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Nocke
Was können wir hoffen?

Franz-Josef Nocke

Was können wir hoffen?

Zukunftsperspektiven
im Wandel

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2007 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de
Umschlagbild: Heribert A. Huneke, Duisburg,
mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Foto: Winfried Dollhausen, Duisburg
Lektorat und Satz: Michael Lauble, Billerbeck
Druck und Bindung: Friedrich Pustet KG, Regensburg
ISBN 978-3-429-02931-9

Inhalt

Vorwort

1. Wandlungen der Hoffnung
Einige Stichworte zur Einführung

Kontraste – In den Himmel kommen – Reich Gottes – Fortschritt – Erschrecken – Traum von einer besseren Welt – Bewahrung – Angst – Konzentration auf die Gegenwart – Sehnsucht – Zu diesem Buch

2. Nicht Fahrpläne, sondern Perspektiven
Die Bildersprache der Hoffnung

„Die letzten Dinge“ – Bildersprache – Die neue Stadt – „In deinen Toren werd ich stehen…“

3. „Mit uns zieht die neue Zeit“
Zum Fortschrittsdenken

Eine faszinierende Idee – „Fin de siècle“ – Reformpädagogik und Jugendbewegung – Futurismus – Düstere Perspektiven – Konflikte – Anhaltende Faszination – Teilhard de Chardin – Das Zweite Vati-kanische Konzil – Eine Enzyklika für den Fortschritt – Erschütterungen – Versuche, die Zukunft zu retten – Hoffnung auch ohne Fortschrittsoptimismus – Zwischenbilanz

4. „I have a dream“
Träume, Visionen, Utopien

Keine Visionen mehr? – Schwierige begriffliche Verständigung – Die Insel Utopia – Tagträume, Utopien – „I have a dream“ – „Die Träume werden wahr“ – Utopie und Eschatologie – Hoffnung, die mit den Zielen wächst – Was haben wir gelernt?

5. „Mehr als alles!“
Von der Sehnsucht

Konjunktur eines Motivs – Sehnsucht, was ist das? – Romantik und Jugendbewegung – Hunger, Durst, Heimweh, Liebesschmerz – Sehnsuchtsmotive in der Bibel – Eine Erfahrung Gottes – Eine Spur zu Gott – Sehnsucht und Hoffnung

6. „Und wenn morgen die Welt unterginge“
Zur Apokalyptik

Schlagwort „Apokalypse“ – „Flammend geht die Welt zu Grunde“ – Erinnerung an einen Lernprozess – Biblische Apokalyptik –Hoffnung im Horizont globaler Bedrohung

7. Hoffnung auf den kommenden Messias
Zum Gespräch mit jüdischer Theologie

Impulse aus jüdischer Theologie – Christliche Theologie im Angesicht jüdischer Gesprächspartner – Blick in die Theologiegeschichte – Neuansätze in der jüngeren Theologie – Christliche Hoffnung auf den kommenden Messias – Eine Frage zum Schluss

8. Wenn die Sterne verlöschen
Zum Gespräch mit der Astrophysik

Naturwissenschaftliche Eschatologie? – Biblische Zukunftsbilder – Zur Aufgabe und Methode von Theologie – Neuere Perspektiven – Was kann „Vollendung der Welt“ bedeuten?

9. Wiederholte Erdenleben?
Zum Gespräch über die Reinkarnation

Fragestellung und Interesse – Zur Begrifflichkeit – Worum geht es also? – Positionen in der gegenwärtigen Diskussion – Argumente – Systematische Reflexion – Der Dialog muss erst geführt werden

10. Loslassen
Zur Theologie des Sterbens

Dürftige Theologie der Neuscholastik – Akzente der neueren Theologie – Die „Kunst des Sterbens“ – Begleitung von Sterbenden

11. „Vorweggenommen in ein Haus aus Licht“
Auferstehungserfahrungen mitten im Leben

„Mitten am Tage“ – „Aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ – Worauf hoffen wir eigentlich? Aufleuchten künftiger Vollendung

12. Was bringt’s?
Wie die Hoffnung das Leben verändern könnte

Was heißt hier „Hoffnung“? – Keine sichere Verlaufsprognose, aber eine Zukunftsperspektive – Keine unfehlbaren Handlungskonzepte, aber Handlungsorientierungen – Entlastung vom Erfolgszwang – Mut zu kleinen Schritten – Lachen können, ohne Angst und Trauer zu verdrängen – Weinen können ohne Angst, in der Trauer zu versinken – Durch den düsteren Horizont hindurchsehen – Die Gegenwart genießen können als Rast auf dem Wege – Woher solche Hoffnung nehmen?

Abkürzungen

Vorwort

Was erwarteten meine Eltern von der Zukunft? Was ist aus den Träumen und Plänen meiner Jugendzeit geworden? Wohin gehen die Zukunftserwartungen der heute Jüngeren? Im Laufe der sieben Jahrzehnte, die ich nun, natürlich aus eingeschränktem Blickwinkel, überschaue, haben sich die Perspektiven offensichtlich stark gewandelt. Wandelte sich zu gleicher Zeit auch jene Grundhaltung christlichen Glaubens, die sich auf die Zukunft richtet: wandelte sich die Hoffnung? Sind hier Wechselwirkungen erkennbar, Korrelationen zwischen säkularem Mentalitätswandel und theologischem Verständnis?

Seit Beginn meiner Lehrtätigkeit habe ich Studien zur Theologie der Hoffnung betrieben. Die systematischen Entwürfe, die daraus entstanden, vor allem meine Monographien „Liebe, Tod und Auferstehung“ und „Eschatologie“ sowie mein Beitrag in dem von Theodor Schneider herausgegebenen „Handbuch der Dogmatik“ sind für mich nach wie vor gültig. Mitten in dieser systematischen Arbeit haben mich zunehmend die eben genannten Wechselwirkungen beschäftigt. Auf den folgenden Seiten lege ich einige Zwischenergebnisse vor: zwölf Beiträge, die um das Thema „Zukunftsperspektiven“ kreisen. Epochale Stimmungen und Einsichten sollen mit der zeitgenössischen theologischen Diskussion vermittelt werden. Vielleicht wird darin ein kleines Stück Theologiegeschichte im Kontext profaner Geschichte sichtbar.

Die Beiträge entstanden in unterschiedlichen Gesprächszusammenhängen: von theologischen und interdisziplinären Seminaren und Symposien sowie interreligiösen Dialogen bis zu Gesprächen über das geistliche Leben. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden das auch an Unterschieden im Sprachstil bemerken. Weil das Buch einen Einblick in Denkbewegungen der Theologie geben soll, können fachtheologische Reflexionen nicht ganz ausgespart werden. Weil es aber auch gut lesbar sein soll, versuche ich, die Darstellung übersichtlich zu halten. Um sichtbar zu machen, dass es mir nicht nur um subjektive Eindrücke, sondern um die Wahrnehmung epochaler Strömungen und Diskussionen geht, werde ich öfters auch zeitgenössische Dokumente zur Sprache bringen.

Manche werden auch das Konzept erkennen, das hinter dem Aufbau steckt. Dennoch braucht man das Buch nicht als ganzes von vorn nach hinten zu lesen. Jedes Kapitel ist auch in sich verstehbar. Auf inhaltliche Berührungen mache ich hin und wieder durch Querverweise aufmerksam.

Viele haben mit mir Material gesammelt, mir geholfen, Texte zu verstehen, mit mir über die Hoffnung nachgedacht und mich sanft zu Präzisierungen gezwungen. In diesem Sinne danke ich besonders meinen Kolleginnen Clemens Mendonca und Margret Peek-Horn, den Kollegen Claus Bussmann, Francis D’Sa und Adam Weyer, den ehemaligen Studierenden und inzwischen längst selbst Lehrenden Hans-Jörg Leuuw, Michaela Schmitz und Martin Seidensticker und nicht zuletzt den Freundinnen und Freunden Lotte Bock, Johannes und Margret Eulering sowie Hans und Ursel Wagner. Michael Lauble, dem Lektor, sei gedankt für die Motivation zur Veröffentlichung und für seine lange Geduld, bis es so weit war.

Franz-Josef Nocke

1

Wandlungen der Hoffnung

Einige Stichworte zur Einführung

Vieles ist im Wandel. Auch die Hoffnung. In den letzten Generationen haben sich nicht nur die in der Gesellschaft vorherrschenden Zukunftserwartungen mehrfach verschoben; in Theologie und Spiritualität hat auch der Begriff der Hoffnung mehrmals andere Färbungen angenommen. Offensichtlich hat die Kirche im Lauf des 20. Jahrhunderts gelernt, sich auf das Gespräch mit den Zeitgenossen und -genossinnen einzulassen. Mit den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ prägten zunehmend auch „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“.1 Davon soll in diesem Buch die Rede sein: vom Wandel der Erwartungen und Hoffnungen und vom Wechselspiel zwischen epochalen Erfahrungen und christlichen Glaubensvorstellungen. Ich versuche zunächst eine kleine stichwortartige Skizze, rekonstruiert aus meinen persönlichen Erinnerungen.

Kontraste

„WIR SCHAFFEN DEN NEUEN MENSCHEN“, stand in metergroßen Buchstaben an einem unserer Hochschulgebäude. Studierende hatten es Anfang der siebziger Jahre auf die Waschbetonwand gesprayt. Kaum noch entfernbar, als sei es ein Motto für die Ewigkeit. Kritische Dauerreflexion sollte zu besseren Strukturen der Gesellschaft und dadurch zu einem neuen, besseren Menschen führen. Viele, die später „Achtundsechziger“ genannt wurden, lebten von dieser Hoffnung.

Der Spruch war schon von einigen vor die Wand gepflanzten Sträuchern halb verdeckt, als ich in der Mensa mit einem Studenten über seine persönliche Zukunft sprach. Er hatte das Erste Staatsexamen hinter sich, trug aber Bedenken, den Vorbereitungsdienst für das Lehramt anzutreten: „Nicht für diese Schule!“ Ich wollte ihn überreden, wenigstens noch das Zweite Staatsexamen zu machen, dann habe er doch bessere Berufschancen. „Wofür?“, fragte er, „ich bringe dreimal in der Woche Waren herum, davon kann ich leben.“ Ich fragte ihn, ob er in dreißig Jahren immer noch als Gelegenheitschauffeur arbeiten wolle. Darauf er: „In dreißig Jahren? Meinen Sie denn im Ernst, dass unsere Erde dann noch existiert?“ Und er sprach von Rüstungswettlauf, Luftverschmutzung und tödlichen Verteilungskämpfen zwischen reichen und armen Ländern.

Welch ein Kontrast binnen weniger Jahre! War es im Raum der Kirche anders?

In den Himmel kommen

„Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – das war in der Zeit meiner Kindheit das bekannteste Kindergebet. Die Akzentuierung war nicht zufällig. Der Einheitskatechismus von 1925 begann mit der Frage: „Wozu sind wir auf Erden?“ Die Antwort lautete: „Wir sind dazu auf Erden, dass wir den Willen Gottes tun und dadurch in den Himmel kommen.“ In diesem Sinne definierte die zeitgenössische neuscholastische Theologie auch die Hoffnung, nämlich als „Tugend, durch welche wir die übernatürlichen Güter von Gott unter eigener Mitwirkung zu erlangen vertrauen“.2 Mit den „übernatürlichen Gütern“ war vor allem die ewige Seligkeit nach dem Tod gemeint.

Ich sah damals keinen Grund, solche Definitionen zu kritisieren; aber meine persönliche Hoffnung richtete sich eher auf „natürliche Güter“: darauf, dass der Krieg zu Ende ginge, dass unser Vater aus Russland heimkehre, dass wir wieder in unsere Heimat ziehen könnten, später: dass man ohne Bezugscheine einkaufen und wir ohne Reisemarken auf Fahrt gehen könnten, dass eine Freundschaft wachsen würde, und schließlich, als sich mein Blick weitete: dass es gelingen möchte, aus dem zerstörten Deutschland ein demokratisches, friedliebendes, nach christlichen Grundsätzen aufgebautes Land zu machen. Mit anderen Worten: Meine Religionsunterrichts-Hoffnung war zunächst weit entfernt von meiner Lebens-Hoffnung. Die beiden Hoffnungen gerieten nicht unbedingt in Konkurrenz zueinander; aber sie schienen auch wenig miteinander zu tun zu haben.

Ich denke, so wird es vielen Christen und Christinnen meiner Generation gegangen sein: Was man die göttliche Tugend der Hoffnung nannte, hatte weniger mit der Lebensperspektive oder der politischen Zukunft zu tun als mit dem, was nach diesem Leben und nach dem Ende der Welt käme. Auf die Gestaltung des irdischen Lebens hatte die eschatologische Hoffnung nur insofern Einfluss, als dieses Leben als Zeit der moralischen Bewährung galt, welche im Endgericht heilsentscheidend sein würde.

Reich Gottes

Das wurde für mich anders, als ich mit der Spiritualität von Jugendbewegung und Liturgischer Bewegung in Berührung kam. Wir lernten „Natur“ und „Übernatur“ enger zu verbinden, theoretisch und praktisch. Wir verbanden die Erfahrung von Freundschaft in unserer Gruppe mit der Erfahrung, dass Christus in unsere Runde kommt. Wir sprachen vom „Jugendreich der Freude“ (das klingt heute arg romantisch und weltfremd, aber wir meinten damit eine jetzt und hier zu erlebende Wirklichkeit) und vom „Gottesreich“ – und die Grenzen zwischen beidem wurden fließend. Nicht, dass ich „fromm“ würde, stand im Mittelpunkt, sondern dass wir dem Reich Gottes dienten.

Zwischen dem Kindergebet „dass ich in den Himmel komm’ “ und der Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ entdeckten wir, freilich erst nach und nach, vier gravierende Unterschiede: (1) Dort betet ein Einzelner, hier betet eine Gruppe. (2) Dort betet der Einzelne um sein individuelles Heil, hier betet die Gruppe um das Gelingen der Sache Gottes. (3) Dort geht die Bewegungsrichtung von der Erde weg in einen fernen Himmel, hier verläuft sie umgekehrt: Gottes Reich soll zu uns kommen. (Das wurde noch deutlicher durch die damals gültige Übersetzung „Zu uns komme dein Reich“.) (4) „Himmel“ ließ sich als eine rein zukünftige und jenseitige Wirklichkeit denken, „Reich Gottes“ dagegen meint eine Zukunft, die schon begonnen hat, und zwar auf dieser Erde. Deshalb führte die Entdeckung, dass nicht das genannte Kindergebet, sondern das Vaterunser das grundlegend christliche Gebet war, zu einer Hoffnung, die stärker geerdet und stärker sozial orientiert war.

Das Reich Gottes sollte wachsen. Wir, die wir als Kinder noch Nazi-Herrschaft, Krieg, Verfolgung und Zerstörung erlebt hatten und nun den Aufbau der Städte, wachsenden Wohlstand, ein neues Ansehen der Kirche und neue Wertungen im schulischen Unterricht wahrnahmen, hatten den Eindruck, dass sich in diesem Wandel das Wachstum des Gottesreiches ereignen könne. Und es legte sich die Hoffnung nahe, dass es weiter aufwärts gehen würde.

Fortschritt

Wir sangen in unserer katholischen Jugendgruppe: „Wann wir schreiten Seit an Seit…, fühlen wir, es muss gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit.“ Es war uns fast selbstverständlich, dass „die neue Zeit“ eine bessere Zeit sein würde, es schien uns auch nicht zu hoch gegriffen, dass diese bessere Zeit „mit uns“ kommen, uns „gelingen“ werde. Als wir erfuhren, dass dieses aus der Arbeiterbewegung stammende (und ursprünglich nicht ausdrücklich christliche) Lied erst nachträglich, nach seiner Rezeption in der kirchlichen Jugend, mit der Zeile „Christus Herr der neuen Zeit“ „getauft“ worden war, fanden wir das ganz logisch. Natur und Übernatur gehörten ja zusammen. Und so verband sich die Hoffnung auf Gottes Reich gern mit dem Glauben an den sichtbaren und spürbaren Fortschritt.

Das Wort „Fortschritt“ galt zwar im traditionellen Katholizismus als verdächtig. Aber dann kam uns der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin mit seiner Vision vom universalen Fortschritt zu Hilfe: In der biologischen Evolution, im technischen und politischen Fortschritt sah er den Schöpfer Gott und den Weltvollender Christus am Werk. Teilhards Werke, deren Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten kirchenamtlich verboten war, erschienen mit seinem Tod 1955 und gingen sofort wie ein Lauffeuer durch die katholische Welt. Sie wurden von vielen, die nach einer weltbejahenden Gestalt des Glaubens suchten, mit Heißhunger studiert und angeeignet. Einen Widerhall dessen konnte man in der Konzilskonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ (1965) erkennen, wo von der „Gestaltung dieser Erde“ die Rede ist, „auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrisshafte Vorstellung von der künftigen Welt geben“ könne.3

Erschrecken

Diese optimistische Sicht wurde in Frage gestellt durch ein Erschrecken, das allerdings erst in einem sehr langsamen Prozess das öffentliche Bewusstsein erreichte: das Erschrecken über die bis dahin unvorstellbaren Ausmaße, in denen die Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes in Deutschland zwischen 1933 und 1945 betrieben worden war. Für viele der Opfer war ihr Geschichtsbild zerbrochen, nicht wenige rangen um ihren Glauben an einen mächtigen Gott. „Nie werde ich diese Nacht vergessen“, schrieb Elie Wiesel, der als Jugendlicher nach Auschwitz kam, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat… Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen.“4 Hans Jonas, dessen Mutter in Auschwitz umkam, ging die alten Hoffnungsmotive Israels durch, die einmal gegenüber geschichtlichem Elend Lebensperspektiven geboten hatten, das Exodus-Motiv von Gottes starkem Arm, das prophetische Motiv von Schuld und Heimsuchung, das makkabäische Motiv von Zeugenschaft und Martyrium, aber: „Nichts von all dem verfängt mehr bei dem Geschehen, das den Namen ‚Auschwitz‘ trägt.“5

Es brauchte aber Jahrzehnte, ja mehrere Generationen, bis dieses Erschrecken in größeren Teilen der deutschen Bevölkerung und auch der christlichen Kirchen6 und ihrer Theologie7 ankam. Wo es aber ankam, wuchsen Fragen, nicht nur nach dem, was im Menschen steckt, sondern auch nach dem Lauf der Geschichte und nach der Möglichkeit einer innergeschichtlichen Hoffnung. Wenn es eine Geschichte eines solchen sich immer mehr steigernden und fast selbstverständlich rezipierten Hasses geben konnte, und wenn die gewachsenen technischen und logistischen Möglichkeiten in den Dienst eines totalen Vernichtungswillens gestellt werden konnten, wie kann man dann von Fortschritt reden?

Traum von einer besseren Welt

In den sechziger Jahren änderte sich der Ton. Die Hoffnung löste sich vom Fortschrittsoptimismus und formulierte sich stärker als Protest und als Motiv zu veränderndem Handeln. Das große Vorbild wurde die nordamerikanische Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King. Sein Traum von einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Rechte haben werden, inspirierte nicht nur die nordamerikanische Bürgerrechtsbewegung, sondern auch die Aufbruchsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre in Europa. Wir sangen: „We shall overcome… we’ll walk hand in hand“, und: „Andere Lieder wollen wir singen, feiern das Fest der Befreiung. Der Herr führt uns in neues Land, die Träume werden wahr.“ Das Wort „Traum“ sprach vom Blick in eine verheißene Zukunft, dieser Blick mobilisierte die Hoffnung, und die Hoffnung bewegte zu veränderndem Handeln.

Wenige Jahre später entstand in Lateinamerika eine ähnliche Bewegung. Die Option für die Armen führte zu einer befreienden Pastoral, und auch hier wurden die biblischen Verheißungen zu Hoffnungsbildern, die dem politischen Handeln eine Richtung zeigten. In einzelnen Schritten der Solidarisierung, im Einstehen füreinander, in der neuen Praxis einer Basisgemeinde erkannte man den Beginn einer neuen Wirklichkeit. So wurde der Glaube konkret. Das faszinierte auch europäische Christen und Christinnen. Während sie den Glauben in ihrer Heimatkirche oft als weltfern und wirkungslos erfuhren, suchten sie von lateinamerikanischen Gemeinden zu lernen, in welchen der Glaube lebendig ist, die Hoffnung konkrete Gesichter hat und christliches Handeln die Gesellschaft verändert.

Diese Gestalt der Hoffnung hat viele von uns bewegt und bis heute geprägt. Für mehrere Generationen von Studentinnen und Studenten wurde sie zum Zentrum ihres Glaubens und Christseins. Aber nicht nur für sie. „Hoffnung“ schien nun das große, motivierende und inspirierende Grundwort schlechthin geworden zu sein. Das Glaubensbekenntnis der Synode der deutschen Bistümer in Würzburg (1972–1975) trägt nicht zufällig den Titel „Unsere Hoffnung“. Der Freiburger Katholikentag 1978 stand unter dem Leitwort: „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“, und der Evangelische Kirchentag in Nürnberg 1979 hatte das Motto „Zur Hoffnung berufen“. Interessant, dass genau mit diesem Katholikentag und mit diesem Evangelischen Kirchentag die Teilnehmerzahlen sprunghaft anstiegen, nicht zuletzt durch die überraschend große Zahl von Jugendlichen (was bekanntlich dem Freiburger Treffen die Bezeichnung „Turnschuh-Katholikentag“ eintrug).

Bewahrung

Aber dann nahmen Zukunftserwartung und Hoffnung eine nochmals andere Richtung. Am Parkhaus unserer Uni entdeckte ich neulich einen Aufkleber, auf welchem die bekannte 11. These von Karl Marx über Ludwig Feuerbach stand: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Aber das letzte Wort war durchgestrichen und durch das Wort „bewahren“ ersetzt worden. Dieses kleine Plakat machte mir blitzartig einen weiteren Wechsel in der Blickrichtung bewusst. Unter dem Eindruck wachsender Bedrohungen (Gefahr eines Atomkrieges, ökologischer Zusammenbruch) und sozialer Verschlechterungen (Arm-Reich-Gefälle) wurde neben dem Willen zur Veränderung die Hoffnung auf Bewahrung stärker.

Wieder färbte eine gesamtgesellschaftliche Stimmung auch das Glaubensbewusstsein. Die Anliegen der Friedensbewegung, der Eine-Welt-Bewegung und der Öko-Bewegung wurden aufgenommen von dem zunächst in der evangelischen Kirche entstandenen und später ökumenisch getragenen Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. In diesem Prozess sehe ich eine aktuelle Konkretion weltbejahender christlicher Hoffnung; aber an dem Wort „Bewahrung“ fällt mir auf, wie sehr sich diese Hoffnung nun am Abgrund einer Gefährdung weiß.

Angst

In den neunziger Jahren wuchs die Angst. Die seit der Entdeckung der „Grenzen des Wachstums“ (1972) gestiegene Sorge um die Zukunft schlug nun in manchen Kreisen in eine Art Weltuntergangsstimmung um. Dabei spielten gewiss das nahende kalendarische Ende des Jahrtausends und eine publizistische Aufheizung der Stimmung eine Rolle. Bezeichnend ist z. B. die Aufmachung des ZEIT-Magazins vom Jahresende 1995: „Keine Frage, die Apokalypse kommt. Vielleicht schon nächste Woche. Doch wie werden wir zur Hölle fahren?“ Aber die Angst saß doch tiefer. Etwa zu der gleichen Zeit war eine Tendenz in der Geschichtsphilosophie entstanden, welche den nahen Weltuntergang wie selbstverständlich voraussetzte und ihre Aufgabe nur noch darin sah, auf den Untergang einzustimmen.8 Die Wortgruppe „Apokalyptik/Apokalypse/apokalyptisch“ bekam Hochkonjunktur, weit über die Grenzen von Kirche und Theologie hinaus, und belebte viele Glaubensgespräche und theologische Diskussionen.9

Konzentration auf die Gegenwart

Der relativ rasche Wechsel von den Zukunftsträumen und der Lust an der Zukunftsplanung einerseits zur Zukunftssorge bis hin zur apokalyptischen Angst andererseits scheint zu einer gewissen Ermüdung des Zukunftsdenkens geführt zu haben. Als ich eine Studentin nach ihrer spontanen Einstellung zum Thema „Zukunft“ fragte, antwortete sie mir, Zukunft sei für sie eigentlich kein Thema, sie habe keine großen Pläne oder Hoffnungen, „noch nicht einmal Angst“. „Ich lebe jetzt“, sagte sie.

Auch dieser Wandel wurde in der Öffentlichkeit sichtbar. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde für die Zigarettenmarke „West“ mit dem Slogan geworben: „The Taste of Now“. Auf einem der riesigen Plakate sah man zwei junge Frauen in einem öligen Teich. Obwohl die Brühe ihnen schon fast bis zum Hals stand, genossen sie, alles andere vergessend, ruhig ihre Zigarette – und demonstrierten damit den „Geschmack an der Gegenwart“.

Als später der Werbespruch abgewandelt wurde in „The Power of Now“, fiel mir der Song der Olympischen Spiele in Atlanta (1996) ein: „The Power of the Dream“. Mit diesem Gesang hatte man in der Martin-Luther-King-Stadt Atlanta an die große Vision von der Überwindung der Rassenschranken erinnert, mit Bildern von Sportlerinnen und Sportlern aus allen Erdteilen belegte man stolz die Wirkkraft von Martin Luther Kings berühmter Rede „I have a dream“.10 Ich gehe davon aus, dass in beiden Fällen (bei der Zigarettenreklame und bei der Olympia-Werbung) jeweils ein cleveres Public-Relations-Unternehmen im Hintergrund stand, das den Nerv einer Zeitströmung zu treffen wusste. Und genau deshalb finde ich diese kurzen Formulierungen so aufschlussreich: Im Wechsel von „The Power of the Dream“ zu „The Power of Now“ lässt sich ein radikaler Mentalitätswechsel veranschaulichen.

Dazu gibt es eine Parallele in neueren geistlichen Liedern, Texten und Meditationen. Einen ähnlichen Stellenwert, wie ihn vor drei Jahrzehnten Aufbruchs- und Befreiungsgesänge hatten, nehmen heute Einstimmungen zur Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick und auf die eigene Mitte ein, wie etwa der rasch beliebt gewordene Taizé-Gesang „Bei Gott bin ich geborgen, still, wie ein Kind“11 oder ein Text von Andreas Gryphius (1616–1664), der mir in letzter Zeit auffallend häufig begegnete: „Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein…“.12

In vielen geistlichen Übungen heute verbindet sich mit der Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick die Konzentration auf die eigene Mitte. Vielleicht kann man sagen: Während für die Spiritualität der sechziger und siebziger Jahre das Politische Nachtgebet mit seinen Impulsen zu konkreten gesellschaftlichen Veränderungen ein epochales Charakteristikum war, sind heute etwa die „Reise nach innen“ zur Findung der eigenen Mitte und das Stillwerden zur Wahrnehmung der Gegenwart epochaltypische Frömmigkeitsformen.

Dies ist natürlich eine extrem holzschnittartig vereinfachende Darstellung. Ich schreibe sie nicht auf, um zu werten oder eine Epoche gegen die andere auszuspielen, sondern um die möglichen Konturen eines (in Wirklichkeit viel differenzierteren) Wandels zu erkennen, und um meine Frage zu verdeutlichen: Was wird aus unserer Hoffnung? Gehört zur Hoffnung nicht das Interesse an der Zukunft? Gehört zu ihr nicht auch der Wille, die kommende Wirklichkeit mitzugestalten?

Sehnsucht

Vielleicht zeigt sich aber noch eine andere, relativ neue Brücke zur Hoffnung: die Sehnsucht. Seit einigen Jahren begegnet mir dieses Wort häufiger, und zwar wiederum ebenso in profanen wie in religiösen Zusammenhängen. Plötzlich stand es in den Feuilletons, der Computer des Buchhändlers listet viele Hunderte von Titeln mit der Vokabel „Sehnsucht“ auf, und die Werbesprache verspricht die Erfüllung aller Sehnsüchte.

Hat die Sehnsucht etwas gemeinsam mit der Hoffnung? Sie träumt von einer größeren, schöneren Wirklichkeit, sie streckt sich danach aus, sie überschreitet das Gegenwärtige und Vorhandene. Sie kann das Herz öffnen, sie kann aus der Selbstgenügsamkeit herausführen und sensibilisieren für das Geheimnis Gottes und für seine absolute Zukunft.

Aber gibt es nicht auch große Unterschiede? Ist die Hoffnung nicht aktiver? Spielen in ihr nicht das Wollen und das Handeln eine größere Rolle? Könnte die neuerliche Aktualität des Wortes „Sehnsucht“ ein Zeichen dafür sein, dass wir gegenwärtig weniger entschlossen sind, weniger zielgerichtet handeln, weniger motiviert, Zukunft zu gestalten, mehr mit uns selbst, mit unserer Befindlichkeit und mit unserem Schmerz beschäftigt, als etwa die Generation derer, die sich von Martin Luther King und von der lateinamerikanischen Hoffnungsbewegung inspirieren ließen?

Oder ist, bei aller begrifflichen Unterscheidung, in der lebensgeschichtlichen Praxis mit gleitenden Übergängen zu rechnen? Um es mit einem Bild zu sagen: Könnte die Sehnsucht mit ihren Träumen den selbstgenügsam Schlafenden unruhig machen, ihn aufwecken, ihn verlocken, aufzustehen und darauf zu setzen, dass die Träume realisierbar sind, sodass er sich nun konkrete Ziele setzt und sich aufmacht, sie zu erreichen? Könnte die Sehnsucht der Hoffnung eine neue Tür öffnen? Könnte es sogar sein, dass die Sehnsucht dann nicht etwa durch die Hoffnung überholt oder abgelöst wird, sondern dass sie den hoffenden Menschen weiter begleitet und, als Hunger des endlichen Wesens nach Unendlichkeit, daran erinnert, dass alle konkreten innerweltlichen Hoffnungsziele immer nur vorläufig, nie schon die letzte Erfüllung sein können?

Zu diesem Buch

Die Stichworte „Fortschritt“, „Traum“, „Apokalyptik“ und „Sehnsucht“ wollen wir uns in den folgenden Kapiteln etwas genauer anschauen. Anschließend werden wir auf Fragen und Denkimpulse eingehen, die aus dem Dialog mit jüdischer Theologie und mit der Naturwissenschaft sowie aus dem Gespräch über die Reinkarnationsidee kommen und mit denen sich heute eine christliche Theologie der Hoffnung zu beschäftigen hat. Und schließlich werden wir fragen, was die Hoffnung für das Verständnis des Sterbens bedeuten und wie sie grundsätzlich die Existenz der Hoffenden prägen könnte. Doch zuvor müssen wir uns mit der der Hoffnung eigentümlichen Sprache befassen.

1   GS 1.

2   Franz Kaulen, Hoffnung, in: Wetzer-Welte, Bd. 6, 1889, 148–151, Zit.: 148.

3   GS 39.

4   Elie Wiesel, Die Nacht, Freiburg 51996, 56. Die französische Originalausgabe erschien in Paris 1958.

5   Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt am Main 1987, 12.

6   Vgl. Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–1985, hrsg. von Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix, Paderborn und München 1988, und den Fortsetzungsband: Dokumente von 1985–2000, hrsg. von Hans Hermann Henrix und Wolfgang Kraus, Paderborn und Gütersloh 2001.

7   Vgl. z. B. Johann Baptist Metz: „Fragt euch, wenn euch da eine neue Theologie begegnet, fragt euch: Ist das eine Theologie, die man vor und nach Auschwitz gleich treiben könnte? Und wenn ja, dann lasst sie, mit welchem Namen sie auch immer verbunden sein mag, dann lasst sie liegen!“, hier zit. aus der Podiumsdiskussion: Glaube und Widerstand nach Auschwitz, in: Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, hrsg. von Günter B. Ginzel, Heidelberg 1980, 170–202, Zitat 175 f.

8   Vgl. z. B. Olaf Briese, Einstimmung auf den Untergang. Zum Stellenwert „kupierter“ Apokalypsen im gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 20 (1995) 145 bis 156.

9   Vgl. z. B. Michael N. Ebertz und Reinhold Zwick (Hrsg.), Jüngste Tage. Die Gegenwart der Apokalyptik, Freiburg 1999.

10  Vgl. dazu unten das 4. Kapitel.

11  Mon âme se repose en paix sur Dieu seul, in: Gesänge aus Taizé. Neuausgabe Taizé 2000, Nr. 32. Der französische Originaltext wirkt allerdings weniger infantil als die deutsche Nachdichtung.

12  Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit (1663), hier zitiert aus: Das große deutsche Gedichtbuch, neu hrsg. von Karl Otto Conrady, Darmstadt 41995, 41.

2

Nicht Fahrpläne, sondern Perspektiven

Die Bildersprache der Hoffnung

„Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer“ – als Hans Magnus Enzensberger vor fünf Jahrzehnten diese Verse „Ins Lesebuch für die Oberstufe“1 schrieb, ging es ihm wohl kaum um eine allgemeine Reflexion über die Sprache, sondern eher um einen politischen Appell. Manche Zeitgenossen nahmen diesen Text aber wie ein literarisches Programm: Poesie, die Sprache der Bilder, sei nicht mehr brauchbar, gebraucht werde die harte Sprache genauer Informationen.

Wie ein direkter Widerspruch dazu klingen einige Sätze in dem Grundsatzdokument der Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer von 1975. In diesem Dokument, überschrieben „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit“, heißt es:

„Wir Christen hoffen auf den neuen Menschen, den neuen Himmel und die neue Erde in der Vollendung des Reiches Gottes. Wir können von diesem Reich Gottes nur in Bildern und Gleichnissen sprechen, so wie sie im Alten und Neuen Testament unserer Hoffnung, vor allem von Jesus selbst, erzählt und bezeugt sind. Diese Bilder und Gleichnisse vom großen Frieden der Menschen und der Natur im Angesichte Gottes, von der einen Mahlgemeinschaft der Liebe, von der Heimat und vom Vater, vom Reich der Freiheit, der Versöhnung und der Gerechtigkeit, von den abgewischten Tränen und vom Lachen der Kinder Gottes […], wir können sie nicht einfach ‚übersetzen’, wir können sie eigentlich nur schützen, ihnen treu bleiben und ihrer Auflösung in die geheimnisleere Sprache unserer Begriffe und Argumentationen widerstehen, die wohl zu unseren Bedürfnissen und von unseren Plänen, nicht aber zu unserer Sehnsucht und von unseren Hoffnungen spricht.“2

Hinter den zuspitzenden Formulierungen der letzten Zeilen steht eine Auseinandersetzung um die Genauigkeit der Sprache, den Wirklichkeitsgehalt des Glaubens und die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Bewegt sich der Glaube, wenn er zum Beispiel von der Versammlung der Völker auf dem Berg Sion, vom Kommen des Menschensohns auf den Wolken des Himmels, von der Auferstehung der Toten aus den Gräbern usw. redet, in einem überholten Weltbild? Spricht er die Sprache einer untergegangenen Vorstellungswelt? Wäre heute nicht eine genauere Sprache angebracht? In dieser Frage vollzog sich in der Theologie der letzten Jahrzehnte ein Wandel, den man als hermeneutischen Schlüssel zum Verstehen der neueren Eschatologie bezeichnen könnte.

„Die letzten Dinge“

Die neuscholastische Theologie des 19. Jahrhunderts, die bis um die Mitte des 20. Jahrhundert als die klassische katholische Schultheologie galt, wollte möglichst genau sein. Wenn sie in der Eschatologie von den „letzten Dingen“ sprach, klangen ihre Aussagen nicht wie dichterische Visionen, sondern wie ein sachlich distanzierter Bericht über bestimmte „Ereignisse“ in der Zukunft und über die nach diesen Ereignissen eintretenden „Zuständlichkeiten“.3 Lehrbücher der Eschatologie aus dieser Epoche lesen sich wie geographisch exakte Reiseführer in ein fremdes Land, und wie Fahrpläne, in denen die Stationen der Zukunft chronologisch genau verzeichnet sind. Man suchte physikalisch genau das Ende der Welt zu erklären, den „Weltbrand“, der als „Verbrennung der Erde und ihres Lufthimmels“ zu verstehen sei. Man machte sich Gedanken über den Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts (vor oder nach dem Weltbrand?), über seinen Ort (im Tale Josaphat?), über den Wortlaut der Urteilssprüche, über die Dauer der gesamten Gerichtsveranstaltung, über die biologische Beschaffenheit des Auferstehungsleibes usw.4

Die neuscholastischen Theologen beriefen sich auf die Bibel und die kirchliche Tradition; aber mit ihrem Drang zur Genauigkeit unterschieden sie sich doch sehr von den Kirchenvätern, welche mit den biblischen Bildern spielerisch allegorisierend umzugehen wussten. Im Hintergrund dürfte, wenn auch unbewusst, das in der späten Neuzeit dominierend gewordene Ideal der „exakten“ Naturwissenschaften gestanden haben, das zu einem gewissen Minderwertigkeitskomplex bei den Geisteswissenschaften und zu entsprechenden Kompensationsversuchen beitrug.

Bildersprache

Demgegenüber hat die neuere Theologie (wie auch andere geisteswissenschaftliche Disziplinen) die spezifische Aussagekraft von Metaphern, Symbolen und Bildern wiederentdeckt. Für die Eschatologie ist die Unterscheidung zwischen exakter Informationssprache und offener Bildersprache besonders wichtig.

Zunächst einmal wegen der Herkunft der Eschatologie. Karl Rahner betonte in seinen „Überlegungen zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen“ den Ursprung christlicher Zukunftserwartungen in den Erfahrungen der Gegenwart:

„Wir projizieren nicht von einer [etwa visionär geschauten] Zukunft etwas in die Gegenwart hinein, sondern wir projizieren unsere christliche Gegenwart in der Erfahrung des Menschen mit sich, mit Gott […] und in Christus auf seine Zukunft hin, weil der Mensch eben seine Gegenwart gar nicht anders verstehen kann denn als das Entstehen, das Werden, als die Dynamik auf eine Zukunft.“5

Das bedeutet sprachlich: Erfahrungen der Gegenwart werden zu Bildern der erhofften Zukunft. So ist es ja auch mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Nirgends findet sich im Neuen Testament eine Definition dessen, was mit „Reich Gottes“ gemeint sei. Jesus lädt Menschen ein, mit ihm zu gehen und auf dem Weg mit ihm Erfahrungen zu machen. Sie erfahren, wie kranke Menschen geheilt, wie Gedrückte aufgerichtet, wie Geängstigte ermutigt werden, wie Menschen, die unfähig zur Kommunikation sind (Taube, Stumme, Blinde), oder die durch ihre Krankheit oder ihre gesellschaftliche Rolle ausgeschlossen sind (Aussätzige, Zöllner, Prostituierte), in die Gemeinschaft zurückgeholt werden. Sie erleben, wenigstens anfangshaft, einen neuen Umgang miteinander, Versöhnung und Zusammenführung bislang Verfeindeter, Geschwisterlichkeit statt Herrschaftsansprüche. Sie erleben sogar die Entmachtung des Todes. Sie erfahren verwundert, dass Jesus diese erstaunlichen Veränderungen nicht nur selbst bewirken kann, sondern dass er sie auch ihnen zutraut, als er sie in die Dörfer und Städte Israels schickt, und sie merken, dass sie wirklich dazu fähig werden. So fängt für sie das Reich Gottes an. So spüren sie die das Leben und die Welt verändernde Nähe Gottes.

Als sie nach der Ermordung Jesu die neue Lebendigkeit des Auferstandenen erfahren, da wächst ihnen die Gewissheit, dass dieses Reich Gottes Zukunft hat. Sie können ihren Glauben an Jesus mit den alten Hoffnungsbildern Israels verbinden: mit dem Bild vom Brot und Wein in Überfluss, vom friedlichen Nebeneinander der wilden Tiere, vom festlichen Friedensfest der Völker… Ihnen wird klar, dass alles bisher Erlebte erst ein Anfang war. Sie haben eine Zukunft vor Augen, in der die kleinen Saatkörner groß aufgehen werden. Sie können von dieser Zukunft eigentlich nur sprechen, indem sie von den kleinen Körnern reden. Sie können nicht anders als in Bildern sprechen. Aber diese Bilder sind keine geheimen Rätselworte, sondern sie erzählen von Erfahrungen: von Heilungen, Tischgemeinschaften, Auferstehungen.

So ist es mit der Sprache der Hoffnung. Es geht ja primär nicht um Informationen, sondern um Lebensperspektiven. Nicht eine ferne Zukunft soll detailliert und genau beschrieben werden, nicht himmlische oder höllische Landschaften sollen exakt dargestellt werden, als wären sie von Geographen vermessen, sondern dem Lebensweg soll eine Richtung gegeben werden: In welcher Richtung ist etwas zu erwarten? Welche Schritte zählen? Deshalb nennen wir die Eschatologie heute auch lieber nicht „Lehre von den letzten Dingen“, sondern „Theologie der Zukunft“ oder „Theologie der Hoffnung“. Hoffnungsperspektiven werden in Bildern aufgebaut.

Aber man sollte nicht sagen: „Ach, nur Bilder!“, als wären diese weniger wert als sachliche Informationen. Es kommt auf den Gegenstand an. Frage ich jemanden nach dem Weg, nach der Abfahrt des Zuges oder nach dem Preis für eine Ware, dann brauche ich eine Sachinformation. Die Tugend der Informationssprache ist ihre Genauigkeit: Bei Entfernungen, Uhrzeit, Preisen u.ä. geht es um Zahlen. Geht es aber um die Liebe oder um die Hoffnung, dann ist eine andere Sprache eher angebracht. Wenn ein Freund seiner Freundin verspricht, nicht von ihrer Seite zu gehen, wenn sie ihm sagt, sie wolle mit ihm ihr Lebenshaus bauen, dann sagen sie einander mehr, als wenn sie exakte Prognosen über den geographischen Ort ihres künftigen Wohnsitzes machten oder präzise finanzielle Regelungen miteinander absprächen.

Bildersprache ist auch nicht das bloße Ergebnis einer Verlegenheit, etwa: weil man es nicht genauer sagen kann; sie hat vielmehr ihre eigenen spezifischen Stärken. Bilder sind einerseits konkret und von daher fähig, an gegenwärtige Erfahrungen und Erwartungen anzuknüpfen; andererseits eignet der Bildersprache eine gewisse Offenheit. Die Bilder können in andere übergehen, sich selbst transzendieren, die Erwartungen können sich weiten, ohne dass die Kontinuität der Hoffnungs- und Verheißungsgeschichte verloren ginge. In diesem Sinne ist auch die Verwandlung biblischer Hoffnungsbilder interessant. Die Bibelwissenschaft spricht von „Motivtransposition“: Aus der Verheißung von Weideplätzen in der Abrahams-Geschichte wird die Verheißung eines Landes, in dem Milch und Honig fließen, in der Exodus-Geschichte. Der erste Exodus (aus Ägypten) wird durch einen noch großartigeren, zweiten Exodus (aus Babylon) übertroffen, der Bundesschluss am Sinai durch die Verheißung eines größeren, neuen Bundes.

Hoffnungsbilder leisten außerdem noch etwas Wichtiges: Sie sprechen mit dem Vorstellungsmaterial der Gegenwart von der erhofften Zukunft, und so verbinden sie Zukunft und Gegenwart miteinander. So wird die erhoffte Zukunft z. B. mit dem Bild eines festlichen Hochzeitsmahles geschildert. Damit werden konkrete irdische Ereignisse wie die Hochzeit, das Mahlhalten, das Miteinander-Teilen zu Vorzeichen einer guten Zukunft – und gewinnen so nochmals eine besondere Bedeutung.

Auch das Wort „Auferstehung“ ist ja ein Bildwort: Jemand, der liegt, erhebt sich. Das tun wir jeden Morgen. Das Aufstehen kann aber auch zum Bild für einen psychischen Vorgang werden. Wir sagen: Ich war „down“, „ganz unten“, wusste nicht, wie ich wieder auf die Beine kommen sollte. Da hat mich jemand „aufgerichtet“. Manche sprechen sogar ausdrücklich von einer „Auferstehung mitten im Leben“. Sie deuten damit an, dass sie einen Zusammenhang zwischen Rettungserfahrungen in diesem Leben und der Auferstehung aus dem Tod am Ende dieses Lebens sehen.6

Die neue Stadt

Was ich hier begrifflich entfaltet habe, möchte ich noch durch eine persönliche Erinnerung illustrieren. Ich denke an die Jahre meiner Mitarbeit in einer Kirchengemeinde im Duisburg-Meidericher Ortsteil Hagenshof. Der Hagenshof war von der Stadt als Mustersiedlung geplant worden, entwickelte sich aber mit seiner zur Anonymität verleitenden Hochhausarchitektur schon während der Bauzeit zu einem sozialen Brennpunkt. Monatlich wird in jeden Haushalt das Gemeindeblatt gebracht, in dessen Kopfteil, leicht stilisiert, die Skyline des Hagenshofs zu erkennen ist – und darunter steht: „die neue stadt“.

Als das Blatt im September 1971 zum ersten Mal erschien, fragten sich manche: Was ist damit gemeint? Der Ortsteil, der hier mit zahlreichen Baukränen errichtet wird? Oder ein biblisches Motiv, das himmlische Jerusalem, das sich am Ende der Zeiten vom Himmel herab auf diese Erde senkt? Gemeint war beides – die Bilder sollten ineinander übergehen: „Aus dem Glauben an einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo es weder Tränen noch Leid noch Jammer geben wird, will die Katholische Kirchengemeinde … ein wenig dazu beitragen, dass unsere Neubausiedlung Hagenshof eine neue Stadt wird, in der es schon jetzt viele frohe Menschen gibt“, schrieb der Gründungspfarrer in der ersten Ausgabe. Er spielte damit auf die Bilderwelt der Johannesoffenbarung7 an, in der wiederum Hoffnungsbilder des Alten Testaments, besonders aus den Büchern Jesaja und Ezechiel8 verdichtet sind.

Diese Bilderwelt hat im Laufe der europäischen Geschichte immer wieder dazu inspiriert, Heilsgeschichte und Weltgeschichte miteinander in Beziehung zu setzen. Der Philosoph, Literaturkritiker und Theologe Johann Gottfried Herder nannte die Johannesoffenbarung „ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten“.9 In jüngster Zeit sprach der Journalist Paul Badde von dem Einfluss, den das biblische Bild von der himmlischen Stadt auf die abendländische Geschichte ausgeübt habe: „Es gibt einen Schlüssel zum Geheimnis Europas. Er findet sich am Schluss der Bibel… Diese Worte liegen fast allen Umwälzungen unseres Erdteils wie ein verborgener Code zugrunde.“10 Die Theologin Rita Müller-Fieberg hat eine differenzierte Dissertation über das Gespräch zwischen Theologie und Literatur über das Motiv „Neues Jerusalem“ vorgelegt. Sie schließt mit der Feststellung, das Bild von der verheißenen Stadt fordere dazu heraus, „die versprochene Lebensfülle schon jetzt in die eigene Gegenwart hineinzulassen.“11

Für uns, die wir jahrzehntelang die Bilderwelt der Johannesoffenbarung wie die verschlüsselte Botschaft einer uns fremden Welt eher umgangen hatten, traf sich ihre Wiederentdeckung mit der Neubelebung einer Theologie der Hoffnung. Heute rückschauend, sehen wir, woher wir gekommen waren und welchen Weg wir gegangen sind: Gegenüber einer „Jammertal-Frömmigkeit“, in welcher wir gelernt hatten, das „Irdische zu verachten und das Himmlische zu lieben“,12 wollten wir die Erde lieben, damit auf dieser Erde Himmel anfangen kann. In unseren jugendbewegten Träumen hatten wir das Geheimnis der Welt „jenseits des Tales“ gesucht, jetzt sollte Gottes geheimnisvolle Welt mitten in einer Hochhaus-Stadt wenigstens anfangshaft Wirklichkeit werden. Anders als im „Milieukatholizismus“ der ersten Jahrhunderthälfte, dem die Kirche wie eine Fluchtburg erschien, wie ein Bollwerk gegen die böse Welt draußen, sollte die Gemeinde dazu beitragen, dass es „frohe Menschen“ nicht nur im Gemeindezentrum, sondern im ganzen Hagenshof gibt: Kirche nicht in Abgrenzung zur Welt, sondern Kirche für die Welt. Im Unterschied aber zur Skepsis der Religionskritik, welche in der Religion nur ein Betäubungsmittel sah, mit dem geplagte Menschen sich vorübergehend über die Lasten des Lebens hinwegtrösten, das sie aber um so schlimmer lähmt, je mehr sie davon Gebrauch machen, setzten wir darauf, dass der Glaube ein Lebenselixier sein könnte: eine Prise Hoffnung zur Kräftigung für die nächsten Schritte. Es sollte eine „geerdete“ Hoffnung sein: Hier auf Erden soll anfangen, was einmal, bei der Vollendung der Schöpfung, ganz groß dastehen wird.

„In deinen Toren werd ich stehen…“

Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den neuen geistlichen Liedern, die in dieser Gemeinde gesungen wurden, das Lied von der verheißenen neuen Stadt13 einen besonderen Platz einnahm. Das Lied geht mit seiner Melodie und mit manchen sprachlichen Bildern auf ein modernes israelisches Lied14 zurück, in welchem Jerusalem als ersehnte Stadt Israels besungen wird. Die durch die evangelische Pfarrerin Christine Heuser geschaffene deutsche Fassung setzt allerdings andere Akzente. Die „freie Stadt Jerusalem“ wird hier zu einem Bild für die ersehnte und erhoffte Vollendung der Welt. Das Ziel liegt noch in weiter Ferne. Die da singen, fühlen sich wie die Verschleppten in Babylon unter der Fremdherrschaft von mächtigen Herren. Ihre Wunden schmerzen:

„Ihr Mächtigen, ich will nicht singen

eurem tauben Ohr.