Inhalt.

Widmung

Prolog

Die Farben des Nordens

Ein Herbsttörn zu den ostfriesischen Inseln
Schleuse Hooksiel, Freitagnachmittag, leichter Ostwind
Traumhafte Ankerplätze: Die Sandplate von Wangerooge-Ost und die Lagune von Spiekeroog-West
Herbsttörn im Busetief

Vom Faltbootfahrten
Paddeln im Wattenmeer: Von Neuharlingersiel nach Spiekeroog

Reviersuche: „Nimm zuerst ein kleines Boot“
Die „Drei-Stunden-Regel“
Steinhuder Meer, Dümmer, Zwischenahner Meer, oder: Wie segelt man im flachen Wasser?
Steinhuder Meer: Segeln in der „Regenmulde“
Wunderbare Niederlande: Unterwegs auf der Staandemastroute
Fehnland: Eine Binnenfahrt durch Ostfrieslands wilden Westen nach Bremen

Von Schleusen und Kanälen
Von Schleusen und von Schiffen
Schleusen-Ralley: Es kann nur einen geben …
Checkliste: Vom richtigen Schleusen

Ein literarischer Törn auf den Spuren der ersten Fahrtensegler
Jules Vernes, Edward Knights und Erskine Childers unterwegs im Norden
Die „Kaiserliche Werft“ in Willhelmshaven
Auf dem Weg nach Varel

„Kommt der Wind eigentlich immer von vorn?“: Die Dänische Südsee
Zum ersten Mal nach Birkholm
Im schmalen Fahrwasser von Marstall nach Birkholm
Von Marstall über Fehmarn zurück nach Neustadt
Flüche und fliegende Gischt vor Wismar
Für Segelboote gelten keine Fahrpläne

Fahrten zum Winterlager
Elbe-Lübeck-Kanal / Elbeseitenkanal / Mittellandkanal
Neustadt / Travemünde
Wunderschöner Elbe-Lübeck-Kanal
Monsterschleuse Uelzen: Bergschleusung über 23 Meter

Begegnungen mit Tieren
Haie in der Ostsee? Position 54° 18.30 N / 011° 07.80 E
Wangerooge-Ost: Ein Heuler aus der Dunkelheit
Ein Vogel an Bord
„Friesisches Salz für Heideseekühe“
Jack, der anhängliche Schmetterling von Norderney
Rehbock kollidiert mit Segelyacht: Wildwechsel auf dem Wasser?
„Man muss nicht auf dem Atlantik segeln, um Walen und Delfinen zu begegnen“
Gibt es auch gefährliche Tiere in der Nordsee?
Exkurs: Über das Segeln mit Hunden
Kann man auch mit einem Rudel Hunde zur See fahren?
Checkliste für das Segeln mit großen Hunden

Auf Entdeckung der unbekannten Binnensegelreviere vor der eigenen Haustür
Zurück zum kleinen Boot?
Wie prüft man, ob ein Fluss „besegelbar“ ist?
Über den Reiz des Fluss-Segelns
Flussfahrten haben ihre eigenen Herausforderungen
Revierkombination „Binnen & Buten“

Ostfriesisches Inselspringen und eine Hommage an Helgoland
Juist: Die Schmale
Wie lebt eigentlich ein Vogelwart?
Norderney: Ein bisschen Kurort, ein bisschen „Ballermann“...
Baltrum: Die Bade- und Wanderinsel
Langeoog: Fahrräder, Inselbahn und glückliche Kühe
Spiekeroog: Alte Friesenhäuser und windgebeugte Wäldchen
Wangerooge – Hafenstrand, Rapunzelturm und Bummelbahn
Helgoland: Wirklich nur ein „Fuselfelsen“?
Geocaching – ein Hobby, das wunderbar mit dem Segeln im Norden verbunden werden kann

Jade / Hooksiel: Binnen & Buten – unser Lieblingsrevier
Wunderschönes Hooksmeer
Liegeplätze im Hooksmeer
Segelrevier Jade / ostfriesisches Wattenmeer
Andere ostfriesische Häfen

Hallig-Land: Ein Törn zu den nordfriesischen Inseln

Fast ein Epilog: Ostfriesland vs. Nordfriesland – die Unterschiede im Revier

Welches Boot im Wattenmeer? Praxistest zur Qual der Wahl von Kielformen
Die Boote im Test
Welches Boot im Watt?
Auf der Jade, Kurs Minsener Oog
Prickenweg als Sailing-Catwalk
Trockenfallen Wangerooge-Ost
Welches Schiff im Wattenmeer? Das Testergebnis

Das Wetter im Norden
Nordsee ist Mordsee?
Schottlandtörn, oder: Traue keinem Wetterbericht
Mitternacht, Außenelbe Tonne 2, Nordwest 10.
Fehleranalyse: Was hatte ich falsch gemacht?
Seenebel
Ratschläge für Nebelfahrten
Wettergefahren: Die weiße Bö – reale Gefahr oder Seemannsgarn?

Ist die Nordsee gefährlicher als die Ostsee?
Typische Gefahren der Nordsee: Seegatten
Beispiel eines Törns von Helgoland nach Wangerooge bei Nordwest 5
Der Untergang der Festina Tarde: Gibt es „goldene Regeln“ in Seegatten und Brandungsgürteln?
Unfallrekonstruktion
Wassereinbruch auf britischer Segelyacht nach Grundberührung
Wenn plötzlich eine Handbreit Wasser unter dem Kiel fehlt
Checkliste: Grundregeln im Seegatt

Vom Umgang mit Seekartendaten
Wir vermessen ein Seegebiet
Das Ergebnis
Das Ergebnis des Tests nach eigenen Messungen
Lotungen in Seegatten und dem Wattenmeer
Kartenverlage haben es nicht leicht
Fazit
Vermessungsbilder
Verrechnet – eine Stunde zu früh

Offshore-Windparks – Hindernisse am Horizont?

Die Kunst des Trockenfallens
Der richtige Platz
Zeitpunkt und Windrichtung beachten
Gewitterlage
Ankerwache
Wellentanz auf Legerwall
Schwänzchen in die Höhe: Den Kiel einspülen zum Ruderlagerwechsel
Tiden- und Trockenfallzeiten genau berechnen
Tidennavigation: Wattn’datt?:
Ein Merkblatt für den praktischen Bordgebrauch
Tidentabelle für den praktischen Bordgebrauch
Friesland statt Fjorde: Warum ein Niederländer aus Norwegen zum Segeln nach Ostfriesland fährt

Die Boote meines Lebens

Epilog

Impressum

Widmung.

Am Anfang steht eine Idee. Dann folgt die Hand, die den Strich auf dem Zeichenbrett zieht, das Eisen formt, die Planke hobelt, den Pinsel mit Epoxidharz auf die Matte streicht. Mir gefällt der Gedanke, dass auch Boote „geboren“ werden. Und dass sie eine Seele haben, die ihnen ihre Baumeister auf die Kiele legen – durch ihre Ideen, ihre Mühen, ihre Träume. Schon der Gedanke, ein Boot haben zu dürfen, einen ganz persönlichen Fluchtpunkt, beruhigt. So ist doch jedes Boot zugleich eine Arche, in deren Bauch man dem Alltag entschwinden kann.

Ein schwimmendes Refugium weiterzuentwickeln kann allumfassendes Glück bedeuten. Es wird vollkommen, wenn wir damit segeln, möglichst oft, zu immer neuen Zielen. Dazu haben uns all die kreativen Geister und Handwerker verholfen, die uns nachblicken, wenn Kräne „ihre Kinder“ in die Fluten setzen, um in unseren Händen ihrer Bestimmung zu folgen.

Dieses Buch ist den Bootsbauern gewidmet, den Handwerkern, Elektrikern, Hafenmeistern und Händlern – ob Männer oder Frauen –, die den Traum zu segeln erst möglich machen. Danke für eure geschickten Hände, die nicht nachließen, damit wir das Meer und seine Ufer erkunden können.

Prolog

Ich habe 20 Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Ei des Kolumbus nicht in der Karibik liegt, sondern das Frühstücksei ist, das ich im Cockpit in der Frühlingssonne verspeise. Ob das Boot auf einem Fluss, an der heimischen Küste oder in der Südsee ankert, spielt dabei keine Rolle. Seit ich für mich entdeckt habe, dass nicht ein weiteres Ziel auf dem Meer die Passion des Segelns ausmacht, sondern die Gedankenflüge während des Bordlebens, macht mich das Warten auf den Tag des Ablegens zur großen Fahrt nicht mehr wehmütig. Wenn mich etwas traurig gestimmt hat, dann war es eher der Krantermin im Herbst, auf den monatelanges Warten bis zur neuen Saison folgte. Ein Boot, das an Land steht, ist weder bewohnbar noch bewegt es sich im Wind. Also habe ich das geändert und ließ erst Paloma und dann ihre Nachfolgerin Fuchur auch im Winter im Wasser – Freiheit hat keine Saison. Wenn wir wollen, können wir jedes Wochenende auf Wangerooge oder Spiekeroog verbringen, eben weil wir ein Boot haben, das für das Wattenmeer geeignet ist. Wir sind zu Gastinsulanern geworden, segeln einfach hin. Mit einem Wohnmobil wäre es nicht möglich, diese besonders schönen Inseln zu besuchen. Sie sind autofrei. Mehr als 20 Prozent steigende Übernachtungsbuchungen werden 2016 registriert – Betten werden knapp –, wohl dem, der mit eigenen Kojen einfach anlegen oder ankern kann. Seit Jahren sind mir nicht mehr so viele Neusegler mit gebrauchten Booten begegnet. Diejenigen, die noch unentschlossen sind, möchte ich mit diesem Buch an die Hand nehmen und sie ein Stück bei der Entscheidungsfindung begleiten.

Ein paar Jahre habe ich direkt an einem Ostseestrand in der Nähe von Grömitz leben dürfen, aber wie wunderbar sind die unendlich erscheinenden Strände an den Seeseiten der Nordseeinseln! Unser Alltag wird zum Urlaub, weil wir an so vielen Tagen an den Steg zurückkehren können, auch wenn wir aus beruflichen Gründen noch einen weiteren Wohnsitz haben, 200 Kilometer von der Küste entfernt. Ich lebe schon jetzt an rund 300 Tagen im Jahr an Bord. Es dauert nicht mehr lange, dann wird auch die kleine Wohnung überflüssig – das Haus wurde längst verkauft. Wir haben unsere Passion gefunden, sind im Geist und im Alltag frei: Dann sind wir an jedem Ort zu Hause, wo unser Boot schwimmt.

Um die Freiheit auf dem Wasser zu erleben, reicht bereits ein gebrauchtes Boot für ein paar Hundert Euro. Segeln geht auch mit kleinem Budget. Alle Fahrten, die in diesem Buch beschrieben werden, lassen sich mit beinahe jedem Boot durchführen, sofern dessen Tiefgang es ermöglicht. Und auch Gefahrenpunkte, wie etwa die Sicherheit in Seegatten, sind ein Thema dieses Buches.

Ich möchte in Wie wir im Norden segeln überwiegend von den emotionalen Highlights erzählen, die wir an heimischen Gestaden erleben können, denn darüber wird selten berichtet, obwohl doch die meisten von uns hier ihr ganzes Wassersportleben verbringen. Ob wir einen großartigen Sonnenuntergang im Wattenmeer bestaunen oder feststellen, dass Kühe den Bugkorb des eigenen Schiffes lecker finden – die ungewöhnlichsten Segelreviere liegen direkt vor unserer Haustür. Bevor ich dort buchstäblich aufkreuzte, wurde die Aller als fast vergessene Schifffahrtsstraße von keiner Segelyacht befahren. Mit einer Elvström 22, einer Neptun 22 und einer Hai 710 war das aber möglich. Weiße Segel zwischen Feldern und Kühen, den Flüssen folgend bis in die Weite der Nordsee … Hier werden Segelträume wahr. Und die Menschen an unseren Küsten haben Erstaunliches, Schönes und Spannendes zu berichten. Zuhauf. Man muss sich nur Zeit lassen, dieses Revier und seine Menschen zu entdecken, ohne zu enge Törnziele zu setzen.

Aller statt Amazonas? Hier gibt es keine Stromschlaggefahren durch Zitteraale, wohl aber durch Stromleitungen, wenn der Mast des eigenen Bootes zu hoch ist. Wie prüft man also die Befahrbarkeit eines Flusses? Kann man auch mit angeschlagenen Segeln den Mast während der Fahrt legen? Und gibt es noch Schleusenwärter, die sich freuen, wenn nur ein einzelnes Sportboot einfahren möchte? In diesem Buch gibt es Antworten auf diese Fragen. Und dann entdecken Sie vielleicht ein neues Segelrevier ganz in Ihrer Nähe.

Wer das Fahrtensegeln auf besonders flachen Gewässern erleben möchte, die selten zuvor unter Segeln angesteuert wurden, der wählt ein Faltboot. Wie wäre es beispielsweise mit dem Segeln im Urstromtal, das sich nur bei Überflutungen entdecken lässt?

Wer dagegen zum Weihnachtsmarkt segeln und sogar im Eiswasser leben möchte, der findet praktische Lösungen für die typischen Winterfragen an Bord in meinem ersten Buch Mein Boot ist mein Zuhause.

Abgesehen davon, dass meine Frau und ich als Eltern noch nicht auf Dauer die Leinen loswerfen können: Facettenreicher als unser Wattenmeer mit seiner dreidimensionalen Wasserwelt kann es woanders auch nicht sein. Und um mein ehemaliges Heimatrevier nicht zu vergessen: Auch die Ostsee mit ihren Inseln und unterschiedlichen Anrainerländern bietet Segelabenteuer für ein ganzes Leben.

Dabei möchte ich meine Leser unterstützen. So wünsche ich viel Spaß beim Entdecken unserer Reviere im Norden und ihrer Menschen.

Ihr Holger Peterson

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Farbenprächtiger Sonnenuntergang auf See.

Teil I: Wo wir im Norden segeln.
Die Farben des Nordens.

Ein Herbsttörn zu den ostfriesischen Inseln

Manche meinen, dass der Sommer in Deutschland viel zu kurz sei, um das Bordleben zu genießen. Doch ehrlich gesagt freue ich mich über jede Jahreszeit an Bord unseres Bootes. Der Frühling mit seinen zunehmend grünen Ufern verheißt Licht und Wärmedie ganze Saison liegt vor uns. Der Sommer ist eine Kombination aus Inselleben und neuen Reisezielen. Abgesehen davon, dass wir auch im Winter gerne an Bord sind und die Weihnachtsmarktstimmung in die Kajüte tragen, wird ein Törn in den Herbstferien zu einer Reise voll Licht und reich an Farben.

Doch jetzt schimpfe ich auf Poseidon: „Eine wunderschöne Saison 2013 lang hast du uns zusammen mit Helios, dem Sonnengott, auf warmen Wogen in Sicherheit gewogen, um uns im Oktober auf der 10-Meter-Linie vor Baltrum zu vermöbeln? Bei lächerlichen 6 Beaufort jagst du die Gischt deiner wilden Wüteriche bis über die Saling, zwingst mich gewürgreizt in die Horizontale und duschst mich mit kalter See? Wie kannst du uns dein „Wind-gegen-Strom-Martyrium“ vor den Sandriffen von Baltrum nur so gnadenlos ausbaden lassen?“

Aber wenigstens stelle ich fest: Unser Kahn ist dicht. Frau und Tochter werden auch heute nicht seekrank – sie sind wieder einmal seefester als ich. Unter Deck harren sie tapfer aus, bis der Hafen in Sicht kommt. Zusammengekuschelt liegen sie in der Koje und schauen sich Videofilme an, während mir im ungeschützten Cockpit kaltes Wasser durch die undichte Jacke sickert. Was hat frieren mit Sport zu tun? Seit 20 Jahren gab es immer mal wieder diese Verhältnisse, weil ich die Saison früh beginne und gerne im November enden lasse. Ich spüre, dass ich das nicht mehr mag. Handeln ist geboten: Entweder neues Ölzeugoder ein neues Boot mit Wetterschutz. Doch Verkaufsgedanken tun weh. Ich liebe dieses Einhorn, meine traditionelle Paloma mit ihrem Klüverbaum. Ich liebe sie auch heute – drei Jahre nach diesem Törn, ihrem Verkauf und dem Wechsel auf die komfortablere Fuchur – immer noch. Sie liegt eben tiefer im Wasser, die schwere Stahlyacht. Zerschneidet mit ihrem Löffelbug die Wellen, statt über sie zu gleiten. Und irgendwo muss die Gischt dann abregnen, gerne im Cockpit. So folgt auf Feuchtigkeit die Kälte. Hätte ich doch gleich den Überlebensanzug genommen, bevor ich ausgekühlt und klitschnass geworden bin. Kleine Fehler bei der Wahl der Garderobe haben Folgen – hier bei uns – auf See, hoch oben im Norden.

„Okay, wir wissen nun, wo der Meeresgott den Most holt. Ich hab’s ja verstanden. Bist du zufrieden?“ Ich bin ein Warmduscher geworden. Und ja, ich trage selbst die Schuld an der Törntaktik des Tages. Anfängerfehler, Wunschdenken. Im langen Sommerurlaub hätten wir einfach noch zwei Tage länger auf Westwind zum Heimatkurs von Norderney zur Jademündung gewartet, aber in den kurzen Herbstferien sieht die Sache anders aus. Zeitfenster werden mit schwindendem Tageslicht erheblich kürzer. Enge Fahrwasser mit Pricken sind für tiefgehende Kielboote bei Dunkelheit nicht befahrbar. Mit Ausnahme der Vollmondnächte. Im Sommer konnten wir zwischen 04:30 Uhr und 22:30 Uhr im Wattenmeer unterwegs sein. Oft bescherte uns die Tide zwei Flutzeitfenster, in denen wir Bänke hinter den Inseln übersegeln konnten. Nun müssen wir enger rechnen. Erst gegen 8 Uhr wird es hell, schon um 19 Uhr ist es zappenduster. Nebelbänke stehen lang und kehren früh zurück. Es stimmt verdrießlich, wenn der Klüverbaum im Dunst verschwindet. Will man nicht riskieren, an steiler Kante trockenzufallen oder wegen Festkommens zur höchsten Flut für ein paar Wochen auf einem Sandhügel zu wohnen, gibt es bei schlechter Sicht nur eine Regel: Sieht man nichts, fährt man nicht. So segeln wir im Tidenrevier, weil uns der Strom doch immer wieder versetzt und Kartenplotter nicht so genau die tatsächlichen Fahrrinnen wiedergeben.

Aber wir wollen den Törn trotzdem genießen. Noch einmal das Gefühl der Freiheit des Fahrtensegelns in uns aufsaugen. Es ist ein Unterschied, an Wochenenden die immer gleichen Kurse des Heimatreviers abzuschippern oder frei die Tage zu gestalten. Und außerdem wollten wir Danke sagen. Danke für den tollen Segelsommer. Danke an alle guten Geister, die wir in der Winterzeit nicht mehr treffen werden. Danke, dass sie den Segelsport wieder mal ermöglicht haben: die Schleusenwärter, Hafenmeister, Seenotretter, Tonnenleger, Prickenstecker. Vielleicht auch Danke an die Segelschulen, weil uns kein Neusegler gerammt hat.

Und so legen wir noch einmal ab zu einem Herbsttörn im Oktober. Uns locken farbintensives Fotolicht und jede Menge freie Liegeplätze. Viel Zeit bleibt nicht, wollen wir nicht rostige Kajen hinaufklettern: Denn ab dem 15. Oktober werden viele Stege abgebaut.

Schleuse Hooksiel, Freitagnachmittag, leichter Ostwind

Paloma ist das einzige Boot in der Kammer. Drei Wochen zuvor wäre die Schleuse mit zwölf Booten rappelvoll gewesen. Heute teilen wir uns den Schwimmsteg nur mit ein paar Hundert vertrockneten Seesternen. Ein paar Seemeilen weiter kommen wir an der Landzunge von Minsener Oog an einer Vogelparty vorbei. Die Vögel schlagen sich die Bäuche voll, bevor sie in den sonnigen Süden starten. Die eine oder andere fliegende Eins von Kranichen hat uns schon links liegen lassen: „Ätsch, wir fliegen in die Sonne und ihr müsst hierbleiben.“ Kurs Süd, das wäre es jetzt. Der Dunkelheit und dem Eis den Heckspiegel zeigen. Aber es ist zu spät. Die Herbststürme der Biskaya schieben ihren Riegel vor spanische Gestade. Die Route durch die Kanäle? Kurze Tage, Frühnebel, eingeschränkte Schleusenzeiten. Bis man die 286 Schleusen bis zum Mittelmeer passiert hätte, wäre es wieder Frühling.

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Schleuse Hooksiel – Paloma ist heute das einzige Boot.

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Im 300er-Tele wird der Prickenweg zum Birkenwald – noch eine halbe Stunde bis zum Hafen von Wangerooge.

Der Sonnenuntergang heute ist unglaublich schön, er vertreibt die Gedanken an den Süden und wird zu einem Fest für Fotografen. Diese goldenen Gezeiten sind kurz, denn umgehend nach Sonnenuntergang folgt die Herbstmelancholie. Nur noch ein letztes Mal Trockenfallen oder lieber die heißen Duschen genießen, bevor das Clubhaus abgeschlossen wird?

Wir entscheiden uns für die Dusche. Von querab des Hafens weht ein köstlicher Duft herüber: Wir durchsegeln Grillrauch, legen hart Steuerbord anund gehen hinein. Die Seeleute eines Plattbodenpäckchens tragen ihre Grillmeisterschaft an vier Holzkohlenfeuern aus. Zugleich zieht milde Luft von See herein. Die Nordseewärmflasche funktioniert noch. Zwar haben wir kein Badethermometer an Bord, aber 15 Grad Wassertemperatur schließen ein Bad nicht völlig aus. So überrascht es uns nicht, dass bei Dunkelheit zwei Seekajakfahrer ihre spargelschlanken Boote auf den Strand ziehen. Sie machen also auch noch nicht Schluss. Als wir in der Vorschiffskoje liegen, wandert der Blick den Mast hinauf in den Sternenhimmel: „I don’t want to say good-bye, for the summer …”

Ein traumhafter Ankerplatz: die Lagune des Westends von Spiekeroog

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Die „Blaue Balje“, das Seegatt zwischen Minsener Oog und Wangerooge-Ost.

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An der Telegraphenbalje von Wangerooge-Ost stand früher eine Telegraphenstation, der Beginn einer Kette von Türmen mit Lichtzeichen bis hinauf nach Bremen, welche die Signale der ankommenden Schiffe weiterleitete. Es ist ein traumhafter Platz zum Ankern und Trockenfallen.

Eine Insel weiter lockt die Ankerlagune von Spiekeroog-West, geschützt durch eine gigantische Sandbank. Vor drei Jahren war sie noch nicht so hoch. Jetzt ist ein neuer Naturhafen entstanden, der selbst bei Nordwind ruhiges Wasser aufweist. Man kommt allerdings nur hinein, wenn man mutig die längste Buhne ansteuert. Das zeigt die folgende Luftaufnahme. Es ist ein Beispiel für Revierkenntnis, die man nicht auf Seekarten findet, sondern durch Gespräche mit Hafenmeistern, anderen Seglern und durch das Herantasten mit dem Echolot erwirbt.

Die Navigation im Watt ist eigentlich gar nicht so schwer, aber gerade bei solchen Fragen hilft der Schnack auf dem Steg durchaus weiter. Wir ankern direkt am Old Laramie, einer liebenswerten Musikkneipe. Zu Pfingsten spielt hier immer Jonny Glut seine eingerockten Shantys, die Pfingstpartys sind Kult. Am Pfingstsonntag findet eine Regatta und abends der Seglerball statt. Alle Boxen des Hafens sind dann belegt. Anstatt im Päckchen zu liegen, werden wir künftig nur noch in der Westlagune in direkter Bühnennähe ankern.

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Ankerlagune Spiekeroog-West, anzusteuern von Nordwest direkt auf den Kopf der langen Buhne.

Ostwind setzt sich durch. Im Watt wird es nun zu flach, um innen über den Prickenweg der Baltrumer Berge in den Hafen von Baltrum oder weiter nach Norderney zu gelangen. Halbmond am Tage? Alles klar. Oder doch eher: „Olln’s klor“, wie man hier sagt. Nipptide und zunehmender Wind senken die maximale Wassertiefe querab Baltrum auf unter einen Meter. Alles schreit nach einem Kurs außen herum und nicht innen über das Wattenmeer: „Go west“gleich nach Norderney. 25 Seemeilen, raumschots und bei Ebbstrom, lassen sich mit 7 Knoten schnell abreiten. Bei der Ansteuerung von Norderney überqueren wir pünktlich mit einsetzender Flut die ziemlich tiefe Barre.

Dies muss ich kurz erklären: Manche Seegatten sind tief, andere sollte man nur um Hochwasser herum ansteuern. Die Passage zwischen Baltrum und Norderney ist nicht betonnt, alle anderen Seegatten schon. Im Seegatt der Harle von Wangerooge, insbesondere bei der „Schicksalstonne H4“, hätten wir die Durchfahrt bei Niedrigwasser nicht gewagt. Doch im Seegatt von Norderney ist das einfach. Mehr Tipps zum Segeln im Norden finden Sie in den Kapiteln 14 bis 18.

Wohlbehalten erreichen wir den Hafen. Freie Liegeplätze finden wir trotz Sonnenschein und Herbstferien problemlos. Im Juli gab es manchmal nur Päckchenplätze. Ein Tipp, um mit Sicherheit einen freien Stegplatz zu bekommen: Die Fahrt so planen, dass man 3 Stunden vor Hochwasser ankommt. Das ist die Zeit, wenn andere Schiffe zur Überquerung eines Wattenhochs ablegen, um zur nächsten Insel zu wechseln.

Hafenmeister Jörg Pauls (55) winkt aus dem Fenster des Segelvereins Norderney. Ich spreche mit ihm über seine Arbeit. Weil er kassieren muss, kann er meinen Fragen nicht ausweichen. Paloma hat er seit 2006 im PC gespeichert. Wir sind per Du. Auf der Insel ist jetzt die Partyjahreszeit. Volle Kneipen und leere Stegewie passt das zusammen? „Insulaner haben vier Wochen Herbstferien“, klärt er mich auf. „Wegen der gastronomischen Saison können die meisten Mitglieder den Sommer über nicht mit ihren Kindern verreisen. Das wird auf den Herbst verschoben. Viele holen vorher ihre Boote raus und pausieren per Flugreise.“ Dann hat Jörg Pauls auch monatelang frei? „In der Saison arbeite ich eine Woche durch und habe dank meiner Kollegen Bibo Visser und Wilhelm Nejinhuis eine Woche frei. Die Dienstzeiten sind lang. Sie gehen von 07:30 bis 23 Uhr, je nach Tide. Im Winter stehen Reparaturen an, die Stege kommen dann raus. Zum Arbeitsplatz gehört auch das große Clubhaus mit den Sanitäranlagen. Als gelernter Schlosser schweiße ich mithilfe vieler Vereinskameraden kaputte Aluminiumstege selbst.“

Mit Fahrrädern erreichen wir im Sonnenschein das Szenelokal Weiße Düne. Sektkühler, Weißwein und Weißbiergläser stehen bevorzugt auf den Tischen. Es sieht für mich so aus wie an der Sansibar auf Sylt. Wer hat hier wen kopiert? Draußen sind alle Tische belegt. Jeder hat eine Sonnenbrille auf dem Kopf, selten auf der Nase – es herrscht Aprè-Sail-Atmosphäre. Daneben meditiert ein Buddha auf der Düne. Netter Kontrast. Uns gefällt es auch innen. Wir lümmeln uns in ein Ledersofa. Die Wurzelstock-Lampen klauen und einfach abhauen? Ach ne, besser im Winter wiederkommen. Offen ist hier ganzjährig.

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Buddha an der Weißen Düne von Norderney. In der Kneipe gibt es Wein und Bier statt grünem Tee.

Norderney kennen wir im Sommer als Familieninsel. Gleichzeitig kann man hier die Atmosphäre der Badekuren aus Kaiser-Zeiten spüren. Das ist im Herbst ganz anders. Ruhrpott-Slang überwiegt in den Gassen des Nachts. Von den Leinen gelassene Männerhorden treffen auf angesäuselte Damengruppen. Darunter mischen sich Fußballgesänge bei Bundesligaspielen, per Beamer auf Kneipenleinwände geworfen. Vielleicht geht es den Nachtschwärmern wie uns Seglern? Wollen sie auch noch einmal Sommerfeierlaune genießen, bevor der Winter Einzug hält? Das ist heute aber nicht das, was wir suchen. So landen wir bei Powers Fischkiste am Yachthafen, da brennt auch noch Licht.

Am nächsten Morgen besuchen wir den ehemaligen DDR-Dampfer Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Aufgeschweißte Buchstaben wurden in Weiß übermalt, bis nur noch ein unpolitisches Freundschaft in Rot leuchtete. Jürgen de Buhr (60) bittet an Bord. Seit mehr als 30 Jahren leitet er den Segeltreffpunkt Norderney. In diesen Tagen übergibt der Segellehrer das Ruder an seine Nachfolgerin Doris Teriete (39). „Normalerweise haben wir eine bessere Kamera dabei“, entschuldigen wir die spontane Fotosession. „Normalerweise habe ich eine bessere Frisur“, kontert sie lachend. Ihr 60-jähriger Mentor wirkt sportlich und topfit. Warum hört er auf? „34 Jahre als Segel-Sisyphos sind genug. Seit 1992 unser Dampfer als schwimmendes Segelhotel dazukam, war es ein Fulltime-Job. Wir versorgen ja stets ein buntes Gemisch aus 15 bis 20 Gästen. Sie wohnen in den Kajüten. Die Pantry bleibt selten kalt. Dazu haben wir für Kinder die Opti-Station. Vier hauptberufliche Segellehrerinnen und -lehrer gehören zur Crew. Doch längst nicht alle Gäste machen den Segelschein. Manche schippern ein wenig mit und genießen einfach nur das Hafenkino. „Aber im Winter ist doch keiner da?“ „Dann verlegen wir das Schiff nach Emden und unterrichten an Bord für die theoretischen Prüfungsteile.“ Und was macht ein Segelpauker mit dem Elan eines Jürgen de Buhr im Ruhestand? Fahrtensegeln! Ein Boot, so um die 10 Meter. Bretagne, England, Schottland – da will er hin.

Herbsttörn im Busetief

Das Fahrwasser von Norderney zum Festland ist gut betonnt und verhältnismäßig breit. Bei Niedrigwasser ist das Seegatt tief, aber das abzweigende Busetief zum Festlandshafen von Norddeich scheint durch mehrere Sandbänke immer flacher zu werden. Auf dem Echolot wechselt die Anzeige ständig – teilweise haben wir nur 30 Zentimeter unter dem Kiel. Deswegen folgen wir einer Fähre im Kielwasser nach Norddeich. Bei 5 Beaufort aus Ost reicht das gereffte Klüversegel. Der frische Wind treibt Schaum über das Wasser. Heute Morgen gibt es davon reichlich – wir segeln in einer Badewanne.

200 Tage Dienst am Stück hat er hinter sich – der Hafenwart von Norddeich, Uwe Scharmberg (59), ist von April bis Oktober im Yacht Club Norden für Segler da. Er hatte mir den entscheidenden Hinweis zum Liegeplatz der legendären Weltumsegleryacht Kairos gegeben. Ich fand das Boot aus Hundeleben in Herrlichkeit, geschrieben von Ernst-Jürgen Koch, in Nordenham und besuchte Elga Koch zum Interview auf La Palma. Viele meiner Reportagen entstehen aus so einem Gespräch heraus.

Aber warum hat der Hafenwart über ein halbes Jahr lang keinen freien Tag? „Ich habe mich vor zwei Jahren mit ‚maritimen Dienstleistungen‘ selbstständig gemacht. Sozusagen ,Rent a Harbourmaster‘. Es läuft, aber erwirtschaftet keinen Gewinn für einen zweiten Mann.“ Ohne Vertreter hat der 59-Jährige viel zu tun. Zeitweise betreut er noch den Hafen von Greetsiel. Leider hat sich der leidenschaftliche Segler durch so viel Arbeit selbst das Wasser abgegraben und besitzt einstweilen kein eigenes Boot mehr. Dafür kann er endlose Meeresgeschichten erzählen. Keiner würde vermuten, dass er 31 Jahre bei einer Bank gearbeitet hat. Als Opfer von Stellenkürzungen hat er seine maritime Leidenschaft zum Beruf gemacht. Aber vom Nachmachen rät er jedem ab, der keinen toleranten Partner hat.

Und was macht er im Winter? „Unsere Schwimmstege bleiben zwar im Wasser, sind aber gesperrt und die Brücke zum Mittelsteg wird abgebaut. Gelegentlich kommen Clubmitglieder und hacken das Eis von den Rollen. Ich kann endlich den Reparaturstau an Haus und Garten ausgleichen, leckeren Fisch im eigenen Ofen räuchernund einfach mal nichts tun.“ Vier Segelsaisonzeiten will er noch durchhalten. Und dann? Endlich segeln gehen. Bis weit hinter den Horizont nach Westen, woher seine fernen Kunden auf der Durchreise zur Ostsee kommen.

Wir zahlen 52,80 Euro und lassen unser Boot vier Tage in seiner Obhut. Im Vergleich zu Mittelmeerpreisen ist das Segeln in Deutschland günstig. Ein Tag auf Wangerooge kostete uns zurzeit rund 20 Euro. Wenn wir ankern, eben gar nichts. Würden wir per Fähre dort ankommen, Hotel und Restaurantessen bezahlen müssen, wären mindestens 150 Euro fällig.

Am nächsten Tag müssen wir kurz zurück an unsere Schreibtische. Von Norddeich Mole fährt der Zug gleich gegenüber ab. Im Regionalexpress sind viele Inselpartygänger noch immer in Feierlaune: Sektflaschen kreisen, Bierdosen werden aufgerissen, hie und da ein Abschiedskuss nach einem Flirtwochenende.

Als wir zurückkehren, bläst der Ostwind immer noch kräftig. Er drückt das Wasser aus der Deutschen Bucht. Eigentlich wäre nun weiter der Westkurs nach Juist geplant. Aber bei rund einem Meter weniger Wasser bei Hochwasser und engem Zeitfenster streichen wir diesen Plan. Über das Watt kommen wir bei Ostwind auch nicht nach Borkum. Mit einer Männercrew oder bei warmem Sommerwind wäre ich durch Osterems außen herum gesegelt, aber nicht bei anhaltender Kälte mit Frau und einem achtjährigen Mädchen an Bord. Trockenfallen wäre zwar kein Problem, aber nachts haben wir in diesen Tagen nur rund 5 Grad. Wir wollen nicht länger als vier Stunden segeln und danach zur Belohnung am Steg auch Strom für den Heizlüfter zapfen, denn Paloma hat keine eigene Heizung. Viele Segler geben als Geheimtipp an, einen umgedrehten Blumentopf auf den Kocher zu stellen. Aber das mögen wir nicht – zu viele Abgase in der Kajüte.

Daher: Auf nach Langeoog. Von Norddeich 6 Seemeilen über das Busetief, bei halbem Wind. Paloma läuft mit 6 Knoten gegen das auflaufende Wasser. Dann außen an Norderney entlang 10 Seemeilen am Wind, aber mit dem Strom bei Südost von 6, in Böen 7 Beaufort. Letztlich ist das eine dumme Idee: Der Wind dreht genau auf Ost, ich habe den Zeitplan zu knapp gerechnet. Man lernt doch nie aus. Die Strafe folgt auf See – wir stampfen uns immer wieder fest, teilweise erreichen wir nur 2 Knoten über Grund.

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Langeoog: Der Hafen fällt trocken, wir schieben gerade noch rechtzeitig den Kiel durch den Schlamm zum Steg. Später hätten wir nicht ankommen dürfen.

Zwei Stunden später als geplant stehen wir vor der Hafeneinfahrt von Langeoog. Unser sorgenvoller Blick gilt der Segelyacht Yucatan. Auf Legerwall liegt der Langkieler in der Brandung am Strand auf der Seite. Keine Seele zu sehen. Von Hafenmeister Joke Pouliart (45) erfahren wir später, dass alles gut ging und die Yacht wieder freikam. Wir hatten uns eben noch drei Stunden nach Hochwasser durch eine Schlammbank geschoben. Direkt an den Stegfinger kamen wir in dieser Tide nicht, aber über den hohen Klüverbaum konnten wir dank strammer Landleine per Seiltanz hinunterkrabbeln. Das Baggerschiff muss im nächsten Frühjahr wieder ran.

Stegwart Joke trägt eine bunte Karibikmütze. Nur mühsam bändigt sie seine lange Haarpracht. Er hat belgische Vorfahren. Sein Leben hat der Tischler voll und ganz dem Meer verschrieben. „Die Saison über bin ich täglich im Hafen. Nebenbei entwerfe ich kleine Kunstwerke aus Treibholz, genannt ,Salzholz‘. Im Winter skippere ich drei Monate eine Yacht aus Hooksiel in der Karibik. Daher stammt auch die gestrickte Jamaica-Mütze. Mein eigenes Plattbodenboot liegt einstweilen an Land.“

Mit der Inselbahn fahren wir in den Ort. Ganz im Sinne unserer Tochter tauschen wir zwei Tage lang das Seepferd gegen ein Landpferd und zwei Drahtesel. 40 Pferde aller Größen sind auf dem Reiterhof Ton Peerstall in Bahnhofsnähe buchbar: Longe, Unterricht oder Ausritte in der Gruppe zum Strand. Auch das ist Familiensegelndas Boot ist unser eigentliches Zuhause, das ganze Jahr bleibt es im Wasser, aber mit ihm entdecken wir, was es an Land zu sehen gibt.

Um die westlichen Inseln doch noch zu sehen, buchen wir einen Rundflug: Ein Volltreffer: So toll sehen die Sandbänke an der Kachelotplate bei Ebbe aus? Und dann die Lagune von Borkum-West vor der Partypromenade? Ein Fischkutter ankert darin, dann passt es auch für mein Schiff. Warum sollten wir noch in den Hafen, kilometerweit entfernt, wenn wir direkt vor der Promenade geschützt ankern können? Die vorgelagerte Bank muss höher geworden sein. Auf Wiedersehen im nächsten Jahr.

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Sonnenaufgang im Hafen von Langeoog: Die hohen Schlickbänke bilden im Streiflicht außergewöhnliche Formen.

Am zweiten Tag starten wir zum Fotowettbewerb. Wer entdeckt die tollsten Motive? Schon am frühen Morgen verzaubert violettes Licht das Watt. Statt Seemeilen zu fressen, nehmen wir uns Zeit zum Entdecken. Auch das ist die Erfahrung eines Herbsttörns: Das Boot ist mehr Ferienunterkunft als Seetransporter. Nie zuvor haben wir so viele neue Facetten von Langeoog entdeckt.

Ein Hafenhaus steht unter den Silberpappeln; ihr lateinischer Name lautet Populus Alba. Aus orangefarbenem Sanddorn und roten Ebereschenbeeren in den Dünen könnten wir Marmelade kochen. Deichsymmetrie für die Linse bieten Heulinien. Wie bitte mäht man am Hang so exakt? Und das sogar auf der steilen Seite? Der Golfplatz steht im Kontrast zu wilden Dünen. Heute landen schnatternde Wildgänse darauf. Die Natur gehört jetzt der Vogelwelt.

Gegenüber hat die Globalisierung auch an der friesischen Strandpromenade Einzug gehalten. Neben dem gelben Schild des Mekong-Restaurants strahlt das grüne Schild jeverschen Biers. Es ist schön bunt hier. Und das macht Spaß. Am Weststrand bekommen wir es dagegen mit der Angst: Der Boden vibriert. Klickende und dumpfe Geräusche aus der Tiefe. Droht eine Methangaseruption? Reißt der Sand auf und verschluckt uns? Naht ein Tsunami? Wir sind nicht die Einzigen, die sich wundern. Viele verlassen verunsichert den Bereich. Erst in den Dünen herrscht wieder Ruhe. Einen Tag später löst sich das Rätsel: Aus der Accumer Ee wird Sand gesaugt und am Nordufer der Insel aufgespült. Die meterdicken Rohre verlaufen unterirdisch dorthin – wir standen direkt darüber.

Der Wind dreht endlich auf West. Es wird wärmer. Nachts ist das Heizen nicht mehr notwendig. So kann es bleiben. Am liebsten möchte ich noch mal bis in die Ostsee, wie ein paar Wochen zuvor. Ist das schon wieder so lange her? Wolken halten die Wärme am Boden. Der Wind pustet uns bei kinderfreundlich glatter See mit 3 Beaufort über das tiefe Wattfahrwasser an der Routeplate nach Neuharlingersiel, dem Fährhafen für Spiekeroog. Zugleich ist es ein wunderschöner Hafen mit alten Häusern um das innere Becken. Ich freue mich, dass nun auch die beiden Damen wieder an Deck sind und das Ruder übernehmen. Im Sommer war es selbstverständlich, dass wir uns abwechselten. Bei der kalten Ostlage der ersten Herbsttage hat es aber gereicht, wenn nur einem kalt wurde. Als Skipper ist man bei schlechtem Wetter froh, wenn die Familie ihren Spaß am Törn behält. Eingemummelt in Schlafsäcke unter Deck werden sie vor jeder Ansteuerung wieder munter, helfen beim Anlegen und zaubern leckere Gerichte, während sich der müde Held in die Koje verzieht.

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Neuharlingersiel: Der innere Hafen bleibt den Fischkuttern vorbehalten, aber reinfahren ist kein Problem.

Unter Segeln laufen wir im Blitzlichtgewitter fotografierender Touristen in den inneren Kutterhafen von Neuharlingersiel ein. Festmachen dürfen wir hier nicht, aber solche Segelmanöver in engen Häfen haben die gewünschte Wirkung – sie sind die beste Werbung für unseren Sport. Wegen der Windabdeckung durch Kaje und Häuser ist das ungefährlich. Einige Leute fallen beim Knipsen beinahe ins Wasser. Mit Angeben hat das nichts zu tun. Emotionale Bilder sind das Pfund, mit dem die Segelszene wuchern sollte. Vereine täten gut daran, Regatten zu organisieren, deren Wendebojen touristennah liegen.

Natürlich sind am Yachtsteg um diese Jahreszeit viele Liegeplätze frei. Zum Bezahlen gehen wir zum Fähranleger. Doch man will unser Liegegeld nicht kassieren. „Ab dem 1. Oktober ist die Steganlage frei“, lächelt der Mann am Tresen.

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An der Ostseite von Spiekeroog gibt es einen Seehundtreffpunkt.

An der Ostseite von Spiekeroog passieren wir unseren geliebten Seehundtreffpunkt. Dieses Jahr sind viele Jungtiere dabei. Wahrscheinlich wurden in diesen Tagen einige der aufgepäppelten Heuler von der Aufzuchtstation Norddeich ausgewildert und müssen nun lernen, für sich selbst zu sorgen. Alle Tiere liegen zwar zusammen, aber sie bleiben Einzelgänger. Es sind auch ein paar große Kegelrobben dabei – darunter ein besonders großer Bulle, bestimmt 300 Kilogramm schwer. Und so folgen wir nicht unserem natürlichen Impuls nach dem besten Foto, auf das Rudel der rund 100 Seehunde zuzuhalten, sondern bleiben im Fahrwasser auf Parallelkurs. Einige Tiere heben die Köpfe, was bereits ein Zeichen einer Störung ist. Fährt man auf die Sandbank zu, flüchten alle Tiere ins Wasser. Das muss man einfach wissen und vermeiden, denn im Miteinander von Wassersport und Naturschutz hält man Abstand, wenn es die Wassertiefe zulässt. Ich habe aber den Eindruck, dass sich die neugierigen Tiere auch an Boote gewöhnen, manche schwimmen sogar darauf zu. An manchen Stellen, wie vor Varel, führt das Fahrwasser tatsächlich nur wenige Meter an den Seehundbänken vorbei – da flüchtet kein Tier mehr ins Wasser. Sie sind eben auch lernfähig. Die Anwesenheit von Menschen bedeutet nicht unbedingt Beeinträchtigung. Tschüss, Jungs und Mädels, wir werden euch vermissen. Wie ihr hier sogar nachts zur eisigen Winterzeit auf der Sandbank überlebt, ist für uns Menschen schon erstaunlich.

In einem Rutsch schippern wir nun vorbei an Wangerooge zur Jade. Dank der Luftbilder haben wir neue Wattenwege zum Abkürzen entdeckt, an die wir uns vorher nicht herantrauten. Als wir am Wattenhoch der Telegraphenbalje noch 1,40 Meter unter dem Kiel haben, setzen wir eine Stunde vor Hochwasser direkten Kurs über alle Bänke auf Schillig, beachten aber die Schutzgebietszonen. Und tatsächlich haben wir an den flachsten Stellen komfortable 40 Zentimeter unter dem Kiel. Was Mittelmeersegler gruselt, lässt Wattenschipper entspannt vorausschauen. Jedenfalls mit einem stählernen Langkieler.

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Südflanke Minsener Oog / Wangerooge im Hintergrund. Bei Hochwasser stehen gut 2 Meter Wasser über den Bänken. Bis maximal 1,30 Meter Tiefgang kann man abkürzen, aber nur wenn man weiß, wo die hohen Bänke liegen. Im Juni 2016 wurde der Prickenweg wieder unmittelbar am Strand der Westflanke neu gesteckt – die Fahrt ist ein besonderes Naturerlebnis.

An der Seenotstation Horumersiel treffen wir Vormann Günter Ihnken vom Seenotrettungsboot Baltrum. Zwei Jahre zuvor hatten wir die Suche nach einem abgetriebenen Kitesurfer vor Schillig ausgelöst, als wir einen herrenlos treibenden Kite-Drachen entdeckten. Per Rettungshubschrauber wurde der Vermisste geborgen. Wir fischten seinen Drachen heraus und übergaben ihn an die Crew der Baltrum. Seit 45 Jahren ist der 60-Jährige ehrenamtlicher Seenotretter. Wie freiwillige Feuerwehrleute engagieren sie sich die Seenotretter vorbildlich bei der Rettung von Menschen. Zahllose Einsätze hat Günter hinter sich. Sein 8,5 Meter langes Boot weist stolze 215 PS auf. 13 Freiwillige gehören zur Mannschaft. Bei einem Einsatz sollten mindestens zwei Seenotretter an Bord sein. „Manchmal hole ich Spezialisten meiner Crew an Bord: Mal einen Arzt, dann einen Schlosser.“ Er selbst ist ein Mann des Meeres und hauptberuflich Krabbenkutterkapitän. Die Hilfe seiner Kollegen hat er selbst schon mal benötigt, als das Netz seine Schraube blockierte. Dramatische Rettungseinsätze für Segler sind dagegen relativ selten geworden. „Unsere Tidensegler sind erfahren und gut ausgestattet“, sagt er. „Als dicksten Fisch hatten wir mal eine 23 Meter lange Tjalk im Schlepp.“ Die Seenotretter von Horumersiel haben ein neues Mitglied aufgenommen: Seit einem Jahr gehört mit der 20-jährigen Jaqueline Rödel erstmals eine Frau zum Team. Ihr Vater fährt selbst seit Jahrzehnten hinaus. Er ist ihr Vorbild. „Gebraucht werden. Helfen können. Einfach so. Das ist für mich Lohn genug“, sagt die junge Frau.

Wollen wir schon zurück nach Hooksiel? Livemusik im Hellrock-Romantik-Musikcafe hören? Och nö. Erst nächstes Wochenende. Wir möchten noch nicht Boote ohne Masten sehen, auf die bereits die Kräne lauern, um sie dem Wasser zu entreißen. Lieber noch ein letztes Mal trockenfallen. Eintauchen in Strandzeit, Traumzeit, Auszeit.

Nach jedem Urlaub folgt unweigerlich die Rückkehr an den Arbeitsplatz. Und ebenso pünktlich kommt auch die Flut. Der idyllische Strand, an dem wir eben noch gebadet haben, füllt sich. Die auflaufende Tide läutet ihn ein, unseren Abschied vom Müßiggang. Wir wollten nicht „Good bye“ sagen, als uns der Sommer verließ. Bunte Herbstfarben sind ein temporärer Trost. Wir hoffen auf die Rückkehr wärmender Strahlen. Sie werden kommen. Darauf ist Verlass. Denn dann hebt sich wieder unser Wohlbefinden, wie die Flut die Paloma.

Was ich da noch nicht ahnte: Es sollte unser letzter Törn mit Paloma werden, auf der ich drei Jahre gelebt habe. Die kalte Gischt, die mich vor Baltrum im Cockpit stundenlang getroffen hat, ließ Gedanken an einen geschützten Steuerstand aufkommen. So würde ich die Saison früher beginnen und später enden lassen können. Vier Wochen später verkauften wir das Boot und wechselten auf Fuchur.

Warum entschied ich mich für Fuchur? Im Norden ist es frisch. Das ideale Boot sollte daher trockenfallen können und gleichzeitig Wetterschutz bieten, ohne zu sehr wie ein Motorsegler zu wirken. Das Boot hat die guten Eigenschaften der Paloma, kann aber noch mehr. Mit 12 Metern passt Fuchur gerade noch an alle Fingerstege und bei 3,46 Meter Breite auch in schmale Boxen. Der Tiefgang von 1,30 Meter mit zwei Kielen erlaubt das Trockenfallen, das Befahren von Flüssen und gleichzeitig unbeschränktes Hochseesegeln. Aluminium ist pflegeleicht und schützt sich selbst, sofern die Elektrik richtig verlegt ist, die richtigen Opferanoden und nur für Aluminium zugelassene Antifouling-Farben verwendet werden. Ihr heller Decksalon mit 1,60 Meter breitem „Fernsehsofa“ und die Badewanne schaffen Wohnlichkeit, um auch im Herbst und Winter an Bord zu leben. Zwar hängt die Freude auf dem Wasser nicht mit der Bootsgröße zusammen, aber alle an Bord sollen sich wohlfühlen.

Ein Faltboot, vier Trailerboote und drei Hochseeyachten, die ich im Laufe der Jahre besaß, hatten alle ihre Vorzüge. Noch heute freue ich mich, wenn ich irgendwo eine Hai 710 entdecke, und fühle mich an Bord sofort wieder heimisch. Man passt sich den Wohnraumverhältnissen an Bord in wenigen Stunden an. Nicht ohne Hintergedanken schildere ich in diesem Buch Routen und Touren mit den unterschiedlichsten Booten, die ich im Laufe der Jahre gepaddelt, mit Hilfssegel ausgestattet habe und gesegelt bin. Sie sollen dazu anregen, heimische Küsten und Binnenreviere im Norden auf eigenem Kiel und nach eigenem Gusto zu erkunden.

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Die Kajüte von Fuchur: seetauglich und groß genug, um zu zweit an Bord zu leben.

Vom Faltbootfahren.

Zwischen meinem ersten Faltboot und der 12 Meter langen Fuchur Fuchur