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Gerhard Sälter

Phantome des Kalten Krieges

Veröffentlichungen der Unabhängigen
Historikerkommission zur
Erforschung der Geschichte des
Bundesnachrichtendienstes
1945 – 1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,
Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang
Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 2

Gerhard Sälter

Phantome des Kalten
Krieges

Die Organisation Gehlen und
die Wiederbelebung
des Gestapo-Feindbildes
»Rote Kapelle«

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Die Rechtschreibung in der Studie folgt den aktuellen Empfehlungen
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2016

eISBN 978-3-86284-361-9

Inhalt

 

Vorbemerkung

 

Einleitung

I.

Ein Apparat gegen »fünfte Kolonnen« und »Kryptokommunisten«

1.

Die Anfänge der Organisation Gehlen

2.

Gehlens Ambitionen und die Abwehr kommunistischer Subversion

3.

Ein »illegal political police apparatus«: Die Sicherheitsabteilung

4.

Das operative Pendant: Die Außenorganisation in Karlsruhe

5.

Erfahrungen in der Bekämpfung der Résistance: Oskar Reile

II.

Die Operation »Fadenkreuz« beginnt

1.

Ein Agentenring am Bodensee

2.

Die Rote Kapelle: Ein Gestapomythos

3.

Die Geheimdienste der Westmächte und ihre Informanten

4.

Ein Wiedergänger: Erste Analysen der Organisation Gehlen

III.

»Experten«, Diskurse und Erpressung

1.

Ein Experte für die Rote Kapelle: Heinrich Reiser

2.

Die Rekrutierung weiterer Mitarbeiter der Gestapo Paris

3.

Das Ermittlungsverfahren gegen Manfred Roeder

4.

Eine Medienkampagne

5.

Roeder, seine »geheimen« Dokumente und politische Erpressung

IV.

Die Konstruktion einer internationalen Spionageorganisation

1.

Eine weltweite Verschwörung gegen »den Westen«

2.

Ermittlungen, Spekulationen und Denunziationen

3.

Eine zweite Agentenzentrale im NWDR

4.

Neue Informanten: Ein Staatsanwalt und ein Sachbuchautor

5.

Fokussierung der Operation auf den Widerstand

6.

Finanzielle und personelle Planungen

V.

Männer mit Vergangenheit: Die leitenden Ermittler

1.

Geheime Feldpolizei und Gestapo: Albert und Moritz

2.

Der Schrecken des Artois: Erich Heidschuch

3.

Die Residentur Württemberg: Rohrscheidt, Grimm und Zander

4.

Ein NS-Aktivist und Stasi-Agent: Hans Sommer

5.

Der Gestapomann Carl Schütz

6.

Erfahrungen in der Judendeportation: Friedrich Busch

7.

Puchta, Beißwenger und V-Leute der Gestapo

VI.

Verdächtigungen und Ermittlungen

1.

Die Überlebenden aus dem Widerstand

2.

Die Familien Schulze-Boysen und Harnack

3.

»Bisher fehlt es an schlüssigen Beweisen«: Weitere Verdächtige

4.

Herbert Engelsing und das Institut für Demoskopie in Allensbach

5.

Der NWDR und die Funkverbindung nach Moskau

6.

Gegenspionage in der Praxis: Spekulation und Ressentiment

7.

Bezichtigungen, Dateien, Konsequenzen

VII.

Der konservative Widerstand

1.

Neben der roten eine »schwarze Kapelle«

2.

Josef Müller, Otto Lenz und andere

3.

Die Militäropposition und die Rote Drei

4.

Gehlen, die Rote Kapelle und der Widerstand: eine nützliche Obsession

VIII.

Ehrgeizige Pläne

1.

Das Verbindungsreferat unter Oxenius

2.

Neue Projekte: Ein systematisches Durchleuchten der westdeutschen Eliten

3.

»Fadenkreuz« wird Chefsache

4.

Renegaten gegen die Rote Kapelle

5.

Der Fall John und Pläne für erweiterte Kompetenzen im Inland

IX.

Ein langsames Ende: Die Rote Kapelle als Hobby und Obsession

1.

Eine Bestandsaufnahme im Jahr 1955

2.

Die Operation »Fadenkreuz« und Gehlens »Dossiers«

3.

Ein neuer Zeuge für alte Geschichten: Heinz Pannwitz

4.

Unveränderte Wahrnehmungen und weitere Nachforschungen

5.

Abschließende Bewertungen

 

Die Phantome der Vergangenheit und die Konstruktion einer Bedrohung

 

Anhang

 

Abkürzungen

 

Quellen und Literatur

 

Personenregister

 

Über den Autor

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zu allererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monographien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),
Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Einleitung

Die Chefs staatlicher Nachrichtendienste – mit einem Geheimbudget ausgestattet und oft in der Lage oder verpflichtet, nicht allzu legale Mittel anzuwenden – werden leicht zu Hinterzimmerpotentaten. Das ist schon in der Natur ihrer Aufgaben begründet. Solange sie und ihre Untergebenen keine Böcke schießen, die sich nicht mehr verbergen lassen, sind sie gegen jede öffentliche Kritik immun. Das Geheimhaltungs-Tamtam und der allgemeine Glaube daran, dass man informiert sein müsse, erwiesen sich immer wieder als schier unüberwindliche Bollwerke.

Eric Ambler1

Im Oktober 1954 schickte James H. Critchfield, Leiter des CIA-Stabs, der in Pullach die Aktivitäten der Organisation Gehlen zu lenken versuchte, eine alarmierende Nachricht an seine Vorgesetzten in Langley: Es gebe Hinweise, dass Hans Globke ein sowjetischer Spion sei, der für das Agentennetz »Rote Kapelle« arbeite. Diese Nachricht war so beunruhigend wie überraschend, insbesondere, nachdem der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Otto John in Ost-Berlin aufgetaucht und die Öffentlichkeit ohnehin alarmiert war. Globke, seit 1949 leitender Beamter im Bundeskanzleramt und seit Herbst 1953 in der Nachfolge von Otto Lenz als Staatssekretär Chef des Kanzleramts, war einer der engsten Vertrauten Konrad Adenauers.2 Einen besseren Platz für einen sowjetischen Spion und Einflussagenten gab es überhaupt nicht.

Der Hinweis auf Globke stammte vom Chef der Organisation Gehlen selbst, vom »Doktor« oder »Professor«, wie Reinhard Gehlen sich von seinen Mitarbeitern nennen ließ, bzw. von »Utility«, wie er bezeichnenderweise bei der CIA hieß. Globke hatte, als er 1949 im Bundeskanzleramt eingestellt werden wollte, Gehlen gebeten, für ihn bei den Amerikanern um Unterstützung zu werben. Globke, der in der Nachkriegszeit eher als Erfüllungsgehilfe der Nationalsozialisten berüchtigt als für eine Gegnerschaft bekannt war, hatte seine Bewerbung mit Bescheinigungen von Verfolgten und Angehörigen des Widerstands gepolstert. Critchfield glaubte, seine Vorgesetzten in den Staaten auf die seltsamen Zeitumstände der direkten Nachkriegszeit hinweisen zu müssen: »During that period, it will be recalled, the main criterion for holders of public offices under the occupation was an anti-Nazi record.« Critchfield hatte das Material seinerzeit in den richtigen »channel« geleitet und es dann vergessen. Gehlen jedoch mit seiner Neigung, Papier zu horten, behielt eine Kopie zurück und hatte sie nicht vergessen.

Im Juni 1954 machte er Critchfield – »to our surprise« – auf die Zeugnisse aufmerksam. Otto Lenz, Jakob Kaiser und Josef Müller (der »Ochsensepp« genannt) hatten Globke 1949 bescheinigt, er sei einer der Männer des 20. Juli gewesen. Herbert Engelsing und seine Frau Ingeborg hatten ihm attestiert, er habe sie vor drohender Verhaftung und vor Hausdurchsuchungen gewarnt, und sie wüssten von zahlreichen nächtlichen Sitzungen, dass Globke »one of the most clever participants of the 20 July revolt« gewesen sei. Seit 1949 hatte der Wind sich jedoch gedreht. Josef Müller war unterdessen in den Medien von einem Widerstandskämpfer zu einem »Kryptokommunisten« geworden, der vielleicht heimlich mit den Russen paktiere, und als Verräter galt er vielen ohnehin. Die Beziehung zu Engelsing war noch belastender, denn dieser wurde in den Akten der meisten westlichen Sicherheitsdienste mittlerweile als möglicher kommunistischer Agent der Roten Kapelle geführt. Ironischerweise hatten die Persilscheine Globke wenig genützt. Critchfield hatte in den Personalunterlagen des amerikanischen Hochkommissars gefunden, dass man seinen Widerstandsaktivitäten kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Deutsche und Amerikaner hätten sich allein mit der Frage beschäftigt, ob Globkes Position im Reichsinnenministerium und seine Autorschaft an den Kommentaren zu den Nürnberger Rassegesetzen ihn so stark belaste, das man ihn nicht einstellen könne. Das fand aber niemand.

Critchfield ergänzte, er wisse nicht, was man in Langley mit Gehlens Informationen anfangen solle, und er könne nicht beurteilen, was Gehlen damit anstellen werde. Die politische Brisanz des Falls Globke sei ihm und Gehlen natürlich bewusst. Auch stünde ihnen deutlich vor Augen, wie wichtig die enge Beziehung zwischen Globke und Gehlen, die sich nach Critchfields Ansicht in letzte Zeit erheblich abgekühlt habe, für die Organisation Gehlen sei, da Globke deren »anchorman« in der Bundesregierung sei. Er glaube nicht, dass Gehlen tatsächlich der Überzeugung sei, Globke sei »a witting servant of the Soviets«. Überdies konnte Critchfield außer der eidesstattlichen Erklärung von Engelsing keine Hinweise finden, dass Globke vor 1945 mit der Roten Kapelle in Verbindung gestanden hatte. Gehlen insistierte jedoch auf der Brisanz des Falles und erzwang, dass dieser in den USA zur Kenntnis genommen wurde. Critchfield schrieb, Gehlen habe darauf hingewiesen, Globke verkehre mit Kurt Behnke, Präsident des Bundesdisziplinarhofs, der wiederum zum Kreis um den CSU-Politiker Josef Müller gehöre und Kontakt zu Minister Jakob Kaiser wie zu Friedrich W. Heinz (für die CIA »Capote«) habe, die alle vier weit oben auf Gehlens Liste der politisch Unzuverlässigen standen. Gehlen habe zudem insistiert, dass er keine Garantie dafür übernehmen könne, dass Globke nicht seinen religiösen und politischen Überzeugungen folgen und versuchen werde, ein neutrales Deutschland durchzusetzen.3

Ob Gehlen von patriotischer Sorge motiviert war, von denunziatorischem Eifer getrieben oder seinen Patron im Kanzleramt daran erinnern wollte, dass sie eine Partnerschaft zu beiderseitigem Gewinn führten, mag hier dahingestellt bleiben. Gehlen schützte Globke vor öffentlichen Angriffen wegen seiner NS-Vergangenheit und hatte ihm wie seinem Kanzler als geheimer Nachrichtenbeschaffer gedient. Ihrer beider Verhältnis war kein rein hierarchisches, sondern schloss reziproke Aspekte ein.4 Gehlen wurde von dem früheren Abwehroffizier Hans-Ludwig von Lossow unterstützt, zu dieser Zeit Verwalter der innenpolitischen Verbindungen seines Chefs und im Fall Globke nach Critchfields Meinung der Stichwortgeber Gehlens.

Das erstaunliche Dokument ist nicht nur ein Lehrstück für die politische Relevanz von geheimem Aktenmaterial, es zeigt vor allem, welch große Bedeutung eine kaum in Erscheinung getretene Widerstandsorganisation gegen Hitler noch immer besaß. Gegen die Rote Kapelle, an deren Fortexistenz über 1945 hinaus viele westliche Geheimdienste zeitweilig glaubten und von deren Gefährlichkeit Gehlen bis zu seinem Tod überzeugt war, führten die Organisation Gehlen und der Bundesnachrichtendienst (BND) einen ausgedehnten Kreuzzug. Die Operation wurde zunächst unter dem Decknamen »Fadenkreuz« und seit 1957 unter »Wildgatter« geführt. In Pullach vermutete man, dass Teile dieser Organisation weiterbestünden, nun gegen »den Westen« arbeiteten und als fünfte Kolonne große Teile des öffentlichen Lebens und der Politik der Bundesrepublik unterwandert hätten. Damit operierte der Gehlen-Dienst gegen eine Spionageorganisation, die ausschließlich in ihrer Wahrnehmung bestand. Das angenommene Gefährdungspotenzial der Roten Kapelle begründete sich auf der teilweise vorsätzlichen Fehldeutung, es habe sich bei ihr um eine von Moskau gesteuerte Spionageorganisation gehandelt. Zweitens wurde behauptet, die Organisation habe bis 1945 von den deutschen Sicherheitsbehörden nicht vollständig zerschlagen werden können und bestehe zumindest in Teilen fort. Drittens glaubte man nicht, dass ihre Mitglieder durch die Ablehnung des Nationalsozialismus motiviert waren, sondern sah in ihnen bolschewistische Überzeugungstäter, die auch unter demokratischen Rahmenbedingungen weiter für Moskau arbeiten würden.

Die von den NS-Sicherheitsbehörden vor 1945 formulierten Annahmen über die kommunistische Ausrichtung und die Steuerung aus Moskau übernahm die Organisation Gehlen nach 1945 zusammen mit dem Personal dieser Behörden. Damit wird die Operation gegen die Rote Kapelle zu einem Lehrstück, an dem exemplarisch dargestellt werden kann, welche Konsequenzen die Übernahme von Funktionsträgern der nationalsozialistischen Repressionsapparate mit ihrer speziellen »Expertise« in die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik für deren politische Ausrichtung, ihren Wahrnehmungshorizont und ihr praktisches Funktionieren hatte, vielleicht sogar für ihre Effizienz. Die bizarre Jagd nach der Roten Kapelle bietet eine Möglichkeit, zu beschreiben, wie bestimmend der Einfluss dieser Funktionsträger auf den mentalen Horizont der Behörden sein konnte, in die sie integriert wurden. Es wird untersucht, wie stark geistige, mentale und personelle Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischen Instanzen und Bundesbehörden Wirkungsmacht gegenüber dem Sicherheitsempfinden und damit dem politische Handeln der Entscheidungsträger der jungen Demokratie gewinnen konnten.

Die Operation gegen die Rote Kapelle eignet sich als Beispiel, weil die Organisation Gehlen und der BND einer Chimäre nachjagten, die von der Gestapo und der deutschen Abwehr geschaffen worden waren. Es wird zu zeigen sein, wie sich aus der Vermutung, es könnten Teile dieser Widerstandsbewegung der Repressionswelle entkommen sein, die Annahme entwickelte, sie seien gegen die Bundesrepublik aktiv. Es wird zu fragen sein, wieso der Widerstand gegen Hitler nach 1945 als eine Bedrohung wahrgenommen werden konnte, die den erheblichen Einsatz von Personal und Geldmitteln rechtfertigte, um ihm erneut das Handwerk zu legen. Schließlich wird darzulegen sein, wie aus den Netzwerken des Widerstands in der Nachkriegszeit das Phantom einer weltumspannenden Organisation von Agenten und fünften Kolonnen entstehen konnte, das nicht nur die Operation der Agentur in Pullach zu rechtfertigen schien, sondern die politische Szene in Bonn zeitweilig erheblich beunruhigte.5

Die Suche nach den überlebenden Teilen der Roten Kapelle gehört in eine Epoche, in der die nach dem »Zusammenbruch« 1945 beginnende Phase von Entnazifizierung und Reeducation endete, der Kalte Krieg begann und der Antikommunismus zu einer das politische Handeln beherrschenden Ideologie wurde. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde nicht nur das autoritäre Modell der Kanzlerdemokratie etabliert, mit dem Nationalsozialismus verbundene Mentalitäten, politische Ordnungsvorstellungen und Denkweisen kamen unter dem Vorzeichen des Antikommunismus wieder hervor und gewannen an Einfluss. Dies geschah weder unbemerkt noch unbestritten, sondern war mit Debatten um die Ordnung der Gesellschaft verbunden, die teils öffentlich, teils hinter den Kulissen ausgetragen wurden.6 Die Rote Kapelle wurde Gegenstand und politisches Vehikel der Diskurse, in denen während des langsamen Endes der Bevormundung durch die Alliierten Anfang der 1950er-Jahre das Bild der jüngst vergangenen Geschichte einer Revision unterzogen wurde. Ihr Zentrum bildete angesichts der Reaktivierung der erst wenige Jahre zuvor ins Abseits verbannten Funktionseliten die Frage, wie die Loyalität zum Nationalsozialismus – oder zu Deutschland, wie einige nun sagten – und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur künftig zu bewerten sein würden. Die aus dem Nationalsozialismus kommenden Eliten und Funktionsträger unternahmen eine Neuaushandlung dessen, welches Verhalten mit gesellschaftlicher Anerkennung zu honorieren und was zu ächten sei. Der von ihnen eingeleitete Diskurs veränderte die gesellschaftliche Wertschätzung der Remigranten und Widerstandskämpfer einerseits und der NS-Funktionsträger andererseits. Er bewirkte eine Umkehr in der öffentlichen Meinung in der Wahrnehmung des Nationalsozialismus und der aus dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) zu ziehenden Konsequenzen.

Die drei westlichen Besatzungsmächte waren 1945 angetreten mit dem Programm einer vollständigen Ablösung der nationalsozialistischen Herrschaft und der Auflösung der mit ihr verbundenen Strukturen. Sie wollten in Deutschland einen Verfassungsstaat nach westlichem Vorbild etablieren. Hierfür wollten sie diejenigen vor Strafgerichte stellen, die sich am nationalsozialistischen Unrecht beteiligt hatten, die gesellschaftlichen Machtpositionen von Aktivisten säubern und die politische Kultur erneuern. Dieses umfassende Programm krankte daran, dass sich die drei Westalliierten – von der Sowjetunion gar nicht zu reden – untereinander nicht einig waren, wie das genau zu geschehen habe, dafür bis 1945 weder geeignetes Personal ausgewählt noch Apparate aufgebaut hatten und es mit konfligierenden politischen Zielen in Einklang bringen mussten, über die sie sich ebenfalls nicht einig waren.

Die Entnazifizierung als Instrument eines Elitenwechsels und einer Säuberung der staatlichen und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen von nationalsozialistischen Aktivisten war ein heikles Unterfangen, weil es sich als politisches Ordnungsinstrument auf die ganze Gesellschaft richtete, aber in auf Individuen bezogenen Maßnahmen umgesetzt wurde, was justizförmige Verfahren hervorbrachte.7 Klaus-Dietmar Henke hat daran erinnert, dass die Abrechnung mit dem Faschismus in Deutschland den Regeln eines gesellschaftlichen Interessenkonflikts folgte, bei dem moralischer Anspruch und politische Praxis nicht in Kongruenz zu bringen waren.8 Die Besatzungsmächte überprüften eine große Zahl von Personen und schlossen einen erklecklichen Teil von ihnen von öffentlichen Ämtern aus bzw. entließen sie. Widersprüchliche Zielvorgaben, Verfahrensprobleme, die zunehmende Ablehnung in der deutschen Bevölkerung und Opportunitätserwägungen der Alliierten führten dazu, dass die Entnazifizierungsverfahren nicht zu einer Säuberung des öffentlichen Lebens führten, sondern als »Mitläuferfabrik« zu einer massenweisen Rehabilitierung und Exkulpierung der Funktionsträger des Dritten Reichs.9 Zwar waren die alliierten Säuberungsbemühungen kein vollständiger Misserfolg, da durch die Verfahren und die Internierung eine größere Gruppe von Funktionsträgern und Angehörigen der nationalsozialistischen Eliten wenigstens zeitweilig aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und für mehrere Monate oder einige Jahre »tiefgestaffelten Repressionen« (Ulrich Herbert) ausgesetzt waren.10 Lutz Niethammer nannte sie jedoch eine »monströse Rehabilitierungskampagne«, die eine »weitgehende Kontinuität der Gesellschaftsordnung« ermöglicht habe, Henke sprach von einem »Strudel der Weißwäsche«, Herbert argumentierte, die ursprüngliche Intention habe sich im Ergebnis »in sein Gegenteil verkehrt«, und Hans Hesse nennt sie eine »vielschichtig konstruierte Entschuldungspraxis«.11 Gleichzeitig hatte sie in der Öffentlichkeit den Eindruck einer umfassenden und rigiden Säuberung hinterlassen, der später half, die Schlussstrich-Mentalität zu verankern.

Die Säuberung hatte von einer Strafverfolgung derjenigen begleitet werden sollen, die sich an den Unrechtshandlungen und Gewalttaten beteiligt hatten.12 Die Nürnberger Prozesse gegen die »Hauptschuldigen« und die Nachfolgeverfahren machten der weitgehend erschütterten Öffentlichkeit das Ausmaß nationalsozialistischen Unrechts deutlich.13 Bis 1949 wurden 4000 NS-Funktionsträger in weiteren Strafverfahren von alliierten Militärgerichten und etwa genauso viele von deutschen Gerichten verurteilt. Weitere 6000 Personen wurden von den Westmächten an Drittstaaten ausgeliefert, insbesondere an Polen.14 Die Strafverfahren in der Besatzungszeit wurden allerdings begleitet von einem anschwellenden Chor öffentlicher Kritik, die den Besatzungsmächten Rachsucht unterstellte und von »Siegerjustiz« sprach. Neben Exponenten des Dritten Reichs – bekannt sind Ernst Achenbach und Werner Best – und einigen Wehrmachtsgeneralen beteiligten sich führende Angehörige der beiden Großkirchen an der exkulpierenden Debatte und forderten die Freilassung vulgo Begnadigung der zunächst noch unisono als »Kriegsverbrecher« bezeichneten Täter unterschiedlichster Kategorie.15 Die Debatte über die »Kriegsverurteilten« und die »Siegerjustiz« wurde lautstark geführt, mussten die Betroffenen die Internierungs- und Urteilspraxis doch delegitimieren, um sich selbst vom Ruch des Unrechts zu befreien.

Mit der Gründung der Bundesrepublik im Oktober 1949 zeigten solche Interventionen Erfolge. Damit verbunden waren Forderungen nach einem Ende der Entnazifizierung, einer Beendigung der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrecher und eine deutliche Veränderung in der Wahrnehmung der knapp fünf Jahre zuvor beendeten Diktatur. Die Besatzungsmächte und die sich in Bonn etablierende konservative Elite sahen sich unter wachsendem öffentlichen Druck. Adenauers Politik der alternativlosen Westbindung und der Remilitarisierung erforderte einen Ausgleich mit den mitgliederstarken und von ihren früheren Generälen dominierten Soldatenverbänden. Die neuen Eliten mussten sich mit den nationalsozialistischen Funktionären arrangieren, wenn sie in Bonn Staat machen wollten. Lutz Hachmeister spricht in diesem Zusammenhang von einer »durch die Ost-West-Konfliktlage« begünstigten Elitenkoalition zwischen der »genuin nationalsozialistischen Funktionselite mit den klerikal-konservativen Führungskräften der Adenauer-Administration«.16

Diese Koalition fand ihren Ausdruck u. a. darin, dass zu Beginn der 1950er-Jahre die meisten deutschen Politiker für eine Beendigung der Entnazifizierung und eine Begnadigung der Kriegsverbrecher eintraten.17 Sie konnte an ein grundlegendes und verbreitetes Unvermögen anknüpfen, die Niederlage mit der Geschichte des Dritten Reichs und der Unterstützung für seine Eliten in Zusammenhang zu bringen.18 Mit der Rehabilitierung der NS-Funktionsträger ging eine Relativierung ihrer Verbrechen einher, die zunehmend als irgendwie nicht vermeidbare Kollateralschäden im Kampf gegen den Bolschewismus hingestellt wurden. Unter solchen Auspizien setzten im Bundestag nach seiner Konstituierung 1949 Debatten über eine allgemeine Amnestie und die Begnadigung der von den Alliierten verurteilten Verbrecher ein, die begleitet waren von Forderungen nach einem Schlussstrich unter die leidige Entnazifizierung und die strafgerichtliche Ahndung. Solchen Forderungen folgte das im Dezember 1949 verabschiedete erste Straffreiheitsgesetz, das zahlreiche NSTäter straffrei stellte. Es enthielt zudem einen Paragrafen, der es abgetauchten Nationalsozialisten erlaubte, sich wieder zu ihrer Identität zu bekennen.19 In nicht direkter, aber doch mittelbarer Folge des Straffreiheitsgesetzes, ermutigt durch die öffentliche Debatte um die »Kriegsverurteilten« und gestützt durch die ungebrochene Personalkontinuität beim Justizpersonal, kam die strafrechtliche Ahndung von nationalsozialistischen Gewalttaten Anfang der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik nahezu vollständig zum Erliegen.20

Mit ihrer Entnazifizierung war der Weg frei für die berufliche Rehabilitierung der kleinen und großen Funktionsträger des Dritten Reichs.21 Der bereits begonnene Rückstrom der seit 1945 entlassenen Beamten und Angestellten in den Staatsdienst schwoll erheblich an. Die Bundesregierung ließ im vorläufigen Bundespersonalgesetz die im Beamtengesetz von 1937 enthaltene Treuepflicht zum Führer auf den demokratischen Staat umschreiben und warf damit nicht nur die Vorstellungen der Alliierten hinsichtlich einer Reform des Beamtentums über den Haufen, sondern nahm sich selbst für die Wiedereinstellung der Beamten in die Pflicht.22 Die durch die Entnazifizierung »verdrängten« Beamten drangen lautstark auf Wiedereinstellung bzw. Fortzahlung ihrer Gehälter und Pensionen. Im Frühjahr 1951 entsprach die Regierung ihren Forderungen durch das 131er-Gesetz. Es begründete einen individuellen Anspruch auf Wiedereinstellung oder Unterhaltszahlungen für Beamte, die bei der Entnazifizierung nicht in die Kategorien I und II (hauptschuldig und belastet) eingereiht worden waren. Doch auch für diese gab es Aus- und Umwege, beispielsweise für Polizeibeamte, die glaubhaft machen konnten, sie seien »von Amts wegen« zur Gestapo versetzt worden.23 Das Gesetz habe, so Wengst, »zur personellen Kontinuität des deutschen Beamtentums« beigetragen.24 Die Integration der Belasteten ging mit dem Verzicht auf Sanktionen gegen die Schuldigen einher, die allzu schnell in eine neue Normalität des schnellen Vergessens abtauchen konnten.

Gleichzeitig begann die öffentliche Kampagne für die von alliierten oder deutschen Gerichten wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilten Häftlinge Erfolge zu zeitigen. Sie wurden nun unterschiedslos zumeist als »im Ausland verurteilte Kriegsgefangene«, »sogenannte Kriegsverbrecher« oder »Kriegsverurteilte« bezeichnet. Regierung, Verteidiger der Inhaftierten, Nationalisten und die propagandistisch eingedeckte öffentliche Meinung in Westdeutschland konnten mehrere alliierte Gnadenaktionen durchsetzen.25 Die Generäle, die öffentlich, unterstützt durch Kirchen und mit positiver Resonanz in der Presse, gegenüber der Bundesregierung für die »Ehre« und damit für die Anerkennung der Unschuld ihrer untergangenen Wehrmacht und für die Entlassung der in Landsberg inhaftierten NS-Verbrecher eintraten, fanden seit dem Beginn des Krieges in Korea zunehmend Gehör.26 Es war der Wunsch, die Wiederbewaffnung zu stützen, der den amerikanischen Hochkommissar John J. McCloy 1951 dazu bewegte, sich und Adenauer durch zahlreiche Begnadigungen verurteilter Kriegsverbrecher die Gunst der alten Eliten zu sichern.27 Thomas A. Schwartz bewertet dies als einen wesentlichen Umschwung in der Beurteilung der Vergangenheit: »Wie immer im einzelnen motiviert, trug McCloys Entscheidung letztlich doch dazu bei, dass das Programm zur Bestrafung der Kriegsverbrecher abbröckelte. Das begünstigte den allgemeinen Gedächtnisschwund im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen, der in den 1950er-Jahren einsetzte. Das im Entstehen begriffene amerikanischdeutsche Bündnis gegen die Sowjetunion half mit, die hässliche Vergangenheit zu verdecken.«28 Claudia Fröhlich betont: »Während die Legitimität von Widerstand weitgehend negiert wurde, markierte die sich im Kalten Krieg verändernde Rolle Westdeutschlands, vom besiegten und besetzten Land zum politischen Verbündeten, den Beginn einer weitreichenden Rechtsprechung zugunsten der Täter sowie einer Exkulpation des nationalsozialistischen Unrechts durch die Rechtsprechung.«29

Gegen die gesellschaftliche Verankerung eines aus ihrer Mitwirkung im nationalsozialistischen Machtgefüge resultierenden moralischen Makels im kollektiven Gedächtnis wandten sich Diskurse, die von denjenigen getragen wurden, die seit 1949 wieder wichtige Ämter besetzten und ihre »Ehre« verteidigten. Ihnen musste daran gelegen sein, ihre Tätigkeit in den nationalsozialistischen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen als den Normalfall darzustellen. Ihr Bestreben, ihre Tätigkeit zu verharmlosen oder zu rechtfertigen, unterlegten einige mit dem erfolgreichen Versuch, Angehörige des Widerstands öffentlich als Volksverräter zu diskreditieren. Der Widerstand gegen Hitlers Machtapparate wurde als zutiefst fragwürdig und letztlich gegen die »Volksgemeinschaft« gerichtet dargestellt, obwohl dieser Begriff zumeist vermieden wurde.30 Der Vorwurf des Verrats am Vaterlande wog dann besonders schwer, wenn er durch die Zusammenarbeit mit einem Feind bedingt war, von dem sich abzeichnete, dass er erneut der Feind sein würde: die Sowjetunion bzw. der Kommunismus.31 Die öffentliche Auseinandersetzung um die Rote Kapelle gehört zu einem Diskurs, den Funktionsträger und Opfer des Nationalsozialismus öffentlich um die politische Ordnung in Westdeutschland, ihre Position darin und um die Bewertung des Dritten Reichs führten.

In die Enge getrieben sahen sich Angehörige der Minderheit, die nicht müde wurden, auf die Schuld der Täter zu verweisen und an die Folgsamkeit der Massen zu erinnern. Dominik Rigoll hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Beharren auf kollektiv begangenem Unrecht und individueller Schuld nach 1949 vor allem von Kommunisten, einigen linken Sozialdemokraten und wenigen unverwüstlichen Linksliberalen ausging.32 Gegen sie richtete sich der Hass der alten Eliten umso mehr, als sie bis 1945 davon ausgehen konnten, dass sie diesen Feind weitgehend eliminiert hätten. Ihr handfestes Misstrauen erstreckte sich nicht nur auf die Kommunisten, sondern auch auf jene Gegner und Opfer der Nationalsozialisten, deren Zeugenschaft von denen gefürchtet wurde, die gerade dabei waren, sich wieder zu etablieren und sich von ihrer Vergangenheit wenigstens nominell zu distanzieren. Ihr Ressentiment wurde von den Kameraden mitgetragen, die in den bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden untergekommen waren.33

Die Debatte um die Bewertung individueller Haltungen während der Zeit des Nationalsozialismus wurde vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges und unter dem Eindruck der in Westeuropa und den USA virulent werdenden antikommunistischen Strömungen geführt. Der Antikommunismus der 1950er-Jahre sollte die Bevölkerungen für den Ost-West-Konflikt mobilisieren und in der Bundesrepublik Loyalitätsbindungen stärken.34 Er speiste sich aus verschiedenen Wahrnehmungen, geistigen Strömungen und Motiven und bot unterschiedlichen politischen Haltungen Anschlussmöglichkeiten. Zunächst einmal verfolgte die Sowjetunion seit Ende des Weltkriegs mit der Errichtung von abhängigen Satellitenstaaten im östlichen Europa eine expansive Strategie. Stalins Politik löste schon im letzten Kriegsjahr ein deutliches Unbehagen bei den Amerikanern aus.35 Die ersten Sorgen rief die kommunistische Machtübernahme in Polen 1945 hervor. Politiker in den USA verdächtigten Stalin 1946/47, die Kommunisten im Bürgerkrieg in Griechenland zu unterstützen, tatsächlich unterstützte er 1946 die kurdische Republik auf dem Territorium des Irans und 1948 übernahmen die Kommunisten im Februarputsch in Prag die Macht. Mit der Blockade Westberlins schließlich versuchte er die Westalliierten aus Berlin herauszudrängen. Das Abrücken von gegebenen Zusagen und die mit Stalins Bestreben, sich einen die Sowjetunion umgebenden Sicherheitsgürtel zu verschaffen, verbundene Expansion veränderte die westliche Sicht.36 Die Wahrnehmung der Bedrohung intensivierte sich mit der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht in ihrer Besatzungszone und ihrem Verhalten gegenüber den Westmächten in Fragen der Regierung Deutschlands.37

Zudem trat im entstehenden Ostblock der Diktaturcharakter kommunistischer Herrschaft für westliche Beobachter klarer zutage als in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit, wobei entsprechende Wahrnehmungen nach dem eher unfreiwilligen Beitritt Stalins zur Anti-Hitler-Koalition durch die gemeinsamen Kriegsanstrengungen zeitweilig überdeckt worden waren. Nach 1945 hatte der Kommunismus seinen utopischen Glanz weitgehend verloren und in Osteuropa seinen emanzipativen Anspruch de facto aufgegeben.38

Angesichts der Perzeption der Sowjetunion als expansiv und ihrer Herrschaftspraxis als totalitär erschienen die kommunistischen Parteien und ihre Mitglieder im Westen, verstärkt durch die stalinistische Prägung der Parteiführungen und ihre Ausrichtung auf die Parteiführung in Moskau, immer weniger als eigenständige Akteure. Zwar versuchte die KPdSU, ihre Bruderparteien für die eigenen Ziele einzuspannen, und das ist ihr durchaus in einem gewissen Umfang gelungen. Jedoch greift die Vorstellung von den kommunistischen Parteien als reinen Handlangern Moskaus zu kurz, da es innerhalb dieser Parteien konfligierende Zielsetzungen gab und die allzu offensichtliche Anlehnung an Moskauer Vorstellungen ihre Mobilisierungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte. Es waren gerade diese Ambivalenzen, welche die Vorstellung hervorbrachten, dass Kommunisten ihre Einflussnahme hauptsächlich verdeckt vortrugen. In der berühmt gewordenen Rede, mit der Winston Churchill 1946 im Fulton College sein Unbehagen formulierte, sprach er nicht nur vom Eisernen Vorhang, der sich zwischen Ost- und Westeuropa herniedersenke. Er betonte, dass dieser einseitig durchlässig sei für die ideologische Diversion des Kommunismus, welche im Westen aufgrund der Unterstützung durch fünfte Kolonnen Wirkung entfalten könne.39 Vor diesem Hintergrund wurde kommunistischer Politik auch in der Bundesrepublik ihre Legitimität grundsätzlich aberkannt, da sie nichts anderes sei als die Begünstigung des äußeren Feindes und eine Bedrohung der westlichen Zivilisation.40 Damit ging einher, dass kritische Stimmen, die auf der Belastung Deutschlands durch seine Vergangenheit beharrten, unter den Verdacht gestellt wurden, heimliche Agenten der Kommunisten und der Sowjetunion zu sein. Die Identifizierung von äußerem und innerem Feind verfehlte als diskursive Strategie der Marginalisierung ihre Wirkung nicht. Sie sollte den Kommunisten, die sich in Westeuropa nicht zwischen ihrem emanzipativem Anspruch und der Treue zu Moskau entscheiden konnten, und ihren »Fellow Travelers« den politischen Boden entziehen.

Die Wahrnehmung der westlichen Kommunisten als Agenten Moskaus erfuhr eine Verstärkung, als in den USA und Großbritannien nach dem Krieg ruchbar wurde, dass einzelne Parteimitglieder sich in den 1930er- und 1940er-Jahren von sowjetischen Geheimdiensten für Spionagetätigkeiten gegen ihre Länder hatten brauchen lassen. Zwar wurden die Beweise hierfür, weil sie aus der Entschlüsselung des Funkverkehrs der KP-Leitungen und der diplomatischen Vertretungen mit Moskau gewonnen worden waren, nur wenigen Menschen zugänglich gemacht, die Schuldvorwürfe aber im Zusammenhang mit mehreren spektakulären Strafprozessen propagandistisch verbreitet.41 Zwar professionalisierte sich die sowjetische Spionage seit Kriegsende und ihre Agenten wurden seltener unter den Parteimitgliedern des Ziellandes angeworben, aber die intensive Propaganda anlässlich der Prozesse gegen Alger Hiss und Klaus Fuchs, die 1950 wegen Verrats von geheimen Informationen über die amerikanische Atombombe verurteilt wurden, sowie beim Verschwinden des Physikers Bruno Pontecorvo 1950 aus den USA und von Guy Burgess und Donald Maclean 1951 aus Großbritannien, die alle in Moskau wieder auftauchten, hat wesentlich dazu beigetragen, die Angst vor Unterwanderung zu schüren.42

Im Diskurs über Spionage und Unterwanderung wurde die Identifizierung von äußerem und innerem Feind verifiziert, an den sich Befürchtungen und gelegentlich Hysterie in Form von moral panics anschließen konnten. Die propagierten Feindbilder waren jedoch weitgehend irrational und ihnen lagen deutlich überzogene Vorstellung zugrunde: »Dabei standen die perzipierte und die tatsächliche Gefährdung in keinerlei Verhältnis zueinander.«43 Die öffentliche Wahrnehmung wurde von propagandistischen Kampagnen geprägt, die eine hysterische Wachsamkeit erzeugten und Bedrohungsängste schürten.44 Allerdings bedienen sich Strategien, die darauf abzielen, durch Angst zu mobilisieren, häufig solcher Übertreibungen.45 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass im Osten zu dieser Zeit ähnlich aufgeregte Wachsamkeitskampagnen stattfanden, bei denen Liberale, frühere Sozialdemokraten und angebliche Trotzkisten aufgespürt und als Agenten des Westens in Schauprozessen öffentlich vorgeführt wurden.46

Die Wahrnehmung sowjetischer Expansion und kommunistischer Herrschaftspraxis verband sich mit Infiltrationsängsten – und der als Spionage tatsächlich vorhandenen Bedrohung – mit älteren Geisteshaltungen und politischen Strömungen der Zwischenkriegszeit, auf deren Boden bereits die Diktaturen und autoritären Herrschaftsformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprossen und in Europa herangereift waren. Im Gefolge der russischen Revolution und den Verschiebungen im Staatengefüge Mitteleuropas, durch die sich die Revolutionsfurcht der bürgerlichen Eliten angesichts politischer Instabilität radikalisierte, war ein Antikommunismus entstanden, der sich gegen den emanzipativen Anspruch der sozialistischen Bewegung richtete. Er konnte an antimoderne und antiliberale Strömungen anknüpfen, die seit 1789 in Europa verbreitet waren. Diese heterogenen Stränge verbanden sich nach den Zweiten Weltkrieg zu einem modifizierbaren Amalgam: Die verschiedenen Elemente, aus denen es sich jeweils zusammensetzte, waren bei den politischen Akteuren unterschiedlich stark ausgeprägt.47

Für die USA sind das geistige Amalgam des Antikommunismus und seine Verwendung als politisches Instrument gut erforscht. Dort speiste sich der antikommunistische Diskurs, Regin Schmidt und Landon Storrs haben das mit guten Argumenten vertreten, bereits in den 1920er-Jahren wesentlich aus antiliberalen Strömungen, die sich gegen Sozialisten, Liberale und insbesondere Gewerkschafter jeder Couleur richteten. Seine Protagonisten suchten die entstehenden Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegungen einzudämmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften Konservative und Rechtsextreme daran an.48 Verstärkt seit 1947 verbreitete sich eine Beunruhigung über die kommunistische Bedrohung aus dem Inneren, die sich zu einer regelrechten Infiltrationshysterie auswuchs. Der einsetzenden Hexenjagd lag ein tief gehender Dissens der Konservativen, die jetzt an die Macht drängten und von denen die Kampagne getragen wurde, über die Ordnung der Gesellschaft zugrunde. Sie teilten und instrumentalisierten eine Auffassung von der Macht kommunistischer Verführung und von den wenig gefestigten Mitläufern, die solchen Einflüsterungen erlägen, wie sie bei Churchill zum Ausdruck kommt. Solche Vorstellungen wurden von den antikommunistischen Ausschüssen und Senator Joseph McCarthy in Umlauf gebracht.49 Motiviert und massentauglich wurde der militante Antikommunismus wohl auch durch verunsichernde gesellschaftliche Veränderungen in den USA.

Die nach dem Krieg erneuerte Kampagne richtete sich nicht nur gegen Kommunisten, von denen man glaubte, sie unterzögen andere einer Gehirnwäsche, sondern auch gegen Liberale, Feministinnen (und Feministen) und demokratische Sozialisten. Richard M. Fried urteilte: »Beset by Cold War anxieties, Americans developed an obsession with domestic communism that outran the actual threat and gnawed at the tissue of civil liberties.«50 Der Zeitgenosse Richard Hofstadter sprach, noch deutlicher, von einer »atmosphere of fervent malice and humorless imbecility stirred up by McCarthy’s barrage of accusations«.51 Einige der Betroffenen hatten zwar mit sozialistischen Ideen geliebäugelt und Einzelne konnten in den 1950er-Jahren als kommunistische Spione enttarnt werden, die meisten waren aber keine Kommunisten, wie Hofstadter betont:

The real function of the Great Inquisition of the 1950’s was not anything so simply rational as to turn up spies or prevent espionage (for which the police agencies presumably are adequate) or even to expose actual Communists, but to discharge resentments and frustrations, to punish, to satisfy enmities whose roots lay elsewhere than in the Communist issue itself. […] Had the Great Inquisition been directed only against Communists, it would have tried to be more precise and discriminating in its search for them: in fact its leading practitioners seemed to care little for the difference between a Communist and a unicorn. […] The inquisition were trying to give satisfaction against liberals, New Dealers, reformers, internationalists, intellectuals, and finally even against a Republican administration that failed to reverse liberal policies.52

Der militante Antikommunismus, der vorgeblich die amerikanischen Freiheiten gegen die kommunistische Subversion verteidigte, wurde instrumentalisiert, um als »Fellow Traveler« bezeichnete Menschen aus der Bürokratie und dem öffentlichen Leben zu entfernen und sie aus dem politischen Leben auszuschließen. Mit ihnen sollte ihre Gedankenwelt als »unamerikanisch« gebrandmarkt werden. Dabei wurde von der Technik Gebrauch gemacht, frühere Mitgliedschaften in der Kommunistischen Partei oder in sogenannten Front- oder Tarnorganisationen, zu denen jetzt zahlreiche liberale Gruppierungen und Friedenskreise gerechnet wurden, zu kriminalisieren. Verbindungen irgendwelcher Art zu Kommunisten oder solchen, die dafür galten, wurden gefährlich. Die Weigerung, gegenüber den Senatsausschüssen Freunde, Kollegen und Verwandte zu denunzieren, führte zu Gefängnisstrafen.53 Dabei bildete sich in den Vernehmungen der zahllosen Komitees und Überprüfungsausschüsse ein Muster heraus, das aus den Ketzerverfolgungen des Mittelalters und der Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit bekannt ist. Durch den Zwang, Mitverschworene zu benennen, um sich selbst vom Verdacht zu reinigen, entstanden regelrechte Denunziationsketten, die eine Ausweitung der Verfolgung bewirkten und den Anschein eines klandestinen Netzes von amerikafeindlichen und moskauhörigen Abtrünnigen verstärkte.54 Bloßer Kontakt konnte einen Verdacht begründen und angesichts der aufgeheizten Stimmung Schuld generieren (»guilty by association«). Erst Mitte der 1950er-Jahre – die Republikaner stellten mittlerweile den Präsidenten, weshalb sie diese Waffe gegen die Demokraten nicht mehr benötigten, und McCarthy hatte mit seinen Angriffen auf das Militär den Bogen überspannt – ist ein Abklingen der Kampagne zu verzeichnen.55

In Westdeutschland hatte die Auseinandersetzung um den Kommunismus einerseits noch Anklänge an den antibolschewistischen Impetus der Nationalsozialisten.56 Sie war andererseits geprägt durch die Erfahrung der Teilung.575859