Klaus Scherer

Von Sibirien nach Japan

Reise durch ein vergessenes Paradies

Inhaltsverzeichnis

Karte

I. Kamtschatka

Von der Nordküste nach Petropawlowsk

Abrahamow

Im vergessenen Paradies

Die tanzenden Fischer von Kowran

Willkommen im Sperrgebiet

Im Schatten des Kljutschewskaja

Unterm Joch der Kosaken

Essos neue Gärten

Nomadenland

Tungusen-Tschums, Pyshiki und Posteli

Letzte Ausfahrt Petropawlowsk

Kamtschatski Blues

Spariwatj gegen Sperrfeuer

Friede, Freundschaft, Kaugummi

Von Kirchen und Kämpfern

Zwischen Pest und Skorbut

II. Jenseits des Alaid

Vom Kurilensee zur Straße von Nemuro

Fluchtpunkt Wildnis

Majestät Alaid

Menscheninseln

Im Bann des Taifuns

Im Niemandsland

In Schikotans Trümmern

III. Hokkaido

Vom Ostkap nach Hakodate

Westwärts in den Wohlstand

Schulklasse Japan

Männerberg und Höllental

Schicksalsstadt Hakodate

Abkehr zum Amur

Weltkulturerben

Dank

Tafelteil

I. Kamtschatka

Von der Nordküste nach Petropawlowsk

Abrahamow

Kowran, Kamtschatka. Erster Drehtag, Nebel. Durch meinen Kopf schießen Gedankenblitze, wie falsche Einzelbilder, die kaum merklich eine fertige Filmszene stören. Kindheitserinnerungen. Mein erstes Religionsbuch in der Volksschule hieß «Schild des Glaubens». Ich wunderte mich anfangs, was Bibelkunde wohl mit Verkehrsschildern zu tun habe, aber ich mochte die kleinen Zeichnungen zu den Geschichten darin. Eine zeigte den gramfaltigen Abraham draußen vor seinem Opferaltar. Bereit, Gott seinen Sohn zu geben.

Genau so steht der alte Nikita jetzt da. Stumm beugt er sich über den mit Wiesengras behäuften klotzigen Holztisch. Das Schlachtmesser fest umgriffen, den Blick angespannt. Dann sticht er langsam zu, führt die Klinge korrekt und sicher bis zum Ende des Schnitts und richtet sich auf. Er ist zufrieden. Der Tag hat ihm einen stattlichen Lachs beschert. Einen Meter dürfte er messen, gerade so wie die Schlachtbank, an der Nikita sein Leben lang den Fang zerlegt hat. Hier am Dorfrand von Kowran.

Als die Organe entnommen sind und der Alte die erste Fischhälfte vom Grätengerippe gelöst hat, wirft er den noch immer schweren Tierleib herum, sodass er auf die andere Seite klatscht. Wieder legt er erst die Filets frei, die er dann längsseits zerteilt und mit einem Faden verknotet, um sie so später zum Trocknen aufzuhängen. Mit dem Gewicht seines Körpers drückt er das Messer nun durch den knochigen Fischkopf, der krachend in Stücke zerfällt, als würde er tatsächlich nach alter Sitte geopfert. Erst der Unterkiefer, dann ein Rundschnitt unter die Kiemendeckel, dann der restliche Schädel. So hat es der Fischer von seinem Vater gelernt und dieser von seinem. So fischen die Itelmenen.

Sogar der biblische Dornbusch ist da, blitzt mir erneut ein Fehlbild dazwischen, als mein Blick kurz die Umgebung mustert. Dann lugt Nikitas treueste Zuschauerin am oberen Tischende über die Grashalmspitzen.

«Ich mag es, wenn Großvater Fische schlachtet», sagt die kleine Sascha mit scheuen, tiefschwarzen Augen unter dem Fransenhaar. Gut möglich, dass sie im Dorf bald die hübscheste Tänzerin sein wird. «Und ich esse gern seine Fischsuppe.»

Hinter ihr legt sich die dunstige Nacht auf die Hütte des Alten. Durch das gekreuzte Fenster fällt Licht auf uns.

«Was davon magst du am liebsten?», frage ich.

Da überlegt sie ein wenig, ob sie uns ihrer beider Geheimnis tatsächlich verraten soll. Dann öffnet sie langsam die kleine Faust, die etwas Rosafarbenes verborgen hält.

«Das Herz.»

 

Drinnen in seiner Küche bleibt dem Alten nicht mehr viel Platz. Wassereimer und Einmachgläser, Töpfe, eine Axt und die mit Sand gefüllte Blechschüssel für die Notdurft der Katze bedecken die Bodenbretter. Von der Decke her neigen sich Wäscheleinen mit Socken und Unterzeug über den Tisch, an dem wir nun sitzen. Nikita nimmt seine Wollmütze vom Kopf. Darunter kommt schlohweißes Haar zum Vorschein. Bald schon wird er achtzig Jahre alt sein. Er beugt sich über eine Schale Suppe, die er aufgekocht hat und nun vom tropfenden Löffel schlürft. Was hin und wieder an seinem Kinn herunterrinnt, pflückt er mit der freien Hand weg, als streiche sie einen Spitzbart. Dann wischt er sie am Hemd ab. Im fahlen Licht umschwirren uns Stechmücken.

«Das Dorf scheint bessere Tage gesehen zu haben», sage ich. «Was ist passiert?»

«Früher gab es hier eine Kolchose. Die hieß ‹Roter Oktober›. Die Sowjets hatten uns da hineingesteckt. Aber wir konnten immerhin davon leben. Dann hat man sie zugemacht», sagt er. «Das mit den Reformen ging alles zu schnell. Und zum Fischen erteilen sie uns keine richtigen Lizenzen. Früher, in unseren Dörfern, da ging es uns besser.»

Von seinem Sohn Oleg weiß ich, dass die Alten hier nicht gern über die Vergangenheit reden. Es gebe so viel zu beklagen, und sie hätten es ja auch lange getan, sagte er. Aber es habe nie etwas genutzt.

«Stammen die Leute alle von hier?», frage ich.

«Ich bin der Einzige aus meiner Generation, der hier geboren ist. Die anderen wurden zwangsumgesiedelt wie die meisten im Ort. Das fällt ja keinem leicht. Wem fällt es schon leicht, sein Dorf aufzugeben?»

 

Nikita Zaporodskij ist der erste Bewohner des sibirischen Ostens, bei dem wir auf unserer Reise zu Gast sind. Von seinem Dorf Kowran aus führt sie uns über die naturwilde, von Vulkanen bewachte Halbinsel Kamtschatka und die sturmumtosten Kurilen bis auf Japans Nordinsel Hokkaido. Auf dem Weg nehmen wir japanische Spuren in Russland auf und verfolgen russische bis zu den Gräbern des Exilfriedhofs von Hakodate, einer der schönstgelegenen Hafenstädte Nordjapans, an dessen Küste vor Jahren noch mein Berichtsgebiet als ARD-Fernostkorrespondent endete.

Wir, das ist ein Hamburger Fernsehteam auf Drehreise für eine zweiteilige TV-Reportage; zunächst mehrere Wochen im Sommer, dann weitere im Oktober, wenn in Kamtschatka der Schnee schon die Täler erreicht und auch in Japans Norden die Nächte kalt werden. Mit Kameramann Johannes Anders war ich zuletzt in Ländern unterwegs, die 2004 vom Tsunami verwüstet wurden. Kameraassistent Wolfgang Schick begleitete mich zuvor durch Südsee und Arktis. Die Tonleute Conrad Zelck und Andreas Zahrndt, die je einen Reiseteil übernehmen, und die deutsch-russische Producerin Polina Davidenko sind neu in der Crew; ebenso die Japanerin Mami Takahashi, die uns beim Dreh auf Hokkaido begleitet.

Dazu ich als Reporter mit Asien-Erfahrung, wenngleich mir Japans Grenzkontrolleure auf meinen Korrespondentenreisen schon den Zutritt auf die südlichen Kurileninseln verwehrten. Dabei reklamieren sie diese bis heute als ihre ureigenen «nördlichen Territorien» und ignorieren die nun schon sechzig Jahre währende russische Annexion. Nicht einmal Kunaschir, das in Sichtweite liegt, durfte ich von den Nordhäfen aus besuchen. Als Journalist nicht und als Ausländer schon gar nicht.

Mein Wunsch, diese weltabgewandte, weithin vergessene Gegend einmal bis nach Sibirien hinauf zu bereisen, entstand zu jener Zeit. Hin und wieder malte ich mir aus, welche Welt wohl hinter diesen wolkenverhangenen Konturen verborgen lag. Allein die Fahrtrichtung hat sich nun geändert – und folgt damit der Tradition früher Forscher, die mehr als ein Jahrhundert zuvor, meist im Auftrag der russischen Krone, aufbrachen, jene Welt zu erkunden, in der sich der weitläufige Osten des Zarenreichs damals verlor.

Im vergessenen Paradies

Selbst zu Pferd macht sich der junge Entdecker Notizen. Über sanftwellige Moosfelder sei er dem Meere zu geritten, schreibt er sich auf. Nun blicke er auf spitzkuppige Haufengebirge, die klar und schön aus der Ebene wüchsen. Mit seinem Gefolge ist er seit dem Morgen an Kamtschatkas Nordwestküste unterwegs, unweit der späteren Siedlung Kowran. Zuvor hat er einen ganzen Tag lang Sturm, Regen und «arge kurilische Winde» erlitten.

Nach drei Stunden Ritt südwärts weisen seine Begleiter auf eine schwarze Masse, die sich, von der Ebbe freigegeben, weit vor ihnen aus dem Strand wölbt und über der Vögel schwärmen. Als die Reiter sich nähern, erkennen sie den gestrandeten Wal. Er war seinen Jägern auf See zwar entkommen, aber die Harpunenwunden hatten ihn zu sehr geschwächt.

«Das Thier ist todt, jedoch noch nicht in Verwesung übergegangen», hält der Forscher fest und beginnt damit, es zu vermessen, vom «platt liegenden Schwanz» bis zu den «pinselhaften Enden der Maulbarten», die ihm – noch – den Blick ins Innere versperren. Knapp gebietet er seinen Begleitern, ein Beil zu holen, um es im Dienste der Wissenschaft beherzt ins Fischbein zu treiben. «Durch einige Hiebe war bald eine Lücke in die Bartenwand geschaffen», notiert er später. «Dahinter eröffnete sich eine dunkle, stinkende Höhlung, deren Decke aus zahllosen herabhängenden Barten bestand, während darunter eine riesige, schlüpfrige Zunge lag, in die ich beim Hineinsteigen etwas einsank.»

Im Schlund der Nasenöffnung wie im Dickicht der Barten entdeckt er noch allerlei Seegetier, das er fachkundig bestimmt. «Meine Kamtschadalen waren hoch erfreut über diesen Fund», beschließt er den Tag. Sogleich hätten sie sich daran gemacht, das Tier zu zerteilen und nach Hause zu tragen. «Hier gab es nun für längere Zeit ein schönes Hundefutter.»

 

Der deutsche Forscher Karl von Ditmar, eigentlich als «Beamter für besondere Aufträge im Bergfach» nach Russland entsandt, hat seine neue Stelle beim Gouverneur von Kamtschatka, dem Flottenkapitän Sawoiko, am 16. September des Jahres 1851 angetreten. Monatelang ist er zuvor durch die Weiten Sibiriens angereist, dessen östliches Ende entlang des Pazifiks damals noch als weithin unbekannt gilt. Einflussreiche adelige Lehrherren haben den jungen Mann eigens der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg empfohlen, um die fremde Region in geografischer und geologischer Hinsicht zu erforschen. Auf nachdrücklichen Wunsch der russischen Verantwortlichen soll er dabei besondere Aufmerksamkeit auf das Vorkommen von Metallen, Steinkohle «und anderen schätzenswerthen Produkten des Mineralreiches» legen. Doch statt für den Zaren Bodenschätze zu orten, wird Ditmar vor allem zum Menschenentdecker – einem der ersten und eifrigsten, die das Leben in Kamtschatkas armseligen Dörfern beschreiben.

Vier Jahre lang durchquert er die Halbinsel. Schon deren Name – zu deutsch: «Land aus Feuer und Eis» – fasziniert ihn. Zwar verfasst er zunächst noch Artikel über «ostsibirische Mulden» und ähnliches. Doch bald schon zieht er völkerkundliche Vergleiche der «Korjaken und die ihnen sehr nahe verwandten Tschuktschen» vor. So wie den gestrandeten Wal erkundet er nun, von Pioniergeist und Neugier getrieben, das Vulkanland samt seinen Bewohnern.

Er steigt in den Schwefeldunst zwischen Geysiren und Gletschern, rühmt den Reichtum der Natur, die hier die Flüsse mit Lachsen wahrhaft überfüllt, und lässt sich von den Dorfältesten die bluttriefende Geschichte von Unterwerfung, Aufständen und neuerlichen Unterwerfungen erzählen, von brandschatzenden Kosakenhorden bis zu den Zwangsumsiedlungen, die es auch damals schon gab, nur da noch auf kaiserlichen Befehl. Er misst Flusslängen und Seenbreiten, studiert Klima, Pflanzenwuchs und die Chancen auf Feldbau, skizziert Rundblicke und erste geologische und ethnografische Karten, zählt in jedem Ort, den er bereist, Häuser und Vieh, Männer und Weiber, das Wild, das sie jagen, und die Fische, die sie fangen.

Bisweilen lobt er seine «Kamtschadalen» als dienstfertig und freundlich. Dann wieder bricht er selbstgerecht über ihnen den Stab, nennt sie unbrauchbar und glaubt gar an ein Phlegma, das ihnen eigen sei. «Es ist durchgehend bei allen hiesigen Völkern», resümiert er einmal, «dass ihnen das Herumnomadisieren, das Fischen und Jagen lieber ist als das Begründen einer angenehmen und behaglichen Häuslichkeit.»

 

Auf unserer Reise, die dort beginnt, wo Ditmar das Walmaul erforscht hat wie eine Tropfsteinhöhle, werden uns der Zeitzeuge von einst ein stiller Begleiter und seine Schilderungen ein Maßstab sein. Denn weit über seine Zeit hinaus gelten sie als der umfassendste Blick auf die Region. Und so wie einen die üppige Natur heute noch staunen macht, hat sich auch der Alltag der Bewohner oft wenig verändert. Noch immer kann man hier Landschaften begegnen, die wirken, als habe die Schöpfung sie eben erst erschaffen. Hunderte Vulkane, nach großzügiger Zählart sogar mehrere tausend, davon etwa dreißig aktiv, prägen die Halbinsel, zahlreicher und dichter als irgendwo sonst auf der Welt.

Sie von See her an den Küsten entlang rauchen zu sehen, fesselte schon die ersten Neuankömmlinge. Nicht nur, dass jene Schlote immer wieder in Flammen ausbrächen, erzählten ihnen damals die Bewohner. Manchmal gerieten sie durch das in der Luft laufende Feuer sogar nacheinander in Brand. Auch die Menge an Bären, die manche Ureinwohner noch immer gottgleich verehren, ist einzigartig. Demgegenüber verschwinden die Menschen fast. Rechnerisch verfügt ein jeder Bewohner über mehr als einen Quadratkilometer Land – auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Frankreich. Nur eine einzige Schotterstraße führt von der Hauptstadt Petropawlowsk 400 Kilometer weit in den Norden. Dann endet sie wie alle anderen im Nichts.

Auch wir begegnen noch den kleinwüchsigen Nomaden, die einst auf ihren Rentieren reitend aus der Tundra ankamen. Wir hören von Alten wie Jungen, wie Ditmar damals schon, viel über Unrecht und Leid. Zwei weitere schmerzvolle Zäsuren hatten die Bewohner zuletzt zu ertragen: Erst die Zwangskollektivierung durch die Sowjets. Und dann den Fall in die Marktwirtschaft, der in der künstlich hochgepäppelten Peripherie des Riesenreichs nicht im Wohlstand endete, sondern im dumpfen, alles zerstörenden Aufprall. Wir erfahren vom Alltag der Matrosen, deren Dienstort noch immer am Ende der Welt liegt – und noch immer Todesgefahr birgt. Wie Ditmar raufen wir uns bisweilen die Haare über eine Art Starre, die das Land lähmt, nicht sicher allerdings, wie viel davon dem Phlegma, der Armut oder dem Wodka geschuldet ist. Und über das Fortleben der Militärbürokratie, jetzt noch gekrönt von herrschsüchtigen Geheimdiensten, die allein schon zum eigenen Nutzen den Kalten Krieg zelebrieren. Einen Krieg, der kurz nach unserer Ankunft das erste Todesopfer seit Jahrzehnten fordert – einen japanischen Krabbenfischer, den Russlands Küstenwache vor den Kurilen erschießt.

Schon Ditmar kritisiert die aus der Ferne entsandten Befehlshaber und Verwalter, obwohl sie – neben der Akademie – seine Auftraggeber und Vorgesetzten sind. «Selbst unreif zum Administriren», beschimpft er Militärs wie Beamte, «wollen sie ganz fremde Reiser auf total anders geartete Bäume aufpfropfen.» Auch jeder künftige Befehlshaber werde hier «wahrscheinlicherweise alles Gewesene wieder auf den Kopf stellen». Schon deshalb gebe es hier keine Fortentwicklung. Zwar sei die Natur so reichhaltig wie nirgendwo sonst. Doch «leere Hirne und kalte Herzen» verstünden es, diese Schätze zu ruinieren wie eine Pest.

Im März des Jahres 1855, als im Laufe des Krimkrieges um das Erbe des zerfallenden Osmanenreichs, der selbst hier noch eine Front finden sollte, der Angriff der Feinde auf Kamtschatka mit Bravour abgewehrt und in den Kirchen die eigene Kriegserklärung an sie verlesen ist, enden Ditmars Studienreisen. Dann raffen die so oft Vertriebenen einmal mehr ihr spärliches Hab und Gut zusammen, schlachten ihre Kühe und lassen die Zughunde frei, um den angeordneten Rückzug ins sibirische Hinterland anzutreten. Mit seinem Vorgesetzten Sawoiko, inzwischen zum Admiral aufgestiegen, verlässt so auch Ditmar die Bucht von Petropawlowsk, das da noch Peterpaulshafen heißt, verfolgt von den gegnerischen Fregatten. Nach ebenso tragischer wie glücklicher Flucht überlebt er, ausgerechnet dank jenes kurilischen Wetters, das er am Morgen des Walfundes noch verflucht hat. Nur ist es dieses Mal nicht der Sturmwind, sondern der Nebel – der sie unsichtbar macht.

Erst dreißig Jahre später, nach wohlmeinenden Mahnungen von Freunden, bringt der eigenwillige Forscher seine Notizen in geordneter Form zu Papier, um sie am 1. November 1888 der Akademie vorzulegen. Da hat das Zarenreich längst Nikolajewsk an der Amur-Mündung und Wladiwostok zu seinen Haupthäfen im Osten erhoben und die Überseekolonien an Amerika verkauft. «Bis dahin hatten namentlich die russischen Seefahrer auf ihren Reisen um die Welt auch Kamtschatka und den Peterpaulshafen angelaufen», schreibt Ditmar jetzt in seinem Vorwort. «Danach aber hörten auch diese gelegentlichen Besuche Kamtschatkas auf.» Selbst die nach ihm entsandten Forschungsreisenden hätten nun eher die zentralasiatischen Landstriche ins Blickfeld gerückt.

«Kamtschatka fiel einer fast gänzlichen Vergessenheit anheim», klagt er abschließend. Als habe nicht auch er gerade – mit den losen Notizen im Schrank – über Jahrzehnte dazu beigetragen.

Der Halbinsel erging es öfter so. Bis heute fühlen sich die Bewohner Kamtschatkas vom Kontinent abgeschnitten. Selbst Petropawlowsk dümpelt in seiner eigenen, einsamen Welt. Von den Kurilen, die ohnehin meist der Himmel verschluckt, nicht zu reden. Siedlungen, die uns von Landkarten dort vorgegaukelt wurden, fanden wir nur noch als verlassene Gemäuer. So manche Straßen und Wege, auf denen wir zu reisen geplant hatten, gibt es längst nicht mehr. Wenn es sie denn jemals gab.

Und auch die Ureinwohner Nordjapans, die Ainus, wurden von den Regierungen in Tokio beharrlich verleugnet, weil sie deren Reinrassigkeitsmythos störten. Eine Minderheitenpolitik erübrige sich in Japan, hieß es dort stets ebenso ignorant wie arrogant, denn im Lande gebe es nun mal keine Minderheiten.

Für das Naturparadies, das dieser Weltwinkel immer geblieben ist, war das heilsam. Für seine Bewohner nicht unbedingt.