Cover

Karen Ranney

Geliebter Lord

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Georgia Sommerfeld

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Karen Ranney

Karen Ranney verbrachte ihre Jugend u.a. in Italien und Frankreich, wo sie zum Schreiben inspiriert wurde. Ihre Liebe zur Geschichte setzt die heute in Texas lebende Autorin in ihren historischen Liebesromanen virtuos um.

Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter www.karenranney.com

Über dieses Buch

Schottland 1782: Hamish MacRae ist ein gebrochener Mann, entschlossen, sich für immer von der Welt zurückzuziehen. Die schöne Mary verliebt sich auf den ersten Blick in den düsteren, geheimnisumwitterten Lord. Wird es ihr gelingen, sein Herz zu erobern?

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2003

unter dem Titel »To Love a Scottish Lord« bei Avon Books,

an Imprint of HarperCollins Publishers, New York

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2003 Karen Ranney

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2009 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Gerhild Gerlich

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: John Ennis via Agentur Schlück

ISBN 978-3-426-42038-6

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Für Suzie Housley

in Dankbarkeit und Wertschätzung

Prolog

September 1782

Schottland hieß Hamish MacRae mit dunklen, schweren Wolken am Himmel willkommen. Der Wind kam von Norden, und die Kälte drang durch Mark und Bein.

Hamish freute sich auf das heraufziehende Highland-Gewitter, sehnte die ungezügelte Wut der Elemente regelrecht herbei. Er würde mittendrin sein, die Arme gen Himmel gestreckt, und dem Blitz ein Ziel bieten. Vielleicht würde Gott ihn damit für all seine Sünden bestrafen.

»Da!« Er deutete auf eine Linie am Horizont, gleich dem Rücken eines Drachens. Auf dem letzten Höcker saß ein Castle, das er von einem früheren Besuch in Schottland kannte. Es stand wie ein Wachtposten auf einer dem Ufer des Sees vorgelagerten Felseninsel und war durch eine Steinbrücke mit diesem verbunden.

»Ich habe schon schlechter gewohnt.«

Auch Gilmuir, der Stammsitz ihrer Familie, war eine Ruine gewesen. Der älteste Bruder hatte sich in den Kopf gesetzt, das Castle wiederaufzubauen, und Hamish bezweifelte nicht, dass Alisdair in den drei Jahren, die sie unterwegs gewesen waren, Wunder vollbracht hatte.

»Setz mich dort ab.« Hamish wünschte, seine Kehle würde sich nicht derart wund anfühlen. Er würde lernen müssen, sich an den neuen Klang seiner Stimme zu gewöhnen, wie auch an andere bleibende Schäden aus seiner Zeit in Indien.

Sie standen vorn am Bug. Brendan trat einen Schritt näher an die Reling, als könnte er das Gemäuer so besser sehen.

»Dort kann man nicht überleben.«

»Was nicht unbedingt gegen den Ort spricht.« Ein ironisches Lächeln umspielte Hamishs Mund.

»Darüber macht man keine Scherze.«

Brendan war in den vergangenen drei Monaten sein Sinn für Humor abhanden gekommen, während Hamish einen Hang zum Sarkasmus entwickelt hatte.

»Also gut – wie sollte ich mein zukünftiges Leben denn deiner Meinung nach gestalten?«

»Du könntest wieder zur See fahren.«

Hamish neigte lächelnd den Kopf. »Natürlich könnte ich das. Ich bin ein Kapitän, der nicht nur seine Mannschaft und sein Schiff verloren hat, sondern auch die Herrschaft über einen Arm. Wer würde nicht mit mir segeln wollen?«

Dass Brendan darauf nichts sagte, überraschte ihn nicht. Nicht einmal sein Bruder könnte ein Heilmittel für das Wrack finden, das aus ihm, Hamish, geworden war.

Das Lächeln wurde ihm zu anstrengend, und so ließ er es.

»Du bringst mir, was ich brauche?«

»Das weißt du doch«, antwortete Brendan. »Was soll ich den anderen sagen?«

Mit den »anderen« waren ihre älteren Brüder Alisdair und James gemeint. Hamish liebte die beiden, aber er hatte weder das Bedürfnis nach ihrer Gesellschaft noch nach ihrem Verständnis. Und auch nicht nach ihrem Mitleid.

»Sag ihnen, was du willst, Brendan. Irgendetwas, was sie von hier fernhält. Die Wahrheit, wenn es sein muss.«

»Und was ist die Wahrheit, Hamish? Mit der hast du gegeizt, seit wir Indien verlassen haben.«

Was erwartete Brendan von ihm – einen Bericht über seine Zeit in der Gefangenschaft? Falls ja, musste er ihn enttäuschen. Es gab Dinge, die Hamish niemandem erzählen würde.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Castle.

Das Ufer der kleinen Insel war steinig; hinter dem schwarzen Brandungsgeröll lag mehrfarbiges, grau, schwarz und braun. Jenseits der Brücke schmiegte sich eine Reihe von Kiefern an den Weg wie ein grüner Rüschenkragen an den Hals einer Matrone.

Hamish hatte das Castle insgeheim Aonaranach getauft, was auf Gälisch »einsam« bedeutete. Es war offensichtlich verlassen, wie so viele andere Wohnsitze in den Highlands. Früher hätte sich Hamish vielleicht gefragt, warum, heute jedoch vermochte er weder Interesse noch Mitgefühl für die ehemaligen Bewohner aufzubringen. Das einzig Wichtige für ihn war die Tatsache, dass das Castle leer stand und ihm eine Art Zuflucht bot.

»Wenn du dich schon verkriechen willst, solltest du dir dafür zumindest eine einigermaßen anständige Höhle suchen«, sagte Brendan in seine Gedanken hinein.

Hamish sah seinen Bruder stirnrunzelnd an. »Das Castle ist genau das Richtige für mich – verlassen und weitab von jeglicher Siedlung.«

»Mir gefällt das nicht.«

»Ich kenne deine Ansichten, Brendan – du hast sie mir deutlich dargelegt.«

»Aber sie kümmern dich nicht, oder? Dein Entschluss steht fest, nicht wahr?«

Hamish nickte. »Ich werde nicht nach Gilmuir zurückkehren.« Als sie Indien verließen, war er zu krank gewesen, um sich Brendans Plänen zu widersetzen. Inzwischen war er zwar dankbar, dass sein Bruder nicht entschieden hatte, ihn nach Hause, nach Nova Scotia zu bringen, denn er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein Anblick seine Eltern getroffen hätte – aber weiter Richtung Norden nach Gilmuir zu segeln kam nicht in Frage für ihn.

»Dein Tod macht sie nicht wieder lebendig«, sagte Brendan.

Hamish sparte sich die Mühe, ihm zu erklären, dass er mehr Schuld zu tragen hatte als den Verlust seiner Mannschaft. Ob der ernsthaften Besorgnis seines Bruders gerührt, lächelte er nur. Brendan war stets loyal gewesen – wie hatte er erwarten können, dass es diesmal anders wäre?

Er und Brendan hatten einander seit frühester Kindheit nähergestanden als die übrigen MacRae-Brüder. Immer forderten sie einander heraus und gingen dank dieses ständigen Wettstreits jeder bis an seine Grenzen. Sie hatten auf ihren Reisen Treffen eingeplant, und manchmal nahmen die beiden MacRae-Schiffe dieselbe Handelsroute.

Jetzt jedoch wünschte Hamish, Brendan würde ihn einfach in Ruhe lassen.

»Ich sterbe nicht so leicht, Brendan«, wie du weißt.

Brendan sagte nichts dazu. Er entfernte sich, zweifellos, um seinen Männern Befehle zu erteilen.

Hamish blieb am Bug stehen und lauschte den Geräuschen in seinem Rücken, machte ein Spiel daraus zu erkennen, was die Mannschaft tat. Das Kratzen von Metall auf Metall besagte, dass der Anker zu Wasser gelassen wurde, um die Fahrt des Schiffes zu verlangsamen. Eisen auf Holz zeigte an, dass die schweren Segel eingeholt wurden. Das Segeltuch knatterte, als der Wind widerstrebend seinen Griff lockerte.

Die Fahrt eines Schiffes zu drosseln war eine geräuschvolle Angelegenheit, der Austausch untereinander währenddessen auf Befehle beschränkt. Es wurde nicht geplaudert oder gescherzt oder der Zeitvertreib nach der in Kürze erfolgenden Anlandung geplant. Seit Indien herrschte ohnehin getrübte Stimmung an Bord.

Der Erste Offizier trat zu ihm. Hamish kannte den Mann von früheren Reisen. Er wurde Sandy genannt, aber nicht seines blonden Haars wegen, sondern ob seines ersten Abenteuers auf See. Er war mit einem Beiboot auf einer Sandbank gestrandet, und seine Mannschaftskameraden hatten ihm daraufhin diesen Spitznamen gegeben, der ihn seit nunmehr zwanzig Jahren begleitete.

»Ich nehme meine Truhe mit«, sagte Hamish und nannte dann die anderen Dinge, die zusammengepackt werden sollten. Er brauchte ausreichend Verpflegung, bis Brendan ihm, wie er grollend zugestimmt hatte, Nachschub brächte.

Der Erste Offizier nickte schweigend. Im Gegensatz zu Brendan versuchte er nicht, Hamish seinen Entschluss auszureden. Vielleicht konnten Sandy und die anderen es ja auch gar nicht erwarten, ihn von Bord gehen zu sehen. Seeleute waren ein abergläubisches Völkchen, und seine Anwesenheit auf dem Schiff wurde ohne Zweifel als ein schlechtes Omen betrachtet.

Knapp eine Stunde später wurde er an Land gerudert. Brendan saß ihm gegenüber und musterte ihn mit finsterer Miene.

»Du hast alles Menschenmögliche getan«, sagte Hamish in dem Bemühen, seinem Bruder etwaige unangebrachte Schuldgefühle zu nehmen.

»Du redest, als würdest du sterben, Hamish«, sagte Brendan in scharfem Ton. »Ist das deine Absicht? Willst du sterben?«

Hamish lächelte. »Du meinst, indem ich meinen körperlichen Verfall beschleunige?« Hamish dachte darüber nach. Er müsste nur darauf verzichten, zu essen und zu trinken, die Wasserbehälter, den Schiffszwieback und das Dörrfleisch unberührt lassen, nicht auf die Jagd gehen, kein Feuer machen. Wenn er keinen Finger rührte, würde der Tod vielleicht kommen. Ein erschreckend verführerischer Gedanke.

Zu sterben und nichts mehr zu fühlen. Zu sterben und nicht mehr die gequälten Schreie seiner Mannschaft zu hören. Zu sterben und nicht mehr schweißgebadet und von Gewissensqualen gepeinigt aus dem Schlaf hochzufahren. Aber wie gesagt – er starb nicht so leicht. Das hatte er bewiesen.

Das Boot schabte ans Ufer der Insel. Hamish stand auf und packte mit seiner gesunden Hand das eine Ende seiner Truhe.

»Du wirst schon wieder.« Brendan schloss die Finger um den anderen Griff. »Es braucht einfach seine Zeit.«

Hamish lächelte nur. Seine körperlichen Wunden waren völlig geheilt – seine seelischen würden nie völlig heilen.

Kapitel 1

Erzählt mir etwas über meinen Patienten«, bat Mary Gilly.

»Als wir Kinder waren, nannte ich ihn ›Hammer‹.« Brendan schaute sie an und gleich wieder weg, als fürchtete er sich davor, ihre Reaktion auf seine Worte zu sehen.

»Hammer?«, wiederholte Mary stirnrunzelnd. »Ein furchteinflößender Name.«

Brendan lächelte. Als sie es das erste Mal sah, hatte sie das Lächeln anziehend gefunden, aber inzwischen war ihr klar, dass er es aufsetzte, um sie zu umgarnen.

»Er hatte einen eisenharten Schädel, und den rammte er mir in den Bauch, wenn ihm nicht gefiel, was ich sagte, was so gut wie immer der Fall war. Und so gab ich ihm diesen Spitznamen.«

»Ich interessiere mich mehr für den Mann, der er heute ist, als für den Jungen von damals«, sagte sie.

»Natürlich nenne ich ihn jetzt nicht mehr Hammer. Es wäre töricht, einen Mann von über dreißig bei seinem Kinderspitznamen zu rufen. Allerdings bin ich dafür bekannt, ab und zu etwas Törichtes zu tun.« Wieder schaute er zu ihr herüber, und Mary fragte sich, ob er, sie aus Inverness fortzulocken, ebenfalls zu seinen Torheiten rechnete.

Er war der Bruder von Alisdair MacRae aus Gilmuir, einem alten Kunden ihres Ehemanns. Sie war nur bereit gewesen, Inverness mit Brendan zu verlassen, weil sie Alisdair und seine Frau Iseabal seit Jahren kannte – aber inzwischen plagten sie Zweifel, ob es klug gewesen war, sich auf diesen Besuch einzulassen.

Mary schaute geradeaus, konzentrierte sich auf die Mähne zwischen den Ohren ihres braven Pferdes, das ebenso wie sie unter den Begleitumständen dieser Reise litt. Es regnete bereits den ganzen Tag. Seit sie am Nachmittag von der tadellosen Hauptstraße auf einen Weg abgebogen waren, der sich am See entlangwand, hatten sie mit einem schlammigen und furchigen Untergrund zu kämpfen und mussten immer wieder warten, damit der hoch beladene Lastkarren hinter ihnen aufholen konnte.

»Ihr dürft Euch nicht von seiner Erscheinung schrecken lassen, Engel.«

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Bitte nennt mich nicht so.«

»In Inverness nennen Euch alle so.« Da war es wieder, das charmante Lächeln.

»Nicht alle«, widersprach sie.

»Aber die meisten.«

»Nur weil viele Menschen etwas sagen, ist es noch lange nicht richtig.« Ihr Blick wurde eindringlich. »Ihr dürft nicht glauben, dass ich Wunder wirke. Ich kann nicht versprechen, Eurem Bruder zu helfen.« Es war ihr ein Anliegen, ihm das klarzumachen. »Ihr müsst gewärtig sein, dass meine begrenzten Fähigkeiten nicht ausreichen.«

»Vielleicht jedermanns Fähigkeiten«, sagte Brendan düster.

»Es ist knapp einen Monat her, dass Ihr Euren Bruder gesehen habt?« Mary lag noch eine zweite Frage auf der Zunge. Nach einigem Zögern sprach sie sie aus. »Seid Ihr sicher, dass er noch am Leben ist?«

»Natürlich ist er das«, antwortete Brendan in überzeugtem Ton, doch seine Miene weckte in Mary Zweifel an seiner Zuversicht.

Je weiter sie nach Westen kamen, umso karger und trostloser wurde die Landschaft. Links von ihnen lag der See und dahinter das Meer. Rechts erhoben sich kahle, schneebestäubte Berge. Die tiefhängenden Wolken schufen ein Licht, das alles in ein fahles Grau tauchte, die Farbe der Traurigkeit.

Mary strich mit der Hand über den Arztkoffer, der vor ihr im Sattel ruhte. Der Arznei- und Instrumentenkoffer war eine Art Talisman und das Darüberstreichen eine Angewohnheit. Das abgewetzte, glänzende Leder zeugte davon, wie oft sie schon darübergestrichen hatte, wenn sie nervös war oder einfach nur auf etwas wartete.

Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Heilen Geduld erforderte. Sie musste darauf warten, dass das Befinden eines Patienten sich besserte, dass eine Medizin wirkte, dass ein Fieber sank. Manchmal waren die Aussichten gut. Manchmal waren sie es nicht, und der Tod erschien, schwarz gekleidet und kichernd, um ihr den Kranken zu entreißen.

»Ihr dürft Euch nicht von seiner Erscheinung schrecken lassen.« Es war das zweite Mal, dass Brendan das sagte, als fürchtete er, dass sie beim Anblick ihres neuen Patienten entsetzt aufschreien oder angeekelt zurückfahren würde.

Er hatte sich nur vage über die Verletzungen seines Bruders geäußert, und Mary hatte in ihrer Hilfsbereitschaft verabsäumt, sich genauer zu erkundigen.

»Ich habe schon viele schlimme Dinge gesehen«, versicherte sie ihm gelassen.

»Indien hat ihn verändert. Er ist nicht mehr der, der er war.«

»Menschen, die immer gesund waren, reagieren auf eine plötzliche Krankheit oft mit Wut. Sie fühlen sich von ihrem Körper im Stich gelassen.«

»Er ist nicht wütend.« Brendan schien nach dem richtigen Wort zu suchen. »Resigniert, vielleicht«, sagte er schließlich. »Fast, als wäre er für das Schlimmste bereit. Das sieht Hamish nicht ähnlich.«

»Es könnte ein Symptom seiner Krankheit sein.« Mary war ein solches Verhalten bei Patienten nicht fremd. »Gerade vitale Männer stürzt es in eine Krise, auf einmal nicht mehr im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein.«

Brendan nickte schweigend.

Marys Hände in den Lederhandschuhen waren eiskalt, und sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie Wärme und Trockenheit sich anfühlten. Der pfeifende Nordwind drückte die Mähne des Pferdes platt und fuhr unter Marys roten Umhang. Sie saß kerzengerade im Sattel, die Ellbogen an den Körper gepresst, das Kinn dem Wetter trotzend entgegengehoben.

»Wir müssen bald da sein«, sagte sie. Es war eher der Ausdruck einer Hoffnung als eine Feststellung. Brendan äußerte sich nicht dazu.

Im Geist verglich sie ihn mit Charles, dem Lehrling ihres verstorbenen Ehemanns. Brendan war wesentlich anziehender mit seinem offenen Gesicht, den haselnussbraunen Augen und dem braunen Haar, das ihm jungenhaft in die Stirn fiel.

Charles hatte ein schmaleres Gesicht und ein engstirniges Wesen. Außerdem wurde er seit einigen Monaten zunehmend besitzergreifend, so dass sie den Besuch bei diesem neuen Patienten in gewisser Weise auch als Fluchtmöglichkeit gesehen hatte.

Ähnlich aber waren die Männer sich in ihrer Zielstrebigkeit. Brendan und sie waren im Morgengrauen in Richtung Westen aufgebrochen und hatten trotz des Wetters noch keine einzige Pause eingelegt. Mary hatte das Gefühl, dass Brendan nichts und niemand stoppen könnte, er erst anhalten würde, wenn sie bei seinem Bruder ankämen.

Sie war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen und sagte sich während dieses scheinbar nicht enden wollenden Tages immer wieder, dass das Abenteuer dieser Reise die Unbilden wert sei. Von jetzt an könnte sie, wenn andere von ihren Reisen berichteten, erzählen, dass auch sie über die Grenzen von Inverness hinausgekommen war. Auch wenn es nichts weiter zu sehen gab als schneebedeckte Berggipfel und einen grauen, fingerförmigen See, der aufs Meer zeigte.

Plötzlich zügelte Brendan sein Pferd und streckte den Arm aus. »Da ist es. Castle Gloom.«

»Castle Gloom?«

»Düsterkeit war das Erste, was mir in den Sinn kam, als ich es sah.«

Mary hatte keine Burg erwartet. Das von einem hohen Turm dominierte, aus dunkelrotem Backstein und Naturstein errichtete Castle wirkte wie ein Farbfleck in der ansonsten farblosen Landschaft. Fast wie eine Wunde. Der Gedanke erschreckte sie ebenso wie der Schwarm Seevögel, die wie aus dem Nichts mit rauschenden Schwingen über ihre Köpfe hinweg in die entgegengesetzte Richtung flogen. Es war wie eine Warnung, dachte Mary.

Plötzlich gab es einen Knall. Brendan erbleichte, und ehe sie begreifen konnte, was er vorhatte, geschweige denn, sich dagegen wehren, hechtete er aus seinem Sattel zu ihr herüber und riss sie mit sich zu Boden, wo sie unter ihm im Gras landete. Als sie ihn gerade wegstoßen und fragen wollte, ob er den Verstand verloren hätte, traf ein Geschoss den Baum zu ihrer Linken – Funken schienen herabzuregnen.

»Er schießt auf uns! Der verdammte Narr schießt auf uns!«

»Wer?«

»Hamish!«, knurrte Brendan wütend.

Mary stemmte eine Hand gegen seine Schulter, und er glitt von ihr herunter, doch sie machten beide keine Anstalten aufzustehen.

»Wie kommt er dazu, auf seinen eigenen Bruder zu schießen?«

Da Brendan keine Antwort auf diese Frage wusste, schwieg er. Sie ließ das Thema fallen und setzte sich auf. Er half ihr hoch.

Ihre Schulter und ihr Knie schmerzten vom Aufprall, doch Mary ließ diese kleinen Unannehmlichkeiten unerwähnt. Sie waren bedeutungslos im Vergleich mit dem Beschuss.

Mary bückte sich nach einem Splitter des Geschosses und legte das warme glitzernde Metall auf ihre behandschuhte flache Hand.

Bevor sie etwas dazu bemerken konnte, nahm Brendan es ihr weg.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Bronze.«

Sie begegnete seinem Blick und las darin die gleiche Verwirrung, die sie empfand.

»Warum hat er auf uns geschossen?«

»Ich weiß es nicht, Engel.«

Diesmal ermahnte sie ihn nicht.

 

Wenn er das Korn nur um fünf Zentimeter gesenkt hätte, wäre es ihm vielleicht gelungen, die Spitze der hohen Kiefer wegzuschießen. Hamish notierte die Koordinaten, wozu er ein lumpenumwickeltes Stück Holzkohle benutzte. Das Papier ging zur Neige. Er hoffte, dass Brendan kommen würde, bevor der Vorrat gänzlich aufgebraucht war.

Das Turmzimmer, in dem Hamish sich aufhielt, war zugig. Er hatte einige der Schießscharten mit Stroh zugestopft, um sich gegen den Wind zu schützen, das einzige Fenster jedoch offen gelassen, die Holzläden aufgeklappt. Auf der abgeschrägten Sohlbank ruhte jetzt das Kanonenrohr.

Bei der ersten Erkundung seines neuen Heims hatte er das Geschütz hier, im höchstgelegenen Raum des Turms, entdeckt. Es war nicht schwierig zu erklären, weshalb man es mühevoll die Wendeltreppe in den dritten Stock hinaufgeschleppt hatte. Eingefügt in die der zerklüfteten Abbruchkante des Felsens folgende Schildmauer, bot der Turm einen Ausblick über das Land und befand sich in der optimalen Verteidigungsposition. Vom Fenster aus sah man linker Hand das Meer, mit dem der See durch den Ness verbunden war, auf der rechten Seite einen schmalen Waldgürtel und den Weg in die Zivilisation.

Die Brücke stand bei Flut unter Wasser, was sie nicht nur für Hamish unpassierbar machte, sondern auch für unerwünschte Besucher.

Hamish zog die Kanone auf ihren quietschenden Rädern zurück und lud sie erneut. Als Geschosse benutzte er Metallstücke und Steine. Was Schießpulver betraf, hatte er mehr als genug. Die einstigen Verteidiger von Aonaranach hatten, versteckt unter einem Haufen Stroh, ein kleines Magazin zurückgelassen.

Hamish griff nach der Büchse mit dem Zunder, zündete ihn an und trat ein paar Schritte zurück, als die Kanone ihren Inhalt mit einem kehligen Brüllen ausrülpste.

Na also! Diesmal hatte er die Spitze getroffen!

Ein Schrei veranlasste ihn, zum Fenster zu gehen. Sich mit einer Hand auf der Sohlbank abstützend, lehnte er sich hinaus und blickte nach rechts. Ein Mann stand vor dem Baumgürtel und schwenkte einen langen Ast mit einem großen, roten Tuch am Ende. Als Hamish das zornige Gesicht seines Bruders erkannte, begriff er sofort: Brendan hatte offenbar in der Nähe des anvisierten Baums gestanden. Hamish winkte ihm zu, und Brendan rammte den Ast in den Boden, spreizte die Beine, verschränkte die Arme und schaute mit grimmiger Miene herauf.

Plötzlich gesellte sich aus dem Schutz der Bäume eine Frau zu ihm. Sie trug einen leuchtend roten Rock und roten Umhang, aber ihr Schultertuch, das ihr Dekolleté verhüllen sollte, fehlte. Brendans Fahne, dachte Hamish.

Als er sah, dass sie mit den Augen Brendans Blick folgte, wich er sofort zurück. Hatte sie ihn gesehen? Nein, wohl nicht. Sonst hätte sich zumindest Erschrecken auf ihrem Gesicht gemalt.

Ihr Haar war braun, und sogar an diesem grauen, düsteren Tag spielten rote Lichter darauf. Die Farbe der Augen zu erkennen war ihm auf diese Entfernung nicht möglich, ihre schmale Taille und die vollen Brüste, das aufreizende Dekolleté jedoch ebenso wie die zarten Handgelenke, der anmutige Hals und die im Gehen sichtbar werdenden, schlanken Fesseln. Dass er sich die Frau im nächsten Moment nackt vorstellte, machte ihm bewusst, wie lange er schon mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war.

Brendans Ehefrau? Nein. Nicht einmal sein spontan und schnell handelnder Bruder würde in drei Wochen eine Braut finden.

»Im Frühling werde ich heiraten«, hatte er in Indien verkündet. »Mir ist danach, mich für eine Frau zu entscheiden.«

»Und wo willst du diese Frau unterbringen?«, hatte Hamish gefragt.

Brendans Schiff, eines der ersten auf Gilmuir gebauten Segelschiffe, war zwar groß, die Kapitänskajüte aber zu klein für zwei Personen.

»Ich denke, in Schottland«, antwortete Brendan. »Vielleicht auch in Nova Scotia. Egal – es liegt beides gleich nahe am Meer.«

»Du meinst, du willst dann weiter zur See fahren? Findest du das fair? Du wärest jahrelang am Stück unterwegs. Glaubst du nicht, dass sie sich einsam fühlen würde? Falls du eine Frau finden solltest, die dein hässliches Gesicht vermissen würde …«

Brendan war sich seiner Wirkung auf Frauen gewiss und hatte nur gegrinst.

Aber die Frau dort unten konnte unmöglich seine Ehefrau sein. So viel Glück hatte nicht einmal er.

Brendan wandte sich ihr zu und sagte etwas, was sie veranlasste, den Kopf in den Nacken zu legen und wieder zum Turm heraufzuschauen.

Hamish verließ seinen Beobachtungsposten. In der Mitte des Raums blieb er unschlüssig stehen. Wäre Brendan allein gekommen, hätte er, Hamish, nicht gezögert, die Treppe hinunterzugehen und die eisenbeschlagene Eichentür zu öffnen, die er repariert hatte – aber unter diesen Umständen hatte er Hemmungen, sich zu zeigen. Er war seit seiner Gefangennahme keiner Frau mehr nahe gekommen.

Zum ersten Mal wünschte er, er hätte, als er von Bord ging, daran gedacht, einen Spiegel mitzunehmen. Ein Blick hätte genügt, um den Grad ihres Abscheus einzuschätzen. Wie würde sie sich verhalten? Würde sie nach Luft schnappen? Schaudern? In Tränen ausbrechen?

Wie auch immer – es blieb ihm nichts anderes übrig, als die beiden einzulassen. Er bückte sich unter dem Türsturz hindurch und stieg die Wendeltreppe hinunter. Unten angekommen, entfernte er den Riegel, öffnete die Tür und trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück – in den Schutz des Schattens.

Brendan kam als Erster herein. Er sah sich um, ging auf die Treppe zu, entdeckte Hamish und bedachte ihn mit einem wütenden Blick.

»Du hast dir lange Zeit gelassen, Bruder«, sagte Hamish.

»Und du bestrafst mich dafür, indem du versuchst, mich umzubringen? Warum zum Teufel hast du auf uns geschossen?« Brendans volltönende Stimme hallte von den Wänden wider.

»Das habe ich ja gar nicht getan«, erwiderte Hamish, der die Frau hinter seinem Bruder eintreten sah, steif. »Ich habe mich lediglich amüsiert. Wenn ich gewusst hätte, dass jemand da war, hätte ich woandershin gezielt.«

»Wo hast du die Kanone überhaupt her? Ich hätte gedacht, an diesem gottverlassenen Ort wären nur Spinnen und Fledermäuse zu finden.«

Davon hatte es reichlich gegeben, aber Hamish fühlte sich aus irgendeinem Grund verpflichtet, nichts auf seine Zuflucht kommen zu lassen, und so sagte er nur: »Sie ist die Hinterlassenschaft eines ehemaligen Besitzers, der offenbar den Wunsch hatte, das Castle zu verteidigen.«

»Seltsam. Wer sollte dieses Gemäuer denn angreifen?«

Brendan trat beiseite und gestattete Hamish einen ungehinderten Blick auf die Frau in Rot.

Ihre Augen waren braun, an sich nichts Spektakuläres, aber sie hatten etwas Geheimnisvolles.

»Wer seid Ihr?«, fragte er schärfer als beabsichtigt.

Brendan warf ihm einen tadelnden Blick zu.

»Engel – dieser ungehobelte Mensch ist mein Bruder. Hamish – gestatte mir, dir Mrs. Mary Gilly vorzustellen, eine Heilerin von beachtlichem Ruf.«

Hamish sagte sich, dass er wütend war, weil Brendan seine Kompetenzen überschritten hatte, und nicht, weil sein Bruder beschützend die Hand auf die Schulter der Frau legte – und auch nicht, weil sie ihn dafür mit einem gewinnenden Lächeln belohnte.

»Eine Heilerin? Ich hatte dich nur gebeten, mir die gewünschten Vorräte zu bringen«, sagte er unfreundlich.

Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu, und er wich noch weiter zurück, wünschte, er könnte sie mit einem Lidschlag vertreiben oder einer befehlenden Geste zur Tür. Stattdessen hob er abwehrend die Hand.

»Ich bedaure, dass Ihr Euch der Strapaze dieser Reise umsonst ausgesetzt habt.« Ein vernünftiger Satz und bemerkenswert zivilisierter Ton. Angesichts der Tatsache, dass er seit drei Wochen mit keinem Menschen gesprochen hatte, war seine Stimme erstaunlich klar.

Ohne ein weiteres Wort machte Hamish auf dem Absatz kehrt und ließ seine beiden Besucher stehen.

Kapitel 2

Brendan betrat Hamishs Zimmer, ohne anzuklopfen, aber Hamish hatte es auch nicht erwartet. Brendan konnte ungemein charmant sein, wenn er wollte, aber das war jetzt nicht der Fall.

Er blieb auf der Schwelle stehen und sagte nach einem Blick auf die Kanone: »Wenn du das Ding da entferntest, hättest du bedeutend mehr Platz hier.«

»Das schon, aber dann könnte ich mir nicht mehr die Zeit damit vertreiben, Fichten die Spitzen wegzuschießen.«

»Damit beschäftigst du dich?« Brendan runzelte die Stirn. »Was für eine Verschwendung deiner Talente.«

»Wer ist die Frau?«, wechselte Hamish das Thema.

»Ich sagte es bereits – eine Heilerin von beachtlichem Ruf. Aus Inverness.«

»Warum nennst du sie Engel?«

»Sie hat einem kleinen Jungen das Leben gerettet. Zumindest ist das die Geschichte, die Iseabal mir erzählte. Sie hat von Marys Können durch den Ehemann erfahren, einen Goldschmied, der einige Dinge für Gilmuir angefertigt hatte.«

»Sie ist verheiratet?«

»Verwitwet.«

»Und du hast sie auf Iseabals Empfehlung hin aus Inverness mitgebracht, ja?«

»Kannst du dir eine bessere vorstellen?«

Wenn er ehrlich war, konnte er das nicht. Hamish hegte größte Bewunderung für seine Schwägerin. Das Problem war, dass er keine Heilerin in seinem Haus haben wollte.

»Wenn Mrs. Gilly so gut ist, wird sie in Inverness sicherlich schmerzlich vermisst. Du solltest sie unverzüglich dorthin zurückbringen.«

»Möchtest du nicht gesund werden?«

Hamish musste lachen. »Ich bin so gesund, wie ich werden kann.« Ohne zu blinzeln, hielt er dem prüfenden Blick seines Bruders stand. Er hob eine Hand, die andere, nutzlose, blieb an seiner Seite. »So sehe ich nun mal aus als Gesunder. Wenn sie meinen Körper in die ursprüngliche Form bringen könnte, würde ich es dankbar annehmen. Aber das kann sie nicht.«

»Vielleicht ja doch.«

»Es würde Gottes Geschick bedürfen, diese Narben zu beseitigen.«

»Sie werden mit der Zeit verblassen, Hamish.«

»Aber sie werden immer da sein. Bring die Frau nach Inverness zurück, Brendan.«

»Ich glaube nicht, dass Mary gehen will.«

»Dann musst du sie eben überzeugen.«

Als Hamish aus einer der offenen Schießscharten auf den Hof hinunterschaute, sah er einen Lastkarren, der von zwei weiteren Fremden entladen wurde – und Mary Gilly, die den Burghof überquerte. Wenn Brendan ihm schon unbedingt eine Heilerin hatte bringen wollen, dann hätte er wenigstens eine ältere aussuchen sollen, eine erfahrene, weise, der vielleicht ein paar Zähne fehlten. Oder einen Arzt, wenn keine alte, weise Frau verfügbar war.

Eine schöne Frau besaß an sich schon Macht. Heilte sie ihre männlichen Patienten damit? Überredete sie sie, gesund zu werden? Er war nicht immun gegen weibliche Schmeicheleien. Wie die Atavasi in Indien festgestellt hatten, war er nur zu menschlich.

Hatte sie Brendan verzaubert? Hatte er sie deshalb hergebracht?

Das Zwielicht verlieh ihrer Schönheit einen ganz besonderen Reiz, die Schatten hüllten sie ein wie eine zarte Decke. Es war, als gehörte sie hierher, als wäre sie ein Geist, der heimgekehrt war.

»Wer sind die beiden da?«

»Eine Köchin und ein Zimmermann.«

»Ich wollte nur ein paar Vorräte, Brendan. Ich brauche keine Köchin und keinen Zimmermann. Und vor allem keine Heilerin.«

»Ich habe nie einen Mann gesehen, der ihrer mehr bedurfte.«

Hamish warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den Brendan nur mit einem Lächeln quittierte.

 

Hamish MacRae mochte krank sein, aber es war offensichtlich, dass sie nicht erwünscht war. Als Brendan seinem Bruder die Wendeltreppe hinauffolgte, blieb Mary zurück wie ein Paket, das Brendan vergessen hatte.

Das Erdgeschoss war spärlich möbliert. Neben einem Rundbogenkamin stand eine Wandbank aus Kiefernbrettern; zwei Stühle und ein Tisch auf der anderen Seite des Raums vervollständigten die Einrichtung.

Mary hörte die Männer miteinander sprechen. Obwohl sie nichts verstand, kam sie sich wie eine Lauscherin vor. Das bereitete ihr Unbehagen, und so verließ sie den Turm.

Auf dem Grasfleck in der Mitte des Burghofs blieb sie stehen. Der Wind presste ihr den Rock an die Beine und spielte mit ihrem Haar. Sie war in Inverness geboren und aufgewachsen, ein reines Stadtkind. Sicher, es gab dort viel Schönes zu sehen und Orte zu besuchen, die einem vor Staunen und reiner Freude den Atem stocken ließen, aber noch nie hatte etwas ihre Phantasie derart angeregt wie Castle Gloom in diesem Moment.

Wo waren die Soldaten, die einst bewaffnet auf diesen Mauern patrouillierten? Wo waren die Köchin und ihre Küchenhilfen und der Burgherr? Was war aus der Dame des Hauses geworden und den Kindern, die hier vielleicht das Licht der Welt erblickten? Sie waren einfach verschwunden, und Mary fragte sich, was wohl mit ihnen geschehen war.

Langsam drehte sie sich um. Das Castle wirkte aus der Nähe nicht annähernd so verloren und abweisend wie aus der Ferne. Zu ihrer Linken erstreckte sich, angelehnt an die Mauer, ein langes rechteckiges Gebäude, zu ihrer Rechten stand der in die Mauer eingefügte runde Turm, hinter ihr ein besserer Schuppen, offenkundig der einstige Stall, in dem sie und Brendan ihre Pferde untergestellt hatten.

Mary ging weiter zu dem Brunnen und holte mit dem Schöpfeimer Wasser herauf. Zu ihrer Freude war es kristallklar. Sie stellte den Schöpfer in den Holzeimer zurück und machte sich, einem Impuls folgend, auf den Weg zum Haupthaus.

Wenn sie ein paar Tage hierbliebe, müsste sie einen Platz für sich finden, eine kleine Ecke auf Castle Gloom, wo sie für sich wäre und ihre Arzneien aufstellen und Hamish behandeln könnte. Falls es Brendan gelänge, seinen Bruder zu überreden, sich von ihr behandeln zu lassen.

Einem starrsinnigen Mann konnte man nicht mit Worten beikommen – dafür waren Beispiele vonnöten. In Inverness wäre es ein Leichtes gewesen, solche beizubringen, denn dort gab es scharenweise von ihr Geheilte und genügend Berichte über ihre Erfolge, um einen Kranken Vertrauen in ihre Fähigkeiten gewinnen zu lassen. Aber was sollte Hamish MacRae an diesem entlegenen Ort dazu bringen?

Mary stieß eine Eichentür auf, die sich erstaunlich leicht und geräuschlos öffnete. Hinter einem kleinen Vorraum lag ein großer, überraschend heller Raum. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um die hoch oben in der Wand sitzenden Fenster sehen zu können. Als billige der Himmel ihre Neugier, brach plötzlich die Sonne durch die Wolken und tauchte den Raum in noch helleres Licht.

Er war völlig leer, aber in ihrer Phantasie sah sie die Schilde an den Wänden und die Banner von der Decke herabhängen. Dieser Ort atmete die Geschichte seiner Vergangenheit, auch wenn niemand mehr da war, der darüber hätte berichten können.

Die Holztür war an verschiedenen Stellen beschädigt, als hätte jemand aus Langeweile mit einem Messer darin herumgebohrt. Der Steinboden war narbig und von ungezählten beschuhten Füßen geglättet. Doch bei aller Kahlheit hatte der Saal nichts Trostloses. Stattdessen kam es Mary vor, als wartete er – wie ein lebendiges Wesen, das auf geheimnisvolle Weise wusste, dass seine Zeit noch nicht endgültig vorüber war.

Sie drehte sich um und ging durch den Vorraum zu einer niedrigen Tür, die in die Wand zu ihrer Linken eingelassen war. Der Raum dahinter war dunkel, und sie sah sich von der Schwelle aus darin um. Die an einer Wand gestapelten Pritschen ließen vermuten, dass er als Schlafquartier benutzt worden war. Eine Gürtelschnalle und ein Pulverhorn auf dem Boden neben der Tür veranlassten Mary zu der Überlegung, ob das Castle vielleicht als Garnison gedient hatte.

Jenseits der Großen Halle befand sich ein weiterer Raum. Abgesehen von einem langen Tisch und Regalen an den Wänden war er völlig leer. Kein Messer und keine Schüssel, kein Krug, kein Eimer und kein Butterfass war in der Küche zurückgelassen worden. Das deutete auf einen Auszug mit Bedacht hin.

Wie in der Großen Halle erhellten hoch oben in den weißgetünchten Wänden sitzende Fenster den Raum. Sonnenstrahlen zeichneten ein Kreuzmuster auf den Boden. Auch die Gewölbedecke war weiß – bis auf die von jahrelangen Kochfeuern dunkle Stelle über dem Bogen des riesigen Kamins war hier alles weiß. Es gab keine Hinweise auf den Verbleib der Bewohner von Castle Gloom, aber Mary hatte ein Problem gelöst: Wenn sie keine andere Möglichkeit fand, würde sie sich in der Küche einrichten.

Falls ihr gestattet würde zu bleiben.

 

Charles Talbot konnte nicht glauben, dass Mary ihn mit dem Geschäft alleingelassen hatte. Noch Stunden, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wartete er darauf, dass sie zurückkäme. Als sie es nicht tat, begriff er schließlich, dass sie einem Fremden offenbar mehr Bedeutung zumaß als ihm.

Seine Überraschung verwandelte sich in Wut.

Heute hatte er die Auftragsarbeit für eine der wohlhabenden, älteren Ladys von Inverness fertiggestellt und die Terrine, da er das Bedürfnis hatte, für eine kleine Weile aus dem Laden herauszukommen, persönlich abgeliefert. Als er zurückkam, standen zwei Kunden vor der Tür. Beide waren ob des Wartens verstimmt und wollten gleichzeitig bedient werden. Hätte Mary sich nicht einfach aus dem Staub gemacht, wäre diese Situation gar nicht entstanden.

Es hätte sich für Mary eher geziemt, im Geschäft Kunden zu begrüßen, als irgendwo in Inverness oder – wie jetzt – sogar außerhalb herumzuspazieren. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass es sinnvoller war, diejenigen zu hofieren, die sich ihre Erzeugnisse leisten konnten, als Leute zu heilen zu versuchen, die die Behandlung nicht bezahlen konnten. Er hatte sich bemüht, es ihr zu erklären, aber sie lachte nur, als hätte er einen Scherz gemacht.

Sie war zwei Jahre jünger als Charles, aber schon mehr als zehn Jahre verheiratet gewesen. Sobald sie seine Frau wäre, würde sie lernen müssen, dass er nicht so leicht um den Finger zu wickeln war wie Gordon.

Nach dessen Tod – er war doppelt so alt gewesen wie Mary – hatte Charles ihr gestattet, ein Jahr zu trauern, wie es sich für eine gute Ehefrau gehörte. Zwölf lange Monate hatte er seine Gefühle vor ihr verborgen – und jetzt war sie ohne Rücksicht auf ihn oder ihren Ruf einfach gegangen!

Charles sperrte das Geschäft zu, wobei er das Glöckchen an der Klinke wie jeden Abend zum Schweigen brachte. Früher hatte ein Luftzug es nachts manchmal läuten lassen, und er war in seinem Zimmer hinter dem Verkaufsraum aus dem Schlaf hochgeschreckt, weil er dachte, ein Kunde verlangte Zutritt.

Zufrieden ließ er den Blick durch den Laden schweifen, der nun bald ihm gehören würde. In den rechtwinklig zueinander stehenden Vitrinen waren ein paar Kostproben seines Schaffens zu sehen. Vor einem Tisch mit abgeschrägter Platte stand eine verkratzte Bank. Hier hatte Gordon vornübergebeugt gesessen, bis er nicht mehr aufrecht gehen konnte. Das Vergrößerungsglas und das Okular, die er beide stets um den Hals getragen hatte, lagen jetzt in einer Schublade des Tischs. Der Fußboden war narbig, aber sorgfältig gepflegt.

Gordon hatte ihm das Geschäft zwar nicht testamentarisch vermacht, aber Charles war der Meinung, es sich redlich verdient zu haben. Mit zwölf Jahren fleißiger Arbeit. Allerdings wussten die guten Leutchen von Inverness das nicht, denn Gordon hatte Charles stets behandelt, als könnte er nichts. Kein einziges Mal hatte der Mann ihn gelobt.

Ob der Erinnerungen stirnrunzelnd, löschte Charles die Laternen und verließ den Verkaufsraum.

Als Gordons Krankheit ihm nicht mehr erlaubte, auf seiner Bank zu sitzen, hatte er widerstrebend einige Aufträge an Charles weitergegeben, jedoch immer neben ihm gesessen, seine Arbeit überwacht und ständig seinen Umgang mit dem Ziselierbesteck kritisiert. Wenn Gordon sich zu einem zustimmenden Knurren herabließ, wusste Charles, dass er etwas Großartiges geschaffen hatte. Eines dieser Stücke war der McPherson-Taufbecher. Er hatte ihn vorhin höchstselbst abgeliefert.

McPherson hatte den Becher mit einem strahlenden Lächeln gelobt, jedoch mehr über Gordons Entwurf gesprochen als über Charles’ Ausführung desselben.

»Ein Künstler. Ein Genie. Wie sollen wir nur ohne ihn auskommen? Und Mary – wie bewältigt sie ihren Verlust?«

Charles hatte gelächelt und die Fingerspitzen aneinandergerieben, wie er es sich von Gordon abgeschaut hatte. »Sie hält sich tapfer. Sicher vermisst sie ihn schmerzlich. Auch wenn wir vermeiden, über Gordon zu sprechen, ist er doch stets in unseren Gedanken bei uns.« Dass Mary sich so gut fühlte, dass sie in die Highlands aufgebrochen war, hatte er unerwähnt gelassen.

Charles blieb am Fuß der Treppe stehen und lauschte nach oben. Alles war still. Die Köchin und das Dienstmädchen schliefen offenbar bereits. Die Unterkunft der beiden war verglichen mit der seinen beinahe luxuriös zu nennen.

Gordon hatte bei Charles’ Eintritt als Lehrling den Lagerraum für ihn leer geräumt, und dort schlief Charles noch heute. Vor ein paar Jahren hatte er allerdings einen Riegel an der Tür angebracht, ein Schloss, das Gordon überraschenderweise respektierte. Vielleicht hatte das Alter oder seine Ehe mit Mary ihn milde werden lassen. Gordon war zum Ende seines Lebens hin glücklich gewesen, was nicht viele Männer von sich sagen konnten. Er besaß Ansehen und Vermögen und die Liebe einer schönen Frau. Was konnte ein Mann sich mehr wünschen?

Charles öffnete die Tür zu seinem Zimmer mit dem Schlüssel an seiner Uhrkette, ging zum Bett, setzte sich auf die Kante und nahm eines seiner kostbarsten Besitztümer aus der Schublade des Beistelltischchens. Ein junger Bursche mit Talent hatte eines Tages auf dem Markt in Inverness eine Zeichnung von Mary angefertigt. Charles hatte sie aus Gordons Zimmer entwendet, als der schon sehr krank war, und seitdem bewahrte er sie hier auf. An diesem Ort, den außer ihm nie jemand betrat, wartete das Bild auf ihn. Jeden Abend holte er es aus seinem Versteck.

Mary war seine Muse, seine Inspiration, doch als er jetzt mit ihr sprach, klang seine Stimme zornig.

»Du musst begreifen, dass die Zeiten, da du in Inverness herumspaziert bist, vorüber sind. Du musst auf diejenigen hören, die sagen, dass du dir zu viel zumutest. Aber vor allem musst du begreifen, dass ich nicht so nachgiebig mit dir sein werde, wie Gordon es war. Ich werde strenger auf das achten, was du tust.«

Sie schaute ihn auf ihre liebe Art an, und ihre Augen blitzten, als unterdrückte sie ein Lachen.

Charles legte seinen Schatz in die Schublade zurück und schob etwas darin beiseite, damit die Zeichnung besser Platz hatte. Dann nahm er die Phiole in die Hand und blickte lächelnd darauf hinunter. Sie war das Zweite, was er aus dem Zimmer des kranken Gordon entwendet hatte.

Wenn Mary sich seinen Anweisungen oder Plänen widersetzte, würde er eben zu diesem Mittel greifen, um sie gefügig zu machen.

Kapitel 3

Als Mary das Haupthaus verließ, sah sie Micah und Hester in stillschweigender Eintracht den Wagen entladen.

Sie hatte die beiden erst heute Morgen in Inverness kennengelernt und lediglich ein paar Worte mit ihnen gewechselt, aber Mary fand die Frau ausgesprochen angenehm. Hester war ungewöhnlich groß und hager, ihr Gesicht sonnengebräunt und von tiefen Furchen durchzogen wie die Straße, auf der sie nach Castle Gloom gekommen waren. Die Hände, mit denen Hester gerade ein Alefass von der Ladefläche hob, waren knorrig und voller Narben, silberne Strähnen durchzogen ihr Haar. Nur ihre Augen waren jung, leuchtend blau, offen, klar und freundlich – und sie verrieten Intelligenz.

Micah war ebenso alt, aber mit ihm waren die Jahre gnädiger umgegangen. Sein volles Haar war von einem warmen Braun, und von den tiefliegenden blauen Augen ausgehende Falten vereinigten sich mit denen in den Mundwinkeln, so dass er ständig zu lächeln schien.

Brendan kam aus dem Turm und half den beiden schweigend beim Abladen.

Mary hob ein kleines Fass vom Karren, klemmte es sich unter den Arm und stützte es auf ihrer Hüfte ab.

»Das nehme ich«, sagte Brendan.

»Unsinn«, widersprach sie. »Für Euch sind noch schwerere Dinge da. Lasst mich doch helfen.«

Er grinste sie an, und Mary fragte sich unwillkürlich, ob sein Bruder wohl jemals so freundlich gewesen war.

»Dürfen wir denn nun doch bleiben?«

Er nickte.

»Und er wird nicht mehr auf uns schießen?«

»Ihr müsst Hamish nicht fürchten, Mary. Er wirkt viel gefährlicher, als er ist.«

Sie lächelte amüsiert. »Ich fürchte ihn nicht.«

Stattdessen hatte sie das Gefühl, sich auf ein Abenteuer eingelassen zu haben. Wie töricht von ihr.

Sie legte das Fässchen auf den mittlerweile angewachsenen Stapel Kisten vor dem Eingang.

»Ich habe die Küche des Castles entdeckt«, berichtete sie.

»Ist sie noch benutzbar?«, fragte Brendan, der eine Kiste absetzte.

»Absolut – seht selbst.«

Mary ging voraus, die drei anderen folgten.

»Wunderschön«, meinte Hester kurz darauf, als sie die Gewölbedecke bewunderte. »Aber es ist gut, dass wir Geschirr mitgebracht haben.«

»Kennt Ihr die beiden schon lange?«, fragte Mary, als sie mit Brendan wieder zu dem Lastkarren hinausging.

»Erst seit einer Woche, aber sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Von meinem Bruder und seiner Frau. Wie Ihr.«

Mary lächelte. Sie erinnerte sich gut an Alisdair und Iseabal MacRae. Und sie erinnerte sich an die Beschreibung von Gilmuir, die ihr verstorbener Ehemann Gordon ihr gegeben hatte. Er hatte ein romantisches und dramatisches Bild von dem Ort gemalt und damit den Wunsch in ihr geweckt, sich das Castle anzusehen. Und nun schien er in gewisser Weise erfüllt, denn wenn auch nicht auf Gilmuir, so befand sie sich doch immerhin auf einer Highland-Feste.

Als Mary im Lauf der nächsten Stunde mit Hester auspackte, was sie zu viert mit vereinten Kräften vom Wagen geholt hatten, wurde die Umsicht deutlich, mit der Brendan ihn hatte beladen lassen. Er hatte für Kerzen gesorgt, Löffel, Töpfe, Pfannen, große Teigschüsseln, alles, was für einen Haushalt gebraucht wurde. Offenbar erwartete er, dass Hamish lange auf Castle Gloom bleiben würde.

Hester spähte in den Rauchfang hinauf und meldete, dass sich keine Vogelnester und kein Schmutz darin befänden.

»Ich frage mich, wo Euer Bruder seine Mahlzeiten zubereitet hat«, wandte sie sich an Brendan, als der mit Micah ein schweres Alefass in die angrenzende Speisekammer schaffte.

»Wie ich Hamish kenne, hat er ein Kohlenbecken und einen Wok. Er ist ein Liebhaber der orientalischen Küche, und gelegentlich kocht er fernöstlich.«

Hester schien interessiert, doch als sie bemerkte, dass kein Feuerholz da war, vergaß sie nachzuhaken und schickte die beiden Männer aus, einen der Bäume an der Straße zu fällen.

»Es ist erstaunlich, wie gut erhalten das alles ist.« Hester stemmte die Arme in die Seite und blickte um sich. »Von weitem sieht das Castle aus wie eine Ruine. Seltsam, dass es leer steht.«

»Ich frage mich, warum die Leute weggezogen sind.« Im Stillen fragte Mary sich, warum ein Mann wie Hamish MacRae sich das verlassene Gemäuer zur Heimstatt erkoren hatte.

Nach dem Essen begannen sie, Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Da der Turm den gastlichsten Eindruck von Castle Gloom machte, statteten Brendan und Micah zwei der Zimmer mit Pritschen aus. Zu Marys Überraschung beschlossen Micah und Hester jedoch, im Haupthaus zu nächtigen.

»Wir werden es uns in einer Ecke der Großen Halle gemütlich machen«, sagte Hester mit einem Blick zu ihrem Ehemann, der Mary neidisch werden ließ. Es war ein Blick voller Zuneigung – und mit der Andeutung eines Versprechens.

»Hamish bewohnt das oberste Geschoss«, sagte Brendan, als sie die Küche verließen. »Wo wollt Ihr Euch heimisch machen, Mary? Im ersten oder zweiten?«

»Im ersten«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Je weniger Stufen sie zu erklimmen hätte, umso besser.

Er nickte.

»Verlässt er den Turm nie?« Sie schaute nach oben. Er hatte sich noch kein einziges Mal sehen lassen. Brendan war mit einem Tablett zu ihm hinaufgegangen und ohne einen Kommentar zurückgekehrt.

»Hamish fühlt sich nicht wohl in Gesellschaft von Fremden«, erklärte er ihr.

»War es schon immer so?«

Brendan schwieg. Zuweilen konnte er ausgesprochen irritierend sein. Manchmal erzählte er mehr, als man wissen wollte, und dann wieder nicht genug.

»Wenn Ihr möchtet, dass ich ihm helfe, muss ich schon etwas über ihn erfahren.«

»Wisst Ihr etwas über Indien?«

Sie schüttelte den Kopf. »Lediglich, wo es liegt – und das auch nur ungefähr.«

»Seit dreißig Jahren stößt die East India Company immer wieder ins Landesinnere vor, aber nicht immer wird sie mit offenen Armen empfangen.« Seine Miene verdüsterte sich. »Viele würden alles dafür geben, wenn die Engländer aus Indien abzögen, darunter auch die Atavasi, die Ureinwohner. Seit fünf Jahren rebellieren sie gegen das Eindringen und die Vorherrschaft der Briten. Sie kaperten Hamishs Schiff und töteten seine Mannschaft. Er war ein Jahr ihr Gefangener.«

»Ein Jahr?« Mary versagte fast die Stimme.

Sie hatten den Turm erreicht, und Brendan blieb vor dem Eingang stehen. »Vor ein paar Monaten gelang es ihm und zwei anderen Männer – von den Atavasi gefangen genommene Engländer –, ihre Wächter zu überwältigen und über Land zu fliehen. Hamish war der Einzige, der das Ziel erreichte.«