image

BRAUNER • WERKAUSGABE BAND 11

Die in diesem Band erstmals gemeinsam publizierten
Stücke wurden im Zeitraum zwischen 1960 (»Das Kreuz«)
und 2010 (»Philemons Sohn«) verfasst.

ERNST BRAUNER

Theater

Image

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung der Stadt Wien.

Image
Image

A-9020 Klagenfurt/Celovec, •.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 370 36, Fax + 43(0)463 376 35
office@wieser-verlag.com
www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 2016 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99047-057-2

Inhalt

Das Kreuz

Oratorium für Wölfe

Zwei Einakter

Sein bester Freund

Die Bössin

Wir, Kaiser von Haiti

Philemons Sohn

Rosenbaum, König der Juden

DAS KREUZ

Schauspiel in 3 Akten und 5 Bildern

 

Personen:

Lucien

Rocky Morone

Der Pfarrer

Debres, ein ehemaliger Richter

Luigi

Jacques

Giaffino

Mariuccia, eine Stumme

Ein Alter

Ein Betrunkener

Eine Frau

Männer, Frauen, »Jünger«, Kinder

Das Stück spielt auf Korsika, um die Osterzeit.

 

ERSTER AKT

1. Bild

(Erhöhter Platz im Dorf. Hinten die Kirche, links und rechts, bereits an den abfallenden Flanken des Hügels, verhältnismäßig hohe, schmale Häuser, wie auch die Kirche aus rohen, nur notdürftig übertünchten Mauern; nur die Fensterläden leuchten blau – blau wie der tiefe Himmel über diesem grauen Stein. Es ist seltsam mit diesem Platz: Menschen können hier mitten im warmen, strahlenden Licht der Sonne stehen, sich strecken und regen und lachen, und sind doch immer wie zwischen den Mauern eines Gefängnisses, dem sie nie entrinnen. – Vor der Kirche stehen zwei hölzerne Kreuze, wie man sie von Bildern der Passion Christi kennt; ein drittes in der Mitte, ist eben von zwei Männern aufgerichtet worden und wird noch gehalten. Die beiden Männer sind LUIGI, ungefähr 50, und JACQUES, ungefähr 20 Jahre alt, zwei Zimmerleute. Vor ihnen steht DEBRES, ein pensionierter Richter. Links an der Hauswand lehnt GIAFFINO, ein jüngerer Polizist, und sieht misstrauisch zu.)

LUIGI: Jedes Jahr wird es größer, das Kreuz, und schwerer. Ich möchte wissen, warum!

DEBRES: Warum? Das muss so sein! Noch etwas nach rechts, Luigi!

LUIGI: (verschiebt das Kreuz mit Jacques) Etwas nach rechts, etwas nach links, weiter vor, weiter zurück! Wozu soll das gut sein? Wir tragen es ohnedies wieder weg!

DEBRES: Du verstehst nichts von der Kunst, Luigi. Warst du schon einmal im Theater?

LUIGI: Nur im Kino!

DEBRES: Eine ordentliche Premiere braucht eine harte Probe! Applaus kostet Schweiß!

LUIGI: Theater, Herr? Das ist kein Theater! Wir brauchen keinen Applaus!

DEBRES: Schon recht, mein Freund. Ihr braucht keinen Applaus! Aber das Geld steckt ihr ein, das die Fremden dalassen! Wie war das, bevor ich gekommen bin? Ein simples Spiel – nicht mehr! Und eine Gelegenheit, sich nachher zu besaufen und Händel zu suchen! Eine schöne Passion! Genau so wird der da oben es sich vorgestellt haben!

GIAFFINO: Glauben Sie, so hat er sich’s vorgestellt, wie Sie es aufziehen? Golgatha zu mäßigen Preisen! Wenn möglich mit Wochenschau und Fernsehen!

DEBRES: Oh, er hat nichts dagegen, wenn Geld ins Haus kommt! Und es kommt Geld ins Haus, auch in seines! Vor zehn Jahren tauchten die ersten Fremden auf. Ich habe sie eingeladen, ich persönlich! Und seither kamen jedes Jahr ein paar Hundert mehr. Ihr habt einen Ruf bekommen! Und drei Kreuze im Fremdenführer!

LUIGI: Schon recht Herr, wir sagen ja nichts mehr! (Rückt das Kreuz) Steht es so gut?

DEBRES: Lass stehen! Prächtig! Wie auf einem Gemälde!

JACQUES: Ist es wahr, dass ein Krimineller kommt? Ein richtiger Schwerverbrecher?

GIAFFINO: Ja, einer, den die Polizei auf der ganzen Welt jagt! Ein Vieh, eine bluttriefende Bestie – aber hier wird er mit allen Ehren empfangen werden. Wie ein gekröntes Haupt! Wie der Heilige Vater selber!

DEBRES: Und du musst dabeistehen, mein Junge, was? Und die Handschellen zwicken dich in der Tasche, und der Revolver juckt dir in der Hand, ha ha!

GIAFFINO: Ich muss mich über Sie wundern, Herr! Sie waren doch auch einmal Rechtsanwalt oder so etwas!

DEBRES: Richter, mein Junge! Fünfundzwanzig Jahre lang! Zuerst in Paris und dann in eurem verfluchten Ajaccio!

GIAFFINO: Richter! Und da finden Sie das in Ordnung, was hier jedes Jahr vorgeht? Finden Sie das im Sinne der Gerechtigkeit?

DEBRES: Es ist das Vorrecht der Pensionisten, sich an ihrem alten Beruf zu rächen. Was aber dich betrifft, so sprichst du das Wort Gerechtigkeit wirklich leichthin aus! Wenn du das meinst, was in unseren Gesetzbüchern steht, so habe ich – dem Himmel sei Dank! – nichts mehr damit zu schaffen – das heißt höchstens passiv wie jeder andere Staatsbürger auch. Wenn du aber jene Gerechtigkeit meinst, die riesengroß hinter all den Büchern hockt, die unnahbare, geheimnisvolle … – so muss ich dir sagen: Sie ist mir unheimlich. Ich will nichts von ihr wissen! (Deutet auf das Kreuz) Und auch er hielt nicht viel von ihr! Er starb – und brachte Gnade in die Welt statt Gerechtigkeit!

GIAFFINO: Worte, Herr, schöne Worte! Aber hohle Worte! Man weiß, dass Sie ein Atheist sind, ein Gottesleugner, der die Kirche nur betritt, um mit dem Pfarrer in der Sakristei eine Partie Karten zu spielen!

DEBRES: Oh, oh, oh! Im Übrigen – was willst du? Er gewinnt ohnedies immer! Ich nehme ihm nichts! (Deutet zum Kreuz) Ich nehme ihm auch nichts! Im Gegenteil: Ich bemühe mich sogar um mehr Glanz für sein Spiel! Mit dem nötigen Abstand, versteht sich! Den braucht man – das ist ein Stilprinzip, eine klassische Regel!

GIAFFINO: Ach was, Sie drehen es, wie Sie es brauchen! (Er schlendert ärgerlich davon.)

LUIGI: (schlägt auf das Kreuz) Können wir es jetzt niederlegen?

DEBRES: Ja, aber markiert euch zuerst den Platz! Und dann grabt ein wenig auf, damit es morgen schnell geht!

LUIGI: (Kratzt mit den Füßen eine Markierung) Graben! Wir sind Zimmerleute, keine Totengräber! (Zu Jacques) Heb an! (Sie legen das Kreuz gemeinsam auf den Boden) Warum scharrt er sich das Loch für sein Kreuz nicht selber?

DEBRES: Ein wenig Zuvorkommenheit kann nie schaden. Wir wissen ja auch gar nicht, wer er sein wird …

JACQUES: Also – ich verstehe noch immer nicht ganz …

LUIGI: (zu Debres) Er ist erst vor drei Tagen herübergekommen. Aus Nizza!

DEBRES: Oh, Nizza! Monte Carlo! Das Kasino, die Nelkenfelder und die schönen Frauen, die eleganten Frauen! Was zum Teufel, mein Junge, haben Sie da bei uns verloren? Bei unseren schmierigen Weibern! Bei unseren grauen Mauern! Bei unseren stinkigen Schafen und dürren Krämern!

JACQUES: Sie zahlen guten Lohn! Und man spart hier leichter! Ich will mich nämlich selbstständig machen – später!

DEBRES: Selbstständig! Was für ein Wahn! Und dafür lässt er Nizza, das Lachen, die Liebe … Oh, mein armer, verblendeter Freund!

JACQUES: Sie leben auch hier!

DEBRES: Am Ende, mein Freund, am Ende eines nicht ganz unlustigen Lebens, aber nicht in selbstverschuldeter Verbannung! Aber ich bereue nichts! Außerdem habe ich hier eine Aufgabe gefunden! Sie werden sehen – morgen!

JACQUES: Morgen! Seit ich hier bin, reden alle in Andeutungen davon, aber keiner rückt offen mit der Sprache heraus!

DEBRES: Oh, das sieht ihnen gleich, diesen dummen Hirten und Ölquetschern! Sie sind abergläubisch wie alte Marktweiber …

LUIGI: Haben wir dir nicht gesagt, dass wir eine große Prozession machen: mit einem Herrn Christus und allen Jüngern, und dass wir ein Kreuz aufstellen? Hier das dritte in der Mitte?

DEBRES: Aber das Kreuz trägt nicht euer Herr Christus, sondern ein Sünder, einer von dem man es weiß, dass er es ist: ein waschechter Galgenbruder, mit einem Wort!

LUIGI: (zu Jacques) Haben wir dir das nicht gesagt?

DEBRES: Und der Kerl hat sozusagen freies Geleit. Er taucht irgendwo auf der Insel auf, kommt hierher, trägt das Kreuz und verschwindet wieder, ohne dass einer einen Finger rührt, ihn zu fassen.

JACQUES: Aber ich begreife nicht …

DEBRES: Oh, ich sagte dir doch, sie sind abergläubisch. Wenn sie schon keinen echten Christus haben, wollen sie wenigstens einen echten Barrabas. Für sie kommt es auf eins heraus: Wo Christus, ist auch Barrabas, und wo ein Barrabas, wird wohl auch ein Christus sein!

LUIGI: Es ist eben ein alter Brauch, sonst nichts!

DEBRES: Analysen liebt man hier nicht, wie Sie sehen. Vielleicht weil Analysen immer etwas Zynisches an sich haben – je besser sie sind, desto mehr davon. Und den Zynismus haben diese Bauern noch nicht entdeckt: Sie schmecken ihn genauso wenig auf der Zunge wie eine teure Sauce aus erlesenen Zutaten. Sie wollen ihr Hammelfleisch und ihren trockenen Käse! Besser verstehen sie es nicht!

LUIGI: (halsstarrig) Es ist der Brauch so!

DEBRES: Ja, vor hundert Jahren oder länger fing es an. Da kamen die Tollköpfe, die ihrem Nachbarn aus Familientradition die Gedärme aus dem Leib gerissen hatten, aus ihren Verstecken in den Bergen herunter, und man ließ sie ihr Kreuz tragen. Das war immerhin so etwas wie eine ritterliche Geste. Aber später tauchte dann alles mögliche Gesindel auf: die Diebe und Halsabschneider von der ganzen Insel. Weiß der Henker, was sie hertrieb. Jetzt kommen sie schon vom Festland herüber, Jahr um Jahr. Beim Pfarrer sind sie bereits auf zehn Jahre voraus angemeldet. Und wir könnten pro Jahr ein Dutzend Barrabase haben. Und jeder lässt ein paar tausend Franc in der Sakristei, verstehen Sie das?

JACQUES: Und die Polizei?

DEBRES: Schaut an diesem Tag besser zur Seite! Einmal, vor zehn Jahren, versuchte sich solch ein uniformierter Tölpel dabei, einen Stern zu verdienen. Dem haben sie aber übel mitgespielt! Lag nachher zwei Wochen im Spital und kam auch nicht wieder hierher zurück. Sie haben ihn versetzt, von Ajaccio aus!

JACQUES: Von Ajaccio aus?

DEBRES: Natürlich! Glaubst du, die sind auf dem Kopf gefallen? Ein Barrabas beim Fest gefasst und nie wieder ein Barrabas in der Grube! Nein, sie lassen ihn hinaus, aber heften sich an seine Fersen. Meistens sind die Halunken zwar doch schlauer und verschwinden, als hätte sie der Erdboden verschlungen. Manchmal aber erwischt man doch einen – Monate nachher!

LUIGI: Weil sie sich erwischen lassen! Weil sie das Kreuz, das sie auf den Schultern gespürt haben, zu Ende tragen wollen …

DEBRES: Vielleicht! Jedes Ding hat immer viele Seiten – auch für uns Realisten!

(Während des Folgenden kommt MARIUCCIA, ungefähr 30 Jahre alt, eine Frau von verwilderter und bereits verloren gehender Schönheit, in einem grellroten Kleid, einen Wasserkrug auf dem Kopf. Bei den Kreuzen bleibt sie stehen, nimmt den Krug ab, lehnt sich rastend an das eine Kreuz und sieht JACQUES unverwandt an.)

DEBRES: (fährt fort) Dein Kreuz zum Beispiel, Luigi! Wie leicht hätte es ein Sarg werden können oder eine Wiege! Aber es ist ein Kreuz geworden. Und in einer Woche wird Mariuccia es vielleicht zersägen und in ihren Herd werfen, um einen ihrer Liebhaber mit einem guten Essen zu ermuntern!

LUIGI: (fährt Mariuccia an) Musst du gerade da herumstehen?

MARIUCCIA: (gibt keine Antwort und sieht Jacques weiter unverwandt an)

DEBRES: Warum schreist du sie an? Warum soll sie nicht hier stehen? Sie macht sich sogar sehr dekorativ! Wartet einmal – vielleicht können wird das für morgen verwerten! Maria Magdalena unter dem Kreuz! Maria Magdalena! Ha ha ha!

LUIGI: Was gibt’s da zu lachen, Herr?

DEBRES: Schau, wie sie deinen Kameraden anstarrt! (Zu Jacques) Sie verschlingt Sie mit den Augen. Und unter uns gesagt: sie ist noch eines von den reinlichsten Weibern hier. Aber sie ist stumm!

JACQUES: Oh –!

DEBRES: Sie gefallen mir! Für einen bunten Fetzen Stoff oder ein paar Nylons tut sie Ihnen, was Sie wollen! Sie ist gar nicht spröde, das Luder! (Er fasst sie am Arm)

MARIUCCIA: (schüttelt Debres’ Hand ab, ohne hinzusehen, und lächelt Jacques an)

LUIGI: (ergreift Mariuccias Krug und drängt ihn ihr auf) Mach, dass du jetzt fortkommst!

(MARIUCCIA nimmt den Krug und verschwindet in das Haus rechts)

LUIGI: (zu Debres) Sie sollten nicht so viel von ihr reden!

DEBRES: Warum nicht? Habt ihr etwas für sie getan? Hat einer von euch ihr zum Fressen und Anziehen gegeben? Ihr habt sie alleine stehen lassen, wie sie sich fortbringt. Nun, sie hat sich fortgebracht, so gut sie konnte.

LUIGI: Man redet wenigstens nicht darüber!

DEBRES: Große Warenhäuser bezahlen einen eigenen Werbechef, damit er ihre Artikel unter die Leute bringt. Warum sollte Mariuccia etwas dagegen haben, wenn man ein wenig Propaganda für sie macht? – Maria Magdalena unter dem Kreuz – das finde ich ausgezeichnet. Ein echter Barrabas, eine echte Maria Magdalena – das muss ich unserem Pfarrer schmackhaft machen!

JACQUES: Ist sie seit Geburt stumm?

LUIGI: Nein!

DEBRES: Das ist eine von vielen blutigen Geschichten dieser Insel. (Zu Luigi) Erzähl sie ihm!

LUIGI: Erzählen Sie selber, Herr! Das ist doch Ihr Ressort!

DEBRES: (zu Jacques) Haben Sie schon von Morone gehört?

JACQUES: Von Morone …?

DEBRES: In Amerika nennen sie ihn Rocky! Er hat eine internationale Karriere gemacht, die Zeitungen schreiben jedes Jahr von ihm!

JACQUES: Rocky … Rocky Morone … Jetzt erinnere ich mich!

DEBRES: Ein veritabler Gangster, auf den drüben der elektrische Stuhl wartet!

LUIGI: Wenn sie ihn erwischen!

DEBRES: (zu Jacques) Merken Sie, man hat hier seinen Lokalstolz! Morone ist nämlich von hier! Hier begann er seine Laufbahn! Vor fünfzehn Jahren gab es da einen Sonderling im Ort, einen verrückten Alten, Parrault mit Namen. Wollte einmal nach Kupfer graben. Dann wieder eine Spinnerei bauen. Hatte immer tolle Pläne im Kopf und viel Geld in der Lade. Jawohl, Geld und Schmuck, man hat’s bei ihm gesehen! Eines Morgens fand man ihn dann mit eingeschlagenem Schädel. Und Morone fort, mit ihm das ganze Geld und die Steine.

JACQUES: Und Mariuccia?

DEBRES: Ach ja, Mariuccia …! Bevor Morone verschwand, gab er noch eine Vorstellung, hier auf dem Platz. Ich habe es ja nur erzählen hören, aber du warst doch dabei, Luigi … So rede doch!

LUIGI: Ja, also … es war Sonntag. Wir wollten gerade in die Kirche und stehen noch so auf dem Platz herum. Da taucht Morone auf – die Geschichte mit Parrault war noch nicht entdeckt – und geht auf Mariuccia zu, die damals noch ganz jung war, mit langem, dickem, schwarzem Haar, und sie trug es offen wie heute, verstehst du? Morone geht also auf sie zu, ganz ruhig, wie auf dem Tanzboden, plötzlich fährt er mit einer Hand in ihr Haar und wickelt es blitzschnell um sein Handgelenk, dass es ihr den Kopf hochreißt …

JACQUES: Und …?

DEBRES: … in der anderen Hand schwingt der Kerl ein Messer und schneidet ihr den Hals durch. Wie einem Huhn, mit einem einzigen Schnitt.

LUIGI: Bevor wir noch begriffen hatten, was geschehen war, war er schon fort. Mariuccia lag da – in einer Lache Blut – mit aufgerissenen starren Augen. Wir dachten, jetzt ist sie tot, aber sie röchelte noch!

DEBRES: Es muss ein Wunder gewesen sein, doch man brachte sie noch lebend ins Spital. Der Schnitt war zwar durch die ganze Kehle gegangen. Aber sie nähten sie irgendwie zusammen. Nur die Stimme war verloren. Und noch etwas … (Er deutet sich an den Kopf) Man sagt der Schock …!

JACQUES: Entsetzlich!

DEBRES: Oh, das ist nur eine kleine Episode! Es gibt noch viel blutrünstigere Geschichten hierzulande! Aber die Sonne scheint über Gute und Böse, golden und warm. Und der Himmel – schau ihn die an, mein Kleiner, wie tief und blau er ist – der zuckt mit keiner Braue! Und da heißt mich dieser gelbe Hohlkopf Giaffino einen Atheisten! Als ob man eine andere Wahl gehabt hätte! Glaube mir, was Bestand hat, ist immer nur die Dekoration. Darum spielen wir morgen die Passion. Und es soll eine schöne Prozession werden! Mit einem echten Sünder unter dem Kreuz, in einer grellroten Kutte, dass es euch kalt über den Rücken läuft, selbst den Fremden, die dafür bezahlen. Und diese Bilder, die euch schaudern machen, sind auch wahrhaftig das Einzige, was wir von Gott verstehen können!

(In diesem Augenblick hört man laute Rufe von links, die zum Gebrüll einer großen Menschenmenge anschwellen. Dazwischen hört man Detonationen kleiner Böller. Männer, Frauen Kinder laufen von rechts nach links über die Bühne, dem Erwarteten entgegen.)

JACQUES: Was ist das?

EINE FRAU: (läuft mit zwei Kindern an der Hand vorbei) Er ist da!

DEBRES: Wer?

DIE FRAU: Er!

DEBRES: Zum Teufel …!

DIE FRAU: Er wirft Geld unter die Kinder! Kommt! (Zerrt die Kinder mit sich davon)

(Von rechts kommt LUCIEN, der Lehrer, ein junger Mann von ungefähr 30 Jahren, von DEBRES mit Spott begrüßt.)

DEBRES: Wo ist Ihre Klasse, Lucien? Ich dachte, Sie rückten mit allen Ihren Schülern zum Empfang aus, die Burschen gewaschen, die Mädchen im weißen Kleid mit Blumen auf dem Arm. (Zu Jacques) Das ist unser Lehrer, wissen Sie! (Zu Lucien) Haben Sie kein frommes Lied zur Begrüßung einstudiert?

LUCIEN: (zitiert) »Viel Volks breitete die Kleider auf den Weg. Die anderen hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna!«

DEBRES: Ja – aber sie schreien es nicht mehr dem Erlöser, wie damals. Sie schreien es dem Schächer, dem Erzverbrecher, dem Massenmörder! – Hosianna! Hosianna!

(Währenddessen kommt von links ROCKY, in weißem Anzug und Hut, mit Sonnenbrille, von einer dichten, brüllenden Menschenmenge umringt. GIAFFINO versucht vergeblich, die Menschen wegzudrängen. MARIUCCIA kommt aus dem Haus rechts und schiebt sich näher.)

ROCKY: (schwenkt lachend die Hände in der Luft wie ein Triumphator und wirft zwischendurch Münzen in die Menge) Ich bitte euch, lasst mich durch! – Ihr zerdrückt mich ja, Leute! Lasst noch etwas von mir übrig!

DIE MENSCHEN: Trag unser Kreuz! Du wirst es tragen! Feste Schultern hat er – das ist wahr! Seht doch – das viele Geld! Er hat ein gutes Herz, er beschenkt die Kinder! Ruft »Bravo!«, Kinder! Bravo! Bravo! (Sie heben Rocky auf ihre Schultern.)

GIAFFINO: Ruhe! Ruhe! Blödes Pack!

ROCKY: Da habt ihr, da! Trinkt auf meine Gesundheit! (Streut Geld unter die Leute, dann nimmt er seine Sonnenbrille ab und winkt damit)

MARIUCCIA: (erkennt Rockys Gesicht und stößt einen markerschütternden, unartikulierten, tierischen Schrei aus, der schauerlich nachhallt. Der vielstimmige Lärm bricht ob der Wildheit des Schreis ab)

(Alle schauen entsetzt auf Mariuccia; auch Rocky blickt verwirrt von den Schultern seiner Träger herab.)

MARIUCCIA: (heult ein zweites Mal auf, dann rast sie wie besessen davon)

GIAFFINO: (erkennt Rocky gleichfalls und stürzt sich brüllend auf ihn) Er ist es: Morone! Warte, du Bestie, du Vieh …

(Einige Männer, darunter LUIGI, fallen GIAFFINO in den Arm und halten ihn zurück. Die anderen lassen ROCKY von den Schultern und weichen zurück.)

DIE MENSCHEN: Er ist es wirklich! Morone! Rocky Morone!

ROCKY: (drohend) Na und – habt ihr was dagegen?

GIAFFINO: Lasst mich los, dass ich ihm ins Maul trete! Dass ich ihm das Hirn aus dem Schädel quetsche! Mörder! Bluthund!

LUIGI: So beruhige dich doch, Giaffino! Nimm Vernunft an!

(Aus der Kirche ist währenddessen der PFARRER getreten, ein lebendiger, wacher Greis mit schlohweißem Haar. Er eilt durch die Menge auf ROCKY los.)

DER PFARRER: Bist du es?

ROCKY: Ja!

DER PFARRER: Dann komm! (Er fasst Rocky bei der Hand und zerrt ihn durch die zurückweichende Menge zum Kirchentor)

 

2. Bild

(In der Kirche. Im Hintergrund das Kirchentor. An den kahlen Steinwänden links und rechts davon einige schwarz verhängte Bilder, ein plumper Armleuchter mit großen Kerzen, ein Beichtstuhl, seitlich ein von der Decke herabhängender Strick zur Glocke. Vorne, gegen den im Zuschauerraum zu denkenden Altar gerichtet, eine Reihe Betbänke. Das Tor wird von außen geöffnet. Der PFARRER, ROCKY noch immer an der Hand haltend, tritt herein, schließt das Tor hinter sich und schiebt einen schweren, eisernen Riegel vor. Dann kniet er nieder und schlägt, gegen den Altar ein Kreuz. ROCKY bleibt währenddessen, den Hut auf dem Kopf, stehen und starrt um sich.)

DER PFARRER: (erhebt sich) Weißt du nicht, wo du bist? Nimm den Hut ab!

ROCKY: (gehorcht und schlägt mürrisch und flüchtig ein Kreuz)

DER PFARRER: Du kannst bei mir bleiben – bis morgen. Da bist du sicher!

ROCKY: Glauben Sie, ich habe Angst? Vor denen da? Pappendeckelhelden! Feiges, trenziges Pack!

DER PFARRER: Es sind deine Leute!

ROCKY: Meine Leute? Pah! Ich kann mich nicht einmal mehr an ihre Visagen erinnern! Aber Sie hätte ich gleich erkannt! Die weißen Haare! Und Ihre Augen: hart wie Butter überm Feuer! Weiß Gott – Sie haben sich nicht verändert! Wie das Gemäuer da, wie die Bänke und das wackelige Kreuz da vorne! Hier ist die Zeit stehen geblieben, was?

DER PFARRER: Die Zeit steht immer. Nur wir jagen an ihr vorbei. Wenn du beten willst, setz dich! Ich habe keine Eile!

ROCKY: Beten? Ich will Sie jetzt nicht unnütz aufhalten! Auf morgen früh also! (Will den Riegel fortschieben und hinaus)

DER PFARRER: (fasst ihn am Arm) Halt! Ich denke, wir haben noch ein Wort miteinander zu reden, du und ich!

ROCKY: (schlägt sich auf die Stirn) Ach ja, natürlich! (Zieht seine Brieftasche und nimmt Geld heraus) Haben Sie Angst, ich wäre Ihnen damit durchgegangen? Fünftausend – wie abgemacht!

DER PFARRER: (nimmt das Geld, ohne nachzuzählen)

Möge dir dieses Geld zum Segen gereichen.

ROCKY: (lacht) Darauf können Sie sich verlassen, Herr Pfarrer! Das gereicht mir zum Segen! Auf mich niederprasseln wird er, der Segen! Gott mit Ihnen, Herr Pfarrer! (Will fort)

DER PFARRER: (hält ihn fest) Bleib! Wir haben miteinander zu reden, sagte ich!

ROCKY: (schlägt anzüglich auf die Brieftasche) Wir haben doch geredet – oder nicht?

DER PFARRER: Wenn ich sage, dass wir miteinander zu reden haben, so meine ich, dass du mir wohl beichten willst!

ROCKY: Nein, danke! Kein Bedarf, Herr Pfarrer!

DER PFARRER: Kein Bedarf?

ROCKY: Nichts für ungut! Wenn es so weit ist, werde ich mich bei Ihnen melden.

DER PFARRER: Hör einmal zu, mein Sohn: Hast du vergessen, was für ein Tag morgen ist? Du sollst das Kreuz tragen! Das Kreuz, an dem unser Herr Jesus für unser aller Sünden gestorben ist.

ROCKY: Ja, ja, ich weiß!

DER PFARRER: Du trägst das Kreuz als Sünder. Aber als Sünder, der durch die Gnade des Herrn errettet wird. Verstehst du das? Als Sünder, dem in der Finsternis seines Herzens wieder Licht geschenkt wird! Du bereust doch, nicht wahr, du bereust, was du getan hast. Darum willst du ja das Kreuz tragen, auf dem ein anderer für deine Schuld stirbt!

ROCKY: Ehrlich gesagt, Herr Pfarrer, darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen!

DER PFARRER: Ja, warum bist du dann gekommen? Warum hast du mir geschrieben? Hast dich aufgedrängt – und nicht ohne Gefahr für dein Leben! Für ein sündiges, verdorbenes Leben zwar … aber immerhin dein Leben, an dem du hängst – mit der Feigheit aller Kreatur! Warum bist du gekommen?

ROCKY: Warum, warum? Ich weiß es nicht! Ich bin eben gekommen! (Zynisch) Ich wollte meine Heimat wiedersehen! Ja, das ist es: meine Heimat …! Den dreckigen Stall, in dem ich geboren wurde. Die Mauern, über die ich gestiegen bin. Die Schenke, in der ich das Saufen gelernt habe. Die Schafe, diese blöden, blökenden Schafe, die nirgends so blöde blöken wie bei uns. Aber es sind eben unsere Schafe, nicht wahr, Herr Pfarrer?

DER PFARRER: Bleiben wir dabei: Du wolltest deine Heimat sehen. Und die Schafe, die du gehütet hast, als du ein Kind warst.

ROCKY: Ich habe mit Steinen nach ihnen geworfen!

DER PFARRER: Vielleicht hast du mit Steinen nach ihnen geworfen. Aber du hast auch dein Gesicht in ihr Fell vergraben und geweint, wenn du unglücklich warst!

ROCKY: Ich …?

DER PFARRER: Ja, du willst deine Heimat wiedersehen – und dich in ihr. Das ist es! Dich, wie du damals warst – ein Wort, erst halb geschrieben: Noch konnte niemand wissen, was aus ihm würde, das Beste oder das Erbärmlichste! Ja, ja, gib es zu! Darum bist du gekommen! Um die Pfade zu gehen, die du damals gelaufen bist. Um die Bäume zu suchen, unter denen du damals gesessen bist. Um die Lieder zu hören, die du gesungen hast. Die Vergangenheit, das ist Reue – weißt du das nicht?

ROCKY: Habe ich gesagt, dass mich die Sehnsucht getrieben hat?

Der Pfarrer: Warum bist du so verstockt? Warum willst du dein Herz nicht auftun?

ROCKY: Sie werden lachen, Herr Pfarrer, aber es gibt nicht viele Menschen, die so wenig zu verbergen haben wie ich! Andere begehen ihre Sünden heimlich und leise. Von meinen spricht die ganze Welt, wenn ich so sagen darf. Die Polizei kennt mich wie ein Beichtvater. Und erst die Zeitungen! Die wissen Bescheid von mir! Von den Drüsen bis zu den Eingeweiden – die kennen sogar meine Gedanken! Und den Drall, den die Kugel aus meiner Kanone hat. Haha! Wenn Sie meine Beichte hören wollen, Herr Pfarrer, dann lesen Sie die Zeitung!

DER PFARRER: Ich habe sie gelesen! Mit Abscheu und Entsetzen!

ROCKY: Was wollen Sie dann noch?

DER PFARRER: Unter jede Beichte, auch unter die furchtbarste, muss ein Wort gesetzt sein, so wie die Unterschrift unter den Vertrag, damit er gilt: »Ich bereue!« Dieses Wort musst du sagen, dieses Wort muss aus dir herausschreien – oder alles war nur eine erbärmliche Prahlerei! Dieses »Ich bereue!« will ich hören, damit ich glauben kann, dass die Schuld dich drückt wie das Kreuz, das du morgen tragen sollst!

ROCKY: Tut mir leid, Herr Pfarrer. Damit kann ich nicht dienen!

DER PFARRER: (beschwörend) Nur dieses eine Wort, Morone!

ROCKY: Aber ich bereue nichts! Geht das nicht in Ihren alten, weißen Schädel? Dieses ganze Theater ist doch nur ein Trick! (Deutet in Richtung auf den Altar) Ein Trick von ihm! Mich drückt meine Schuld nicht! Aber ihn – ihn drückt sie bis zu Boden!

DER PFARRER: Schweig!

ROCKY: Ist er nicht der Gedanke in meinem Hirn, die Kraft in meiner Faust, das Pulver in meinem Revolver? Er ist der Allmächtige, jawohl, und es wäre nichts geschehen ohne ihn! Er hat mir jedes Mal die Leiter gehalten!

DER PFARRER: Du lästerst!

ROCKY: Glauben Sie, ich fürchte ihn? Er ist mein Spießgeselle! Und wenn er fordert, dass ich zur Beichte gehe, warum sonst, als dass er sich selbst freisprechen kann?

DER PFARRER: Du bist ein Ungeheuer! Du bist es nicht wert, sein Kreuz zu tragen!

ROCKY: Dann tragt es euch selbst, ihr Narren! War ein reelles Geschäft – aber wie Sie wollen! Geben Sie mir die Fünftausend zurück, und hol euch alle der Teufel! (Streckt die Hand nach dem Geld aus)

DER PFARRER: (weicht zurück) Ich bin nicht der Richter! Ich verwalte nur sein Amt. Vielleicht will der Herr mit dir besondere Wege gehen …!

ROCKY: (lacht höhnisch) Meinetwegen – behalt den Bettel, alter Gauner! (Reißt den Riegel von der Türe und stürzt hinaus.)

(Während der Szene ist es immer finsterer geworden. Als ROCKY bei der Tür hinausrennt, stößt er vor dem Tor mit LUIGI zusammen. ROCKY verschwindet in der Dunkelheit vor dem Tor. LUIGI tritt ein und bekreuzigt sich.)

DER PFARRER: Was ist los?

LUIGI: Es wird dunkel, mein Vater. Und die Leute warten …

DER PFARRER: Mach Licht! (Luigi dreht einen elektrischen Lichtschalter an) Auch die Kerzen! (Luigi zündet die Kerzen des Armleuchters an) – Hast du ihn weglaufen sehen?

LUIGI: Ja, mein Vater. Als wäre die Hölle hinter ihm her!

DER PFARRER: Ich erinnere mich, wie ich ihn das Vaterunser lehrte. An seine Augen erinnere ich mich, große, leuchtende Augen in einem kleinen, braunen Gesicht. Das war so voll Hunger nach den Wundern der Welt, nach denen da unten und denen oben im Himmel. Voll Glauben und Inbrunst. Und in der Kirche sang er so laut, dass ich am Altar seine Stimme aus allen anderen heraushören konnte …

LUIGI: Soll ich jetzt läuten?

DER PFARRER: (halb abwesend) Ja – ruf sie herein!

(LUIGI ergreift den Glockenstrang und beginnt zu läuten. Durch die Türe schieben sich Männer und Frauen herein, darunter JACQUES, DEBRES, LUCIEN, GIAFFINO und MARIUCCIA. Der PFARRER gibt LUIGI ein Zeichen, mit dem Läuten aufzuhören.)

DER PFARRER: Meine Kinder! Morgen wollen wir spielen, zur Ehre unseres Herrn, das große Spiel, das ewige! Wir wollen es leben und leiden, mit unseren kleinen Herzen, damit sie wachsen und Gnade finden! Amen! (Er macht das Zeichen des Kreuzes über die Versammelten)

DIE MENSCHEN: Amen!

DEBRES: (leise) Ich hoffe, Sie haben sich an meinen Rat gehalten!

DER PFARRER: (hebt einen großen Krug aus dem Beichtstuhl) Hier –!

DEBRES: Was ist das?

DER PFARRER: Die Rollen des Spiels, auf Papier geschrieben und zusammengefaltet!

DEBRES: Wir sollen wieder ziehen? Wie in der Lotterie?

DER PFARRER: Es war jedes Jahr so …

DEBRES: Und ich hatte gedacht, ich hätte Ihnen endlich ein wenig künstlerisches Verantwortungsbewusstsein eingeimpft! Stellen Sie sich vor, ein Theaterdirektor ließe seine Schauspieler um ihre Rollen losen …!

GIAFFIINO: (zu Debres) Ihm reden Sie umsonst, Herr, …

DEBRES: (zum Pfarrer) Ja, ja, ich weiß: Auf unseren Bühnen kommen oft noch viel seltsamere Besetzungen zustande – und aus den absonderlichsten Motiven! Aber dennoch darf man eine Sache wie diese nicht dem Zufall überlassen! Schon aus Prinzip nicht! Denn gegen den Zufall gibt es keine Berufung. Und gerade das ist doch das Reizvolle, das Prickelnde daran: dieses Feilschen und Handeln um die besseren Rollen, dieses Intrigieren und Kabalenschmieden. Und vor allem: Es entspricht auch mehr dem Leben, dass man sich durch Geschicklichkeit die besseren Partien sichern kann!

DER PFARRER: Ich werde alt, mein Ohr hört nicht mehr richtig. (Zu Luigi) Fang an! (Da dieser zögert) Fang an, sage ich! (Luigi greift in den Krug, zieht einen Zettel und entrollt ihn) – Lies!

LUIGI: »Petrus, der Apostel!«

DER PFARRER: Jetzt ihr anderen! Kommt!

EIN ZWEITER: (tritt vor, greift in den Krug und zieht seine Rolle) »Andreas, der Apostel!«

EIN DRITTER: (wie er) »Jakobus, des Zebedäus Sohn!«

JACQUES: (wie die anderen) »Johannes!«

EIN FÜNFTER: »Philippus!«

EIN SECHSTER: »Bartholomäus!«

EIN SIEBENTER: »Thomas!«

EIN ACHTER: »Matthäus!«

EIN NEUNTER: »Jakobus, des Alphäus Sohn!«

EIN ZEHNTER: »Thaddäus!«

EIN ELFTER: »Simon von Kana«

(Jetzt wäre GIAFFINO an der Reihe, aber er zögert.)

DER PFARRER: Nun, was ist mit dir?

GIAFFINO: Ich will nicht! – Ich kann nicht … ich habe Dienst morgen …

DER PFARRER: Morgen hat keiner anderen Dienst als in unserem Spiel. Also …

GIAFFINO: Ich … ich bin noch in Uniform …

DER PFARRER: Die legen wir ab!

GIAFFINO: (greift in den Krug, entrollt seinen Zettel und schweigt)

DEBRES: (sieht ihm über die Schulter) Lass sehen! – »Judas Ischariot!« Gratuliere! Eine schöne, große Rolle!

GIAFFINO: Ich will nicht! Hört ihr, ich will nicht!

DIE ANDEREN: Ausspringen gilt nicht! Du hast gezogen! Mach keine Geschichten, Giaffino! Einer muss es sein!

GIAFFINO: Aber warum ich? Warum gerade ich?

DEBRES: Du bist wirklich ein Dummkopf, Giaffino. Der Held im Drama der Passion ist nicht Gott. Gott hat bei dieser ganzen Geschichte nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren! Von ihm aus betrachtet kann die Welt erlöst werden – gut; oder nicht – auch gut! Er kann sich ja eine andere schaffen, wenn er will. Verstehst du jetzt? Der Held in diesem Stück, der Held, um dessen Leben oder Sterben es geht, ist der Mensch! Der Held bist du!

GIAFFINO: Ich pfeife darauf! Ich tu’ nicht mit! (Er wirft den Zettel zu Boden und stürzt davon)

DEBRES: Haltet ihn auf! So ein Ochse! Wirft die ganze Partie zusammen!

DER PFARRER: Lasst ihn laufen! Er wird sich schon einstellen! (Tritt vor Debres) Jetzt Sie!

DEBRES: Ich? Aber, mein Freund, ich bitte Sie! Ich als alter Heide! Ich habe die Sache arrangiert, ich läute Ihnen auch die Glocke, wenn Sie wollen. Aber zum Mitspielen tauge ich nicht!

DER PFARRER: Sind Sie kein Mensch? Sind Sie nicht auch ein Held, wie Sie es nannten?

DEBRES: (zuckt die Achseln, greift in den Krug und entrollt einen Zettel) Na bitte, da haben wir es: »Pontius Pilatus, der Rechtspfleger!« – Mein Freund, ich bin ein Pensionist, wie Sie wissen. Ich will mit Urteilen nichts mehr zu tun haben. Das müssen Sie doch einsehen, mein Bester …

DER PFARRER: (antwortet nicht, sondern tritt vor Lucien) Jetzt du!

LUCIEN: (greift den Krug) Es ist nur mehr ein einziger Zettel darinnen …

DER PFARRER: Ja –!

LUCIEN: (nimmt den Zettel heraus, entrollt ihn und schweigt)

DER PFARRER: Der Herr sei mit dir! (Lucien kniet nieder, der Pfarrer legt ihm die Hand auf die Stirn und hebt ihn auf. Dann streckt er den anderen seine Hände entgegen) Wir sind fertig meine Kinder! Ihr könnt gehen!

(Die Leute bekreuzigen sich und beginnen aus der Kirche hinauszudrängen.)

DEBRES: Halt! Noch etwas! Wir haben vier- oder fünfhundert Fremde hier! Die wollen doch etwas geboten haben! Auch etwas Hübsches!

DER PFARRER: Wie meinen Sie das?

DEBRES: Nun, zum Beispiel eine Maria Magdalena. Haha, eine echte Maria Magdalena – unter dem Kreuz! (Er fasst Mariuccia am Arm und zerrt sie aus dem Haufen der anderen hervor) Mariuccia – die wäre gerade richtig dafür!

LUIGI: Sie sollten endlich Ihre Scherze lassen, Herr!

DEBRES: Was heißt Scherze! Es ist mir todernst damit! – Mariuccia, sag selbst, willst du morgen mitspielen?

MARIUCCIA: (nickt eifrig)

DEBRES: (zu den Umstehenden) Keiner werfe den ersten Stein! Habt ihr das vergessen?

DER PFARRER: (müde) Ja, ja, geht nur. Du kannst mitspielen, Mariuccia!

MARIUCCIA: (küsst dem Pfarrer die Hand und weicht dann zur Türe zurück)

DEBRES: (winkt dem Pfarrer) Als dann auf morgen, mein Freund!

(Auch er geht zum Tor und verschwindet mit dem anderen. Der PFARRER bleibt allein zurück.)

DER PFARRER: (sinkt in der letzten Betbank in die Knie und hebt sein Gesicht zum Altar) Herr, mein Gott! Warum hast du mich so schwach gemacht?

(Vorhang)

 

ZWEITER AKT

3. Bild

(Schenke. Links die Tür zur Straße, darüber ein Radio, rechts eine Tür zu einem Hinterraum, daneben eine primitive Bar. Vor der grob getünchten Rückwand ein langer Tisch, hinter dem LUCIEN, umgeben von seinen »Jüngern« sitzt, links und rechts von ihm LUIGI und JACQUES, ganz links GIAFFINO. Am Türstock unter dem Radio, aus dem schmalzige Schlagermusik dröhnt, lehnt ein Betrunkener mit einem Glas in der Hand und summt mit; rechts vor der Bar hockt ein Alter, ein Schnapsglas in der Hand, und starrt vor sich hin. MARIUCCIA ist hier so etwas wie eine Kellnerin; sie läuft mit umgebundener Schürze zwischen der Gruppe am Tisch und dem Hintereingang hin und her, bringt Krüge, räumt Teller weg.Der Raum ist nur von einer einzigen Lampe beleuchtet, die an einer dicken Kette von der Decke hängt.)

DER BETRUNKENE: (grölt zur Radiomusik) Oh bella signora, che ora, ti rivedo? Oh bella signora, che ora, t’ambracero?

LUIGI: Kannst du nicht endlich das Maul halten!

DER BETRUNKENE: Jawohl, heiliger Apostel Petrus! Ich bin still wie ein Mäuschen, wenn du es befiehlst, heiliger Apostel Petrus!

LUIGI: Schäm dich! Weib und Kindern das Brot wegzusaufen!

DER BETRUNKENE: Heiliger Apostel Petrus, du tust mir unrecht! Das ist nicht das Brot für Weib und Kinder! Das ist ein Geschenk – jawohl!

LUIGI: Wer wird dir etwas schenken, Tagedieb?

DER BETRUNKENE: Rocky! Der große Rocky Morone – Geld hat er unter die Armen geworfen! Der gute Rocky Morone, ein Herz hat er für alle Durstigen von ganz Korsika! Rocky soll leben!

LUIGI: Halt’s Maul, hab’ ich gesagt!

DER ALTE: (wacht aus seinem Dösen auf) Rocky soll leben! Noch einen, Mariuccia, damit Rocky leben kann!

MARIUCCIA: (ist gerade bei Luigi hinter dem Tisch, nickt und will links um den Tisch herum zur Bar. Dabei muss sie bei dem Betrunkenen unter dem Radio vorbei.)

DER BETRUNKENE: (fasst Mariuccia um die Hüfte, dreht sich stolpernd mit ihr und grölt zur Radiomusik) Amor – amore, amore – amor … (Er vergräbt seinen Kopf an Mariuccias Schulter und küsst sie auf den Hals)

LUIGI: (springt auf, stürzt zum Radio und dreht es ab) Jetzt ist es aber genug! (Dann reißt er den Betrunkenen von Mariuccia) Los, pack dich! (Er zieht ihn zur Tür)

DER BETRUNKENE: Heiliger Apostel Petrus! Auch du wirst unseren Herrn verraten, dreimal, bevor der Hahn kräht!

DER ALTE: (humpelt vor Giaffino und hebt sein Glas) Rocky soll leben! Der große Rocky Morone!

GIAFFINO: (springt auf und packt den Alten am Kragen) Und du verschwinde auch! Genug gesoffen!

DER ALTE: (macht sich los und spuckt vor Giaffino auf den Boden) Judas, Judas …!

DER BETRUNKENE: (spuckt gleichfalls vor Giaffinos Füße) Judas …!

GIAFFINO: (holt zum Schlag aus) Dreckskerl, du …

(Der Betrunkene und der Alte flüchten durch die Türe links. GIAFFINO will ihnen folgen.)

LUCIEN: Bleib da, Giaffino! Setzt euch wieder – du auch, Luigi!

(GIAFFINO wirft die Türe hinter den beiden zu. Er und LUIGI setzen sich wieder. MARIUCCIA verschwindet durch die Tür rechts. – Jetzt sind LUCIEN und seine zwölf »Jünger« allein im Raum. Sie bilden eine Gruppe wie auf den bekannten Darstellungen des Abendmahls. LUCIEN schiebt den anderen über den Tisch Wein und Brot zu.)

LUCIEN: Trinkt! Esst! Wir wollen keinen Streit mehr! Eine heilige Zeit kommt jetzt! Da müssen wir das unsrige dazu tun!

GIAFFINO: Eine schöne heilige Zeit! In der die Verbrecher frei herumlaufen, Beutelschneider und Mörder gefeiert und bejubelt werden vom Pack! Ihr habt es ja gehört: Rocky! Überall Rocky, Rocky! Nur weil euch seine blutige Pratze ein paar Franc zugeworfen hat. Aber ich bekomme ihn noch zwischen die Zähne, nehmt mich beim Wort!

LUCIEN: Zwei Tage ist Frieden! Frieden für alle – du weißt es. Und nachher wird er verschwunden sein – bevor du ihn fassen kannst!

GIAFFINO: Nachher! Wer auf Nachher wartet, wäre ein schöner Narr!

LUCIEN: Sei vernünftig, Giaffino! Keiner wird dulden, dass Morone auch nur ein Haar gekrümmt wird!

GIAFFINO: Die Polizei sucht ihn. Er steht auf meinem Fahndungsblatt – du kannst es sehen, schwarz auf weiß!

LUCIEN: Übermorgen werden wir es sehen! Aber bis dahin ist alles ausgesetzt: Hass, Rache, Strafe, Urteil und Vollzug!

GIAFFINO: Ja – für alte Schulden!

LUCIEN: Was willst du damit sagen?

GIAFFINO: Nun, gesetzt den Fall, er nützt die Zeit und eröffnet ein neues Konto …

JACQUES: Was für ein Konto?

GIAFFINO: Nun, ein kleiner Raub, ein kleiner Mord … Dann schützt ihn auch das Gesetz dieser Zeit nicht mehr, dieses lächerliche, dumme gesetzlose Gesetz. Dann gehört er mir!

JACQUES: So verrückt kann er doch nicht sein!

GIAFFINO: Da kennst du ihn und seinesgleichen schlecht, mein Kleiner. Der Wolf muss reißen, wenn er Blut riecht – auch wenn er den Jäger warten sieht. Es zuckt ihm in den Läufen, brennt ihm die Zunge, schnappen ihm die Kiefer … und dann springt er aus seinem Versteck!

(Aus der Tür rechts kommt wieder MARIUCCIA, macht sich bei der Bar zu schaffen und hört während des Folgenden gespannt zu.)

LUCIEN: Du hast zu viel Phantasie, Giaffino!

GIAFFINO: Und ihr zu viel Einfalt! Warum ist diese Bestie zurückgekommen? Glaubt ihr wirklich, um morgen euer Kreuz zu tragen? Narren ihr! Fragt Luigi, der hat zugehört, wie er mit unserem Pfarrer gesprochen hat!

LUIGI: Also – richtig zugehört hab’ ich ja nicht. Ich bin zur zufällig vor dem Tor gestanden, als sie drinnen sprachen. Und Morone hat gebrüllt wie ein Stier – man hat es ja hören müssen …

LUCIEN: Was?

LUIGI: Er hat sich geweigert, unserem Pfarrer zu beichten. Und er hat gelästert! Es ist ihm ganz gleichgültig, ob er morgen das Kreuz tragen wird oder nicht!

LUCIEN: Warum ist er dann gekommen?

GIAFFINO: Die Antwort will ich von dir! Aber knie dich nur tief in den Unrat, damit du erraten kannst, was in diesem Vieh vorgeht!

LUCIEN: Warum hasst du ihn so? Doch nicht, weil sein Name in deinem Fahndungsblatt steht?

GIAFFINO: (den Blick auf Mariuccia, die ihn angstvoll anstarrt) Alte Geschichten, Mariuccia – was? Davon soll man besser nicht reden! – (Wieder zu Lucien) Schau her, was er aus mir gemacht hat! Einen Menschen, der nicht mehr glauben kann und nicht mehr lachen, der keinen Freund hat und keine Frau … einen Krüppel (schlägt sich an die Brust) da, da drinnen …

LUCIEN: Was hat er dir getan?

GIAFFINO: (beinahe hysterisch) Wahrhaftig, was hat er mir getan? Hat er mir den Schädel eingeschlagen wie dem alten Parrault? Hat er mir den Hals abgeschnitten wie Mariuccia? Was will ich also, was?

(MARIUCCIA presst ihre Hände an die Brust und läuft durch die Tür rechts davon, ohne dass die anderen Notiz davon nehmen. Gleichzeitig wird die Tür links wieder aufgerissen. Der BETRUNKENE und der ALTE von vorhin sehen herein.)

DER BETRUNKENE UND DER ALTE: (werfen handweise Sand und Erde gegen Giaffino) Judas, Judas, Judas …!

GIAFFINO: (bleibt, obgleich beinahe berstend, sitzen, krallt die Hände in die Tischkante, schreiend) Aufhören! Sagt ihnen, sie sollen aufhören! Jagt sie fort!

(Einer der Männer steht auf, tritt zur Tür und schließt sie zu.)

GIAFFINO: Diese verfluchte Rolle! (Zu Lucien) Ich hab’ gesagt, ich hätt’ keinen Freund! Aber dir – dir könnt’ ich einer sein, du weißt es! Und dich soll ich verraten? Dir soll ich den Tod geben? – So was Verrücktes!

LUCIEN: Wer weiß, ob Judas Gottes Herzen nicht von allen Jüngern das nächste war?

GIAFFINO: Das nächste?

LUCIEN: Vielleicht hat Judas gewusst – und nur er –, dass einer verraten musste. Dass einer mit seinem Verrat das Opfer darbringen musste für all die anderen: er allein verworfen, damit alle anderen erlöst werden konnten?

GIAFFINO: Eine Rolle! Eine dumme, hässliche Rolle in einem lächerlichen, kindischen Spiel!

LUCIEN: In einem Spiel mit Bedeutung, Giaffino!

GIAFFINO: Ohne Bedeutung für dich und mich, Lucien! Was hat sich geändert zwischen uns, seitdem wir diese Rollen zugeteilt bekommen haben?

LUCIEN: Gewiss: ich bin nicht Christus, du nicht Judas, und die Ereignisse, die wir darstellen wollen, liegen fast zweitausend Jahre zurück. Aber wenn Christus und Judas – für die wir morgen Stellvertreter sind und Platzhalter, deutende Figuren … – wenn sie heute lebten, mitten unter uns: Wie – glaubt du – würde Judas Christus verraten?

GIAFFINO: Wie? Ich weiß es nicht …

LUCIEN: Ich will es dir sagen: Indem er seinen Mitmenschen den Weg verstellt – den Weg heraus aus der Schuld!

GIAFFINO: Den Weg …?

LUCIEN: Den Weg zu Gott! Indem er Christi Gnade nicht zu dem hinreichen ließe, der sie braucht in größter Not. Ja, so würde Judas heute seinen Herrn verraten: Nicht an den Henker – er gibt nur einen kurzen Tod. Sondern an die Sinnlosigkeit – der Tod ist ewig!

GIAFFINO: So würde Judas …

LUCIEN: Verstehst du jetzt? Der tötete Christus in Wahrheit, der den Menschen tötet, den Christus erlösen will – der ihn tötet, unmittelbar bevor die Gnade ihn erreicht hätte …

JACQUES: Sprecht ihr von dem Menschen, der morgen das Kreuz tragen wird?

LUCIEN: Ja! Auch von ihm!

GIAFFINO: (springt auf) Dann will ich Judas sein! Will mich zwischen ihn und den da oben werfen. Will geschunden sein und bespien und unten in der Schlucht verscharrt wie ein krepierter Hund. Aber ihn muss ich zuvor verrecken sehen, mit verdrehten Augen und langem Hals – in die Schlinge gerutscht, einen Schritt vor dem Ziel!

(Er weicht zur Tür zurück, durch die währenddessen ROCKY eingetreten ist. Er steht, die Hände in den Taschen, zwischen den Pfosten. Als GIAFFINO ihn erblickt, schlägt er die Hände vor die Augen, wie von einer Erscheinung geschreckt, und taumelt an ihm vorbei ins Freie.)

ROCKY: (tritt ganz herein) Guten Abend! (Er setzt sich auf den von Giaffino verlassenen Stuhl) Bekommt man hier etwas zu trinken?

(Die »Jünger« erheben sich, einer nach dem anderen, und drücken sich schweigend bei der Türe hinaus, von ROCKY höhnisch gemustert. Zuletzt sind nur noch JACQUES und LUIGI bei LUCIEN.)

JACQUES: (erhebt sich auch, verlegen) Es ist spät geworden – ich muss gehen! (Jaques ab)

LUIGI: (wie Jacques) Ja – es ist Zeit … kommst du auch?

LUCIEN: Ich bleibe noch! (Luigi ab)

ROCKY: (schaut ihm nach) Da schleichen sie fort, die Schakale! Fressen nur Aas – aber wo sich eins bewegt, haben sie Angst!

LUCIEN: Du wolltest trinken! Nimm einstweilen von mir! (Schiebt ihm seinen Krug hin)

ROCKY: (nimmt den Krug, trinkt; dann über den abgesetzten Krug hinweg) Aber bilde dir nichts darauf ein: ich war durstig, das ist alles!

LUCIEN: Trink nur! (Rocky trinkt und stellt den Krug weg) Ich weiß, du hast dich geweigert, zu beichten.

ROCKY: Passt dir etwas nicht?

LUCIEN: Ich bin nicht der Pfarrer!

ROCKY: Richtig: Dein Reich ist nicht von dieser Welt! Ich gratuliere! Vom barfüßigen Hirtenknaben zum Lehrer und jetzt gar zum lieben Gott – eine erstaunliche Karriere!

LUCIEN: Auch du hast dich verändert, seit wir barfuß liefen, wir beide …

ROCKY: (höhnisch) Mach mich nicht sentimental!

LUCIEN: Weißt du, woran ich denken musste, als sie dich heute Nachmittag auf den Schultern trugen, als wärst du heimgekehrt: ein großer Held aus dem Krieg oder ein erfolgreicher Abgeordneter, der endlich Brot und Arbeit für die Armen seines Bezirks bringt, ein Idol und Vorbild – und wie leicht hättest du das alles werden können …

ROCKY: (wie oben) Woran musstest du denken – du machst mich neugierig!

LUCIEN: An eine kleine Szene aus unserer Kindheit – ich weiß nicht, warum gerade sie mir einfiel …

ROCKY: Also …!

LUCIEN: Giaffino und ich spielten Räuber, oben in unserer Höhle. Mit rußgeschwärzten Gesichtern und hölzernen Säbeln und Revolvern. Und wir hatten Mariuccia geraubt.

ROCKY: (schlägt bei dem Wort »Mariuccia« mit der Faust auf den Tisch, als wollte er Lucien das Wort in den Mund zurückstoßen; dann – beherrscht – besinnt er sich anders) Sprich weiter!

LUCIEN: Sie schrie wie am Spieß – wir hatten sie gefesselt und vor der Höhle angebunden. Aber es war nur ein Spiel, ein wildes Spiel, wie Kinder es eben spielen: Wir saßen vor unserer Gefangenen auf der Erde und aßen Brot und Feigen, und Mariuccia bekam redlich ihren dritten Teil. Und sie schrie eigentlich auch nur, um uns Freude zu machen – und weil es zu ihrer Rollte gehörte.

ROCKY: Eine Komödiantin – das war sie schon immer!

LUCIEN: Plötzlich kamst du! Ich sehe dich noch über die Steinmauern springen und den Hügel heraufstampfen wie eine kleine keuchende Maschine. Und da warst du auch schon bei uns und stießt uns deine Fäuste ins Gesicht. Auf unsere rußigen Räubervisagen, auf unsere Schultern, unsere Rücken prasselten die Hiebe. Dabei warst du damals kleiner als wir, aber so selbstvergessen, so besessen, diese dumme, winzige, heulende und Feigen kauende Mariuccia zu befreien! Da liefen wir davon, Giaffino und ich, Hals über Kopf, den Berg hinunter, und du behauptetest das Feld, ein kleiner, schmieriger, leuchtender Erzengel der Gerechtigkeit!

ROCKY: Du fängst es plump an, mein Lieber! Meine Drüsen sind unempfindlich gegen Erinnerungen!

LUCIEN: Glaubst du, ich will dich überlisten?

ROCKY: Oh, ihr mit euren Honigworten … Also, worauf willst du hinaus?

LUCIEN: Es ging mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf, wie verschieden unser Leben geworden ist, deines und meines – und fast aus derselben Wurzel …

ROCKY: Sag einmal – du willst doch nicht etwa mich trösten, wenn du dein armseliges Pfützchen Leben, diesen Bodensatz aus stinkinger Schulklasse und dreckiger Schenke, mit dem meinen vergleichst?

LUCIEN: Warum spottest du?

ROCKY: Weil ich es zum Kotzen finde: eure reinen Herzen in der Rocktasche, immer parat zum Vorzeigen und Kreditverlangen! Aber ich glaube nur nicht, das gibt euch ein Recht, mich zu verachten!

LUCIEN: Schuld kann man nicht verachten! Man kann sie nur beweinen!

ROCKY: Schau einer an!

LUCIEN: Jeder von uns kann schuldig werden, in einem Augenblick der Verwirrung oder der Verzweiflung. Aber ich weiß, die wahre Entscheidung über uns fällt erst hinterher – in der winzigen Zeitspanne, in der die Gnade oder die Verstrickung beginnt. In der wir merken, dass wir vor zwei Straßen stehen. Die eine dornig, steinig – und so wenig einladend, dass wir sie nur betreten, wenn Gott selbst mit derber Barmherzigkeit uns darauf stößt: Die Straße der Reue! Die andere aber glatt und breit und verlockend. Und sie verlangt nichts von dir bis auf eines: immer nur neue Schuld! Ein billiger Treibstoff, um sich fortzubringen, nicht wahr?

ROCKY: Ich hab’ die Preisliste nicht im Kopf! Aber du kannst bei meinem Rechtsanwalt nachfragen!

LUCIEN: Je mehr neue Schuld, desto mehr Beweis, dass es diese Ordnung, die von Schuld spricht, gar nicht gibt, stimmt’s, Morone? Dass es also auch diese Schuld selbst nicht geben kann – sie ist nur eine Erfindung, ein Märchen, um die Kinder und Dummen zu schrecken, die daran glauben! Und je länger und wilder du der Ordnung ins Gesicht schlägst, desto unscheinbarer wird deine Schuld – ein flüchtiger Nebel, der in nichts zerfließt …

ROCKY: Bravo, mein Kleiner, du weißt ja Bescheid!

LUCIEN: Aber der Nebel verflüchtigt sich nicht; es scheint nur so, weil er in dich dringt und sich in dir niederschlägt, Tropfen um Tropfen, eine fressende Säure. Anfangs spürst du sie kaum. Aber eines Tages trifft sie auf einen Nerv. Und du schreist auf vor Schmerz, schreist nach der Gnade, die allein das Gift aus dir waschen kann!

ROCKY: (betroffen) Phantasterei! Geschwätz!

LUCIEN: Warum bist du dann gekommen, nach fünfzehn Jahren, hierher, wo dein Weg begann?

ROCKY: (zögert, dann greift er in die Taschen seines Rockes und zieht zwei verwitterte Leinenbeutel heraus) Darum – und darum!

LUCIEN: Was ist das?

ROCKY: (öffnet die Beutel und streut Goldmünzen und Juwelen über den Tisch) Gold! Schmuck! Perlen, Steine, was du willst! Ein paar runde Millionen wert!

LUCIEN: Parraults Schmuck!