Seestadt

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Sonnenallee

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Schenk-Danzinger-Gasse

Maria-Tusch-Straße

Ilse-Arlt-Straße

Janis-Joplin-Promenade

Über den Autor

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2016 Seifert Media GmbH, Wien

1. Auflage (Hardcover): 2016


Cover: Rubik Creative Supervison, unter Verwendung von zwei Fotos von Fritz Lehner

Verlagslogo: Padhi Frieberger


ISBN: 978-3-902924-65-0

ISBN des Hardcovers: 978-3-902924-55-1


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Sonnenallee

Die Flammen loderten auf und erfassten die Papiere. Belangloses Zeug, aber doch aus Kellermanns Vergangenheit. Dann kamen die ersten Briefe, einer nach dem anderen wurde ins Feuer geworfen. Sie alle trugen noch die alte Anschrift und den Namen eines Menschen, der Kellermann nicht mehr sein wollte. Dr. Hannes Kittel verbrannte nicht nur auf Kuverts, sondern auch in einem Packen von Rechnungen, Dokumenten und Einladungen zu Ärztekongressen. Die Änderung seines Namens hatte Kellermann einiges gekostet, wenn es ihn auch erstaunte, wie leicht es war, ein anderer zu werden. Jeder in diesem Land konnte sich durch entsprechende Anträge bei den Behörden verwandeln, sein früheres Dasein abwerfen, ein neues Leben beginnen. Dr. Hannes Kellermann, bis zu seinem 40. Lebensjahr Dr. Hannes Kittel, war zur Verwandlung gezwungen gewesen, wenn er mit Zuversicht in seine Zukunft blicken wollte. Das betraf nicht nur das Äußere, auch der Mensch in ihm musste ein anderer werden. Dem glücklichen Leben zugewandt, weg von diesen Gedanken, die mit dem Tod zu tun hatten.

Kellermann zögerte, aber dann warf er doch die Zeitungen auf den Scheiterhaufen. Sie fächerten und blähten sich auf, und für ein letztes Mal kamen die Schlagzeilen und Bilder zum Vorschein. Die Flammen ergriffen das Gesicht des Angeklagten, aber in keinem war Kellermann erkennbar, denn auf den Fotos trug er als Dr. K. schwarze Balken über den Augen, und er war in den letzten Jahren um einiges schlanker geworden. Das Training im Gefängnis hatte sich gelohnt. Er hatte nicht nur die sechs Jahre überlebt, sondern war attraktiver geworden. Noch mehr Anthony Perkins. So hatten ihn schon damals seine Studienkollegen genannt, später die Assistentinnen im Operationssaal, nur seine Zellengenossen waren nie auf diese Idee gekommen. Hier, in seinem neuen Leben, dachte bei seinem Anblick niemand an Anthony Perkins, dazu waren dessen Filme zu alt und das Schauspielergenie auch schon zu lange tot. In der Seestadt hätte er Bruce Willis ähnlich sehen müssen, um aufzufallen, oder Tom Cruise. Aber Dr. Kellermann war weder der eine noch der andere sondern ein neuer Mensch mit einem neuen Lebensgefühl in einer neuen Stadt.

Kellermann konnte die Seestadt jetzt nicht sehen, weil es Nacht war, weil das Feuer ihn blendete und er sich zudem an die zehn Gehminuten entfernt in einer tiefen Baugrube befand. In dieses Loch, das so groß war wie zwei oder drei Häuser, die erst erbaut werden mussten, hatte es ihn verschlagen, weil es in seiner Wohnung in der Sonnenallee zwar alles gab, was man für das neue Leben brauchte, aber keinen herkömmlichen Ofen mit einem Abzugskamin für den Rauch eines Feuers, keine Möglichkeit, seine Vergangenheit zu verbrennen. Auch der Grill auf dem Balkon wäre keine Lösung gewesen, denn Papierstapel und Zeitungen machten höllisch viel Asche, und Teile flogen sogar durch den Auftrieb und bei leichtestem Wind davon. In den engen und blankgefegten Gassen der Seestadt könnte ihm das zum Verhängnis werden. Hier hingegen waren die halb verkohlten Blätter Krähen ähnlich, die irgendwohin flatterten, zerbrachen und keinen Schaden anrichteten. Der Flammenschein lockte nicht einmal Jugendliche an. Wenn sie Feuer sehen wollten, machten sie es sich normalerweise selbst, zu laut dröhnender Musik, irgendwo am Rand des Sees oder auch auf der winzigen Insel inmitten des grünlichen Wassers, das auf allen Prospekten im herrlichsten Blau schimmerte.

Das Grundwasser der Baugrube hatte längst seine Schuhe durchnässt. Es war Zeit, dass er das von Baggern und Caterpillars gegrabene Tal mit den hohen Wänden aus Sand und Schotter verließ und nach Hause ging, vielleicht besser zurück in die Sonnenallee lief, denn er konnte es sich nicht leisten, zu spät in seine Wohnung zu kommen. Obwohl, noch gab es widerborstige Dokumente, die nicht brennen wollten, die keinem in die Hände fallen durften. Ein Blick darauf, und schon konnte ihm ein bis heute gut gesinnter Nachbar zum Feind werden. Jeder in der neuen Stadt. Jeder von den paar tausend neuen Bewohnern, die ihre Seestadt liebten, weil sie sich für sie entschieden hatten. Alles Pioniere, vor dem Einzug in die noch nach Farbe riechenden Wohnungen hatte keiner den anderen gekannt, und ihr Zuhause sah auch etwas nach Wildem Westen aus. Rundum Steppe, nichts als Ebene, und die hohen Häuser standen so eng beisammen, dass man an eine Wagenburg denken musste. In der man sicher war, nur umgeben von friedlichen Menschen. Da und dort vielleicht ein kleiner Überfall, eine Wand mit Graffities, eine heruntergerissene Fahne, ab und zu Schläge ins Gesicht eines Menschen, aber noch keine Messerstecherei, keine Schwerverletzten, nicht ein einziger Toter. Einen Mörder würde es in der Seestadt noch lange nicht geben. Vielleicht nie, denn auf dem Zeichenbrett der Planer und Architekten war ein solcher nicht vorgesehen, und auch in den Prospekten konnte Kellermann keinen entdecken. Er selbst war auch keiner. Verurteilt hatte man ihn wegen Totschlags. Aber das war ein Irrtum der Geschworenen gewesen. Acht Frauen und Männer hatten sich blenden lassen.

Im Halbdunkel suchte Kellermann nach einem Ast oder Holzstock. Und er fand etwas, das viel geeigneter war: Ein verrostetes Stück Eisen, fast wie mit Korallen bewachsen, die es hier natürlich nicht gab. Das Ding war so lang wie sein Unterarm, dick wie drei oder vier Finger, vielleicht ein verwachsenes Rohr von der Baustelle oder eine abgebrochene Stange, wie sie aus anderen Gruben schon aus dem Stahlbeton ragte. Auf jeden Fall ein Fund, mit dem Kellermann die widerspenstigen Papiere bequem in die Glut drücken konnte. Auch die krähenartigen Aschenblätter am Rand des Feuers erschlug er damit. Er kam sich vor, als würde er Dr. Hannes Kittel so gründlich auslöschen, dass er nie wieder auferstehen konnte. Noch ein Hieb, dann noch einer und noch einer. Zum Abschied. Aber auch wie im Zorn. Das Stück Eisen in Kellermanns Hand fühlte sich gut an. Trotzdem warf er es weg. Es kollerte ins Sickerwasser, verschwand darin.

Er blickte auf seine Uhr. Früher hatte er nicht einmal eine getragen, jetzt war sie einer seiner wichtigsten Begleiter. Neben dem Handy, das er ständig bei sich haben musste, auch nachts war es in der Reichweite seines Armes, sogar beim Duschen lag es statt der Seife in der Ablage aus Acryl. Jederzeit konnte es losschrillen, ihn aufschrecken, ihn daran erinnern, dass er Bereitschaft hatte. Dann kam stets eine Anweisung. Wo er sich einzufinden habe und wann. Dass ein neuer Zeitplan zu erstellen sei. Aber es wurde auch manchmal gefragt, wie er mit seinem neuen Leben zurechtkomme. Das war dann sein Betreuer. Oder sogar sein großer Mentor Hofstätter. Ihm hatte Kellermann alles zu verdanken. Was wie eine beglückende Freiheit aussah, war aber eine, bei der man ständig auf dem Sprung sein musste. Oft mit Herzrasen, nur weil man auf das Klingeln des Telefons wartete, das dann aber ausblieb. Und eine Stunde nach dem Einschlafen war es nicht nur einmal zu diesen schrecklichen Sekunden gekommen, in denen Kellermann aus Albträumen in eine noch bedrohlichere Welt gestoßen wurde. Durch das Versehen eines Beamten. Oder einen technischen Defekt. Weil in der Überwachungszentrale wieder einmal das Signal aufgeleuchtet hatte. Dann schrillte das Telefon, und sie kam, die Frage, die Kellermann so fürchtete: »Wo sind Sie?«

Jetzt eben würde er alles unternehmen, um sie nicht zu hören. Aber dafür war es fast zu spät. Er hatte die Zeit übersehen. Schuld daran waren die widerspenstigen Papiere, das lahme Feuer, das sie nicht auffressen wollte, aber auch sein Herumrätseln, welches Stück Eisen er bis vor ein paar Minuten in der Hand gehalten hatte. Es war etwas Besonderes gewesen, kein magischer Stab, aber auch nicht bloß irgendetwas von einer der größten Baustellen Europas für eine Stadt der Zukunft, wie es in den Prospekten hieß. Bodenfunde wirft man nicht weg, man trägt sie nach Hause, reinigt sie, erforscht ihre Herkunft, taucht ein in ihre Geschichte, dachte er und merkte sich die Stelle in der Wasserlacke, wo er diesen geheimnisvollen Stachel versenkt hatte.

10 vor 10. Er konnte es schaffen, er musste. Das war sein fester Wille. Man sollte ihm nichts anhängen können, keinen Schlechtpunkt in eine Liste eintragen, nach der man ihn dann negativ beurteilte. Ein anderer würde verzweifeln, weil die zusammengeschobene Seestadt zu weit weg war, doch er war als Sprinter gut. Zu seinem schnellen Denken kamen die schnellen Beine. Und eine Fantasie, die ihn dabei durch die Parks der Stadt, über Wiesen und sogar durch die Straßen von Los Angeles schweben ließ, hatte er ohnehin. Gerne stellte er sich dabei vor, neben dem dahintuckernden Peugeot Inspektor Columbos einherzulaufen und sich dabei sogar noch mit seinem liebsten Serienhelden zu unterhalten. Aber das waren nur Gedankenspiele gewesen, um sich die sechs Jahre zu verkürzen. Sie hatten trotzdem eine Ewigkeit gedauert.

Kellermann lief noch schneller, weg von diesem Gedanken, hin zu seiner Stadt, in der er sein eigener Herr war, ohne Primar, ohne offene Herzen, dafür aber mit einer Heilmethode, welche die Medizin revolutionieren konnte. Mit Patienten, denen ohne Blutvergießen geholfen wurde, im größten Zimmer seiner neuen Wohnung, das Menschen mit schmerzverzerrtem Gesicht betraten und lachend verließen, mit Freudentränen in den Augen, mit einer unendlichen Dankbarkeit ihm gegenüber, dem Wunder Dr. Kellermann, dem Mann mit den heilenden Händen, dem Aura-Chirurgen, der mit seinen Skalpellen ohne Schnitt in das Fleisch in das Innerste der Menschen vordringen konnte. In das wahre Innerste. Auch die Adresse seiner Praxis hätte nicht besser klingen können. Sonnenallee.

Kellermann kam sich wie ein Läufer bei olympischen Spielen vor, als er in die Sonnenallee einbog. Der Asphalt war griffig und glatt zugleich, ohne Spalt oder die üblichen Wasserrinnen, und Risse oder Narben gab es auch noch keine, ebenso wenig wie Schlaglöcher, denn es durften kaum Autos fahren. Wer hier stolperte, war selbst schuld. Die Sonnenallee war eben mehr Rennbahn in einem Stadion als Straße. Kellermann schätzte das. Statt Jubel von Publikum und Sportbegeisterten gab es aus den Fenstern das übliche Gezeter der Kinder, die noch nicht zu Bett gehen wollten, und von den Balkonen drang die Musik aus aller Herren Länder. Die Seestädter liebten die heißen Wochenenden, weil der See zur Geltung kam, aber Kellermann hasste diese Tage. Er war hier wohl der Einzige, dem es versagt war, in Sonnenöl getaucht auf den Schottersteinen am Ufer zu liegen oder ins warme Wasser zu gehen. Jeder hätte die Fußfessel bemerkt, die wie eine übergroße Armbanduhr locker und trotzdem fest genug am Knöchel saß. Auch hier sahen die Leute im Fernsehen genügend Kriminalfilme, um zu wissen, wie eine Fußfessel aussah und was sie bedeutete.

Sein Mentor in der Justizanstalt hatte dafür gesorgt, dass er eine Wohnung in der Nähe der Kreuzung der Sonnenallee mit der Agnes-Primocic-Gasse bekommen hatte, im Zentrum des bisherigen Stadtteils, dem in den nächsten Jahren noch zwei oder drei weitere folgen würden, und für die man auch die Baugruben groß wie Fußballfelder und diese Wälder aus himmelhohen Kränen hinnahm, den Staub und Lärm aber verfluchte. Alles hier war am Anfang, nicht nur das Leben Kellermanns, und er fand es gut, dass die Seestadt mit ihm Schritt hielt, nicht zu langsam war, ihn aber auch nicht überholte. Neuland, wohin man blickte, und wahrscheinlich konnte er nirgendwo die Vergangenheit besser hinter sich lassen als hier. Aber es ging ihm weniger ums Vergessen als darum, sich mit dem zukünftigen Leben abzufinden. Vielleicht konnte sogar noch etwas Gelungenes aus ihm werden. Trotzdem graute Kellermann davor, nie wieder in einem Operationssaal mit einem Skalpell in Körper schneiden zu dürfen. Er könnte bestenfalls ein geliebter Heilpraktiker werden, wenn er auch mit der Aura-Chirurgie neue Wege betrat, in dieser Hinsicht ein Pionier war und sich so bestens in die Seestadt einfügte.

Kellermann blickte auf die Uhr. Der Minutenzeiger rückte unbarmherzig voran, aber er hatte alle Chancen, es zu schaffen. Schon sah er den gelben Balkon seiner Wohnung im Hochparterre, über den sich noch sieben andere stapelten und ihn fast erdrückten. Aber so konnte man wenigstens bei einem Brand vom Balkon auf den Boden springen, ohne sich zu verletzen, und wenn Kellermann einmal die Schlüssel vergessen sollte oder sich aussperrte, würde er mit einem Klimmzug in sein Reich zurückehren. Jetzt aber fiel ihm ein, dass er auch am Balkongitter ein Schild anbringen sollte, das auf seine Praxis hinwies, und bald würde die Aura-Chirurgie in der Seestadt in aller Munde sein. Die Bewohner waren für alles Neue sehr aufgeschlossen, sonst wären sie auch wahrscheinlich nicht hierhergezogen, denn immerhin hatten sie die Absicht, ihr Leben in einer Retortenstadt zu verbringen, die am Reißbrett entstanden war. Doch wenn man in eine wirkliche Stadt wollte, brauchte man nur die nahe U-Bahn besteigen, und in einer guten halben Stunde war man im Zentrum von Wien. Kellermann hatte es noch nie getan. Auch andere machten es weniger oft als gedacht, weil sie am Abend meist zu müde waren und sie in der Seestadt ohnehin fast alles hatten. Bei ihm kam hinzu, dass er weder Arztkollegen begegnen wollte noch entlassenen Mithäftlingen.

Jetzt war er endlich bei seinem Wohnhaus angelangt. Er hetzte die wenigen Stufen im Stiegenhaus hoch, weil der Lift zu lange gedauert hätte und für die paar Schritte auch nicht notwendig war. Oben öffnete er die Wohnungstür, sie schwang lautlos auf, aber ließ sich wieder nur mit einem satten Knall zudrücken. Kellermann hatte es geschafft. Auch heute war wie schon seit einem Monat der Fußfesselträger nicht auffällig geworden. In dieser Sekunde und exakt um 22.00 Uhr konnte der Sender an seinem Fußgelenk wieder mit dem Modem in seiner Wohnung Kontakt aufnehmen, und in der Überwachungszentrale würde kein Licht anfangen zu blinken, das sein Zuspätkommen gemeldet hätte.

Kellermann verhielt sich mustergültig, aus Dankbarkeit Hofstätter gegenüber, oder vielleicht auch nur, um in seinem neuen Leben keine Schwierigkeiten zu bekommen. Manchmal dachte er, dass mehr dahintersteckte. Als müsste er sich beliebt machen. Genauso wie bei seinen Begegnungen mit anderen Menschen. Er war immer nett, hilfsbereit, und für Gespräche stets zu haben, auch wenn er die meisten selbst beginnen musste. Mit seiner Liebenswürdigkeit und seiner Unterwerfung an die Fußfessel baute er an einem Menschen, dem vielleicht noch Größeres bestimmt war, ein Weg hinaus über Grenzen der Seestadt. Damit meinte Kellermann nicht nur die der Seestadt, sondern auch die eigenen. Andererseits war er gerade deswegen hierhergezogen, um diese nie wieder zu überschreiten. Es musste doch möglich sein, ohne Tod auszukommen, dachte er bei sich.

Er nahm ein Bad. Eigentlich durfte er nur duschen. Das war ihm beim Anlegen der Fußfessel eingetrichtert worden. Doch er roch derart stark nach der Einäscherung des Dr. Kittel, dass Wasserstrahlen aus einer Brause nicht genügt hätten. Es wäre für ihn unerträglich gewesen, seine Vergangenheit als Gestank mit sich herumzutragen und bei jedem Atemzug an diese dunkle Zeit erinnert zu werden. Obwohl sie ihm manchmal leuchtend vorkam. Nicht die Gefängnisjahre. Aber diese Sekunde vor dem Aufschrei. Dieser Augenblick, im wahrsten Sinn des Wortes. Kellermann hatte in seinem Leben nie etwas Aufregenderes gesehen. Ihren Augenblick. Brigittes Angst und Begreifen. Den Tod eines Patienten auf dem Operationstisch unter seinem Skalpell konnte man damit nicht vergleichen, denn diese Leute stierten mit leerem Blick narkotisiert und schmerzlos ins Leere. Brigitte hatte auch eine geweitete Iris, aber nicht weil sie entspannt war. Ein grüner Sternenkranz, der immer schöner wurde. Sie hatte in diesem Augenblick ihren Tod gesehen und vielleicht auch ihr ganzes Leben, zuletzt dann die vier Ehejahre mit ihm.

Kellermann lächelte, streckte sich aus in der Badewanne, hob nur die Hand wie damals, bevor das Unglaubliche geschehen war, dachte jetzt weder an seine Vergangenheit noch Zukunft und hatte nur noch das größte Erlebnis seines Daseins vor sich. Er musste diesen besonderen Tod auskosten, weil Derartiges ihm nie wieder passieren würde und er auch alles unternahm, um einen anderen Weg zu gehen. Doch jetzt war es ihm erlaubt, in seine Erinnerungen einzutauchen, den Gebirgsbach in der Tiefe zu erblicken, den Wald der Rosengartenschlucht zu riechen, den Sprühregen und die Nebelschwaden des Wasserfalls zu spüren, Brigitte zum letzten Mal lebend zu sehen und dann ihren langen Schrei mit den vielen Echos von den Felsen zu hören.

Das Telefon klingelte. Kellermann fluchte, griff aber nach dem Handy, das wie eine Klette an ihm hing, die er am liebsten im Badewasser versenkt hätte. Er nahm sich vor, artig zu sein. So war man es von ihm gewohnt, so sollte man ihn weiter erleben, darauf hatten die Menschen um ihn herum ein Anrecht, und wer weiß, wofür der höfliche Mensch in diesem Dr. Kellermann einmal gut war.

»Wo sind Sie?«

Die Stimme gehörte einem der schärferen Überwacher, die mehr bellten als redeten, auf nette Worte nicht reagierten und früher sicherlich einmal zu den meistgehassten Aufsehern im Gefängnis gezählt hatten. Die Frage traf Kellermann zudem wie ein Stich ins Herz, und sie war auch nicht ehrlich zu beantworten. Er konnte ja nicht sagen, dass er sich eben in der Rosengartenschlucht befand, und noch viel weniger konnte er dem bissigen Hund von der Schönheit des Todes von Frau Kittel erzählen.

»Zu Hause.«

»Das ist unmöglich.«

»In der Badewanne.«

»Das ist verboten. Ihre Fußfessel hat keinen Funkkontakt zum Modem.«

»Durch das Wasser?«

»Was sonst. Ich warte.«

Kellermann streckte das Bein über den Rand der Badewanne und hoch hinauf.

»Halten Sie sich in Zukunft an die Vorschriften.«

Kein Danke, kein Gruß, nicht einmal eine Bestätigung, dass alles wieder in Ordnung war. Kellermann fragte sich, ob die wenigen Minuten des Funkausfalls in der Überwachungszentrale notiert wurden oder sein Versagen beim Beamten blieb, in dessen Gedächtnis. Würde sich der Mann mit der scharfen Stimme noch in ein paar Tagen daran erinnern können? Kam so etwas oft vor oder war er bereits auffällig? Dabei war er bestimmt der sorgfältigste Fußfesselträger. Andere gingen in Bars und Konzerte. Allerdings meistens angekündigt oder im Wochenplan vermerkt. Oder in ihrer Freizeit. Die hatte Kellermann ja auch. Von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr. Um die Dinge für das tägliche Leben zu besorgen. Um in einer Baugrube die Zeitungsartikel über den Tod seiner Ehefrau zu verbrennen, Bilder von einem Prozess in Flammen aufgehen zu lassen.

Dabei hatte Kellermann gehofft, mit fahrlässiger Tötung davonzukommen, das hätte höchstens ein Jahr Gefängnis bedeutet. So aber wurden es durch einen wild gewordenen Staatsanwalt und unfähige Geschworene Totschlag und sieben Jahre, das letzte davon mit Fußfessel in der Stadt mit dem See, in der Kellermann nicht einmal in seine Badewanne steigen durfte. Auch der Balkon war ihm verboten worden. Weil es von dort aus keinen Kontakt zum Modem gab. Durch diese verdammte Schiebetür und den Rahmen aus Metall oder sonst eine Barriere, eine funktechnische Abschirmung oder ein anderes elektronisches Mysterium. Die Lösung des Problems blieb Kellermann überlassen. Er durfte seinen Balkon nur in seiner Freizeit betreten und nicht nachts nach zehn. Die Seestadt war eben nicht für Fußfesselträger entworfen worden, nicht für ehemalige Verbrecher und sicher noch weniger für zukünftige. Kellermann war der einzige Totschläger hier. Aber auch das traf nicht zu. Frau Kittel war von einem gewissen Herrn Dr. Kittel in die Tiefe gestürzt worden, ein Herr Dr. Kellermann hatte damit nichts zu tun. Er müsste nur nochmals hinaus, in die Baugrube, um die übriggebliebenen Belege einer finsteren Zeit zu verbrennen.

Kellermann stieg aus der Badewanne. In Zukunft würde er in seinem Bett von Brigitte träumen müssen. Nicht das Leben mit ihr war so schön gewesen, sondern ihr überwältigendes Ende. Auch ihr zerschmetterter Körper hatte es in sich gehabt. Ein Traum für einen Chirurgen. Aber bei einem Bündel aus Haut, Fleisch, Knochen und Blut ohne einen Funken von Leben hätte auch Dr. Kittel nichts mehr ausrichten können.

In Kellermann stieg jetzt wieder der Zorn auf. Wie schon so oft all die Jahre im Gefängnis. Weil Brigitte ihn mitgerissen hatte. In eine viel entsetzlichere Tiefe, verheerender als die Schlucht in diesem Tiroler Gebirge. Sie hatte ihn in die Bedeutungslosigkeit gestürzt. Welches Spital würde einen Totschläger beschäftigen? Welcher Patient würde sich von einem Chirurgen mit einer derartigen Vergangenheit öffnen lassen? Da hieß es, sich etwas einfallen lassen. Als Aura-Chirurg brauchte man eigentlich kein Studium, kein Doktorat, keine Praxis in einem Operationssaal, es genügte ein Kurs bei einem dieser Gurus. Auch den konnte man sich ersparen, ein paar Bücher taten es ebenso. Man konnte sie sogar im Gefängnis lesen, wie es Kellermann getan hatte, und seine heilenden Hände an Mithäftlingen ausprobieren. Über die Erfolge hatte er sich selbst am meisten gewundert. Seinen Mentor Hofstätter hatte Kellermann sogar von den wöchentlichen Migräneanfällen befreien können. Jetzt kamen die Seestädter zu ihm, weil er bereits eine kleine Legende war. Noch dazu ein richtiger Arzt, der von sich behauptete, das Vertrauen in die herkömmliche Medizin verloren zu haben und nur noch an die Aura-Chirurgie zu glauben.

Aber vielleicht gab es doch etwas Besseres als diese Lüge, ein Zurück, wieder ein Leben als angesehener Arzt, Operationssaal statt Hinterzimmer, Großstadt statt Seestadt. Kellermann setzte sich nackt an den Schreibtisch seiner Aura-Chirurgen-Praxis, holte Papier und Stift hervor, überlegte, welchen seiner beiden Namen er schreiben sollte. Seine neue Unterschrift hatte er schon oft genug geübt, auch wenn er sie kaum noch brauchte, und Rezepte waren auch nicht auszufüllen. Doch jetzt kam es auf Klarheit an, auf gerade Linien, auf perfekte Kurven, da hatte die unleserliche Schrift eines Arztes nichts zu suchen. Blockbuchstaben mussten her, und wenigstens dieses eine Mal noch wollte er seine Vergangenheit nicht verleugnen und der sein, der er in Wirklichkeit war, ein Mann mit einem Doppelleben, mit einem Doppelnamen. KITTEL-KELLERMANN stand vor seinem inneren Auge.

Aber noch hatte er diesen wunderschönen Schriftzug nicht vollständig zu Papier gebracht, da missfiel ihm schon der erste Strich. Er atmete durch, wie er es sonst nur als Aura-Chirurg seinen neuen Patienten empfahl, er schob die letzten Jahre fort, er strich die Worte Fußfessel und Badewanne aus seinem Gedächtnis und setzte von Neuem an. Als Volksschüler hatte er seine ersten Buchstaben auch geschafft, doch jetzt ging es nicht darum, eine unbeholfene Kritzelei zu Papier zu bringen, sondern das Werk musste aussehen wie gedruckt. Präzision war gefragt, und der Stift in seiner Hand war nichts als eine Krücke, ein Behelf, um nicht ein Skalpell nehmen zu müssen. Strich neben Strich, Schnitt neben Schnitt, Buchstaben ohne Blut, und es gab auch keine Äderchen zu durchtrennen und keine Herzwand zu öffnen.

Das Ergebnis war schrecklich, niederschmetternd. Sein Name auf dem Blatt sagte Kittel-Kellermann alles. Er ekelte sich vor dem Anblick, er hasste die zittrigen Linien von einer heilenden, aber für die Chirurgie unbrauchbaren Hand. Brigitte hatte sie ihm verdorben, und im Gefängnis war sie ihm vollends verdorrt. Kellermann erstellte eine Diagnose über seine versteiften Gelenke und verlorene Feinmotorik und kam zu einem Ergebnis, das man einem Kranken nur schonend mitteilt. Tatsache war, was er seit Jahren im Gefängnis sich nicht nur einmal gesagt hatte: Er würde in seinem Leben nie wieder mit einem Stück Stahl in seiner ruhigen, fast schwebenden Hand in einen Menschen eindringen können. Einer wie er taugte höchstens dazu, mit einem Skalpell die Luft zu durchschneiden, die seine Patienten für ihre Aura hielten. Kellermann ging unblutigen Zeiten entgegen.

Auch am nächsten Tag zogen keine Wolken auf, wie Kellermann gehofft hatte. Dieser Juli war unerbittlich heiß. Auch dieses Wochenende wieder strahlend schön. Wer immer es sich leisten konnte und die Lust dazu hatte, war an den See gegangen, um sich abzukühlen. Im Gefängnis hatte Kellermann von Sprüngen ins Wasser geträumt, hinein in das Meeresblau, das aus den Fotos der Seestadt von seinen Wänden leuchtete. In Wirklichkeit war dann der See nichts als ein Schotterteich, aber was ihn viel mehr traf, war dieses Ding an seinem rechten Bein. Diese Fußfessel hatte sich in sein Gehirn gebrannt. Manchmal glaubte er sogar schon zu hinken, obwohl sie weniger als sein Handy wog und von der Haut ganz gut vertragen wurde, wenn man von den Nächten absah, in denen ein plötzlicher Juckreiz ihn fast wahnsinnig werden ließ. Aber das hatte dann nichts mit einem Ausschlag zu tun, sondern das Ekzem wütete in seinem Kopf und breitete sich auch dort aus. Trotzdem konnte er als Aura-Chirurg, der über eingebildete Krankheiten alles wusste, dann nicht anders, als mit Kugelschreibern, Bleistiften und durchgezogenen Taschentüchern sein Fußgelenk bis zum Blutaustritt zu bearbeiten.

Kellermann war sich bewusst, dass er noch die nächsten elf Monate von dieser Fußkrankheit befallen sein würde und keine Chance hatte, sie loszuwerden. Vielleicht gab es irgendwo elektronische Tricks und Hilfen, die er nicht beherrschte, Geräte, die man nur anstelle seines Körpers zu Hause lassen musste, um dem Modem und den Überwachern die persönliche Anwesenheit vorzutäuschen. Ein Abstreifen dieses Teufelswerks, um das er selbst bei der Gefängnisverwaltung angesucht und wie ein winselnder Hund seinen Mentor Hofstätter gebeten hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte es versucht, Seifen und Cremes aufgetragen, doch das so harmlos aussehende Plastikband wollte nicht über sein Ferse gleiten. Dafür hätte der zitternde Chirurg in sein eigenes Fleisch schneiden müssen, auch einen Teil des Beins entfernen, mit den Skalpellen und Knochensägen, die er noch von früher hatte und die ihm jetzt für sein Zaubertheater als Aura-Chirurg dienten.

Aber er war frei. So frei, dass er an diesem Samstagnachmittag mit langer Hose über der Fußfessel auf den Kieselsteinen am Ufer des Sees sitzen durfte, während die anderen ins Wasser gingen, sprangen, tauchten, urinierten. Er hatte den heißen Tag auch schon fast geschafft, nur noch eine halbe Stunde, dann musste er zu Hause sein, an Samstagen schon früher, um acht statt um zehn. Das war keine Schikane der Justizanstalt, sondern er selbst hatte sich dieses Korsett auferlegt. Kellermann wollte nicht in die alten Zeiten verfallen, er wollte seiner Sucht nach Trinkgelagen am Wochenende entkommen. Eine Maßnahme, die nicht nötig gewesen wäre, denn in der Seestadt hatte er noch kein Lokal gefunden, das ihm so einladend vorgekommen wäre, dass er sich zu einer Berauschung verführen hätte lassen. Einzig die Kantine erschien ihm angenehm und mit einer Atmosphäre, in der er sich wohlfühlen konnte. Und Kellermann war bisher noch nicht gestrauchelt. Dafür sorgte ohnehin auch das strenge Alkoholverbot, Fußfesselträger mussten Tag und Nacht nüchtern sein. Er hatte zwar noch keine überraschende Kontrolle bekommen, aber er merkte, wie man bei den Telefonaten auf seine Sprache und Stimme achtete. Die Beamten im Überwachungsraum hörten jedes Zehntelpromille, und wenn es einen Zungenschlag gab, konnte man sicher sein, wieder im Gefängnis zu landen.

Kellermann wehrte einige Gelsen ab, andere zerdrückte er auf seinem nackten Oberkörper. Sie reizten ihn, aber viel lieber hätte er in das Gesicht eines Mannes geschlagen, der in einiger Entfernung sein tätowiertes Muskelfleisch wie auf einem Grillspieß immer wieder wendete, um es den gelangweilten Frauen zu zeigen. Einige wollten sicher schon längst mit dem Tätowierten ins Bett, aber dafür war es noch zu früh. Obwohl die nächsten Häuser nicht am Ufer standen, konnte man die Abendnachrichten aus den Fernsehern hören, in allen Sprachen, und man spürte, dass man in der Seestadt vielleicht weit draußen wohnte, aber von der Welt nicht abgeschlossen war.

Eine Wespe näherte sich, umkreiste zuerst Kellermann, dann den schwitzenden Tätowierten, bevor sie sich auf dessen Bierdose niederließ. Kellermann hoffte, dass sie nicht zu ihm zurückkehren würde, denn nachdem das Tier den Speichel des widerlichen Kerls aufgenommen hatte, wollte er nicht auch noch seine Krankheitserreger übertragen bekommen. Die Zeiten waren vorbei, als er sich bei Schwerverletzten auf dem Operationstisch vor nichts geekelt hatte, sogar einer jener war, der zugriff, wo andere zurückscheuten, weil ihnen der Anblick eines von Schmutz starrenden Obdachlosen unerträglich erschien oder sie den Schwall aus einer zerrissenen Schlagader nicht ertragen konnten.

Eine Weile tastete sich die Wespe am Rand der Bierdose entlang, bevor Kellermann sie in die Trinköffnung kriechen sah. Der Tätowierte war gerade damit beschäftigt, sich zu räkeln und seine Haut zu dehnen, damit man all die Kunstwerke sehen konnte, einmal größer, dann wieder zusammengefaltet, doch immer glänzend. So konnte er auch nicht hören, wie die Wespe in der Dose um ihr Leben kämpfte und dabei immer wieder gegen die Aluminiumwände stieß. Plötzlich war es still, was für Kellermann bedeutete, dass das Tier Kraft schöpfte für einen neuen Anlauf. Das Surren ihrer Flügelschläge sagte ihm, dass die Wespe sich jetzt bereits in der braunen Flüssigkeit im Kreis drehte und am Ertrinken war. In ihrer Panik schlug sie sogar noch Schaum, denn aus der Trinköffnung stiegen Blasen.

Kellermann, der die Szene interessiert verfolgte, verharrte in gespannter Erwartung, und tatsächlich, der ekelhafte Mensch griff zur Bierdose und trank. Kellermann hielt den Atem an. Und das Schicksal schlug zu, zur Freude Kellermanns, zum Entsetzen des Tätowierten. Zuerst ertönte der übliche Aufschrei, dann folgte das Husten, der Ärger der Badegäste rundum, weil sich der Mann noch auffälliger und platzgreifender benahm als sonst, dazu kam sein Gespucke in alle Richtungen. Auch Kellermann wurde von einem Auswurf getroffen, aber die Wespe war nicht darunter. Der Biertrinker war längst gestochen und schon dabei, sich selbst mit beiden Händen zu würgen. Kellermann wusste, dass derartige Versuche nichts halfen, sondern das Verhängnis eher beschleunigten. Wespen und Menschen in Panik sterben früher.

Jetzt griff sich der Trinker mit den Fingern in den Mund, streckte sie sich bis in die tiefe Kehle, als könnte ihm das auch nur im Geringsten helfen. Aber wenigstens hatte er die Bierdose fallen lassen, sodass eine der ihn anhimmelnden Frauen die Situation begriff. Vorerst vertippte sie sich auf ihrem Handy immer wieder, doch dann schaffte sie es doch, die Rettung zu rufen. Kellermann hingegen schob sein Telefon noch tiefer in die Hosentasche, denn alles, was man für den Röchelnden tun konnte, war bereits getan.

Am See der Seestadt war ein Mann am Ersticken. Fast allein. Denn die Umliegenden hatten sich in Sicherheit gebracht, weil sie in ihm einen tobenden Betrunkenen vermuteten, andere einen Epileptiker. Man sprang lieber ins Wasser als sich den immer noch glühend heißen Abend des Badetages verderben zu lassen.

Nur Kellermann kostete die Minuten aus. Er war wie gelähmt, zugleich aber auch befriedigt. Weil das Schicksal wieder einmal seinen Lauf nahm, dieses Mal in seiner Nähe, aber ohne sein Zutun wie bei Brigitte. In seiner Kinderzeit war es einmal eine Taube gewesen, die mit einem geknickten Flügel nicht mehr von der Stelle kam, später eine Ratte in einer Mausefalle, deren Genick nur zur Hälfte gebrochen war. Kellermann wusste, dass er für seine geringe Anteilnahme an Sterbenden nichts konnte. Das hatte er im Gefängnis über Mörder gelesen, damals, als er angefangen hatte, nach dem Tod Brigittes sich selbst zu begreifen. Dabei war er ohnehin noch eine Ausnahme, wie sonst hätte er Medizin studieren und sogar noch Chirurg werden können?

Der Mann neben den wenigen Badegästen schien nun auch im Gesicht tätowiert zu sein, dabei war er nur blau angelaufen. Noch immer war keine Sirene zu hören, und selbst wenn die Rettung mit knatternden Rotorblättern aus dem Himmel stürzte, musste sie zu spät kommen. Kellermann gab dem Sterbenden noch ein Minute, oder, wenn er überlebte, eine Zukunft als Pflegefall mit Gehirnschäden, den er als Arzt oft genug Verwandten gegenüber irreparabel genannt hatte. Ein Chirurg müsste her, einer mit Mut, kein Zögernder, keiner, der Angst hatte, vom Geretteten später einmal verklagt zu werden, weil er ihm bei dem Eingriff die Stimme geraubt hatte. Der Mann neben ihm war keine Taube, keine Ratte.

Kellermann gab sich einen Ruck und bat einen Badegast, sein Feuerzeug aus dem Gummibund seiner Badehose zu holen. Bestimmt hätte er auch rundum genügend Messer gefunden, aber die wären alle zu groß gewesen. Mit seinem Microtool am Schlüsselbund hatte Kellermann jedoch schon Splitter aus hochentzündeten Wunden geschnitten, eine Nabelschnur bei einer Geburt durchtrennt und einmal sogar einem Wanderer durch einen gekonnten Eingriff das Augenlicht gerettet. Jetzt kehrte Dr. Kittel zurück, auch wenn es nur dieses eine Mal sein sollte, ohne Operationssaal, ohne Erlaubnis, die hätte ihm ja nur der Röchelnde geben können. Aber Sterbende haben anderes zu tun, andere Gedanken, sie sehen das Leben an sich vorbeiziehen oder hören als Erstickende schon die schöne Musik aus dem Jenseits.

Kellermann zwang sich, bis zehn zu zählen, sich vom Tod nicht hetzen zu lassen, die kleine Klinge seines Messers so lange über die Flamme zu halten und sie dann auch noch kurz auskühlen zu lassen, denn er wollte den nun ruhig gewordenen Daliegenden nicht verbrennen.

Kellermann grätschte seine Beine über dem Mann, setzte sich auf ihn, griff mit der einen Hand in seinen Mund, ekelte sich nicht vor dem heraustretenden Schaum und wusste, dass er ab jetzt alles richtig machen würde. Wie in seinen Träumen. Wie ein begnadeter Chirurg. Wie damals, als er noch einer war. Als Naturtalent für Schnitte in Menschen, das zu Höherem berufen war. Er bog den Schädel seines Patienten nach hinten, spürte kaum noch dessen Atem auf seinen bis in den Rachen reichenden Fingern, nur die zitternden Zähne, die aber nicht zubeißen würden, zu schwach war die Muskulatur schon, und führte mit der anderen heilenden Hand das Messer an den Hals, vorbei am Kehlkopf, zu der kleinen Stelle, der einzig richtigen, für den einzig richtigen Schnitt, richtig in Länge und Tiefe.

Kellermann war kein Jack the Ripper, wenigstens nicht in diesem Augenblick, und weil er das wusste, stieß er zu. Das war notwendig, denn sein Messer war nicht so scharf wie ein Skalpell, und viele Luftröhrenschnitte misslangen mit den verheerendsten Folgen, weil sie zu zögerlich ausgeführt wurden. Er öffnete Millimeter für Millimeter Haut und Knorpel und schob die Erinnerung an seinen gescheiterten Schreibversuch von KITTEL-KELLERMANN beiseite. Für einen Moment dachte er sogar, dass er als Chirurg zurückkehren könne, denn seine Hand zitterte nicht, und vor ihm tat sich ein Schnitt auf, wie er auch in einem Operationssaal nur von den besten Ärzten zu schaffen gewesen wäre.

Der Erfolg zeigte sich auch sofort, Luft wurde zischend eingesogen, Kellermann musste nur noch die Messerklinge etwas querstellen, um das lebensrettende Loch zu weiten. Er spürte unter seinen Beinen einen Menschen, der wieder zu atmen begann, so stark, dass Kellermann sich weitere Schritte für eine Wiederbelebung sparen konnte, er musste weder auf der tätowierten Brust herumdrücken noch den Mann auf den Mund küssen, er musste nur seine andere Hand aus dem Gaumen des Mannes ziehen, um in die eigene Hosentasche zu greifen, wo das Handy war und nicht aufhören wollte zu klingeln.

Jetzt war es Kellermann, der die notwendige Taste nicht gleich fand, aber nicht aus Nervosität, sondern weil das Ding mit den speicheltriefenden Fingern kaum zu halten war. Aber auch das gelang ihm heute.

»Wo sind Sie?«

Kellermann blickte auf seine Uhr. Seit zehn Minuten war er überfällig. Er hörte schon die Sirenen, aber sie gehörten zu einem Rettungswagen, der in einer langen Staubwolke über die Steppe auf die Seestadt zuraste, zu der es bisher nur dürftige Straßen gab.

»Wo sind Sie?

»Ich habe eben einem Kerl die Kehle aufgeschnitten.«

Kellermann hatte das Glück, dass ihm das Handy aus der Hand glitt. So blieb es ihm erspart, die scharfe Stimme des Beamten zu hören, und er wusste auch, wie wenig ihm passieren konnte, denn über ihm waren nun Menschen, die mit staunenden Gesichtern und ungläubigen Augen sahen, dass er ein Wohltäter mit heilenden Händen war. Solche Zeugen waren Kellermann willkommen, nicht nur jetzt und heute, sie waren genauso wichtig wie ein unerschütterliches Alibi. Aber das brauchte er noch nicht.

Am nächsten Tag traten ein paar Dinge ein, mit denen Kellermann nicht gerechnet hatte. Am meisten erschütterte ihn die Belehrung seines Mentors, die fast schon eine Rüge war. Hofstätter hielt ihm in einem kurzangebundenen Telefonat vor, wie leicht das Ganze ins Auge hätte gehen können.

»Kellermann, Sie sind doch ein Mann mit Verstand, überdurchschnittlich intelligent, mit besten Vorsätzen, und kein Killer. Schneiden Sie in der Aura Ihrer Patienten herum, aber nicht in Kehlköpfen, der Mann hätte unter Ihrem Messer krepieren können.«

Das Geschrei Hofstätters klang in Kellermann noch immer nach, als er in seine Praxis hinüberwechselte. Dort versammelten sich an diesem Morgen mehr Patienten als sonst. Manche von den Wartenden waren allerdings bloß Besucher, die den Mann mit den heilenden Händen nur sehen wollten. Wer einem Scheintoten die Kehle aufschnitt, um die Luft durchzulassen, ohne ihm die Stimmbänder zu durchtrennen, musste ein Meister sein, und wie gut erst als Aura-Chirurg.

Man sah sich um in seiner Praxis, bestaunte die Skalpelle, die Bohrer und Scheren, die Schalen voller Operationsbesteck aus Kellermanns Studienzeit, als er dieses längst unbrauchbare Werkzeug von seinem Vater, von älteren Kollegen und einem Spital geschenkt bekommen und gesammelt hatte. Jetzt ließen ihn diese Instrumente als einen Aura-Chirurgen erscheinen, der besser ausgestattet war als die anderen im Land. Dazu trugen in diesem Zimmer in der Sonnenallee auch die Bilder von Sonnenuntergängen und Naturlandschaften an den Wänden bei, sogar Fotos der Rosengartenschlucht waren darunter, deren Bedeutung niemand kannte, die aber die Lust Kellermanns am Risiko zeigten.

Doch die Krönung seiner Praxis waren ein modellhafter Torso mit herausnehmbaren Organen und ein echtes menschliches Skelett. Keines aus Kunststoff, wie es bei anderen Aura-Chirurgen oder in Schulen zu finden war, sondern ein Erbstück seines verstorbenen Vaters, eines Hausarztes aus Wien, den es für ein paar Jahre nach Tirol verschlagen hatte, in die Nähe von Imst, in jene Gegend, in der Kellermann nicht nur seine Kindheit verbringen durfte, sondern dann auch zum Totschläger geworden war.

Der alte Dr. Kittel hätte ihn einen Scharlatan genannt, enterbt, vorher aber noch geohrfeigt, in aller Öffentlichkeit, in seiner Landpraxis, in einem Gasthaus in Imst oder in einem Restaurant in Wien. Was für ein Glück für Dr. Kellermann, dass der Alte rechtzeig gestorben war und nur die Hochzeit seines Sohnes mit Brigitte erlebt hatte, den Anfang allen Übels.

Kellermann nahm sich vor, heute seine Praxis früher zu schließen. »Mit den besten Vorsätzen, und kein Killer. Kein Killer. Kein Killer!« So hämmerte es die ganze Zeit in seinem Kopf.