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Paul Lendvai

ORBÁNS UNGARN

Überarbeitete und erweiterte Auflage

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www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01261-4
eISBN 978-3-218-01048-1

INHALT

Vorwort

KAPITEL 1: Die Rolle der Persönlichkeit

KAPITEL 2: Der Aufsteiger von ganz unten

KAPITEL 3: Glanz und Elend eines Jungpolitikers

KAPITEL 4: Der Weg zum ersten Sieg

KAPITEL 5: Der junge Komet

KAPITEL 6: Die Totengräber der Linken

KAPITEL 7: Megaskandal um Gyurcsánys »Lügenrede«

KAPITEL 8: Orbáns Sieg im Kalten Bürgerkrieg

KAPITEL 9: Das Erdbeben

KAPITEL 10: Die neue Landnahme

KAPITEL 11: Das Ende der Gewaltenteilung

KAPITEL 12: Der nationale Freiheitskampf

KAPITEL 13: Ein fragwürdiger Wahlsieg

KAPITEL 14: Der Preis für die »Orbánisierung«

KAPITEL 15: Macht und Geldgier der Günstlinge

KAPITEL 16: Die Mächtigen des Hofstaates

KAPITEL 17: Ungarns »Führerdemokratie«

KAPITEL 18: Orbáns Rolle in einem zerfallenden Europa

Namenregister

Anmerkungen und Quellen

VORWORT

zur überarbeiteten und erweiterten Auflage

Ich habe das Angebot von Kremayr & Scheriau zur Herausgabe einer überarbeiteten und erweiterten Neuauflage dieser vor viereinhalb Jahren erschienenen Biografie Viktor Orbáns aus mehreren gewichtigen Gründen angenommen.

Erstens ist es ihm gelungen, seine Machtposition sowohl national wie auch international so stark auszubauen, dass seine Regierung heute als der gefährlichste Störenfried in der gespaltenen und seit dem Ausscheiden Großbritanniens geschwächten Europäischen Union gilt. Das ungarisch-polnische Bündnis der beiden rechtspopulistischen und nationalistischen Regierungsparteien, oft unterstützt, wenn auch nicht in allen Fragen, von den zwei anderen sogenannten Visegrád-Staaten Slowakei und Tschechien, bildet das größte Hindernis auf dem Weg zur engeren europäischen Zusammenarbeit.

Zweitens strebt Orbán seit seinem neuerlichen Wahlsieg im April 2018 nach der schrittweisen Liquidierung des Rechtsstaates und der Medienfreiheit auch die Kontrolle der Wissenschaftsund Kulturpolitik, des Familien- und Bildungswesens an. Nach einem Jahrzehnt der Orbán-Ära ist Ungarn laut dem US-Thinktank »Freedom House« bereits jetzt nur ein »halbfreier« Staat.

Drittens gilt das Land als der korrupteste EU-Mitgliedstaat nach Bulgarien und die Bereicherung der Familie und der Freunde des absoluten Herrschers wird von den ungarischen Soziologen und Politologen als ein beispielloses Phänomen in der modernen ungarischen Geschichte betrachtet.

Die erste Auflage der Orbán-Biografie ist bisher ins Englische, Polnische, Rumänische, Slowenische und Ungarische übersetzt und im Dezember 2018 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet worden.

Auch dieses Buch wäre ohne den stilistischen Beistand von Barbara Köszegi und die geduldige und so wertvolle Hilfsbereitschaft meiner Frau Zsóka kaum zeitgerecht zustande gekommen. Ihnen beiden gebührt mein aufrichtiger Dank.

Wien, im Winter 2020

Kapitel 1

DIE ROLLE DER PERSÖNLICHKEIT

Wie wichtig sind Personen und Persönlichkeiten in der Politik? Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krisen, der Folgewirkungen des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Völkerwanderung zeigen die Meinungsumfragen in den demokratischen Staaten, zusammen mit einem großen Unbehagen und mit der Kritik an der parlamentarischen Diskussion, stets auch eine große Sehnsucht nach dem »starken Mann«. Der menschliche Faktor bleibt schwer fassbar, ja unberechenbar, doch ohne ihn sind alle historischen Betrachtungen unvollständig. Nicht nur in weltgeschichtlichen Situationen, sondern auch in der jüngsten mittel- und osteuropäischen Geschichte waren und sind die Konflikte zwischen den Kräften der Beharrung und jenen der Reform, zwischen Öffnung und Abkapselung zuweilen mit geradezu dramatischen Wandlungen der politischen Führungspersönlichkeiten verbunden.

Die Devise »Männer machen Geschichte« entspringt dem Heldenkult, wie ihn der seinerzeit sehr populäre schottische Historiker Thomas Carlyle definiert hat: »Die Weltgeschichte ist nichts als die Biografie großer Männer.« Laut dem deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel hingegen ist der Welt- und Zeitgeist viel entscheidender als Person und Persönlichkeiten. Karl Marx und Friedrich Engels meinten, Politik sei abhängig von den materiellen Bedingungen der Produktion. Die Frage, welche Kräfte einen Spitzenpolitiker zu einer Handlung bewogen haben und welche Kräfte er in Bewegung gesetzt hat, also das Zusammenspiel von äußeren Umständen und persönlichem Handeln, stellt auch heute das zentrale Problem bei der Beschreibung und Bewertung politischer Persönlichkeiten dar.

Wenn man die nicht zu unterschätzende Rolle des persönlichen Elements bei wichtigen politischen Entscheidungen in angemessener Weise berücksichtigen will, dann muss der Chronist der Zeitgeschichte auch die Worte des Basler Historikers Herbert Lüthy in Erinnerung rufen: »Zeitgeschichte ist nicht anonym. Sie ist uns als wirkliches Geschehen bekannt nur in dem Maß, in dem wir die handelnden Personen ihrer Anonymität entreißen, individualisieren und identifizieren … Daten und Fakten bedeuten wirklich nichts, wenn wir uns überhaupt kein Bild vom Bewusstsein der handelnden Menschen machen können.«1 Im Zeitalter der globalen Kommunikationsrevolution und der Verbreitung der sozialen Medien sind diese Überlegungen noch wichtiger geworden.

Was wäre gewesen, wenn …

Gerade die turbulente Geschichte der mittel- und osteuropäischen Staaten und die verblüffenden Wendungen in den Positionen der Männer an der Spitze von Regierung und Staat bestätigen immer wieder die Richtigkeit der Warnung Isaiah Berlins, des aus Riga stammenden großen britischen Denkers, die er 1988, also noch vor der großen Wende, geäußert hat, dass nämlich die Geschichte nicht als »eine Autobahn ohne Abfahrten« anzusehen sei: »Ich glaube nicht an den Determinismus in der Geschichte … In entscheidenden Augenblicken, an Wendepunkten … kann der Zufall, können Individuen mit ihren Entscheidungen und Handlungen, die ihrerseits nicht unbedingt vorhersagbar sind, die sogar selten vorhersagbar sind, den Lauf der Geschichte bestimmen. Unser Entscheidungsspielraum ist nicht groß. Sagen wir: ein Prozent. Aber auf dieses eine Prozent kommt es an.«2

Im Gespräch mit dem iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo konkretisierte Isaiah Berlin am Beispiel Churchills im Jahre 1940 und Lenins im April 1917 das »Was wäre gewesen, wenn …«, zum Beispiel, wenn Churchill nicht Premierminister geworden oder Lenin früher gestorben wäre. Diese Gedankengänge könnte man natürlich fortsetzen. Was wäre gewesen, wenn am 10. März 1985 nicht Michail Gorbatschow, sondern einer seiner rückwärtsgewandten Rivalen zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden wäre? Oder wenn 1947/48 an der Spitze des kommunistischen Jugoslawiens nicht ein Josip Broz Tito mit seiner Erfahrung und Autorität gestanden hätte, der vor aller Welt ablehnte, ein Befehlsempfänger Stalins zu sein? Auch die Wandlung János Kádárs, nach der blutigen Niederschlagung des Ungarnaufstandes im November 1956 als unbarmherziger »Gauleiter Moskaus« weltweit verachtet und zum Symbol des »Gulaschkommunismus mit kleinen Freiheiten« geworden, zeigt die Bedeutung der Persönlichkeit.

In seinem Essay über die »Helden des Rückzugs« hat Hans Magnus Enzensberger 1989 ironisch und geistreich die Leistungen Kádárs, auch Gorbatschows und des polnischen Staatschefs General Wojciech Jaruzelski, als »Abbruchunternehmer« bei der Demontage des eigenen Systems beschrieben. Für diese und viele andere Persönlichkeiten gilt aber auch der Spruch Hegels, dass, wenn der historische Moment vorbei sei, wenn der Held erledigt habe, was zu vollbringen gewesen sei, ihn die Geschichte wegwerfe »wie leere Hülsen«. Das geschah letztendlich auch mit so gegensätzlichen Führungsfiguren wie Bundeskanzler Adenauer, dem Gründungsvater der Bundesrepublik, und Willy Brandt, dem Architekten der deutschen Ostpolitik, und auch – noch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges – mit dem greisen Parteichef János Kádár, der nach allerlei Schwächeanfällen und Pannen mit Zustimmung Gorbatschows gestürzt wurde. Der Lebenslauf mancher Spitzenpolitiker zeigt das, was Jacob Burckhardt in seinen berühmten »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« eine »relative Größe« nannte, bestätigt aber auch, dass sich das Gerede von der Unersetzlichkeit von politischen Persönlichkeiten schnell als hohle Phrase entpuppen kann.

Vom »Henker« zum »guten König«

Manchmal werden nicht nur die scheinbar unentbehrlichen Führungspersönlichkeiten aus dem Amt gedrängt, sondern auch die Regierungspartei, die von diesen Politikern geführt wurde, wird von der Geschichte als eine leere Hülse auf den Misthaufen geworfen. Das ist das Schicksal der drei wichtigsten politischen Gruppierungen, die im viel gerühmten annus mirabilis 1989 in Ungarn, im Land des größten Volksaufstandes im Europa der Nachkriegszeit, die Weichen für die Wende gestellt und dann in verschiedenen Konstellationen (mit Ausnahme von vier Jahren, 1998–2002, unter einer Fidesz-Regierung) Politik und Wirtschaft entscheidend mitgeprägt hatten. Im Gegensatz zu den anderen Ostblockländern verband sich der Systemwechsel weder mit einem politischen Umsturz noch mit einer dramatischen revolutionären Entwicklung. Es gab damals für die Menschen – im Kontrast zu den wenigen Tagen des scheinbar siegreichen Aufstandes im Herbst 1956 – kein Gefühl einer moralischen Erneuerung, keinen gewaltigen Drang nach Abrechnung mit den Würdenträgern des alten Regimes. Kein einziger kommunistischer Spitzenfunktionär oder Chef der diversen Geheimdienste wurde rechtskräftig verurteilt.

Im Gegensatz zu den gewaltsamen Zusammenstößen und Massenprotesten im sowjetischen Kolonialreich war das Verhältnis zwischen der Macht und der Opposition in Ungarn auf beiden Seiten durch Selbstbeschränkung und Verständigungsbereitschaft gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund der unauslöschlichen Erinnerung an die Oktober-Tragödie und an die durch die Sowjetpanzer zermalmten Hoffnungen der 1956er-Revolution stellte man das Machtmonopol der Staatspartei nicht infrage. Auf allen Seiten strebte man bis zuletzt eine graduelle Reform und später einen geordneten Machtwechsel an. Die heutigen rechtsradikalen, aber auch linken Kritiker des sanften Überganges zur parlamentarischen Demokratie vergessen die Tatsache, dass sich damals rund 70.000 sowjetische Soldaten mit fast 1000 Panzern, 1500 gepanzerten Militärfahrzeugen, 622 Artilleriegeschützen und 196 Raketen-Batterien »provisorisch« (bis zur Auflösung des Warschauer Paktes 1991) in Ungarn aufhielten und dass die Partei neben dem immensen, intakten Apparat des Geheimdienstes auch die bewaffneten Einheiten der sogenannten Arbeiterschutztruppen kontrollierte.

Bei der Betrachtung des langen und verschlungenen Weges János Kádárs (1912–1989) vom Henker und Kerkermeister zum »Landesvater« und »guten König« während der 32 Jahre des mit seinem Namen untrennbar verbundenen Regimes muss man rückblickend die ungeheure politische Bedeutung seiner Persönlichkeit hervorheben, und das ungeachtet seiner inzwischen überzeugend dokumentierten üblen Rolle hinter den Kulissen bei der Hinrichtung seiner einstigen Kampfgefährten László Rajk (1949) und Imre Nagy (1958). Dieser Schreibmaschinentechniker und lebenslange Berufsfunktionär unterschied sich bei seinen Auftritten stets von anderen kommunistischen Spitzenpolitikern. Dank der Interventionen Bruno Kreiskys, zuerst als Außenminister und später als Bundeskanzler der Republik Österreich, konnte ich das 1964 und 1981 persönlich erleben.

Durch seinen fast puritanischen Lebensstil, seine persönliche Bescheidenheit und seinen Sinn für Humor vermochte Kádár, trotz der blutigen Abrechnung mit den Freiheitskämpfern und Oppositionellen, in den Siebziger- und Achtzigerjahren die wohlwollende Duldung des Regimes seitens breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Der hoch angesehene Nationaldichter Gyula Illyés sagte in einem Fernseh-Gespräch mit mir im Frühjahr 1982, Kádár sei es gelungen, durch »Sachlichkeit, Bescheidenheit und Leistungen« das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Im Gegensatz zu allen anderen Ostblockführern duldete Kádár keinen Kult um seine Person. In den Amtsstuben hingen nie Bilder von ihm und auch bei festlichen Umzügen wurden solche nicht als eine Art von Monstranz getragen. Er sei »ein Diktator ohne persönliche diktatorische Neigungen« gewesen, formulierte treffend ein ungarischer Politologe.

Trotz der historischen Verantwortung, die auf Kádár lastet, zeigen alle Umfragen seit dem Systemwechsel, dass der Verräter und Mörder von Imre Nagy, dem vom moskautreuen Kommunisten zum nationalen Staatsmann gewandelten Ministerpräsidenten der Revolution, als jovialer Landesvater und als »Markenzeichen einer Goldenen Zeit« im Gedächtnis blieb. Ende der Neunzigerjahre hielten 42 Prozent der Befragten Kádár für den »sympathischsten ungarischen Politiker des 20. Jahrhunderts«.

Unbestrittene statistische Daten beweisen, dass sich zwischen 1956 und 1989 die Realeinkommen verdreifacht haben. Diese nachträgliche Verklärung des Kádár-Regimes ist also auch die Folge jener raffinierten Taktik von Zuckerbrot und Peitsche, die verhältnismäßig schnell relativ viele Früchte trug. Zum Teil mag sie freilich auch eine Reaktion auf die gewaltigen neuen Probleme nach der Wende gewesen sein.

Jedenfalls konnte ich als Auslandskorrespondent und später als Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF sozusagen in einer doppelten Position als Berichterstatter und zugleich dank meiner Orts- und Sprachkenntnisse als gebürtiger Ungar in der Rolle des Eingeweihten den Prozess des Systemwechsels der Halbheiten beobachten. Bis zu seiner Entmachtung im Mai 1988 galt Kádár als unverzichtbar für einen friedlichen Wechsel und zugleich als Verkörperung der Überlebenskraft eines vom Kreml eingesetzten »starken Mannes«, der drei Jahrzehnte hindurch mit unnachahmlichem taktischen Geschick, subtil, zynisch und wenn nötig auch brutal potenzielle Rivalen kaltgestellt und zwischen dem Druck von Moskau und der tief verwurzelten Angst vor dem Volk laviert hatte. Die Ambivalenz in der Beurteilung des vergangenen kommunistischen Regimes im Dienst einer fremden Diktatur und auch des autoritären Horthy-Regimes als letztem Verbündeten des Dritten Reichs, mitverantwortlich für den Tod von 560.000 ungarischen Juden, liefert bis heute den Schlüssel zum Verständnis der in Ungarn so ausgeprägten Tendenz, Zuflucht in der Vergangenheit zu suchen.

Ein Begräbnis mit Symbolkraft

Die Abrechnung mit den drei grundlegenden Tabus – das Einparteiensystem, die Fremdherrschaft und die Abstempelung des 1956er-Aufstandes als Konterrevolution – erfolgte am 16. Juni 1989 noch vor der formellen Abdankung der Staatspartei und vor dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen vor 250.000 Menschen auf dem Budapester Heldenplatz. Die Begräbnisinszenierung war monumental. Dieser Platz des kollektiven nationalen Gedächtnisses wirkt allein wegen seiner Lage sehr beeindruckend. Vor dem Stadtwäldchen und am Ende der fast drei Kilometer langen, breitesten Straße in Budapest steht in der Mitte des Platzes die anlässlich der Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Landnahme der Magyaren errichtete, 36 Meter hohe Säule, die eine rund fünf Meter große Figur des Erzengels Gabriel trägt. Dieser hält in der einen Hand die ungarische Krone, in der anderen das apostolische Doppelkreuz. Das eigentliche Heldendenkmal und die halbkreisförmige Säulenreihe der beiden Kolonnenbögen mit Standbildern zur Erinnerung an 14 Könige und Helden der ungarischen Geschichte beherrschen das Bild. Die zwei ebenfalls vor der Jahrhundertwende im klassizistischen Stil entworfenen Bauten der Gründerzeit, rechts die Kunsthalle und links das Museum der bildenden Künste, schließen die architektonische Einheit des Heldenplatzes ab.

Vor den sechs mit schwarzen Fahnen drapierten korinthischen Säulen ragte der samtschwarze Katafalk empor. Obenauf lagen auf den Treppen die fünf Särge der 31 Jahre zuvor bei einem Geheimprozess zum Tode verurteilten und sofort hingerichteten Märtyrer: des Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner vier Schicksalsgefährten. Der sechste, leere Sarg symbolisierte die 300 ermordeten Freiheitskämpfer des Volksaufstandes von Oktober/November 1956. Es lag ein Gefühl der Trauer, aber auch eine bedrohliche Entschlossenheit, die gewonnenen Freiheiten nie aus der Hand zu geben, über der unvergesslichen Szene. Die gesamte Kundgebung wurde vom ungarischen Fernsehen live übertragen, ebenso die darauf folgende Beisetzung Imre Nagys und seiner Kameraden in der Parzelle 301 auf dem gleichen Friedhof, auf dem sie zuvor in unbezeichneten Massengräbern verscharrt gewesen waren. Als eine Kompromisslösung wurde die Tatsache betrachtet, dass nicht nur die Familienmitglieder und Freunde der Märtyrer und die Vertreter der demokratischen Opposition, sondern auch rechtzeitig gewendete Funktionäre der Staatspartei bei den Särgen die Ehrenwache halten durften. Der ORF übertrug – wie viele andere Sender – die bewegenden Bilder. Ich berichtete nicht vor der Kamera aus Budapest, sondern kommentierte aus dem »off«, also nicht im Bild, im Wiener Studio, von Zeit zu Zeit mit fast versagender, vor Aufregung stockender Stimme, und schämte mich nicht, als mir während der Gedenkrede meines Freundes Miklós Vásárhelyi, der als Imre Nagys Pressechef auch mich 1953 aus dem Internierungslager geholt hatte, Tränen über die Wangen liefen.

Auf dem Heldenplatz haben sechs Menschen, Opfer und Gegner der kommunistischen Diktatur, geredet. Die politische Sensation des Tages für die Medien und auch für mich war jedoch die Rede eines völlig unbekannten jungen, bärtigen Mannes. Er hieß Viktor Orbán, damals 26 Jahre alt. Im Namen der jungen Generation hielt er als Letzter eine damals außerordentlich scharf klingende und zugleich knapp und verständlich formulierte Rede, mit der Forderung nach Demokratie und Unabhängigkeit:

»Wenn wir unseren eigenen Kräften vertrauen, sind wir in der Lage, der kommunistischen Diktatur ein Ende zu bereiten. Wenn wir entschlossen genug sind, können wir die herrschende Partei dazu zwingen, sich freien Wahlen zu stellen. Wenn wir die Idee von 56 nicht aus den Augen verlieren, werden wir eine Regierung wählen, die sofort Verhandlungen über den unverzüglichen Beginn des Abzugs der russischen Truppen aufnimmt. Wenn wir mutig genug sind, all das zu wollen, dann, aber nur dann, können wir den Willen unserer Revolution erfüllen.«

Auch rückblickend und unabhängig von seinen späteren politischen Aktionen und trotz seiner Anbiederung an den russischen Staatschef Wladimir Putin muss man den bahnbrechenden Charakter seiner mutigen und den protokollarischen Rahmen sprengenden, politisch aufsässigen Worte anerkennen. Nach diesem sechseinhalb Minuten dauernden Auftritt wurde der junge Mann in Ungarn und sogar im Ausland schlagartig berühmt. In den Worten seines späteren Biografen und heute schärfsten Kritikers József Debreczeni war das die »Begegnung eines außerordentlichen Glücks mit einem außerordentlichen Talent«.

Kapitel 2

DER AUFSTEIGER VON GANZ UNTEN

Wer hätte damals gedacht, dass der junge, bärtige Revoluzzer nur neun Jahre später (inzwischen ohne Bart), 35-jährig als der jüngste Ministerpräsident in der ungarischen Geschichte nach dem sensationellen Sieg der von ihm geführten einstigen Jugendpartei Fidesz wie ein »Meteor am politischen Himmel der ungarischen Politik« (so sein Biograf) erscheinen würde? Noch weniger Beobachter hätten allerdings nach seinen zwei darauffolgenden Wahlniederlagen (2002 und 2006) geglaubt, dass es dem von unbändigem Machtwillen getriebenen Jungpolitiker mit einer außergewöhnlichen persönlichen Leistung und mit hoher taktischer Begabung gelingen könnte, in drei epochalen Wahltriumphen, 2010, 2014 und 2018, die Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze zu erringen. Danach hat Orbán mit dem klaren gesellschaftlichen Führungsauftrag alle Herrschaftspositionen im Staat ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Prinzipien und den Wertekanon der Europäischen Union mit seinen Anhängern besetzt. Seit dem Sieg im Frühjahr 2010 nimmt er die Führungsrolle offensiv an und ist nicht bereit, Entscheidungen an andere zu delegieren. Der unabhängige und angesehene Spitzenjurist Universitätsprofessor Tamás Sárközy spricht in seinen grundlegenden Analysen der Methoden und Praktiken des Orbán-Regimes – in Anspielung auf die Landnahme der Magyaren um 896 im Donauraum – sogar von einer »neuen Landnahme« durch ein Freikorps von Plebejern, die sich im Interesse ihrer Mission bereichern und eine neue Ordnung, mit einer neuen Elite und einer neuen Mittelklasse, schaffen wollen.3

Sárközy weist auf ein einzigartiges und in den westlichen Medien völlig übersehenes Phänomen in Ungarn hin: Es dürfte in der Welt (abgesehen von Familienclans oder Diktaturen in Afrika und Lateinamerika) kein demokratisches Land geben, in dem die Angehörigen eines ganz kleinen, seit fast 30 Jahren bestehenden Freundeskreises aus zehn bis zwanzig einstigen Studenten in solchem Ausmaß so viele staatsrechtliche Positionen besetzen. So werden die Ämter der höchsten Würdenträger – des Staatspräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Parlamentspräsidenten – von drei alten und engen Freunden, János Áder, Viktor Orbán und László Kövér besetzt. Die vor allem dank der unbedingten persönlichen Loyalität gegenüber der Führungsgestalt Viktor Orbán und nicht etwa wegen besonderer Fähigkeiten in Schlüsselpositionen der Verwaltung und der Wirtschaft aufgestiegenen, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität, im Kollegium oder beim Militär miteinander (oft auch durch ihre Ehefrauen) befreundeten Personen, heute Endfünfziger, bilden den geschlossenen Kern der Herrschaft im ungarischen Staat.

Der Wille zur Macht

Ein guter Ausgangspunkt für die Beschreibung der Praktiken des Herrschens und Führens unter dem von Orbán 2010 bis heute errichteten autoritären Regime sind die bekannten Definitionen Max Webers: »Macht bedeutet die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«, »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«4 Orbáns Regierungssystem beruht nicht auf blanker Unterdrückung wie jenes Wladimir Putins in Russland, Alexander Lukaschenkos in Belarus oder Nursultan Nasarbajews in Kasachstan. Der Herrscher Ungarns schart durch die Vergabe von Ämtern mit Pfründen eine große Anhängerschaft um sich, die weit über Verwaltung und Polizei, Geheimdienste und Militär hinausreicht. Im Lauf der Jahrzehnte, also bereits lange vor der Erringung der Zweidrittelmehrheit, schuf sich Viktor Orbán einen enormen persönlichen Handlungsspielraum. Gegenkräfte in seiner Partei waren von Anfang an nur unzureichend zu Widerstand fähig, sie fehlten entweder gänzlich oder versagten. Auch wenn man die Geschichte der ganzen Epoche in den Blick nehmen muss, lässt sich die personalisierte Herrschaft Orbáns doch in erster Linie aus seiner Lebensgeschichte heraus erklären.

Die Tatsache, dass die meisten politisch oder finanziell Mächtigen im Umkreis Orbáns von ganz unten, aus schwierigen Verhältnissen, überwiegend nicht aus Budapest, sondern aus einem sozial randständigen Umfeld in der Provinz kommen, hat ungarische Autoren sogar zu gewagten Vergleichen von manchen Fidesz-Spitzenpolitikern mit den Helden in den Romanen von Balzac (Lucien de Rubempré) und Stendhal (Julien Sorel) verführt. Doch sind diese Hinweise trotz mancher Parallelen in Haltung und Lebensart bei einigen neuen Orbán-Freunden (wie bei der schillernden Hintergrundfigur Árpád Habony5) deshalb falsch, weil die Umstände des sozialen Aufstiegs von Orbán selbst und der einflussreichsten Fidesz-Leute um ihn herum überhaupt nicht der etwa in Balzacs »Verlorenen Illusionen« beschriebenen Zeit in Paris entsprechen.

Die zwei im Ton massiv unterschiedlichen Orbán-Biografien (insgesamt 1020 Seiten), die der Politologe und Publizist József Debreczeni innerhalb von knapp sieben Jahren, allerdings vor dem entscheidenden Wahlsieg 2010, geschrieben hat, ebenso wie Interviews und TV-Aufnahmen aus der Frühzeit, liefern eher als das enzyklopädische Sittengemälde Frankreichs in den Büchern Balzacs den Schlüssel zum Verständnis jener besonderen Verhältnisse in der langen und widerspruchsvollen Kádár-Ära, die das Leben der Familie Orbáns und seiner Freunde prägten.6

Eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen

Über das Leben der Eltern des am 31. Mai 1963 geborenen Viktor Orbán und über seine Kindheit im winzigen, trostlosen Dorf Alcsútdoboz rund 50 Kilometer westlich von Budapest wissen wir das meiste von ihm selbst. Zuerst wohnte die ganze Familie, auch mit dem um zwei Jahre jüngeren Bruder, auf engstem Raum mit den Großeltern väterlicherseits in ihrem Haus. Die zentrale Figur in der Familie war der legendäre Großvater. Der körperlich sehr kräftige Hafenarbeiter rückte im Zweiten Weltkrieg ein, kam an der Ostfront zum Einsatz und kehrte nach dem Zusammenbruch der Zweiten Ungarischen Armee auf abenteuerlichem Weg aus der Kriegsgefangenschaft in Österreich unversehrt in die Heimat zurück. Mit seiner Frau, einer ehemaligen Putzfrau, siedelte er sich schließlich in diesem Kaff Alcsútdoboz an. Der Großvater war zeitweilig auch als eine Art Wundarzt (Feldscher) neben dem örtlichen Tierarzt beschäftigt. Viktor bewunderte diese starke Persönlichkeit, die 48-jährig noch maturierte, nur um sich zu behaupten. Dieser außergewöhnliche Mensch dürfte auch die Leidenschaft für Fußball schon beim fünf- oder sechsjährigen Viktor entfacht haben. Großvater und Enkel haben regelmäßig zusammen die Übertragungen der Fußballspiele im Rundfunk angehört und die Sportzeitung gelesen.

Nach Streitigkeiten zwischen seiner Mutter und der Großmutter übersiedelte die Familie später mit dem zehnjährigen Viktor ins etwas größere Nachbardorf Felcsút. In einem baufälligen Haus ganz am Ende der Hauptstraße musste man sozusagen wieder von vorne anfangen. In diesen Jahren wuchs Viktor zwar in geordneten Verhältnissen, jedoch zweifellos in sehr ärmlichen Umständen auf. Erst rückblickend in Interviews ruft er auch für sich selbst in Erinnerung, wie unglaublich hart er mit seinen Geschwistern vor, während und nach der Grundschule auf dem Feld, am Anfang auch bei den Nachbarn und immer auch während der Ferienzeit, arbeiten musste: Rüben ziehen, Kartoffeln auflesen, Maiskolben sammeln und die Schweine und Hühner füttern.

Es gab kein Fließwasser, heißes Wasser war ein Luxus, das Wasser musste in einem Blechgeschirr auf dem Gaskocher aufgewärmt werden, dann wusch man sich im Waschbecken. Man kann sich leicht vorstellen, was es für einen aufgeweckten Jungen mit starkem Bewegungsdrang bedeutet haben muss, unter solchen Umständen aufzuwachsen. Noch 15 Jahre später schilderte der erfolgreiche Jungpolitiker, damals bereits als Fidesz-Vorsitzender, welch »unvergessliches Erlebnis« es war, das erste Mal, 15-jährig, ein Badezimmer zu haben und den Hahn für das Warmwasser einfach aufzudrehen. Dass es eine andere Welt des Wohlstands gibt, wusste er damals noch nicht aus eigener Anschauung.

Orbán machte auch nie einen Hehl aus der Tatsache, dass der soziale Aufstieg seiner Eltern mit der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung des Kádár-Regimes verbunden war. In den Siebziger- und Achtzigerjahren entstand in Ungarn der Typus des erfolgreichen Kleinbürgers, den der Politologe László Lengyel als den »Homo Kádáricus« im Gegensatz zum »Homo Sovieticus« bezeichnet hat. Nach dieser Analyse lebte dieser in der Stadt und auf dem Lande aus diversen Nebeneinkünften. In der Blütezeit des »reifen Kádárismus« wurden das öffentliche und das Privatleben nach der Devise getrennt: »Wir politisieren oben – ihr lebt unten.« Diese stillschweigende Abmachung, in der sich die Staatspartei und das Volk gleichermaßen der Grenzen des Möglichen bewusst waren, ließ damals eine ungarische Spielart des Kommunismus zu.

So ein »Homo Kádáricus« war zweifellos der Vater, der 1940 geborene Győző Orbán, seit 1966 Parteimitglied. Im örtlichen Agrarkollektiv in Felcsút gehörte er sogar der Parteileitung an und war Chef der Maschinenabteilung der Kollektivwirtschaft. Harte Arbeit und zugleich permanentes Lernen waren Schlüssel zum Ausbruch der Familie aus den ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war 30 Jahre alt, als er die zuvor abgebrochenen Studien fortsetzte und die Universität mittels eines Fernkurses als Maschinenbauingenieur absolvierte. Auch die Mutter wurde auf dem zweiten Bildungsweg nach dem Abschluss einer Hochschule zur Heilpädagogin.

Bei dem guten Schüler Viktor war schon früh die Neigung zur Disziplinlosigkeit erkennbar, die sich auch in späteren Jahren immer wieder einmal Bahn brechen sollte. Als Zweitkleinster in der Klasse war er zwar kein Anführer, kämpfte jedoch ohne Angst bei Raufereien.

Er selbst gibt zu, dass er ein »unglaublich schlimmes Kind war. Ungezogen, frech, gewalttätig. Nicht sympathisch. Immer wieder wurde ich aus allen Schulen hinausgeworfen … Die Erwachsenen konnten mich nicht leiden und ich sie auch nicht … Zuhause hatte ich ständig Disziplinprobleme; mein Vater hat mich jährlich ein-, zweimal verprügelt.« Von der Schule bis zum Militärdienst und Studium an der Rechstfakultät blieb seine Devise unverändert: »Wenn ich eine Ohrfeige bekomme, gebe ich zwei zurück.« In einem unbedachten Moment erzählte der Jungpolitiker, dass er sogar noch 17-jährig wegen rüpelhaften Benehmens von seinem Vater verprügelt wurde.

Die Jahre am Gymnasium

Der soziale Aufstieg der Familie fiel zeitlich mit der Aufnahme Viktors in eine der angesehensten Mittelschulen Ungarns in der Stadt Székesfehérvár und der Übersiedlung aus dem winzigen Dorf Felcsút in diese traditionsreiche einstige Krönungsstadt zusammen. Hier erlebte der 15-jährige Viktor nicht nur das kleine Wunder des ersten Badezimmers in der Zweizimmerwohnung mit 54 Quadratmetern, sondern musste auch die Bewährungsprobe der Begegnung mit der urbanen Umgebung und mit den Mitschülern (31 Mädchen und nur 6 Burschen) bestehen, von denen viele bessergestellte Eltern hatten. In einem Interview behauptete Orbán später, dass es ihm nach einem halben Jahr mit Hilfe seiner Mutter, aber auch dank seines Selbstbewusstseins gelungen sei, in seiner Sprache und im Lebensstil die ländlichen Merkmale zu überwinden. Auch in der Mittelschule geriet der junge Heißporn übrigens in Konflikte und wurde sogar des Internats verwiesen. Zum Glück hatte sein Vater inzwischen eine Stelle und die erwähnte Wohnung in der Stadt bereits gefunden.

Obwohl der umtriebige Gymnasiast in den ersten zwei Klassen sogar als Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes (KISz) verschiedene gesellschaftliche und sportliche Events mit organisierte, hat Orbán nie versucht, sich rückwirkend zu einem jungen Kämpfer gegen das Regime hochzustilisieren. Im Gegenteil, er habe weder mit dem geliebten Großvater noch mit seinen Eltern über Politik gesprochen. Politik war kein Thema in der Familie, man las keine Zeitung, hörte keine politischen Nachrichten. Sie passten sich dem verglichen mit den anderen Ostblockländern milder und erträglicher gewordenen Kádár-Regime an. Mit den Worten Orbáns: »Es ist merkwürdig, aber es gibt keinen Grund in der Geschichte meiner Familie, der eine Erklärung geliefert hätte, warum ich Antikommunist geworden bin. Mein Vater war Parteimitglied. Die Familie wollte sich nicht in die Politik einmischen. Eine typische Reaktion auf die post-1956-Stimmung. Man sagte mir, lerne fleißig, arbeite und kümmere dich um deine Sachen. Denke nicht an die gesellschaftlichen Fragen und an die Außenwelt. Wir können diese sowieso nicht beeeinflussen.«

In diesem Sinne passten sich die Orbáns dem kommunistischen Regime an, genau so wie die meisten Ungarn. Der Vater rückte in eine höhere Stellung in einem Steinbruch auf und konnte 1982 als Ingenieur sogar für ein Jahr in Libyen eine Stelle annehmen und durfte in einem zweiten Jahr seine Frau und den um 14 Jahre jüngeren, jüngsten Bruder Viktors zu sich holen. Orbán hat dann als Student seinen Vater in Libyen besucht.

Leidenschaft Fußball

Für den Gymnasiasten war indessen das Fußballspiel zur größten Leidenschaft seines Lebens geworden. Er durfte in der Jugendmannschaft eines Spitzenvereins aus der ersten Liga der Fußballmeisterschaft spielen. Viermal in der Woche ging er zum Training und verbrachte 90 Prozent seiner Freizeit auf dem grünen Rasen. Es seien damals die schönsten Jahre für ihn gewesen, obwohl er »kein besonderes Talent als Fußballspieler« aufwies und sich sehr anstrengen musste, um in den Kader der Jugendmannschaft aufgenommen zu werden.

Wenn er auch um seine letztlich begrenzten Fähigkeiten auf diesem Feld wusste und sich als Mittelstürmer nicht überschätzte, pflegte er stets ein intensives, unverkrampftes und natürlich medienwirksames Verhältnis zum Fußball. In der Mittelschule verstand er, dass man im Fußball auch aufsteigen kann, wenn man von unten kommt. Der Fußball bietet auch gesellschaftlich eine Möglichkeit, Grenzen zu verschieben, Chancen zu testen und als Gleicher unter Gleichen die Kräfte zu messen. »Wir führten im Gymnasium ein viel zu einförmiges Leben. Das war in der Fußballmannschaft anders; da gab es die unterschiedlichsten Menschen: reich, arm, dumm, gescheit. Gleichzeitig bildete sie eine sehr gute Gemeinschaft von Freunden. Das Spiel brachte Menschen aus den verschiedensten Schichten zusammen. Wann immer ich eine Mannschaft wechselte, wechselte ich auch die Kulturen.«

Unter den Freunden in der Mittelschule war für Viktor mit Abstand der um drei Jahre ältere Lajos Simicska der wichtigste. Dieser kam von ganz unten. Kaum ein anderer Schüler hat so früh so tief geblickt wie er. Seine Familie war so arm, erzählt Simicska, dass er Kohle stehlen musste, um die Familie vor dem Erfrieren zu retten. Sein Vater, ein Metallarbeiter, sei wegen seiner Rolle als Sekretär des betrieblichen Arbeiterrates während des 1956er-Aufstandes nachher moralisch und physisch zugrunde gerichtet gewesen. Der offen antikommunistisch eingestellte Simicska wurde wegen seines rebellischen Auftretens einmal aus seiner Klasse hinausgeworfen; deshalb war er nun um zwei Klassen über Viktor und seinen Altersgenossen. Sie alle hatten Simicska als Sturmbock bewundert. Laut Orbán habe Simicska über ein »fantastisches Gehirn verfügt; er ist der Klügste von uns allen« gewesen. Er trat nur deshalb dem Kommunistischen Jugendverband bei, um die Aufnahme an die Universität zu schaffen. Schließlich hat Simicska gleichzeitig mit dem Jahrgang Orbáns und seiner Freunde das Universitätsstudium an der Rechtsfakultät angefangen und auch abgeschlossen.

Freunde fürs Leben

Sie waren auch zusammen Soldaten. Die an der Universität aufgenommenen Maturanten mussten nämlich zuerst für fast ein Jahr ihren Militärdienst absolvieren. Für die künftigen Studenten war der Militärdienst eine besonders harte Prüfung, weil sie von den anderen Rekruten und vor allem von den Unteroffizieren und Offizieren als »Privilegierte« betrachtet und auch gequält wurden. Für Viktor Orbán waren diese Monate vor allem wegen der Beschränkung seiner persönlichen Bewegungsfreiheit kaum erträglich, weil er dadurch immer Gefahr lief, wichtige Spiele während der Fußballweltmeisterschaft zu verpassen. Wegen unerlaubten Ausgangs oder Fernbleibens vom Dienst wurde er mehrmals zu je drei Tagen Kerker verurteilt. Einmal musste der aufsässige Orbán sogar für zehn Tage hinter Gitter, weil er einen Gefreiten im Zuge einer persönlichen Auseinandersetzung geohrfeigt hatte.

Obwohl er sich damals politisch noch nicht engagierte, bedeutete diese Zeit doch emotional eine Wende in seinem Leben, da er zum ersten Mal hautnah mit der Brutalität der militärischen Maschinerie und zugleich mit der Primitivität der Indoktrinierung zur Rechtfertigung des Systems konfrontiert wurde. Diese Erfahrungen bereiteten den Boden für die spätere politische Aktivität und für die Wandlung zu einem bewussten Gegner der Parteidiktatur. In diese Zeit fiel auch der Versuch des überall und erst recht in der Armee besonders aktiven Geheimdienstes, Viktor Orbán als Informanten zu gewinnen. Er hat zwar abgelehnt, doch seinen Freunden davon nichts gesagt. Erst nach einer diesbezüglichen Pressemeldung im Juni 2005 hat Orbán das Dokument aus dem Archiv des Staatssicherheitsdienstes veröffentlicht, wonach »der Versuch erfolglos« gewesen sei.

Sein Freund Simicska galt auch während des Militärdienstes wegen seiner kritischen Haltung zu den sowjetischen Versuchen, die gewerkschaftliche Opposition in Polen zu unterdrücken, als schwarzes Schaf. Eine ganze Reihe von späteren Fidesz-Politikern, so auch seine engsten Freunde in der Studentenzeit, wie Gábor Fodor und László Kövér, haben in der Armee ähnliche Erfahrungen wie Orbán gemacht. Der aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie stammende und fast vier Jahre ältere Kövér, der stets zu übertriebenen Formulierungen neigt, hat einmal in einem Rückblick auf seine Soldatenzeit die Armee sogar als »Mini-Auschwitz« bezeichnet!

Die am Anfang dieses Kapitels erwähnte Gruppenbildung fiel zeitlich mit der politischen Aktivität in der Studentenvertretung an der Rechtsfakultät und vor allem mit der Einrichtung des Bibó-Kollegiums7 für Jusstudenten 1983 zusammen. Nicht an der Universität, sondern in diesem Kollegium entstand ein Netzwerk von persönlichen und politischen Freundschaften, das direkt und indirekt nicht nur die Karriere der einzelnen Figuren, sondern durch ihren späteren Aufstieg die ganze politische Landschaft des postkommunistischen Ungarn geprägt hat. Dass Orbán zuerst mit Simicska und dann fast zwei Jahre mit Gábor Fodor das Zimmer im Kollegium in der Ménesi-Straße 12 in Buda geteilt hat, bedeutete eine intime Kenntnis voneinander, die die persönlichen Reaktionen im Wechselspiel von Zusammenarbeit, Rivalität und Feindschaft der folgenden Jahrzehnte immer wieder mitbestimmt hat. Auch heute wohnen dort zu zweit oder zu dritt in den nur etwa zwölf Quadratmeter großen Zimmern 60 Studenten und Studentinnen, die monatlich rund 12.000 Forint (etwa 40 Euro) für die Benützung der Zimmer zahlen müssen.

Dass diese Insel der Autonomie und Selbstbestimmung in den Achtzigerjahren existieren, ja sogar blühen konnte, verdankten die Studenten vor allem drei Faktoren: den allgemeinen Reformen und Lockerungen in der Spätphase des Kádár-Regimes, der Tatsache, dass der Direktor des Kollegiums, der nur um fünf Jahre ältere István Stumpf, selber Reformer war und als Schwiegersohn des mächtigen, langjährigen Innenministers István Horváth über einen persönlichen Spielraum verfügte, und nicht zuletzt der tatkräftigen Unterstützung durch den aus Ungarn stammenden Multimillionär George Soros, der ab 1986 das Kollegium und die politisch aktiven Studenten sowie ihre Zeitschrift »Századvég« mit namhaften Subventionen (Sprachkurse, Stipendien, Auslandsreisen und Druckkosten) förderte. Das Bibó-Kollegium befindet sich in jener zweistöckigen Villa mit großem Garten im vornehmen Viertel von Buda, die, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, vor dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie auch als Stätte der Begegnung für liberale und linke Intellektuelle diente.

Durch Vorträge und persönliche Kontakte haben Orbán, Fodor, Kövér und ihre Gesinnungsfreunde enge Kontakte mit den intellektuellen und politischen Wortführern der linksliberalen Opposition geknüpft. Die Kontakte, intensiviert durch gemeinsames Fußballspiel und familiäre Bande zwischen den einstigen Gymnasiasten, Rekruten und Zimmernachbarn, blieben auch nach dem Abschluss des Studiums engmaschig. Orbán war nicht zufällig bald nach der Gründung des Kollegiums, bereits 1984, 21-jährig zum Vorsitzenden des Leitungsausschusses der 60 Studenten gewählt worden.

»In der Politik geht es erstens um Macht, zweitens um Macht, und drittens um Macht.« Diese Aussage des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel ist nach wie vor uneingeschränkt gültig, meint der Soziologe Rainer Paris: »Führen kann deshalb nur, wer auch führen will, wer also, selbst wenn er dazu gedrängt wurde, sich von einem bestimmten Moment an grundsätzlich dazu entschließt und die Führerrolle offensiv annimmt und bejaht.«8

Der absolute Wille zur Macht hat das Charakterbild Viktor Orbáns schon als Studentenführer und während seiner ganzen politischen Karriere geprägt, auch wenn er es vermochte, nicht zuletzt dank willfähriger medialer Vermittlung, überwiegend nur als zielbewusster Politiker wahrgenommen zu werden, als Politiker mit Charakter, Bescheidenheit und einer weißen Weste. Er verstand es, bei Bedarf von ungeschickten oder untragbar gewordenen Funktionären seiner eigenen Partei rechtzeitig abzurücken und sich für Pannen nicht »haftbar« machen zu lassen.

Sein einstiger enger Freund, Mitbewohner des gemeinsamen Zimmers und späterer Rivale aus dem Bibó-Kollegium, Gábor Fodor: »Er hatte schon in den Achtzigerjahren jene herrschsüchtige, intolerante Denk- und Verhaltensweise, die man heute bei ihm sieht. Auch die prinzipienlose Berechnung steckte in ihm. Aber nicht nur das. Er war daneben auch offen, aufrichtig und sympathisch.« Die Bewertung Orbáns als ein von den Anhängern bewunderter, von den Gegnern gefürchteter Mann mit allgemein anerkannter Führungskraft ist während seines ganzen Lebens ambivalent geblieben.

Kapitel 3

GLANZ UND ELEND EINES JUNGPOLITIKERS

Wenn man die verblüffende Entwicklung seit dem Systemwechsel im Allgemeinen und den einzigartigen Aufstieg der Fidesz-Partei, vor allem seit 1998 und erst recht seit 2010, im Besonderen verstehen will, muss man zuerst die persönlichen, politischen und letztlich unüberbrückbaren Querelen in der kleinen Kerngruppe in Erinnerung rufen. Als Viktor Orbán und 36 andere Studenten am 30. März 1988 den Bund der jungen Demokraten (Fidesz) als eigenständige Jugendorganisation im großen Saal des Budapester Bibó-Kollegiums gründeten, beschäftigte diese gewagte Herausforderung der zerfallenden kommunistischen Staatspartei zuerst nur die Geheimpolizei, die sofort – allerdings vergeblich – versuchte, die Gründungsväter unter Druck zu setzen. Niemand von den drei Dutzend Jus- und Ökonomiestudenten Mitte Zwanzig hätte wohl damals gedacht, dass sie in diesem etwa 30 bis 35 Quadratmeter großen Saal im Erdgeschoss der einst von einem sozialistischen Arzt (József Madzsar) und seiner Frau (Alice Jászi), einer berühmten Tanzkünstlerin und Pädagogin, errichteten Villa, im Hintergrund mit einem großen Garten, die vielleicht erfolgreichste Partei in der ungarischen Geschichte gründen würden.

Das Gründungsdokument deklariert das Ziel der Schaffung einer neuen, selbständigen und unabhängigen Jugendorganisation, die die politisch aktive, radikale, reformistische Jugend sammeln will. Zwei Bedingungen sind für die Mitgliedschaft maßgeblich: Die Altersgrenze wird zwischen 16 und 35 Jahren festgelegt, und man darf nicht dem Kommunistischen Jugendverband angehören. Bereits nach vier Wochen zählte der Fidesz eintausend Mitglieder. Die breite Öffentlichkeit erfuhr allerdings erst nach der aufsehenerregenden Rede Orbáns am Heldenplatz am 16. Juni 1989 überhaupt von der Existenz der neuen Gruppierung.

Die neuen politischen Parteien

In diesem Jahr wurden die Weichen für den Übergang von der Diktatur zur Demokratie gestellt. Nachdem Michail Gorbatschow dem ungarischen Regierungschef Miklós Németh bereits im März 1989 klipp und klar gesagt hatte, dass sich der Kreml weder dem Mehrparteiensystem noch der Zulassung des Privateigentums widersetzen würde, begann in der Staatspartei die Phase der ungezügelten Machtkämpfe. Auch in Ungarn führte die Entwicklung, wie schon früher in Polen, zur Gründung eines Runden Tisches, um zwischen Opposition und Staatspartei Verhandlungen einzuleiten. Viktor Orbán und László Kövér nahmen für den Fidesz an diesen Sitzungen aktiv teil.