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Rainer M. Schröder

Im Zeichen des Falken

Roman

hockebooks

Festungsbelagerung

Am nächsten Tag fuhr Heinrich Heller wieder einmal mit Sadik nach Mainz. Sie wollten die Gelegenheit nutzen, schon die ersten Vorbereitungen zu treffen. Einer von Heinrich Hellers Freunden würde sich ganz sicher bereit erklären, in zwei Tagen mit einer Kutsche nachts in den Hügeln hinter Essenheim auf sie zu warten. Diese Ortschaft lag ein gutes Stück südlich des Ober-Olmer Waldes.

Tobias hatte mit Sadik beschlossen, sich diesem Ort in einem weiten südwestlichen Bogen zu nähern. Sie wollten schon um Mitternacht aufbrechen, sich aber erst zwei Stunden vor Morgengrauen mit dem Mann aus Mainz hinter Essenheim treffen. Dieser sollte schon am Tag zuvor Mainz verlassen und Station in Stadecken machen, das noch ein Stück weiter südlich lag als Essenheim. Sie würden also Zeit genug haben, um sich davon zu überzeugen, dass ihnen niemand folgte. Es konnte eigentlich gar nichts schiefgehen.

Eigentlich.

Tobias verbrachte den Nachmittag damit, schon einen Teil der Dinge in seinem Zimmer zurechtzulegen, die er mit nach Paris nehmen wollte. Dabei stöberte er auch seinen vollgestopften Bücherschrank nach spannenden Romanen durch, von denen er annahm, dass sie Jana gefallen würden.

An Jana hatte er nämlich auch gedacht, als er seinem Onkel die Reise nach Paris ans Herz gelegt hatte, wohlweislich aber kein Wort darüber verloren. Auch nicht zu Sadik. Wenn sie erst einmal unterwegs waren, würde er ihn schon dazu überreden können, über Worms zu fahren und dort ein paar Tage zu bleiben, falls Jana dann noch dort sein sollte. Sadik würde ihm diesen Gefallen gewiss nicht abschlagen.

So war Tobias nicht nur beschäftigt, sondern auch schon in allerbester Reisestimmung. Was Zeppenfeld und den Spazierstock betraf, so tröstete er sich mit der Einsicht, dass das Rätsel um Wattendorfs Stock ohne die Hilfe seines Vaters vorerst wohl doch nicht zu lösen war. Aber er würde seinen Onkel auf jeden Fall noch einmal daran erinnern, dass er versprochen hatte, einen Brief nach Cairo zu schicken und Wattendorf um Aufklärung zu bitten. Vielleicht antwortete er ja.

Es begann an diesem Tag früh dunkel zu werden, denn der Himmel war bezogen. Regenwolken ballten sich in der Ferne zusammen und das Licht der sinkenden Sonne war ohne Feuer.

Tobias fragte sich schon, wo denn bloß sein Onkel und Sadik blieben, als er endlich Hufschlag hörte – und augenblicklich alarmiert war. Denn was er vernahm, war das Trommeln eines galoppierenden Pferdes. Er sah, wie die Kutsche aus dem Wald raste. Sadik nahm die Kurve mit voller Geschwindigkeit, sodass die Kutsche gefährlich schlingerte. Deutlich war das Knallen der Peitsche zu hören!

›Zeppenfeld und seine Bande sind hinter ihnen her!‹, schoss es ihm durch den Kopf. Mit einem Satz war er bei der Kommode, riss die oberste Schublade auf und griff zur Pistole. Dann rannte er auch schon aus dem Zimmer, hetzte den Flur und die Treppe hinunter und schrie nach Jakob und Klemens.

Jakob stürzte mit dem Schrotgewehr aus der Werkstatt. »Ist es das Pack?«, rief er.

»Es sieht so aus!«, rief Tobias ihm zu, während er zum Westtor lief. »Sadik jagt mit der Kutsche die Allee hoch, als wäre der Teufel hinter ihm her.«

Jakob stellte die Flinte gegen die Wand der Durchfahrt und hob schnell den schweren Balken aus den Eisenhalterungen. Tobias riss eine Flügeltür auf, Jakob die andere, und im nächsten Augenblick donnerte die Kutsche an ihnen vorbei in den Hof, eine lange Staubschleppe hinter sich herziehend, die ihnen Dreck und Sand um die Ohren schleuderte.

»Das Tor verriegeln!«, brüllte ihnen Sadik zu.

Jakob und Tobias beeilten sich, die Aufforderung zu befolgen. Doch zu ihrer Verwunderung tauchten keine Reiter auf der Allee auf.

Sie rannten in den Hof.

Sultan, ein rassiger Wallach und das beste Pferd im Stall von Falkenhof, stand mit fliegenden Flanken im Geschirr. Sein kastanienbraunes Fell glänzte von Schweiß und Schaum stand vor seinem Maul.

»Ist Zeppenfeld hinter euch her?«, rief Tobias aufgeregt.

Sadik sprang vom Kutschbock, das Gesicht erschreckend ernst. »Ja, der auch. Aber wenn’s das mal bloß wäre«, gab er düster zur Antwort. Er warf einen schnellen Blick zu Jakob hinüber, der sich sofort des Pferdes angenommen hatte. Und mit gedämpfter Stimme setzte er hinzu: »Der Geheimbund ist aufgeflogen! Zeppenfeld hat seine Finger mit drin. Und deinen Onkel hat eine Kugel erwischt.«

Tobias gab einen Laut des Entsetzens von sich. Sein Onkel tot? Das konnte nicht sein! Eine eisige Hand schien seine Brust zusammendrücken zu wollen. Er stürzte zur Tür und riss sie auf.

»Onkel Heinrich! … O Gott, du lebst!«

»Natürlich lebe ich, mein Junge! Was hast du denn erwartet? Dass ich mich einfach so verdrücke?«, versuchte Heinrich Heller zu scherzen, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht in der Ecke der Kutsche lehnte. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen, auch wenn Zeppenfeld da anderer Meinung ist. Es liegen noch eine Menge unvollendeter Arbeiten auf meinem Schreibtisch und ich gedenke sie auch alle zum Abschluss zu bringen.«

»Aber du bist verwundet!«, stieß Tobias hervor, zwischen Erleichterung und Entsetzen hin und her gerissen. Sein Onkel trug um seine linke Schulter einen provisorischen Verband aus dem Stoff, der einmal die Deckenbespannung im Innern der Kutsche gewesen war. Und der Verband war blutdurchtränkt!

»Nun mach nicht so ein entsetztes Gesicht, mein Junge. Mir ist schon Schlimmeres widerfahren«, versuchte Heinrich Heller ihn zu beruhigen und rutschte auf der Bank zur Tür. Tobias hielt ihm seine Hand hin, um ihn zu stützen.

»Sadik hat die typisch arabische Schwäche der Übertreibung. Glatter Schulterdurchschuss. Hab zwar etwas Blut verloren und bin daher ein bisschen zitterig auf den Beinen. Aber das reicht nicht aus, um mich mit meinen Ahnen zu vereinen. Bin zwar alt, aber zäh. Ja, gib mir deinen Arm. Die Kugel war nicht halb so schlimm wie Sadiks Höllenfahrt. Ich dachte, er wollte alles dransetzen, dass wir uns überschlagen und uns alle Knochen im Leib brechen.«

»Sie waren hinter uns her, Sihdi!«

»Aber nicht mehr, als wir aus Mainz raus waren, mein Guter. Ich muss schon sagen, du kennst dich in der Stadt zehnmal besser aus als ich. Ohne dich hätten sie uns tatsächlich gefasst.«

»Sie müssen sich sofort hinlegen, Sihdi«, drängte Sadik. »Und dann muss ich mich um Ihre Verletzung kümmern. Überlass ihn mir, Tobias. Kümmere du dich darum, dass Jakob und Klemens die Zufahrten im Auge behalten. Zeppenfeld und seine Männer werden nicht lange auf sich warten lassen. Und wenn sie sich zu nahe heranwagen, dann feuert Warnschüsse ab. Aber über ihre Köpfe! Dein Onkel hat Schwierigkeiten genug.«

»Mein Freund, du beherrschst die Untertreibung genauso gut wie die Übertreibung«, murmelte Heinrich Heller.

Tobias holte die Schrotflinte aus der Kutsche, gab sie Klemens und teilte den beiden Männern mit, was sie zu tun hatten. Dann eilte er zu Sadik und seinem Onkel ins Haus.

Heinrich Heller lag im Salon auf der Couch, den Oberkörper entblößt, und Sadik kümmerte sich um die Wunde. Agnes hatte mit todesbleichem Gesicht heißes Wasser und saubere Tücher gebracht.

»Was ist in Mainz passiert, Sadik?«, fragte Tobias.

»Wir sind verraten worden«, antwortete sein Onkel und verzog das Gesicht, als Sadik die Wunde reinigte.

»Verraten? Von wem?«

»Von Konrad Nagelbrecht, dem Graveur. Ich bin sicher, dass er es war, der uns an Pizalla oder Zeppenfeld verraten hat«, berichtete Heinrich Heller, musste aber immer wieder eine Pause einlegen, wenn der Schmerz ihn übermannte. »Niemand sonst kann es gewesen sein. Nagelbrecht steckt in Schwierigkeiten, hatte sich mit seinem neuen Geschäft übernommen. Und dann kam auch noch die schwere Krankheit seiner Frau hinzu, die im Geschäft gestanden hat. Er war schon bei unserem letzten Treffen so merkwürdig gedankenabwesend, überhaupt nicht so gesprächig wie sonst und auch nicht mit dem üblichen Elan bei der Sache. Wir dachten uns aber nichts dabei, denn wir wussten ja von seinen Problemen zu Hause und im Geschäft. Dass er sich für das heutige wichtige Treffen entschuldigt hatte, hat uns nicht stutzig werden lassen. Angeblich hatte sich der Gesundheitszustand seiner Frau verschlechtert, so hörte ich es von Kupferberg. Doch das war eine Lüge. Er hat uns verkauft, hat seine Gesinnung verkauft für einen Beutel Goldstücke, dieser Judas!«

»Warum war das Treffen heute so wichtig?«

»Wir hatten eine Flugschrift vorbereitet, mit deren Druck wir heute begonnen haben. Kupferberg hat im Keller seines Hauses eine kleine Presse, auf der wir schon seit Jahren unsere Aufrufe drucken. Und es gehörte zu unseren ungeschriebenen Gesetzen, dass wir alle zugegen waren, wenn ein neues Pamphlet bei ihm in Druck ging. Um das Risiko mit ihm zu teilen, aber auch um die Arbeit zu beschleunigen. Deshalb waren wir heute auch vollzählig, bis auf den Nagelbrecht, den Judas in unseren eigenen Reihen. Und dann forderte Pizalla Einlass. Er hatte gleich ein Dutzend Gendarmen mitgebracht.«

»Und wie bist du ihnen entkommen?«, fragte Tobias, fassungslos und bestürzt über den Verrat.

»Das verdanke ich Sadik«, erklärte sein Onkel. »Als Pizalla ins Haus stürmte, gefolgt von den Gendarmen, hielt ich mich zufällig bei Kupferbergs Frau in der Küche auf. Probst und Reinach hatten mich an der Presse abgelöst, und ich wusch mir die Hände, um danach die Platte mit zubereiteten Broten zu meinen Freunden in den Keller zu tragen. In diesem Moment hämmerte Pizalla vorn an die Tür. Ich hörte seine Stimme. Dann gab es einen fürchterlichen Tumult und diese tapfere Frau packte mich am Kragen, riss die Tür zum Hinterhof auf und stieß mich hinaus. Aber viel weiter wäre ich nicht gekommen – wenn Sadik nicht gewesen wäre.«

»Es war Allahs Wille, dass ich Sultan schon eingespannt hatte und Zeppenfeld noch erkannte«, wehrte Sadik ab, strich Salbe auf die Wunde und begann sie fachmännisch zu verbinden.

Heinrich Heller verzog das Gesicht, bäumte sich unter Schmerzen auf und atmete mehrmals keuchend durch, ehe er seinen Bericht fortsetzen konnte: »Wir hatten die ersten Packen Flugschriften fertig und Sadik sollte sie zur Anlegestelle hinunterbringen. Dort wartete ein Flussschiffer auf uns, der einem ähnlichen Geheimbund in Frankfurt angehört, mit dem wir schon seit Jahren engen Kontakt halten. Die Männer sind wahre Republikaner und haben stets unsere kritischen Schriften in Frankfurt unter die Leute gebracht.«

»Und dann tauchte Zeppenfeld auf?«

Heinrich Heller nickte. »Ja, so war es. Der Hof hinter Kupferbergs Haus hat nämlich zwei Zufahrten. Eine davon zu bewachen, hatten offenbar Zeppenfeld und seine Männer übernommen. Es waren vier. Er hat wohl noch einen dritten Schurken angeheuert. Als sie sahen, wie ich zur Kutsche rannte, schrie Zeppenfeld etwas und ein Schuss fiel. Die Kugel traf mich in die Schulter. Doch ich schaffte es noch in den Wagen, und dann jagte Sadik auch schon los. Fast hätte Sultan sie über den Haufen gerannt. Es war eine Sache von wenigen Augenblicken, mein Junge. Unser Glück war, dass Zeppenfeld und seine Bande nicht zu Pferd waren, sonst wären wir ganz sicher nicht mehr aus der Stadt gekommen.«

Tobias fühlte sich wie benommen. Der Schuss hätte seinen Onkel töten können. »Aber wieso konnte ausgerechnet Zeppenfeld eure Spur finden?«

»Wenn das Glück günstig ist, legt der Hahn Eier auf einen Pflock«, brummte Sadik, »wenn es aber den Rücken kehrt, dann schlägt der Schakal über dem Sohn des Löwen sein Wasser ab.«

Heinrich Heller nickte zustimmend. »Eine gute Nase, eine Prise Glück und das Gold in seinen Taschen, alles zusammen ist es wohl gewesen. Männer wie er und Pizalla finden stets so zielsicher zusammen wie Honig und Bienen. Er muss sich gut umgehört und mich in Mainz beobachtet haben. Das hat Pizalla gewiss auch getan, aber ihm war kein Erfolg beschieden, hatte er doch nie etwas in der Hand. Möglich, dass Zeppenfeld einen jeden von uns genau unter die Lupe genommen und mit dem Spürsinn des Schurken erkannt hat, dass Nagelbrecht das schwächste Glied unserer Kette war. Und im Gegensatz zu Pizalla verfügt Zeppenfeld über die nötigen Geldmittel, um einem Mann, der sich in aussichtsloser Lage wähnt, die Zunge zu lockern. Mit Sicherheit ist Nagelbrecht nicht zu Pizalla gegangen, sondern hat uns an Zeppenfeld verkauft, das beweist schon dessen Erscheinen im Hof. Zeppenfeld hat sein Wissen dann Pizalla angeboten – seine Bedingungen gestellt. So oder ähnlich mag es gewesen sein. Letztlich ist es aber auch egal. Er hat auf jeden Fall seine Drohung wahr gemacht und uns einen beinahe vernichtenden Schlag versetzt.«

»Aber das ergibt keinen Sinn«, wandte Tobias verstört ein. »Er interessiert sich doch bestimmt nicht für deine politische Einstellung und all das! Was kann ihm das denn bringen. Es ist doch Wahnsinn, dass er auf dich hat schießen lassen!«

»Ganz und gar nicht«, widersprach sein Onkel. »Er wäre am Ziel gewesen, wenn mich Pizalla oder die Kugel erwischt hätte. Pizalla hätte dann Falkenhof auf den Kopf gestellt, um noch mehr Beweise für meine verbotenen Aktivitäten ans Tageslicht zu fördern. Und Zeppenfeld wäre mit von der Partie gewesen – auf der Suche nach dem verfluchten Spazierstock. Der gehörte garantiert mit zu dem Handel, den er mit Pizalla geschlossen hat. Du hättest dagegen nichts ausrichten können.«

»Sie sollten zwei Narkoseschwämme nehmen, Sihdi«, riet ihm Sadik nun.

»Kommt gar nicht infrage! Ich kann schon was ertragen«, wehrte Heinrich Heller ab. »Ein halber Narkoseschwamm, mehr nicht, Sadik! Es wird noch eine lange Nacht und ich muss einen klaren Kopf behalten.«

Sadik versuchte gar nicht erst, ihn überreden zu wollen. »Was machen wir denn jetzt?«

Heinrich Heller kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Denn Sadik hatte die Hand gehoben und lauschte. »Da sind sie schon!«

Jetzt hörte auch Tobias das Hufgetrappel. Es klang nach einer großen Reitergruppe. »Zeppenfeld und Pizalla mit seinen Leuten?«

»Zeppenfeld ganz sicher«, meinte Heinrich Heller. »Ob Pizalla auch dabei ist, das weiß ich nicht. Sadik, sorg dafür, dass sie sich nicht zu nahe heranwagen.«

»So dumm wird er nicht sein«, knurrte Sadik. »Leider.«

Tobias eilte mit Sadik hinaus. Sie liefen zum Westtor und Sadik nahm Jakob das Schrotgewehr ab. Er öffnete die kleine Sichtluke im rechten Torflügel.

»Zeppenfeld, seine drei Banditen und sechs bewaffnete Gendarmen«, stellte er fest.

»Auch Pizalla?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Lass mich mal sehen!« Tobias drängte sich an das kleine Fenster. Die Reiter hatten in sicherer Entfernung gehalten. Auch wenn das Licht nicht mehr so gut war, konnte er doch sehen, dass sich ein kleiner Glatzkopf nicht unter ihnen befand.

Zeppenfeld hatte sein Pferd hinter eine Ulme gelenkt. »Professor!«, schrie er zum Falkenhof herüber. »Geben Sie auf! Keine Chance für Sie zu fliehen! Sitzen in der Falle! Haben das Spiel verloren. Reiten sich nur tiefer rein, wenn Sie nicht Tor öffnen!«

Ein Fenster wurde im Westtrakt aufgerissen. »Fahren Sie zum Teufel, Zeppenfeld!«, hörte Tobias die erregte Stimme seines Onkels. »Sie kommen hier nicht rein! Sie haben sich zu früh gefreut! Sadik, zeig Ihnen, was dieses Gesindel zu erwarten hat, wenn sie Falkenhof nicht fernbleiben.«

Krachend fiel das Fenster zu.

»Wer es wagt, sich mehr als zehn Schritte zu nähern, wird mit Blei gespickt!«, schrie Sadik zurück, schob die Flinte durch die Öffnung und feuerte rasch hintereinander beide Läufe ab. Die Detonationen hallten im Hof wider und die Schrotladungen prasselten wie Bleihagel durch die Kronen der Ulmen.

Die Gendarmen wichen zurück und hatten Mühe, ihre scheuenden Pferde zu zähmen. Auch Zeppenfelds Männer suchten nun bessere Deckung.

»Wird nichts nutzen! Aus Falkenhof schlüpft keiner mehr heraus. Werden die Nacht hier wachen, bis morgen Verstärkung eintrifft. Wird ein Leichtes sein, das Gut mit einer Kompanie Soldaten zu stürmen!«, brüllte ihnen Zeppenfeld höhnisch zu. »Wird Ihren Hals kosten, Herr Professor! Hätten das billiger haben können. Wünsche vergnügliche Nacht!« Er rief seinen Männern und den Gendarmen einen Befehl zu, worauf sie auszuschwärmen begannen und sich um das Gut herum postierten, in sicherer Entfernung, aber doch nahe genug, um jeden Fluchtversuch vereiteln zu können.

Sadik und Tobias beobachteten durch die Luke, dass einer der Gendarmen nach Mainz zurückritt. »Er wird Bericht erstatten und Verstärkung holen«, murmelte Tobias ahnungsvoll. »Und dann werden sie uns belagern!«

Sadik verzog das Gesicht. »Es wird keine lange Belagerung geben. Oder glaubst du, wir könnten Falkenhof mit Jakob, Klemens, Agnes und Lisette gegen eine Einheit Soldaten oder Gendarmen verteidigen? Keine Nacht werden wir uns halten können. Was wir tun, ist nichts als Zeit schinden. Wenn Pizalla wirklich mit einem starken Aufgebot an Bewaffneten vor Falkenhof erscheint, wird es kein Blutvergießen geben.«

»Aber was soll denn jetzt werden?«, fragte Tobias völlig verstört.

»Das sollten wir deinen Onkel fragen«, erwiderte Sadik. Er gab das Gewehr an Jakob zurück, der neue Patronen in den Lauf schob. »Haltet sie euch vom Leibe, Jakob. Schießt über ihre Köpfe hinweg. Aber gebt euch nicht zu erkennen. Und lasst auch eure Stimmen nicht hören. Wenn es zum bitteren Ende kommt, habt ihr von nichts gewusst und mit der ganzen Sache auch nichts zu tun gehabt. Geschossen habe nur ich!«

»Das ist aber nicht rechtens«, wandte Jakob ein. »Wir werden unseren Mann stehen und nicht zulassen, dass diese Schurken den Herrn Professor …«

»Du wirst tun, was man dir sagt!«, fiel ihm Sadik freundlich, aber energisch ins Wort. »Du kannst dem Sihdi von viel größerem Nutzen sein, wenn du gar nicht erst in den Verdacht der Mitwisserschaft gerätst. Das gilt genauso für deine Frau und Agnes – und auch für dich, Klemens.«

Klemens Ackermann funkelte ihn an, als wäre er wild entschlossen, gegen jede noch so große Übermacht anzutreten und Falkenhof notfalls auch allein zu verteidigen.

»Nur Warnschüsse!«, hämmerte Sadik besonders ihm ein. »Denn wenn hier Blut fließt, hat euer Herr sein Leben verwirkt! Und dann könnt ihr so tapfer sein, wie ihr wollt: Für das Blut, das ihr vergossen habt, wird er bezahlen müssen.«

Das verfehlte seine Wirkung nicht. Der Ausdruck wilder Kampfbereitschaft wich einem entsetzten Blick. Klemens schüttelte heftig den Kopf – das wollte er natürlich nicht.

»Wir werden nichts tun, was dem Herrn Professor schaden könnte«, versicherte auch Jakob.

»Gut, dann verhaltet euch auch danach. Gebt euch in keiner Weise zu erkennen. Und wenn es etwas zu reden gibt, werde ich das tun – oder der Sihdi. Und jetzt auf eure Posten!«

Tobias und Sadik kehrten in den Salon zurück, um sich mit Heinrich Heller zu besprechen. Der Gelehrte saß in einem Sessel, fast grau das Gesicht und scharf die Linien auf Stirn und Wangen. Er hielt ein großes Glas Cognac in der Hand.

»Lumpenpack im feinen Tuch!«, stieß er zornig hervor. »Mein Bruder hätte nicht einen Finger für ihn rühren sollen!«

Sadik blieb vor dem Kamin stehen und schob ein Holzscheit mit der Schuhspitze tiefer ins Feuer. »Die Belohnung für eine Wohltat sind gewöhnlich zehn Ohrfeigen«, erwiderte er sarkastisch. »Und wenn die Wolken voller Teig wären, würde es täglich Brot regnen.«

Heinrich Heller nahm einen ordentlichen Zug, verzog das Gesicht und sagte dann: »Du hast recht, Sadik. Das Geschehene lässt sich nicht mehr ändern. Überlegen wir lieber, wie es weitergehen soll.«

»Eine große Auswahl an Möglichkeiten bleibt nicht, Sihdi. Wir können die schnellsten Pferde satteln und versuchen zu flüchten.«

»Aussichtslos«, sagte Heinrich Heller sofort. »Auch wenn ich unverletzt wäre. Wir kämen nicht weit.«

Sadik pflichtete ihm mit einem Nicken bei. »Wir können andererseits Falkenhof heroisch bis zum letzten Mann verteidigen. Klemens und Jakob wären dafür gewiss zu begeistern, auch wenn nichts zu gewinnen ist als ein Strick.«

»Sadik! Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, erregte sich der Gelehrte. »Es wird kein Blutbad auf Falkenhof geben! Ich will, dass niemand Schaden nimmt. Noch nicht mal dieser Lump Zeppenfeld. Jetzt geht es nicht mehr nur allein um mich, sondern wir alle sind in Gefahr. Ruf sofort Jakob und Klemens hierher, damit ich …«

Tobias unterbrach seinen Onkel. »Ist schon alles erledigt. Sadik hat ihnen längst eingetrichtert, dass es zu keinem Blutvergießen kommen darf. Sie haben es auch begriffen. Du kannst also ganz beruhigt sein.«

Heinrich Heller warf dem Araber einen ungehaltenen Blick zu. »Warum provozierst du mich erst so, wenn du doch schon in meinem Sinn gehandelt hast?«

»Ich habe nichts weiter als unsere Möglichkeiten aufgezählt, Sihdi«, erklärte Sadik gelassen. »Die ersten beiden sind also verworfen. Bleibt uns nur die dritte und letzte Wahl.«

»Und wie lautet die?«, fragte Tobias.

»Dein Onkel muss mit Zeppenfeld verhandeln.«

»Er soll vor ihm in die Knie gehen?«, rief Tobias empört.

»Er soll sein Leben retten!«

Heinrich Heller mischte sich ein. »Ich hätte nichts dagegen, mit diesem Lumpen zu verhandeln. Diplomaten tun ihr ganzes Leben nichts anderes, als mit dekorierten Lumpen zu verhandeln. Aber ich wüsste nicht, was das ändern sollte. Meine Freunde sind verhaftet, und Pizalla wird spätestens am Morgen hier auftauchen, um auch mich abzuholen. Daran kann auch Zeppenfeld nichts ändern.«

»Er will den Spazierstock, nichts weiter«, erwiderte Sadik. »Geben Sie ihm das verdammte Ding und verlangen Sie, dass er die Gendarmen von einer Verfolgung zurückhält. Dann hätten wir einen Vorsprung von gut zehn, zwölf Stunden.«

Heinrich Heller lächelte freudlos. »Nein, mein lieber Sadik, das werde ich ganz sicher nicht tun. Aber ganz davon abgesehen, dass ich nicht glaube, dass Zeppenfeld sein Wort halten würde, werde ich mich nicht darauf einlassen. Was würden mir die zehn Stunden Vorsprung denn schon bringen? Nichts! Und wenn ich es sogar bis nach Frankreich schaffen würde. Was hätte ich davon? Man würde mein ganzes Vermögen konfiszieren und damit auch meinen Bruder aller Vermögenswerte berauben, weil ich auch sein Geld verwaltet habe. Nein, nein, ich bin zu alt, um irgendwo im Exil von den milden Gaben anderer zu leben. Flucht kommt für mich nicht in Frage.«

Sadik zuckte mit den Achseln. »Dann gibt es nichts, was wir noch tun könnten, und Ihnen ist der Kerker gewiss, Sihdi.«

»Ja, mit diesem Gedanken werde ich mich wohl anfreunden müssen«, räumte Heinrich Heller ein. »Aber es wird mir schon gelingen, die Kerkerzeit so kurz wie möglich zu halten. Es gibt auch Leute in einflussreichen Positionen, die mir freundlich gesinnt und sogar den einen oder anderen Gefallen schuldig sind. Und da mir das Privileg vergönnt ist, recht vermögend zu sein, werde ich trotz allem viel für meine Freunde und mich tun können. Du kennst doch das Sprichwort: Wer tausend Goldstücke besitzt, darf reden, wer nur ein Silberstück sein Eigen nennt, hat stumm zu sein.«

Sadik lächelte grimmig. »Wir sagen: Wenn du reich genug bist, kannst du sogar den Kadi reiten. Aber auch mit all Ihrem Geld werden Sie lange Zeit im Kerker verbringen müssen.«

Heinrich Heller nickte. »Allerdings. Deshalb müsst ihr auch flüchten!«, sagte er zu seinem Neffen gewandt. »Du und Sadik. Pizalla wird euch nicht verschonen. Sadik ganz sicher nicht. Dafür wird Zeppenfeld sorgen. Allein schon seine Komplizen, denen du so übel mitgespielt hast, werden darauf drängen, dass du deinen Teil abkriegst. Und Kerker ist eine schreckliche Sache für einen jungen Menschen.«

Tobias wurde sich erst jetzt so richtig bewusst, dass es längst nicht mehr nur um seinen Onkel, den Geheimbund und den Spazierstock ging, sondern dass sie alle in höchster Gefahr schwebten. Sogar ihm, Tobias, drohte der Kerker!

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass Flucht aus Falkenhof ausgeschlossen ist«, wandte er ein – und kannte schon im nächsten Moment die Antwort seines Onkels.

»Du hast den Ballon vergessen, mein Junge!«

Sadik zuckte sichtlich zusammen. »Flucht mit dem Ballon? La!«, rief er entsetzt. »Niemals! Das ist Wahnwitz! Eine Katastrophe gäbe das! Unmöglich! Sie würden uns vom Himmel holen! Abstürzen würden wir! Nein, keine zehn Kamele kriegen mich in diese Todesgondel!«

»Sadik!«, rief Heinrich Heller beschwörend. »Der Junge muss flüchten und du auch! Ich könnte es nicht ertragen, ihn und dich im Kerker zu wissen. Ihr müsst weg von hier und euch in Sicherheit bringen. Und es ist möglich. Noch! Siehst du das denn nicht ein?«

»Doch, doch, aber nicht mit dem Ballon!«

»Aber der Falke ist doch zur Flucht einfach genial, Sadik! Bei der schwarzen Hülle werden sie uns erst sehen, wenn es längst zu spät ist, etwas gegen den Aufstieg zu unternehmen. Wir haben heute Wind und werden deshalb bestimmt schnell wegtreiben. Und wie sollen sie uns in der Nacht zu Pferd folgen? Der Ballon ist unsere Rettung!«, versuchte Tobias ihn zu überzeugen. Er selbst war spontan von der Idee begeistert. Er würde alles versuchen, um vor Pizalla und der Einkerkerung zu flüchten. Und natürlich würde er den Spazierstock mitnehmen. Zeppenfeld würde toben.

Sadik ließ jedoch nicht mit sich reden. Allein schon die Vorstellung, mit dem Ballon aufzusteigen, ließ panische Angst in seinen Augen aufflackern. So mutig und tollkühn er sonst auch war, der Ballon machte aus ihm einen völlig anderen Menschen. Seine Angst war so groß, dass er sich in Illusionen flüchtete, über die er bei normaler Geistesverfassung nur abfällig gelacht hätte.

»Ich werde Zeppenfeld und die Posten draußen ablenken«, sprudelte er hastig hervor. »Ja, jetzt habe ich es! Wir bereiten den Ballon zum Aufstieg vor. Dann verwirren wir die Wachen durch ein doppeltes Ablenkungsmanöver.«

Heinrich Heller blickte ihn mit skeptisch hochgezogenen Brauen über seinen Zwicker hinweg an. »So? Und wie soll das aussehen?«

»Jakob nimmt die Kutsche und jagt, was das Zeug hält, aus dem Osttor. Nicht nur die Wachen im Osten werden darauf reagieren. Garantiert stürmt erst mal alles hinter ihm her. Das ist der erste Köder, und Jakob hat natürlich keine Chance, ihnen zu entkommen. Schon gar nicht mit der Kutsche. Aber er soll sie ja auch bloß vom Ballon ablenken – und von mir. Denn ich galoppiere kurz hinter Jakobs Aufbruch mit Sultan aus dem Westtor«, führte er hastig aus. »Zu dem Zeitpunkt wird unter den Gendarmen und Zeppenfelds Leuten größte Verwirrung herrschen. Einige werden der Kutsche gefolgt, andere instinktiv zum Osttrakt gelaufen sein. Damit stehen die Chancen für mich, den Schutz des Waldes zu erreichen, ausgezeichnet. Niemand wird mich aufhalten, Sihdi! Warum lassen wir den Ballon nicht einfach leer aufsteigen und Tobias reitet an meiner Seite?«

»Kommt gar nicht in Frage, Sadik! Die Flucht mit dem Ballon ist zehnmal sicherer als dieser Plan, den du dir da ausgedacht hast – und der nicht funktionieren wird«, wehrte Tobias ab.

Sadik funkelte ihn an. »Ich schwöre es, und Allah sei mein Zeuge: Sie werden auf das Ablenkungsmanöver hereinfallen!«

»Die Gendarmen vielleicht. Nicht aber Zeppenfeld und seine Komplizen«, hielt ihm Tobias nicht weniger erregt vor. »Zweimal haben wir ihn schon sehr unterschätzt. Ein drittes Mal soll uns das nicht passieren. Zeppenfeld ist wahrlich nicht auf den Kopf gefallen, Sadik! Er hat Augen im Kopf und weiß, dass die Allee, die in den Wald führt, die einzige erfolgversprechende Fluchtroute ist. Im Osten ist das Land völlig offen, ohne jeden Schutz für einen Flüchtenden. Nichts als Felder und Wiesen. Allein im Ober-Olmer Wald könnten wir Verfolger abschütteln. Natürlich weiß er das. Und deshalb hat er sich ja auch genau dort mit seinen Männern postiert. Schau doch hinaus! Du wirst auf der Westseite keine Gendarmen finden, sondern nur Zeppenfelds Männer. Und ich wette, dass keiner von ihnen auf seinem Posten schläft. Zeppenfeld hat eine Prämie auf uns ausgesetzt, darauf gehe ich jede Wette ein.«

Sadik ließ sich jedoch nicht beirren. »Du musst nur Vertrauen haben, Tobias! Es wird klappen. Astor und Sultan sind explosiv im Antritt. Wir können es schaffen und sie im Wald abhängen. Hab nur Vertrauen!« Er bettelte fast.

Tobias sah ihn verstört an. Er begriff einfach nicht, wieso sich Sadik den doch auf der Hand liegenden Tatsachen so beharrlich verschloss. Was er da vorschlug, war reinster Irrsinn im Vergleich zu der Sicherheit, die ihnen der Ballon bot. Es schmerzte ihn, dass Sadik jede Vernunft vermissen ließ und an einem Fluchtplan festhielt, der von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte.

»Mein Gott, Sadik! Was ist nur mit dir los?«, fragte er betroffen. »Siehst du denn nicht, dass wir damit direkt in Zeppenfelds Arme und in unseren Untergang rennen würden?«

Sadiks Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck. »Dann nimm du den Ballon und lass es mich zu Pferd versuchen! Ich werde dich schon finden. Wir vereinbaren einen geheimen Treffpunkt.« Seine Stimme war ein beschwörendes Flüstern.

Heinrich Heller hatte mit verkniffener Miene dem Wortwechsel der beiden gelauscht, ohne den Blick von Sadik zu nehmen. Jetzt sagte er: »Eigentlich hast du recht, Sadik! Getrennt marschieren und vereint schlagen.«

Tobias sah seinen Onkel ungläubig an. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein! Wenn Sadik …«, brauste er auf.

»Schweig!«, gebot ihm Heinrich Heller streng. »Du wirst den Ballon nehmen und Sadik nimmt Sultan! Die Zersplitterung der gegnerischen Kräfte, die er vorgeschlagen hat, leuchtet auch mir ein. Mit Zeppenfeld und seinem Gesindel wird er schon fertig. Eine Ladung Schrot im Vorbeireiten wird sie schon auf Distanz halten. Und Jakob wird das Seine tun, um von deinem Ballonaufstieg abzulenken. Wir werden vier Treffpunkte festlegen, für jede Windrichtung eine. Sadik sieht ja, in welcher Richtung der Falke weggetrieben wird. Allein kommt er auch viel schneller voran. Ja, so sehe ich für euch beide die besten Chancen.«

Sadik nickte eifrig. »Ich finde Tobias schon, Sihdi! Sie können sich auf mich verlassen. Sie werden keinen von uns fassen.«

»Aber Eile tut Not«, drängte Heinrich Heller jetzt. »Der Falke muss entfaltet und mit Gas gefüllt werden, und zwar mit so viel Gas wie nur irgendwie möglich. Der Ballon muss schnell Höhe gewinnen, um außer Sichtweite zu gelangen. Sadik, sorge dafür, dass umgehend Ballon und Gondel aus dem Schuppen geholt sowie Fässer und Rohre auf den Hof geschafft werden. Agnes und Lisette sollen dabei helfen.«

»Ich werde das sofort in Angriff nehmen«, versicherte Sadik, sichtlich froh über Heinrich Hellers Zustimmung zu seinem Fluchtplan. Er wandte sich zur Tür, um sich sogleich in die Arbeit zu stürzen.

»Aber vermeidet Lärm im Hof! Und du bleibst noch einen Moment, mein Junge. Es dürfte ratsamer sein, meine politischen Aufzeichnungen dem Feuer zu übergeben, bevor sie in Pizallas Hände fallen. Wir wissen ja nicht, wann der Bluthund hier eintrifft. Du kannst mir dabei zur Hand gehen«, sagte Heinrich Heller zu seinem Neffen, während Sadik schon aus dem Zimmer eilte. »Eine Stütze kann ich jetzt in jeder Beziehung gut gebrauchen.«

Tobias konnte sich nicht erinnern, jemals wirklich zornig auf seinen Onkel gewesen zu sein. Doch jetzt war er es. Es ging ihm einfach nicht in den Kopf, dass er Sadiks wahnwitzigen Plan tatsächlich gutgeheißen und abgesegnet hatte. Waren sie denn alle mit Blindheit geschlagen? Sein Onkel hatte doch sonst einen so scharfen, nüchternen Verstand! Saß ihm nach dem Verrat von Nagelbrecht, dem schmerzhaften Schulterdurchschuss und angesichts des drohenden Kerkers der Schock so tief in den Gliedern, dass er vorübergehend sein gesundes Urteilsvermögen verloren hatte? So musste es sein. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.

Tobias gab sich keine Mühe, seinen Zorn vor ihm zu verbergen, als er ihn auf dem Weg zu seinem Studierzimmer stützte.

Als die Tür hinter ihnen zufiel, sagte Heinrich Heller belustigt: »Du schneidest ein Gesicht, als wolltest du mich am liebsten fressen.«

»Ich verstehe nicht, wie du darüber noch witzeln kannst!«, erwiderte Tobias hitzig. »Wie könnt ihr beide bloß so verbohrt sein und glauben, irgendjemand könnte aus Falkenhof zu Pferd entkommen!«

»Sadik …«

Doch Tobias war jetzt nicht zu bremsen. Diesmal ließ er sich nicht zum Schweigen verdonnern. »Sadik muss nicht mehr ganz bei Verstand sein! Und du auch nicht, dass du seinem Plan zugestimmt hast! Er wird nie und nimmer den Wald erreichen. Zeppenfeld wird ihm Sultan mit einer schnellen Schrotladung unter dem Hintern wegschießen, bevor er auch nur ein Drittel der Strecke hinter sich gebracht hat. Mein Gott, er wartet doch bloß darauf, dass einer von uns so einen sinnlosen Verzweiflungsausbruch versucht. Dann hat er die Geisel, die er braucht, um hier einzudringen und uns den Spazierstock abzunehmen! Dabei haben wir doch den Ballon, Onkel Heinrich! Und es herrscht heute kräftiger Wind. Ehe sie begreifen, was da in den Himmel steigt, sind wir schon aus der Reichweite ihrer Pistolen und Schrotflinten. Aber auch mit ein paar Löchern in der Hülle könnten wir immer noch schneller und weiter fliegen als sie uns zu Pferd bei Nacht querfeldein folgen könnten. Deshalb begreife ich nicht, wieso du Sadik in sein Verderben reiten lässt! Das ergibt keinen Sinn!«

Heinrich Heller sank mit einem unterdrückten Stöhnen auf seinen Schreibtischstuhl. »Das hat er wirklich«, murmelte er und holte aus der Tabaksdose den Schlüssel für die Schublade, in der er seine brisanten politischen Aufzeichnungen aufbewahrte.

Tobias runzelte die Stirn. »Wer hat was?«

»Na, Sadik, den Verstand verloren«, pflichtete ihm sein Onkel bei, als wären sie nie gegenteiliger Meinung gewesen. »Diese Idee mit dem Teufelsritt ist geradezu lachhaft. Sultan ist ein gutes Pferd, aber doch kein fliegender Teppich.«

Jetzt verstand Tobias gar nichts mehr. »Du – du findest also auch, dass der Plan keine Aussicht auf Erfolg hat?«, vergewisserte er sich.

»Er könnte genauso gut versuchen, im Handstand flüchten zu wollen«, versicherte Heinrich Heller mit beißendem Spott und zog die Schublade auf.

»Ja, aber – warum hast du dann zugestimmt, Onkel?«

»Hast du nicht gesehen, in welch panische Angst es ihn versetzt hat, als ich vorschlug, mit dem Ballon zu flüchten?«

»Ja, schon.«

»Von diesem Augenblick an war er wie verwandelt. Keinen noch so logischen Einwand hätte er gelten lassen. Nicht mit tausend Engelszungen hätten wir ihn bereden können, mein Junge. Sein Mut und seine Tapferkeit sind über alle Zweifel erhaben. Doch auch der Heldenhafteste hat seine große Schwäche, seine Achillesferse! Offenbar ist das bei Sadik die Höhenangst oder etwas in der Art«, erklärte Heinrich Heller. »Auf jeden Fall hat dabei ihm der Verstand ausgesetzt. Deshalb habe ich nicht mehr versucht, ihn überreden und von der Aussichtslosigkeit seines Planes überzeugen zu wollen. Weil ihn Worte nicht erreicht hätten.«

»Panische Angst, das muss es sein. Anders kann ich mir sein Verhalten auch nicht erklären«, pflichtete Tobias ihm bei. »Aber gerade weil Sadik nicht ganz bei Verstand ist, dürfen wir nicht zulassen, dass er sich ins Unglück stürzt. Er ist unser Freund! Ich kann ihn da nicht einfach hinausreiten lassen!«

Heinrich Heller nickte nachdrücklich. »Das wird auch nicht geschehen. Es ist unsere Pflicht, auf ihn aufzupassen, wenn er vorübergehend nicht selber dazu in der Lage ist. Dafür sind Freunde da. Es wird keinen selbstmörderischen Ritt geben.«

»Ja, aber wie kommt Sadik dann aus Falkenhof hinaus?«

Sein Onkel lächelte ihn verschmitzt an. »Wie ich es von Anfang an gesagt habe: mit dem Ballon natürlich! Er weiß nur noch nichts davon. Und ich denke, dabei sollten wir es vorerst auch belassen. Die große Erleuchtung erfolgt für ihn noch früh genug. Möge Allah diesmal auf der Seite der Ungläubigen sein – immerhin geht es ja um die Rettung eines tapferen und gläubigen bàdawi

Viertes Buch:
Auf der Flucht

Mai–Juni 1830

Doppelte Täuschung

Die schwarze Hülle des Falken hing zwischen den Pfosten, die acht Fässer standen an ihrem Platz und das erste Gas begann durch das Röhrensystem in den Ballon zu strömen. Damit war der körperlich anstrengendste Teil der Fluchtvorbereitungen abgeschlossen. Sadik wollte Sultan schon satteln, doch Tobias konnte ihm das ausreden.

»Es wird noch mindestens vier Stunden dauern, bis der Ballon richtig prall mit Gas gefüllt ist. Soll Sultan so lange gesattelt herumstehen?«

»Vier Stunden? Geht es denn nicht mit weniger Gas?«, nörgelte Sadik, der nicht wiederzuerkennen war. Es war, als hätte ein zweites, bisher verborgenes Ich, verängstigt und blind, die Kontrolle über ihn an sich gerissen.

Tobias wäre gern freundlich zu ihm gewesen, doch sein Onkel hatte ihm geraten, ihm eher die kalte Schulter zu zeigen. Sadik durfte keinen Verdacht schöpfen. Deshalb erwiderte er recht schroff: »Nein, das geht nicht! Vom Ballonflug verstehst du nichts. Also rede mir nicht drein.« Damit wandte er sich ab und füllte noch einmal Vitriolsäure nach.

Dann rief Heinrich Heller die beiden zu sich.

»Damit nachher in der Hektik nicht etwas vergessen wird, möchte ich die wichtigen Dinge schon jetzt mit euch besprechen. Ich habe hier auf der Karte zwei Kreise um Falkenhof eingezeichnet. Der erste Kreis hat einen Radius von zwanzig Kilometern. Der Falke wird auch im ungünstigsten Fall so weit gelangen. Diese vier roten Kreuze auf der Kreislinie kennzeichnen die Treffpunkte. Der zweite Kreis hat einen doppelt so großen Radius mit ebenfalls vier markierten Orten, wo ihr wieder zusammenfinden sollt. Ihr könnt die Karte hinterher eingehend studieren. Ich lege dir aber ans Herz, Tobias, noch innerhalb des ersten Kreises den Ballon zu landen, damit du schneller wieder mit Sadik zusammen bist.«

»Aiwa, der Meinung bin ich auch«, sagte Sadik.

Tobias vermied es, seinen Onkel anzuschauen. Dieses ganze Gerede mit den Kreisen war nichts weiter als eine Farce und diente dem alleinigen Zweck, Sadik auch weiterhin in Sicherheit zu wiegen.

»Wenn du meinst …«, gab er sich mürrisch, ganz seine Rolle spielend.

»Ich meine es nicht nur, sondern ich erwarte von dir, dass du dich daran hältst!«, sagte sein Onkel, als wolle er ihm ins Gewissen reden.

»Gut, ich werde landen, wenn ich in die Nähe von einem der Punkte auf dem ersten Kreis komme«, versprach Tobias ein wenig lustlos. »Und was ist dann?«

»Ihr werdet euch zunächst einmal nach Speyer begeben«, erklärte sein Onkel. »Dort wohnen gute Freunde von mir. Claus Detmer und seine Frau Benita. Ganz reizende Leute. Er ist ein Scholar und Komponist. Ein feiner Mann«, sinnierte er. »Seine Frau schreibt Lyrik, und gar nicht mal die schlechteste. Allein mit der Prosa hapert es bei ihr. Da folgt die Feder mehr dem Gefühl als der Schärfe des Verstandes.«

»Und wo finden wir die beiden?«, wollte Tobias wissen.

»Auf dem Tannenweg, stadtauswärts in Richtung Havler. Fragt nach der Schlosserei von Peter Hille. Sie sind quasi Nachbarn.«

»Und du bist sicher, dass sie uns verstecken werden?« Der Gedanke, sich Fremden anzuvertrauen, behagte ihm gar nicht.

»Bei ihnen findet ihr ganz sicher herzliche Aufnahme. Und dort fallt ihr auch gar nicht auf, was ein ganz wichtiger Punkt ist!«

Tobias zuckte mit den Achseln. »Wir sind Fremde! Wie soll das nicht auffallen, wenn sie nicht mal mitten in der Stadt wohnen?«

»Der Mann ein Musikus und die Frau stets auf den Schwingen der lyrischen Muse – das ist schon ungewöhnlich genug. Aber zudem sind die Detmers noch bekannt dafür, dass sie ein offenes Haus führen und ständig Gäste haben. Wochenlang. Bei ihnen verkehren brotlose Schriftsteller und überspannte Maler, exzentrische Lyriker und Künstler, deren einzige Kunst darin besteht, große Reden zu führen und sich auf Kosten anderer faul durchs Leben zu schlagen«, spottete Heinrich Heller. »Ein wahrlich buntes Völkchen, das sich bei ihnen unterm Dach ein Stelldichein gibt. Aber euch soll es nur recht sein, denn gerade deshalb werdet ihr keine Aufmerksamkeit erregen. Die Nachbarschaft hat sich längst an diese seltsamen Gesellen gewöhnt, die bei ihnen kommen und gehen.«

»Wir könnten gezwungen sein, eine andere Richtung einzuschlagen«, gab Sadik zu bedenken. »Ein Ort nahe der französischen Grenze, wo wir auf Nachricht von Ihnen warten könnten, wäre dafür ganz günstig.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Furtwipper ist mir eingefallen. Ein kleines Nest an der Grenze, etwa auf der Höhe von Straßburg. Dort gibt es einen einsam gelegenen Gasthof. Er heißt Zur Goldenen Gans und sein Patron ist Gerd Flossbach, wird aber von allen nur Vierfinger-Jacques genannt. Ein exzellenter Koch und wahrer Jakobiner«, versicherte Heinrich Heller. »Ihm vertraue ich genauso blind wie dem Musikus in Speyer. Von dort ist es nur ein Katzensprung hinüber nach Frankreich.«

»Ich möchte aber wissen, wie es dir ergangen ist – und was dir bevorsteht«, sagte Tobias bedrückt. »Ich kann doch nicht einfach so nach Paris weiterreisen, als wäre gar nichts passiert. Wie bekommen wir Nachricht von dir?«

»Ich werde Jakob schicken. Erst nach Speyer und dann zu Vierfinger-Jacques. Nicht mal Pizalla kann Jakob etwas anhaben. Er ist nur mein Stallknecht. Ihm wird also nichts geschehen. Ich werde ihn gleich zu mir rufen und ihm sagen, was er zu tun hat. Er kann dann auch schon mal die Goldstücke verstecken, die ich ihm geben werde«, fügte er schmunzelnd hinzu. Doch das Lächeln entglitt ihm, als ein heißer Schmerz von seiner Schulter ausstrahlte.

Sadik sprang auf. »Ich hole Ihnen noch einen halben Narkoseschwamm, Sihdi!«

»Setz dich! Ich bin noch nicht zu Ende! Wer weiß, ob dafür nachher noch Zeit ist!«, sagte er schroff. »Ich werde, wie gesagt, Jakob schicken. Wenn ihr in sechs Wochen, vom heutigen Tag an gerechnet, nichts von mir gehört habt, reist ihr nach Paris weiter. Versucht von dort aus Kontakt aufzunehmen. Ich weiß euch dann ja bei Monsieur Roland. Sechs Wochen! Keinen Tag länger! Gebt mir euer Ehrenwort, dass ihr euch daran haltet!«

Sie gaben es ihm.

»Ihr werdet Geld brauchen für Pferde …«, er verbesserte sich schnell, »Tobias wird zumindest eins brauchen, und für Logis und Kost. Zum Glück habe ich immer eine beachtliche Summe im Haus.«

»Was ist mit dem Spazierstock?«, fragte Tobias.

Ein freudloses Lächeln huschte über das müde Gesicht des Gelehrten. »Wie ich dich kenne, wirst du Falkenhof ohne ihn nicht verlassen wollen, nicht wahr?«

»Ganz bestimmt nicht! Zeppenfeld soll er jedenfalls nicht in die Hände fallen! Und er gehört mir! Vater hat ihn mir geschenkt!«, erklärte Tobias entschlossen.

Sein Onkel seufzte. »Der Stock ist nur ein Fluch, mein Junge. Aber ich weiß, dass ich ihn dir nicht ausreden kann. Obwohl ich es lieber sähe, wenn du auf ihn verzichten würdest.«

»Nein, niemals, Onkel!«, lehnte Tobias ab. »Da lasse ich nicht mit mir handeln.«

»Zeppenfeld wird euch verfolgen, wenn er den Stock auf Falkenhof nicht findet, das ist dir doch klar?«

»Ich gebe ihn nicht her! Und wie soll er uns denn finden, Onkel? Du hast mir zudem dein Wort gegeben, dass du ihn Zeppenfeld nicht aushändigen wirst«, erinnerte er ihn. »Willst du das jetzt brechen? Ein Mann steht zu seinem Wort, das hast du mir mehr als einmal gesagt.«

»Gemach, mein Junge, gemach«, beruhigte ihn sein Onkel. »Ich stehe schon zu meinem Wort, auch wenn mir nicht wohl dabei ist, aber du wirst den Spazierstock bekommen.«

Sie redeten noch über einige andere wichtige Details der Flucht, prägten sich die Adressen des Musikus in Speyer, von Vierfinger-Jacques in Furtwipper und Jean Roland in Paris ein und studierten gemeinsam die Karten. Dann kehrte Tobias in den Hof zurück, um Eisenfeilspäne und Säure nachzufüllen, während Sadik seine wenigen persönlichen Habseligkeiten zu einem Bündel verschnürte, das er sich hinter den Sattel schnallen wollte.

Der Ballon hatte seine schlaffe Form schon verloren und begann sich am Pol zu wölben. Wie ein riesiger schwarzer Teig ging er auf. Aber es waren immer noch mehrere Stunden hin, bis das Gasvolumen einen raschen Aufstieg garantieren würde.

Acht Feuer loderten rund um Falkenhof, sodass das freie Feld zwischen dem Landgut und den Wachposten gut erhellt war. Aber im Nähren der Feuer erschöpfte sich auch schon die Aktivität der Männer, die das Gut umstellt hatten. Zeppenfeld und seine Komplizen unternahmen keinen Versuch, sich mit Gewalt Zugang zu Falkenhof zu verschaffen. Dafür waren sie zu schlecht gerüstet und auch zahlenmäßig nicht stark genug. Die Gendarmen waren am wenigsten daran interessiert, ihre Haut zu Markte zu tragen. Ihr Befehl lautete, den Herrn Professor an der Flucht zu hindern und ihn wenn möglich festzunehmen. Ersteres war ihnen gelungen, Letzteres würde bis zum Morgen warten müssen. Denn vom Erstürmen einer kleinen Festung war nicht die Rede gewesen. Und da mit einer Umstellung des Landgutes eine Flucht ausgeschlossen war, konnte man mit dem Verlauf der Dinge recht zufrieden sein und im Bewusstsein, seine Pflicht getan zu haben, auf die Vorgesetzten und die Verstärkung warten.

Die Ungewissheit, wann denn nun die Verstärkung aus Mainz eintreffen würde, zehrte an Tobias’ Nerven. Immer wieder lauschte er in die Nacht mit der Befürchtung, das dumpfe Trommeln einer herangaloppierenden Einheit Soldaten zu vernehmen. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Sollte er es nicht schon mit halb gefülltem Ballon versuchen? Waren die Soldaten erst eingetroffen, wäre ein Ballonaufstieg reinster Selbstmord. Eine Gewehrsalve würde den Falken zerreißen und ihnen den sicheren Tod bringen.

Tausend Ängste quälten ihn, während er auf dem Hof von Fass zu Fass eilte, mit Eisenspänen und Säure hantierte und die Säcke an die Gondel band, die Jakob und Klemens mit Erde füllten. Das Gas schien so langsam wie nie zuvor durch die Rohre zu strömen. Mit einem Heißluftballon wären sie jetzt längst auf und davon gewesen. Hatte er auch das richtige Mischungsverhältnis eingehalten? Doch, so hatte Onkel Heinrich es ihm beigebracht. Aber trotzdem stimmte etwas nicht! Was war nur mit dem Ballon? Warum blähte er sich nicht weiter auf? Hatten sie ihn vorhin zu hastig entfaltet und hochgezogen, sodass er Risse bekommen hatte? Unsinn! Wie konnte er erwarten, innerhalb von Minuten den Ballon sich wölben zu sehen?

Was war mit dem Wind? Er sprang immer wieder um. Der Wetterhahn auf dem Südtrakt zeigte mal nach Süden, dann nach Osten. Jetzt schwang er sogar nach Nordosten herum und blieb dort stehen! Der Wind würde sie geradewegs nach Mainz treiben. Gott sei Dank, er drehte wieder nach Osten!

Tobias durchlitt ein Wechselbad nach dem anderen. Doch die Stunden vergingen, ohne dass aus Mainz Verstärkung eintraf. Und der Ballon wurde praller und praller – und Sadik immer nervöser. Wie ein Tiger in Gefangenschaft lief er vor den Stallungen auf und ab. Sultan stand gesattelt bereit. Sein Bündel hatte er auch schon auf den Rücken des Pferdes geschnallt.

»Wir können nicht mehr länger warten, Tobias! Wir müssen los!«, drängte er. »Wenn die Soldaten eintreffen, war alles vergeblich!«

Tobias schickte einen Blick zum Falken hoch. »Wir können bald los. Nur noch eine letzte Füllung.«

Sadik stöhnte gequält auf. »Hörst du denn nicht, wie das Gewebe jetzt schon ächzt? Willst du, dass er aus den Nähten platzt?«

»Was du hörst, kommt von den Haltetauen«, erklärte Tobias, füllte überall noch einmal auf und lief dann ins Haus, um seine Sachen, die er mitnehmen wollte, aus dem Zimmer zu holen. Viel war es nicht. Außer der Kleidung, die er am Leibe trug, hatte er einen alten Anzug seines Vaters eingepackt. Sein Onkel hatte ihm dazu geraten.

»Nimm auch einen abgescheuerten Hemdkragen mit und eine altmodische Krawatte. Von mir kriegst du einen Zwicker, dessen Gläser mir schon vor zehn Jahren zu schwach waren. Zieh das nach der Landung an und gib dich als Hauslehrer aus. Du siehst jetzt schon ein, zwei Jahre älter aus, als du bist. In den Sachen deines Vaters wird man dir die Rolle des arbeitslosen Lehrers abnehmen. Man wird nach einem Jungen suchen, nicht nach einem herumziehenden Lehrer auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.«

»Und Sadik? Er fällt doch überall auf.«

»Er muss sich etwas einfallen lassen. Phantasie hat er ja genug – wenn er erst mal wieder bei Vernunft ist.«

Tobias stopfte die Sachen in einen großen Leinensack, warf nach kurzem Zögern noch vier Bücher hinein, die er für Jana ausgesucht hatte, steckte sich sein Messer hinter den Gürtel und beschloss dann, auch das Metronom mitzunehmen. Die Toledo-Klinge trug er schon umgeschnallt.

Als er den Gang hinunterging, fielen ihm plötzlich die Tagebücher seines Vaters ein. Wer wusste, wie Pizalla und Zeppenfeld auf Falkenhof hausen würden? Alles auf den Kopf stellen würden sie, hatte sein Onkel gesagt, das Unterste nach oben kehren. Und dabei würde bestimmt das eine oder andere in den Taschen der Soldaten und von Zeppenfelds Männern verschwinden!

Tobias überlegte nicht lange. Er lief zur Wäschekammer und leerte eine kleine weidengeflochtene Truhe, in der Lisette ihre gestärkten weißen Schürzen aufbewahrte. Sie hatte vorn einen Verschluss mit einem Holzpflock und an den Seiten zwei feste Griffe. Damit begab er sich ins Zimmer seines Vaters. Die Tagebücher nahmen kaum die Hälfte des Platzes in Anspruch. Er stopfte noch seinen Kleidersack mit hinein, den Walknochen und ein paar andere Dinge, die ihm aus dem Zimmer seines Vaters mitnehmenswert schienen.