Riese. »Ich werde euch immer lieben.«

Als er sich von mir abwandte, bemerkte ich, wie seine große Hand kurz auf dem Türknauf der Haustür verharrte. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er ihn schließlich umdrehte, die Tür öffnete und unsere Wohnung verließ. Während die Tür langsam hinter ihm ins Schloss fiel, flog ihm mein Herz hinterher. Ich war zu verwirrt, um zu weinen, aber innerlich schrie ich nach meinem Vater. Geh nicht! Komm zurück. Bitte, ich brauche dich. Aber es war zu spät. Daddy war fort. Ich sah ihn erst wieder, als ich neun Jahre alt war.

Als Erwachsene trauerte ich darüber, dass mein Vater nicht da gewesen war. Dass er mich nicht »Prinzessin« genannt und mir gesagt hat, wie hübsch ich sei. Dass er den Jungs, mit denen ich ausging, keinen Respekt eingeflößt hat. Ich trauerte darum, dass ich keinen Vater gehabt habe, der mich in den Arm nahm und mir das Gefühl gab, bei ihm geborgen zu sein. Einen Vater, der mir beibrachte, eine Frau zu sein, die sich selbst achtete. Einen Vater, der mir das Gefühl gab, viel mehr wert zu sein, als ich nur ahnen konnte.

In diesem Augenblick jedoch, damals, mit zwei Jahren, wünschte ich mir verzweifelt, mich in die Arme meiner Mutter zu flüchten und mich von ihr trösten zu lassen, wie nur eine Mutter zu trösten vermag. Aber das war nicht möglich. Der Tag, an dem mein Vater uns verließ, war der Tag, an dem ich anfangen musste, erwachsen zu werden. Ich musste mir selbst die Tränen abwischen und mich selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen. Da war keine Zeit für Traurigkeit. Kein Platz für Verwirrung.

Es war auch der Tag, an dem ich noch etwas lernte: Meine Mutter würde immer hart arbeiten und gut für uns sorgen. Aber sie würde mir keine körperliche Nähe schenken, die ich brauchte, oder liebevolle, stärkende Worte sagen, nach denen ich mich so sehr sehnte. Das konnte sie mir einfach nicht geben. Sie trug ihr eigenes Bündel mit sich herum. Das Leben hatte ihr die Fähigkeit geraubt, mir emotionale Wärme zu schenken: die Beziehung voller Gewalt, die Trauer um den Tod eines Kindes und der zusätzliche Stress, als ihr Mann sie verließ und sie nun allein für zwei kleine Kinder sorgen musste. Meine Mutter war und ist auch heute noch eine starke Frau. Ich dagegen besaß damals noch nicht diese stahlharte Überlebenskraft. Noch nicht.

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Als ich sechs Jahre alt war, heiratete meine Mutter zum zweiten Mal. Für mich schien es wie ein Lottogewinn! Bruce Dale war ruhig, gutmütig und liebte meine Mutter sehr. Sie hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und tauschten Zärtlichkeiten aus, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot. Als Bruce das erste Mal bei uns zu Hause war, schaute er sich mit mir einen Boxkampf im Fernsehen an. Ich kletterte auf seinen Schoß und konnte den Blick nicht von den verschwitzten Boxern nehmen, die aufeinander losgingen. Stolz sagte ich zu ihm: »Ich werde eines Tages einmal Boxerin!« Mir gefiel die Vorstellung, dass Bruce mein Daddy werden würde.

Bruce brachte zwei eigene Kinder mit in die Ehe: Candie (13) und Chuck (11). Candie war sehr lieb, und ich blickte zu ihr auf. Sie war eine gute große Schwester und nahm sich immer Zeit für mich. Sie gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Mein Stiefbruder hatte ein sanftes Wesen wie sein Vater, und es war schön, mit ihm zusammen zu sein. Ich mochte beide sehr.

Je besser ich Bruce kennenlernte, desto mehr mochte ich ihn. Vor allem, weil ich beobachtete, wie er sich meiner Mutter gegenüber verhielt. Am 15. August 1981, dem Tag ihrer Hochzeit, war ich so aufgeregt, dass ich es kaum aushalten konnte. Meine Mutter sah sehr hübsch aus. Ihre braunen Haare hatte sie in einer sanften Welle zur Seite frisiert. Sie trug ein türkisfarbenes Chiffonkleid, das die Farbe ihrer Augen hervorhob, und hielt einen kleinen Strauß aus weißen und rosa Rosen in der Hand. Bruce stand stolz neben ihr. Sein dunkelbrauner Anzug stand ihm sehr gut. Sogar seine Haarsträhnen, die normalerweise etwas ungebändigt von seinem fast kahlen Kopf abstanden, waren ordentlich gekämmt. Die Jungen trugen helle Cordjacken und ihre Hemdkragen ragten heraus wie wunde Daumen. Sie schienen sich in ihrer eleganten Aufmachung nicht wohlzufühlen. Am liebsten hätten sie sich aus ihren Kleidern geschält und eine Jeans angezogen. Candie und ich trugen hübsche weiße Kleider und passende Kniestrümpfe. Meine Haare wurden aufgesteckt, und ich durfte zum ersten Mal Haarspray benutzen.

Aber für mich ging es bei der Hochzeit um mehr als gut auszusehen. Das war mein großer Augenblick. Ich würde einen neuen Vater bekommen. Einen Vater, der mich liebte. Einen Vater, der bei mir bleiben wollte. Ich fand, das war das Beste, das mir je passieren könnte.

Später am Abend rief ich meinen neuen Vater, der im Nebenzimmer saß. »Daddy« nannte ich ihn. Ich empfand eine tiefe Sehnsucht, dieses Wort auszusprechen. Es sollte auf Dauer in meinem Wortschatz bleiben. Ich wollte mich immer wieder vergewissern, dass ich einen Daddy hatte, der mich lieben und beschützen würde. Der nicht wieder fortging.

Daddy. Ich hatte mir so sehnlichst einen Vater gewünscht.

Aber kaum war dieses einfache zweisilbige Wort über meine Lippen gekommen, explodierte mein Bruder Chris. Er zog mich dicht an sich heran, damit Bruce nicht mitbekam, was er mir zu sagen hatte. »Das ist nicht unser Dad«, zischte er. »Das ist der Mann deiner Mutter. Er ist ein Fremder in diesem Haus. Nenne ihn nicht Daddy. Du hast bereits einen Vater!«

Und danach tat ich es niemals wieder. Ich mochte Bruce sehr, aber ich schaute auch auf zu Chris. Immerhin war er mein älterer Bruder, darum respektierte ich seine Wünsche. Doch dabei verlor ich die Möglichkeit, eine ganz besondere Beziehung zu meinem Stiefvater aufzubauen.

Zu Chris’ Verteidigung muss ich sagen, dass ich jetzt verstehe, was zu der Zeit in ihm vorging. Er war sieben Jahre älter als ich. Darum kannte er unseren Vater viel besser als ich. Seine Bindung an ihn war viel stärker. Und da er über einige Jahre hinweg das einzige männliche Wesen in unserem Haus gewesen war, fühlte er sich vermutlich durch den neuen Mann in unserem Heim bedroht. Ich glaube keine Sekunde lang, dass Chris wusste, wie sehr mich seine Worte damals verletzten. Hätte er es gewusst, hätte er sie nicht ausgesprochen, davon bin ich überzeugt.

Doch an jenem Tag ging ich sofort zu meinem Stiefvater auf Distanz. Während meiner restlichen Kindheit konnte er nie die Rolle eines Vaters übernehmen, weil ich ihm dazu keine Gelegenheit gab. Bevor Bruce die Möglichkeit hatte, mir eine wirkliche Vaterfigur zu sein, hatte ich ihn bereits ausgeschlossen. Er hat sich nie falsch verhalten oder mich verletzt. Aber in meinen Augen war er nie mehr als der Mann meiner Mutter. Nicht mein Vater. Ich hielt ihn in sicherer Entfernung, auf Armeslänge von mir fort.

Die gleiche Distanz, die ich während meiner Kindheit meiner Mutter und Bruce gegenüber empfand, hatte ich auch der Religion gegenüber. Meine Geschwister und ich wuchsen als nicht praktizierende Katholiken auf. Wir besuchten keine Messe. Die Sonntage waren nicht dem Gottesdienst vorbehalten, sondern dienten meiner Mutter und Bruce als Tag der Erholung und Entspannung. Beide arbeiteten die ganze Woche hart, und der Sonntag war der Tag, an dem sie abschalten wollten. Etwas im Fernsehen anschauen. Dies und das erledigen. Die Familie besuchen. Ab und zu einmal zum Essen ausgehen.

Etwa zu der Zeit, als meine Mutter zum zweiten Mal heiratete, lud mich mein Freund Robbie Wigan aus der Nachbarschaft einmal in seine Kirche ein. Meine Mutter und Bruce hatten nichts dagegen. So war ich wenigstens beschäftigt. Während meine Mutter halb verschlafen in unserer bescheidenen Küche herumwerkelte und eine Packung Kaffeefilter aufriss, um den Morgenkaffee aufzusetzen, suchte ich oben in meinem Zimmer etwas Hübsches zum Anziehen. Ein schönes Kleid. Lackschuhe.

Als ich mich angekleidet hatte, stürmte ich die Treppe hinunter, rief »Tschüss« und rannte vier Häuser weiter zu Robbies Haus. Zusammen mit meinem kleinen Freund und seiner Familie stieg ich in den Kombi der Wigans ein. Ich war so aufgeregt, dass wir zur Kirche fuhren! Natürlich wusste ich nicht so genau, warum ich so aufgeregt war – ich meine, wer verbindet schon das Wort aufregend mit der Kirche? Aber mir kam es vor wie ein Abenteuer.

Auf der Fahrt zum Gottesdienst unterhielten sich die Erwachsenen auf den Vordersitzen über langweilige Dinge, die uns nicht interessierten. Robbie und ich auf dem Rücksitz plapperten, kicherten und hatten unseren Spaß. Auch die Sonntagsschule war toll. Die Lehrerin erzählte uns biblische Geschichten, wir malten, bastelten und sangen miteinander. Außerdem bekamen wir kleine Snacks. Ich saß neben Robbie und beobachtete fasziniert die anderen Kinder, die bunte Bilder von Jesus malten. Alle schienen gern dort zu sein. Die Kirche war keine lästige, langweilige Pflicht wie Geschirrspülen oder sein Zimmer aufräumen. Die Kirche war, nun – Spaß. Mir gefiel diese Art von Spaß. Das hatte ich mir immer gewünscht. Ich fragte mich, warum meine Familie nie zur Kirche ging.

Als die Stunde beinahe vorüber war, fragte mich die nette Lehrerin mit der toupierten Hochfrisur, ob ich Jesus in mein Herz aufnehmen wolle. Aber natürlich wollte ich das! Warum auch nicht? Die biblischen Geschichten hatten mir gefallen und auch die tollen Bilder. Ich mochte Jesus. Er sollte mein Freund sein. Und besonders begeistert war ich darüber, dass er mich zum Freund haben wollte. Man stelle sich das mal vor! Und so nahm ich Jesus in mein Herz auf, während eine Sonntagsschullehrerin neben der Flanelltafel mit den bunten Bildern biblischer Gestalten stand und zustimmend nickte.

Ich glaube, in jenem Augenblick hat Gott in meinem Leben Fuß gefasst. Doch ich war erst fünf Jahre alt. Das ganze Leben lag noch vor mir. Und auch wenn ich glaube, dass meine frühe Hingabe an Gott einen Samen für meine Zukunft legte, konnte der Glaube nicht das Schlechte in meinem Leben abwehren. Er beschützte mich nicht, als ich meiner Unschuld beraubt wurde. Immer und immer wieder.

Kapitel
Zwei

Als Familie waren wir eigentlich ziemlich normal – auch wenn nicht feststeht, was »normal« eigentlich heißt. Für jeden bedeutet dieses Wort wohl etwas anderes. Meine Kindheit verlief recht ereignislos. In Stratford, Ontario, in Kanada lebten wir in einem kleinen, zweistöckigen Haus in einer ruhigen Wohngegend. Meine Mutter und mein Stiefvater verdienten den Lebensunterhalt für unsere Familie in einem Büro. In unserer Straße wohnten viele Kinder aller Altersgruppen, und wir spielten oft miteinander.

Fast jeden Tag klingelte eine Freundin bei uns und fragte, ob ich zum Spielen nach draußen kommen möchte oder ob wir im Haus spielen wollten. Sie brauchte nicht zweimal zu fragen. Meine Freundinnen und ich fuhren gemeinsam Fahrrad oder vergnügten uns auf dem Spielplatz der Grundschule in unserer Straße. Ich ging mit ihnen nach Hause, und wir aßen selbst gebackene Schokoladenkekse, während wir auf Steckplatten bunte Bilder hefteten, mit Puppen spielten oder uns am Zauberwürfel versuchten. Mein Freund Robbie und ich organisierten Nachbarschaftsparaden mit den Kindern aus unserer Straße. Auch als wir älter wurden, spielten wir noch mit den anderen Kindern. Wir schrieben eigene Theaterstücke, verkauften Eintrittskarten in unserer Nachbarschaft und führten die Stücke auf meiner provisorischen Bühne auf. Ich feierte Geburtstage mit bunten Luftballons und Geschenken, und ich lud immer alle Kinder aus der Nachbarschaft ein.

Ich spielte mit Plüschtieren und in der Grundschule verliebte ich mich in alle möglichen Jungs. Wenn es im Winter schneite (und wir hatten immer viel Schnee), bauten meine Geschwister und ich Schneemänner und Burgen. Ab und zu fuhren wir als Familie in den Urlaub; in einem Jahr flogen wir sogar nach Florida. Zu Thanksgiving besuchten uns viele Verwandte und wir aßen viel zu viel von dem köstlichen Essen. Wir schmückten den Weihnachtsbaum und gingen in der Vorweihnachtszeit Geschenke einkaufen.

Von außen betrachtet war unser Leben normal. Keine außergewöhnlichen Vorkommnisse. Nichts Ungewöhnliches. Nichts Verdächtiges. Aber hinter der äußeren Normalität erduldete ich viele Jahre lang sexuellen Missbrauch.

Meine früheste Erinnerung an einen sexuellen Missbrauch begann als ein unschuldiges Doktorspiel, nur dass Stethoskop und Arzttasche fehlten. Wie bei vielen der anderen Zwischenfälle erinnere ich mich nur noch verschwommen an die Einzelheiten, als läge alles wie im Nebel. Aber die Erinnerungen sind trotzdem da.

Ich erinnere mich, wie ich auf einem Tisch lag. Damals war ich etwa drei Jahre alt. Ältere Kinder waren dabei, vertraute Gesichter. Spannung lag in der Luft, als würde ein dunkles Geheimnis gelüftet. Ich spielte die Patientin und erwartete den »Doktor«, der eine schlimme Krankheit diagnostizieren sollte. Jemand hielt ein Thermometer in der Hand, um zu messen, wie hoch mein vorgetäuschtes Fieber war, nahm ich an.

Auf das, was dann kam, war ich nicht vorbereitet. Das Thermometer wurde in Körperteile eingeführt, wo es nicht hingehörte. Ich erinnere mich, dass ich mich davor geekelt habe. Es fühlte sich nicht richtig an. Obwohl ich seltsamerweise keine greifbaren Erinnerungen an Zwischenfälle vor dieser Zeit habe, hatte ich das Gefühl, als wäre es schon vorher mal passiert. Als wäre ich schon zu einem anderen Zeitpunkt auf ähnliche Weise berührt worden. Aber das weiß ich nicht mit Sicherheit. Allerdings weiß ich, dass dies nicht das letzte Mal war.

Ich kannte denjenigen, der mich sexuell missbrauchte. Er war ein bekanntes Gesicht in meiner Familie, in unserem Stadtviertel und im Freundeskreis. Vertrauen wird gebrochen, wenn jemand, den man kennt, in dessen Nähe man sich sicher fühlen sollte, Dinge tut und einen zu Dingen veranlasst, die wehtun. Die sich falsch anfühlen. Die einen verwirren. Die pervers sind.

Ich war fünf Jahre alt. Ich suchte mir gerade sorgfältig die schönsten Malstifte aus, mit denen ich die nächste Seite meines Malbuchs ausmalen wollte, als er ins Zimmer kam. Er trug keine Kleidung. Der Malstift, mit dem ich gerade eine Sonne in einem warmen Gelbton ausmalen wollte, rutschte mir aus der Hand und fiel mit einem lauten Klappern zu Boden. Ich war verwirrt und verängstigt. Ich war schockiert.

Warum ist er nackt? Warum zeigt er mir seine intimsten Körperstellen?

Ich weiß nicht, wie ich dazu kam oder was danach geschah, aber ich berührte ihn. Ich wollte es nicht; ich folgte einfach seiner Anleitung. Ich tat, was mir gesagt wurde. Ich war ein braves kleines Mädchen.

Während der folgenden fünf Jahre setzte er seine unangemessene Berührung fort. Und ich schwieg während der ganzen fünf Jahre, verwirrt von der körperlichen Aufmerksamkeit. Ich war verwirrt über die Art, wie er mich streichelte, die Stellen meines Körpers, die aus gutem Grund vor der Öffentlichkeit verborgen waren – sie waren intim.

Leider war er nicht der Einzige, der mich missbrauchte. Während derselben Zeit tauchte eine zweite Person in meinem Leben auf. Eine Person, die ich kannte. Eine Person, der ich vertraute.

Ich erinnere mich, dass seine Hände mir den Slip herunterzogen. Mein Körper verspannte sich. Ich konnte mich nicht wehren. Ich war hilflos. Schon wieder? Oh Gott. Warum ich?

Bei anderen Gelegenheiten befanden wir uns in einem stillen Raum. Obwohl wir uns hinter verschlossenen Türen aufhielten, waren wir nur wenige Meter von Erwachsenen entfernt. Von Erwachsenen, die vor dem Fernsehgerät saßen. Oder am Esstisch. Oder telefonierten. Oder das Haus putzten. Oder die Zeitung lasen. Von Erwachsenen, die normalen Alltagsbeschäftigungen nachgingen. Ich hörte, wie Türen geöffnet wurden und ins Schloss fielen. Ich hörte Schritte. Ich hörte Stimmen. Manchmal waren die Menschen ganz in meiner Nähe. Sie hätten mich retten können, wenn sie aufmerksam gewesen wären. Sie hätten bemerken können, dass ganz in ihrer Nähe etwas Schlimmes geschah. Aber niemand bemerkte es.

Das Gefühl des Verlassenseins, das mich erfüllte, seit mein Daddy von mir fortging, verwandelte sich schnell in etwas, mit dem ich nicht mehr fertig werden konnte. Damals konnte ich das noch nicht erkennen. Aber wenn ich heute zurückblicke, wird mir das sehr deutlich. Ich sehe ein Kind, das traurig war. Das sich ungewollt fühlte. Ungeliebt. Nicht liebenswert. Solche Gefühle wucherten wie ein Pilz und weckten in mir den Hunger nach Aufmerksamkeit.

Ich wusste, dass diese sexuelle Berührung falsch war, aber irgendwie duldete ich sie auch. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Mir gefiel nicht, was geschah! Aber meine Sehnsucht nach Liebe, dem Gefühl, gewollt zu sein, war groß. Wie auch immer diese Liebe aussehen mochte, von wem auch immer.

Im Laufe der Jahre wurde ich so oft sexuell missbraucht, dass es sich für mich beinahe normal anfühlte. Das ist eine merkwürdige Situation – man weiß, dass etwas falsch ist, doch gleichzeitig empfindet man es als normal und alltäglich. Als ich etwa fünfzehn war, wollte ich mir nicht mehr länger ständig dieselben Fragen stellen: Was ist nur los mit mir? Womit ziehe ich sexuelle Aufmerksamkeit auf mich? Warum bin ich so ein Magnet für sexuellen Missbrauch?

Vielleicht war es offensichtlich. Vielleicht, nur vielleicht, war ich geschaffen für Sex, dachte ich. Vielleicht war ich einfach eine Schlampe. An einem Punkt spielte ich sogar mit dem Gedanken, Prostituierte oder Striptease-Tänzerin zu werden. Das erschien mir passend; das schien das Leben für mich vorgesehen zu haben.

Solche verrückten Dinge kommen einem in den Sinn, wenn sexueller Missbrauch immer wieder sein hässliches Haupt erhebt. Es ist wie ein Schlag-den-Maulwurf-Spiel. Egal, wie sehr man sich bemüht, den Maulwurf unten zu halten, er taucht immer wieder auf. Mein Leben war überfrachtet mit Perversionen von so vielen unterschiedlichen Personen, die Missbrauch mit mir trieben, dass ich sie kaum zählen konnte: jungen und alten, männlichen und weiblichen – vertrauten Gesichtern und Menschen, die ich kaum kannte.

Wenn ich heute an einige dieser Zwischenfälle denke, ist es, als gäbe es einen großen Knall und die Zeit bliebe stehen. Ich erlebe einen Augenblick, eine Szene. Ich sehe ein verschwommenes Gesicht. Ich weiß, was geschieht, aber ich kann keine Einzelheiten erkennen. Ich habe gelernt, dass diese Vorgänge normal sind. Wie viele Opfer sexuellen Missbrauchs musste ich die Einzelheiten dieser Ereignisse verdrängen, um weiterleben zu können. Das ist eine Überlebensstrategie. Mein Geist gestattete mir nicht, die Einzelheiten zu registrieren, weil ich das nicht verkraftet hätte. Das schaffen die wenigsten Menschen.

Aber bestimmte Dinge kann ich einfach nicht vergessen.

Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein Mädchen aus der Schule vor mir. Sie versucht, mir beizubringen, wie man sich selbst Vergnügen bereiten kann. Ein Vergnügen, das nicht durch Puppen und Rollerskates oder durch eine Umarmung von Oma kommt. Ein Vergnügen, das ich nicht verstehe. Sie macht mich mit Dingen über meinen Körper bekannt, die nicht meinem Reifegrad entsprechen. Ich kann kaum einen ganzen Satz schreiben, aber ich weiß, wie ich mir selbst Vergnügen bereiten kann.

Ich schließe meine Augen und sehe ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das zum Spielen zu mir kommt. In unserem Garten stand ein großes Plastikauto, das vermutlich Chris oder Chuck gehörte. Wir denken uns Geschichten aus, stellen uns vor, wir würden mit unserem Traumprinzen eine lange Fahrt in den Sonnenuntergang unternehmen. Dann verändert sich die Stimmung, und sie hebt unsere Kinderfantasien auf eine Ebene, die Erwachsenen vorbehalten ist. Eine Ebene, auf der ich mich unwohl fühle und mir schmutzig vorkomme.

Nachdem sie fertig ist, quälen mich Schuldgefühle. Ich denke an die Kirche. Daran, dass ich Jesus doch gebeten hatte, in mein Herz zu kommen. Ich schäme mich. Was habe ich getan? Gott ist bestimmt enttäuscht von mir. Vielleicht verabscheut er mich sogar. Diese Gedanken bedrücken mich. Ich sage zu diesem Mädchen: »Ich will das nicht tun. Gott sieht uns. Er weiß, was wir hier tun. Und das ist falsch.«

Mein Protest trifft auf taube Ohren. Sie verdreht die Augen und versichert mir: »Pattie, Gott ist viel zu beschäftigt, um sich daran zu stören, was wir machen.« Ich weiß nicht, warum mir ihre Antwort glaubhaft erschien, aber so war es. Das ist eine bequeme Entschuldigung für das, was mir angetan wurde. Aber es schien irgendwie auch zutreffend zu sein. Ich tat, was viele von uns tun – ich zog Vergleiche zwischen meinem himmlischen Vater und meinem irdischen Vater. Wenn mein Vater sich nicht um mich kümmerte, warum sollte Gott es tun? Wenn mein Daddy zu beschäftigt war, um sich Zeit für mich zu nehmen, warum sollte Gott sich für mein Leben und das, was ich tue, interessieren?

Und auch ein Babysitter missbrauchte mich. Damals war ich zehn. Er war nur wenige Jahre älter als ich. Wir saßen vor dem Fernsehgerät und sahen uns ALF an, den Film über den pelzigen kleinen Alien, der sich einen Spaß daraus machte, Willie Tanner zur Weißglut zu bringen. Auf einmal fragte mich der Babysitter, ob wir Modenschau spielen wollten. Meine Augen leuchteten auf. Modenschau? Mit mir als Model? Da war ich dabei. Theater begeisterte mich. Singen, Tanzen und Schauspielern war mein Leben. Über einen eingebildeten Laufsteg zu laufen in eingebildeten Designerklamotten, das machte bestimmt Spaß.

Aber er war nicht an den ausgefallenen Outfits interessiert, die ich mir aussuchen wollte. Oder an meinen dramatischen Auftritten. Oder dem knallroten, eines Supermodels würdigen Lippenstift, den ich auflegen würde. Er wollte sich meinen Körper anschauen.

Als ich in mein Zimmer gehen wollte, um mich umzuziehen, hielt er mich fest. Mit einem breiten Grinsen schlug er vor: »Bring doch die Kleider hierher ins Wohnzimmer und zieh dich hier um.« Er deutete auf einen freien Platz in der Mitte des Zimmers. »Genau hier kannst du dich umziehen.«

Als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, begann er, auf mich einzureden. Es gelang ihm, mich davon zu überzeugen, dass ich von ihm nichts zu befürchten hätte, dass er vertrauenswürdig sei. Schließlich hätten meine Eltern ihn ja engagiert, damit er auf mich aufpasste, und ich bräuchte wirklich keine Bedenken zu haben, mich vor ihm auszuziehen. »Das ist doch keine große Sache«, versicherte er mir.

Diese Vorstellung bereitete mir Unbehagen. Aber andererseits war ich es mittlerweile gewöhnt, instrumentalisiert zu werden, sodass ich nicht weiter darüber nachdachte. Nackt zu sein und an intimen Stellen berührt zu werden, war für mich nicht ungewöhnlich. Darum war die Bitte des Babysitters für mich gar nicht so abwegig.

In einem Alter, in dem die meisten Kinder noch auf Fahrrädern mit Stützrädern herumfuhren, wurden in meinem Leben die Türen der Sexualität weit aufgestoßen, und ich trat ein in eine Welt voller Scham, Manipulation und selbstsüchtigen Gelüsten. Eine Welt, der ich nicht entfliehen konnte. Sex verfolgte mich, lauerte in dunklen Ecken und wartete auf die passende Gelegenheit. Meine Sehnsucht nach Liebe machte mich zu einer leichten Beute.

Der endlose Kreislauf des Missbrauchs weckte viel zu früh sexuelle Sehnsüchte in mir. Er schuf in mir eine unreife Neugier, die ich nicht richtig verstand und mit der ich auch nicht umgehen konnte. Schließlich war ich noch ein Kind. Und Kinder müssen nicht an intimen Körperstellen berührt werden. Kinder sollten Erwachsene nicht an ihren intimen Körperstellen berühren müssen. Kinder sollten nicht mit Teilen ihres Körpers experimentieren, deren Funktionen sie noch gar nicht verstehen können. Kinder sollten sich an ihrer Unschuld freuen, an der frischen Luft spielen und sorgenfrei auf Abenteuersuche gehen.

Aber das war mir leider nicht vergönnt.

Ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich auf einem Nachttisch einen Stapel schmuddeliger Zeitschriften fand. Neugierig blätterte ich sie durch. Ich konnte mich der eindeutigen Bilder nicht entziehen, und so, wie man bei einem Unfall auf der Straße stehen bleibt und dem Geschehen zuschaut, betrachtete ich mir diese Bilder ganz genau. Was auf den Fotos zu sehen war, verstand ich nicht richtig, aber mein Blick klebte förmlich daran.

Das war auch so, als ich einmal eine Sendung des Pornokanals im Fernsehen mitbekam. Eines Abends konnte ich nicht einschlafen, und nachdem ich mich eine Weile unruhig im Bett herumgewälzt hatte, schlich ich nach unten in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Doch die Küche erreichte ich erst gar nicht. Von der obersten Treppenstufe im Flur aus hatte ich freien Blick auf das Fernsehgerät im Wohnzimmer. Was ich da sah, brannte sich in mein Gedächtnis ein. Nackte Menschen, die sexuelle Handlungen an sich vornahmen.

Mit einem Fuß stand ich auf einer knackenden Bodendiele. Das Knarren von Holz verriet mich. Sofort ertönte zorniges Gebrüll: »Patricia! Geh sofort wieder ins Bett!« Ich war so erschrocken, dass ich mit vor Verlegenheit gerötetem Gesicht in mein Zimmer floh. Diese Reaktion begriff ich nicht, aber ich empfand tiefe Scham. Diese Bilder konnte ich über Jahre hinweg nicht vergessen. Und als ich älter war, suchte ich abends, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, im Fernsehen nach solchen Filmen.

Ich möchte eins klarstellen: Meine Eltern wollten nicht, dass ich mit Pornografie in Berührung kam. Aber Fakt ist, dass es genau dazu kam. Und das nahm Einfluss auf meine Entwicklung. Die sexuellen Zwischentöne, die mein Leben seit meiner frühesten Kindheit prägten, zeigten sich manchmal auch in der Art, wie ich mit anderen Kindern spielte. Das war so, als ich fünf Jahre alt war, und auch später noch. Ich wurde erwischt, wie ich mit einem der Jungen aus der Nachbarschaft nackt unter der Veranda spielte, und einmal unter dem Bett mit einem Jungen aus der Schule. Aus irgendeinem Grund wurde ich immer nackt mit einem Jungen erwischt.

Als ich Teenager wurde, spielte ich mit einer Gruppe Jungen aus der Nachbarschaft in einem leer stehenden Lagerhaus in unserer Gegend Strip-Poker oder andere Kartenspiele, bei denen man als Pfand die Kleider ablegen musste. Ich war das einzige Mädchen. Und der Preis war? Ich. Wer gewann, durfte nackt mit mir so tun, als hätten wir Sex.

Für mich besteht kein Zweifel daran, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem sexuellen Missbrauch und der Tatsache, dass mein Vater mich verlassen hatte, als ich noch ganz klein war. Auf der einen Seite verzehrte ich mich nach körperlicher Zuneigung – nicht auf eine perverse Weise, sondern als reine, bedingungslose Liebe. Auf der anderen Seite hütete ich immer noch mein Herz und entzog mich gern, wenn mir alles zu anstrengend wurde. Ich lernte, während des Missbrauchs meine Augen fest zuzukneifen und die Luft anzuhalten, bis es vorbei war. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie unwohl ich mich fühlte und wie verängstigt ich war, oder dass ich mich am liebsten in mich selbst verkrochen hätte und verschwunden wäre. Ich klammerte mich an die Leere und blendete alle Gedanken aus. Ich schützte mein Herz vor Gefühlen jeder Art. Das war meine einzige Rettung. Zwar hatten meine Erfahrungen mich gelehrt, mich zu verschließen und alle meine Wünsche hintenanzustellen. Doch die unerfüllte Sehnsucht, bedingungslos geliebt zu werden, blieb. Ich sehnte mich unendlich nach der Liebe meines Vaters.