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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

‚Den Roman des Körpers schreiben‘ (Albert Camus) – Zu diesem Buch

Hinweise für die eilige Lektüre

Teil 1: ERÖFFNUNGEN.
Grundlinien einer theologisch inspirierten Ethnologie

1 Die Entdeckung des Kontextes, oder: Eine Kirche auf der Höhe des Konzils ist auf der Höhe der Leute

2 Erster Angang: Gaudium et spes 44 und der neue pastoraltheologische Dreischritt

2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext

2.2 Gaudium et spes 44

2.3 Akkomodation: Die Methode von GS 44

2.4 Akkomodation als Anpassung?!

2.5 Akkomodation und Offenbarung

2.6 Akkomodation als pastoraltheologischer Dreischritt

3 Kurzes Fazit und Ausblick auf den weiteren Gedankengang

4 Zweiter Angang: Theologische Anthropologie

4.1 ‚Dasein als Vorgriff‘: Der Mensch als Wesen des Geheimnisses bei Karl Rahner

4.2 ‚Der bergende Grund‘: Der Mensch als das zu seinem Selbst erwachende Ich bei Wolfhart Pannenberg

4.3 ‚Die sich performativ ereignende Liebe‘: Der Mensch als unbedingte Freiheit bei Thomas Pröpper

5 Von der Anthropologie zur Ethnologie

5.1 Vier Arbeitshypothesen für eine ethnologische Weiterführung der theologischen Anthropologie

5.2 Von den Arbeitshypothesen zur soziologischen Milieuforschung

‚Dasein als Vorgriff‘ (Rahner) und ‚Dichte Beschreibung‘ (Geertz)

‚Bergender Grund‘ (Pannenberg) und ‚Soziale Gravitation‘ (Wippermann)

‚Liebende Anerkennung‘ (Pröpper) und ‚Fundamentale Semantik‘ (Schulze)

5.3 Von Teil I zum weiteren Vorgehen in Teil II

5.4 Zuletzt: Von einer Pastoral des ‚Erreichens‘ zu einer Pastoral des ‚Lernens‘

Teil 2: ENTDECKUNGEN.
Die Lebenslogik sozialer Milieus als Lesehilfe des Glaubens

6 Kurze Lektürehinweise zu Teil II

7 Etablierte, oder: Leben im Horizont von ‚Rechtfertigung‘

8 Postmaterielle, oder: Leben im Horizont von ‚Befreiung‘

9 Benachteiligte, oder: Leben im Horizont von ‚Teurem Segen‘

10 Performer, oder: Leben im Horizont von ‚Berufung‘

11 Konservative, oder: Leben im Horizont von ‚Vorsehung‘

12 Hedonisten, oder: Leben im Horizont von ‚Prophetie‘

13 Bürgerliche Mitte, oder: Leben im Horizont von ‚Versöhnung‘

14 Expeditive, oder: Leben im Horizont von ‚Glauben‘

15 Traditionelle, oder: Leben im Horizont der ‚Treue Gottes‘

Schluss: Die große Sehnsucht unserer Zeit (Chiara Lubich)

Literaturverzeichnis

‚Den Roman des Körpers schreiben‘ (Albert Camus) – Zu diesem Buch

In seinem literarischen Essay ‚Die Wüste‘ denkt der bekannte französische Philosoph Albert Camus über das Verhältnis von Malerei und Abbildung nach. Und er formuliert den seltsamen Satz: „Die Maler haben das Vorrecht, auf ihre Weise den Roman des Körpers zu schreiben.“1 Die Angewiesenheit auf den fixierten Moment, die fehlende räumliche Tiefe der Leinwand und die so leichte Möglichkeit, einem Bild durch einfache Blickwendung auszuweichen, belässt dieser Kunstform nur eine Chance: Die Maler „arbeiten in jenem herrlichen und vergänglichen Stoff, der ‚Gegenwart‘ heißt“. Es gibt hier nur Fläche, nur Abbild, nur Situation, nur Momentanes.

Weil das so ist, so Camus weiter, werden die Maler zum unschätzbaren Vorbild: Sie lehren uns wieder das Sehen. Sie führen uns wieder in die Technik ein, genauer auf die Gesichter der Menschen um uns herum zu achten: ihre Details, ihre kleinen Signale, ihre Selbstentwürfe, die gerade in ihrer Unbewusstheit so überaus sprechend sind. Denn „wir haben (…) verlernt, die wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung zu sehen. Wir sehen uns unsere Zeitgenossen nicht mehr an, sondern nur noch das an ihnen, was uns nützt und unser Verhalten bestimmt.“ Genauer: Wir ziehen dem Gesicht eine bestimmte Poesie vor, eine bestimme Idee, meistens eine, die den Anderen in unsere eigenen Kriterien einspannt. Wir bringen das Gesicht des Anderen auf unser Maß und in unser Kalkül.

Diese Gewohnheit ist ein Fehler. Sie ist die Negation der Gegenwart. Sie opfert den gegebenen Moment mit der Präsenz eines Menschen einer Idee, einem Urbild, einem Plan. Wer so mit Menschen umgeht und etwas in sie hineinliest, was sie von sich her gar nicht zeigen, fordert sozusagen mehr Sinn, als ihm die Welt, als ihm das einzelne Gesicht versprechen kann. Weil wir die reine Gegenwart nicht aushalten, wollen wir mehr in ihnen sehen, als da ist. Bekanntlich bildet dieses Unvermögen einfacher Gegenwart in Camus’ Philosophie des Absurden die Tragik des modernen Menschen, der sich die Schönheit der Gegenwart eintauscht gegen die Hoffnung auf Prinzipielles, Ideologisches, Metaphysisches – und darum verzweifeln muss. „Der abstoßendste Materialismus ist nicht etwa jener, den alle Welt so beurteilt, sondern vielmehr jener andere, der uns tote Ideen als lebende Wirklichkeiten einreden will und unser hartnäckiges, hellsichtiges Interesse an dem, was für immer mit uns sterben muss, ablenken will auf unfruchtbare Mythen.“2

So weit zu Camus und seinem Vorschlag, sich von der Malerei wieder lehren zu lassen, die flächenhafte Tiefenlosigkeit der Gegenwart auszuhalten. Zugegeben, dies ist ein ungewohnter Einstieg für ein theologisches Buch. Der Nobelpreisträger von 1957 ist definitiv kein Kirchenlehrer, und es würde ihn zornig machen, sähe er sich für religiöse Interessen instrumentalisiert. Hinzu kommt, dass theologische Forschung niemals jener Reduktion auf das Gegebene sekundieren könnte, die Camus’ Philosophie vorschlägt. Seinen Satz: „Die Welt ist schön, und außer ihr ist kein Heil“3 würde man jüdisch-christlich anders formulieren. Denn das biblische Zeugnis lebt ja von der Verheißung, dass da ein Gott ist, der gerade nicht in der Immanenz der Welt aufgeht, sondern diese überhaupt erst stiftet.

Trotzdem liegt genau hier durchaus eine Berechtigung, ausgerechnet Albert Camus – neben anderen natürlich – als einen Impulsgeber für gute Pastoral aufzurufen. Denn er hat ja nicht nur oberflächlich mit seiner Beobachtung recht: Auch wir in der Pastoral stehen heute in dem Ruf, die ‚wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung nicht mehr zu sehen‘. Auch von uns sagt man, dass vor allem moralische Vorurteile und soziale Grenzziehungen aus der Kirche eine gesellschaftliche Gruppe gemacht haben, in der sich, wie auch sonst überall, Gleiche mit Gleichen treffen. Das Schema ‚Wir‘ und ‚Die‘ dominiert auch in unseren Gemeinden. Christen gelten im Allgemeinen als immer etwas ängstliche Kulturpessimisten, die in ihren Liedern, Ritualen und Kalendersprüchen eine heitere Gegenwartsorientierung aus dem Glauben zwar behaupten, faktisch in die Gesellschaft aber eine sorgenvolle Angst um sich selbst und um die Zukunft einbringen. „Für Deutschland entsteht damit der Eindruck eines weithin traditionalen, durch Immobilität, Überalterung und Konventionalität geprägten Gemeindeverhältnisses, in welchem die sozialen Bindungen wichtiger sind als das Leistungsniveau der kirchlichen Angebote.“4 Zu diesem doch wenig schmeichelhaften Fazit kommt der Religionssoziologe Detlef Pollack als Ergebnis einer aktuellen empirischen Erhebung. Neugier, eine lernende Grundhaltung oder gar experimenteller, unternehmerischer Gründergeist prägen derzeit das binnenkirchliche Klima nur schwach. Ja es scheint derzeit nicht nur kommunikative Blockaden zwischen ‚denen von der Kirche‘ und den ‚Nichtkirchlichen‘ zu geben, sondern auch einen zwischen Christen und Christen – einen internen Zustimmungsvorbehalt innerhalb der Mitgliederschaft, wie man es pastoralsoziologisch nennt.5 Auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zieht man seine Poesie der einfachen Gegenwart vor, etwa indem man abscannt: „Will der mir was? Darf der mehr als ich? Nützt der mir was? Ist der ‚einer von uns‘? Ist das ein Modernist? Oder einer von gestern? usw.“

Zweifellos berührt die kritische Nachfrage bei Camus den sensiblen Punkt pastoraler Wirksamkeit überhaupt: Sind wir noch bei den Leuten – inner- wie außerkirchlich? Man wird sagen dürfen, dass in dieser Frage entschieden wird, ob wir unseren ‚Job‘ gut machen oder nicht, und dies ganz unabhängig davon, ob dies haupt-, neben- oder ehrenamtlich geschieht. Gute Pastoral fand schon immer ihren Adel, ihre Passion darin, in der konkreten Gegenwart von Menschen die konkrete Gegenwart Gottes zu versprechen, zu suchen, zu verkünden und zu feiern. Das wird man sagen können, ohne der Vielfalt pastoraltheologischer Selbstverständnisse Gewalt anzutun: Ganz egal, ob man Pastoraltheologie als ‚antwortendes Handeln‘, ‚Kulturwissenschaft des Volkes Gottes‘, ‚Problemlösungsdisziplin‘ oder wie auch immer konzipiert6: Eine Grundbewegung ist dann pastoral, wenn sie den ‚Roman des Körpers‘ schreibt; wenn sie also das konkrete Leben von Männern, Frauen, Kindern, Familien, Lebensformen mit der Verheißung der Gegenwart Gottes zusammensehen und eines vom anderen her verstehen kann. Mit dem bekannten Wort Paul Michael Zulehners: Pastoral bedeutet, bei den Menschen einzutauchen und bei Gott aufzutauchen und umgekehrt.

Die Wechselseitigkeit dieser pastoraltheologischen Ellipse ist die zweite und philosophisch tiefere Entsprechung zu den Gedanken Camus’. Denn es entscheidet über pastorale Qualität, ob man Menschen als sie selbst in den Blick bekommt oder ob man sie doch nur als Anwendungsfall höherer (hier: theologischer) Prinzipien instrumentalisiert. Hier liegt ja die eigentliche Pointe des christlichen Theoriedesigns. Wer die Menschwerdung Gottes behauptet und gerade hierin die restfreie Selbstmitteilung dieses Gottes über und von sich selbst identifiziert, der muss dem Menschsein nichts hinzufügen, um zum (vermeintlich) Göttlichen zu gelangen. Die ganze Brisanz des christlichen Ernstes steht hier auf dem Spiel, welcher bis heute einen Existentialismus begründet, der vor allem für jene im religiösen System äußerst herausfordernd ist, die davon profitieren, dass man aus der Religion eine Sonderwelt macht, die dem ‚Weltlichen‘ noch hinzukommt. Nach neutestamentlichem Zeugnis wird der eschatologische Jesus die Seinen nur nach Maßgabe ihres Menschseins und eben nicht ihrer religiös-moralischen Kriterienerfüllungen identifizieren können (vgl. Mt 25,34–40: ‚Ihr habt mich besucht, gekleidet, ernährt‘ usw.). Vom evangelischen Theologen Eberhard Jüngel stammt das einprägsame Wort, dass die Unähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen nicht in einer Entzogenheit Gottes besteht, sondern darin, dass Gott in seiner Menschwerdung um so vieles menschlicher als der Mensch selbst geworden ist. Die Differenz zwischen Gott und Mensch ist unbestritten, unverfügbar und unaufhebbar. Aber trotzdem, trotz aller Unähnlichkeit, ist der Mensch bei sich, wenn er bei Gott ist, und bei Gott, wenn er bei sich ist.7

Dieser Zusammenhang wäre systematisch-theologisch tiefer auszuloten. Und zuzugeben ist, dass Camus diese Gedanken nicht teilen würde. Trotzdem bekommt er ein zweites Mal recht. Nicht der Rückbezug auf den Mythos einer religiösen Idealformel macht den Charakter einer pastoralen Begegnung aus, sondern es ist gerade die Verheißung der göttlichen Menschwerdung, die es der Pastoral grundsätzlich erlaubt, im Anderen nicht mehr erwarten und unterstellen zu müssen, als in ihm selber angelegt ist. Keinem Gesicht muss welche Poesie auch immer vorgezogen werden. Kein Leben ist erst dann gut, wenn man es als Abziehbild einer religiösen Vorlage behandeln kann. Der pastorale Roman darf nicht nur, er muss über den Körper handeln. Pastoral ist das volle Ernstnehmen der menschlichen Gegenwart, gerade weil Gott selbst nicht mehr wollte als diese menschliche Gegenwart.

Bei Camus heißt es weiter: „Gegenwart aber stellt sich stets in einer Geste dar.“8 Gute Pastoral wäre somit die Lektüre jener Gesten, mit denen ‚die Leute‘ ihre Gegenwart darstellen. Pastoraltheologie wird zur Gestenkunde. Ihre unverwechselbare Attitüde ist der unverbrüchliche Respekt vor jenen Signalen, mit denen Menschen ihre Behausung in ihrem Mikrokosmos anzeigen, ihre Lebensinterpretation, ihre kleinen und ihre großen Verhakungen in das Geflecht der Welt. Hans-Urs von Balthasar hat von der Theologie gefordert, diese Haltung als „Gestaltsehen“9 einzuüben und die Fähigkeit hierzu sogar als das Typische der jüdisch-christlichen Religion markiert.

Für dieses ‚Gestaltsehen‘, diese ‚Gestenkunde‘ zu werben, sie zu begründen und sie exemplarisch auszuführen ist die Intention dieses Buches. Akteure in der Pastoral sollen inspiriert und befähigt werden, die biografischen Gesten ‚ihrer Leute‘10 und ihrer Kultur zu lesen, zu deuten und als Daten theologischer Erkenntnis zu würdigen. Hierzu braucht es theologische Argumentation genauso wie sozialpsychologische Präzision. Zu beiden Diskursen will dieses Buch einen Beitrag leisten, indem die soziologische Milieutheorie von einer theologischen Hermeneutik her begründet und erschlossen wird. Dieses Denken in sozialen Milieus ist ja seit der sogenannten Sinus-Kirchenstudie von 2006 innerhalb der Gemeinden und Organisationen der christlichen Kirchen sehr bekannt geworden.11 Oft bleibt es aber bei der Erstrezeption. Nach wie vor fehlt es an einer substantiellen Einbindung des Anliegens einer ‚milieusensiblen Pastoral‘ sowohl in die relevanten kultursoziologischen wie in die systematisch-theologischen Diskurse.

Diese Vernetzung wird hier angegangen. Das Ziel ist die anfanghafte Entwicklung einer Art pastoraltheologischer Ethnologie. Mit ihrer Hilfe können die typischen Kollektivgesten der bundesrepublikanischen Bevölkerung erschlossen und verstanden werden. Man erkennt, dass es so etwas gibt wie ‚soziale Gravitationen‘, auf die hin ganze Kulturmuster sich rückbeziehen und die zum Leseschlüssel ihrer kollektiven Werthaltungen, Weltanschauungen und religiösen Orientierungen werden. Hier kommt es zu echten Verblüffungen: Plötzlich kann die Theorie sozialer Gravitationen scheinbar kleine alltagsästhetische Fragmente als Senkbleie ausweisen, die die Analyse in die Tiefe der Person hineinführen.12 Man entdeckt die Kohärenz von Alltagsverhalten und fundamentaler Semantik. Man durchmustert die Statements und Explorationen des Milieus, die Wohnungseinrichtungen, die Freizeitvorlieben, das Sprachverhalten, Konsum- und Partnerschaftsstile oder auch explizite Statements, etwa zur Frage nach dem Lebenssinn – und irgendwann taucht ein sprachlicher und inszenatorischer Assoziationszusammenhang auf, der sich auffällig durch die Einzelheiten durchträgt und rational mit der Gravitationslogik des Milieus in Einklang gebracht werden kann. Durch das scheinbar Banale und Nebensächliche stößt man auf eine innere „Richtungslinie“, eine innere Ader, die unzählige weitere Kapillare mit „Sinn und Stil“ versorgt, wie Simmel das nennt. Man kommt an eine sensible Stelle, an der man das Milieu ‚ticken‘ hört und ein Leitmotiv, eine Kurzformel über das so interpretierte Leben erfährt. Die hochindividuelle Gegenwart der Einzelgeste wird zum Ausdrucksmittel der sie grundierenden Selbst- und Weltinterpretation im sozialen Raum.

Insofern ist eine gut begründete und methodisch sauber ausgeführte Milieutheorie eine hervorragende Gelegenheit für alle, die die Leute ihrer Kultur einfach besser verstehen möchten. Man ‚versteht‘13 jetzt, warum dieser seine Fensterbank so und nicht so einrichtet; warum diese hierhin in den Urlaub fährt und nicht dorthin; und warum man hier jenen Hund anschafft, niemals aber jenen. Eine pastoraltheologische Ethnologie geht von den kleinen Gesten aus und liest sie alltagsästhetisch auf ihre grundlegenden biografischen Rückbezüge.

Dies kann in sich Vergnügen bereiten. Und das Buch hat bereits ein großes Ziel erreicht, wenn es – ganz im Sinne Camus’ – die Aufmerksamkeit auf die kleinen Gesten unserer Zeitgenossen erhöht, die Irritationsreflexe auf ihre Seltsamkeiten verringert und eine allgemeine Menschenfreundlichkeit der Pastoral zu steigern vermag. Trotzdem soll ein weiteres Ziel verfolgt werden. Und dieses ragt sogar über Camus hinaus.

Denn die Pastoraltheologie hat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht nur den Auftrag, sich nicht von den Menschen zu entfernen und sie nicht religiös zu instrumentalisieren. Das ist zu wenig. Sie möchte vielmehr aktiv in die Kontexte der kulturellen Gegenwart einsteigen, um überhaupt zu wissen, was sie selber ist. Hier wird es erneut brisant. Die Gesten der Menschen im obigen Sinn zu kennen, ist nämlich gerade nicht notwendig zum Heil dieser Menschen selbst – das liefe ja doch auf Instrumentalisierung hinaus und wäre gerade keine Freisetzung des Menschen zu sich selbst. Vielmehr hat die Kirche als Organisation und haben die Christen als Bewegung eine Holschuld! Vielmehr ist der Glaube selbst es, der diesen Kontextbezug zu den Leuten braucht. Denn – und diese Einsicht des letzten Konzils ist atemberaubend: Ohne die genaue Kenntnis und prinzipielle Anerkenntnis der kulturellen Kontexte um sie herum kann eine Ortskirche gar nicht wissen, was und wen sie zu verkündigen hat. Der Himmel, bildlich gesprochen, bleibt ihr versperrt, wenn sie nicht auf die Erde schaut. Wer Gott heute ist, und was Kirche hier soll, das kann nur unvollständig aus Schrift und Tradition deduziert werden. Die Kontextkenntnis muss hinzutreten, damit Kirche selber verstehen kann, was die Offenbarung ist. Oder kürzer: Auch die Kirche muss die Offenbarung je neu lernen, bevor sie sie erschließen kann. Und dieses Lernen geht auch über den Kontext.

Dieser prozedurale und in die Geschichte verlegte Modus der Offenbarungserkenntnis ist der große Fortschritt des letzten Konzils. Er ermöglicht erst ein neues Genre der Konzilsgeschichte: eine Pastoralkonstitution. Gaudium et spes, die Masterfolie dieses Buches, entwickelt und empfiehlt den adäquaten pastoraltheologischen Dreischritt. Er lautet: Erst den ‚Sprachen‘ um uns herum zuhören. Dann mit dem überlieferten Glaubensgut abgleichen, was man an Lebensinterpretation mitgeteilt bekam. Und schließlich aus dem Überschuss des Glaubens heraus einen Vorschlag an die jeweilige Lebenswelt machen, die deren Gravitation entspricht, ihn aber erweitert. Diesen pastoraltheologischen Dreischritt zu begründen, zu erläutern und in neun Milieuskizzen vorzuführen, ist das zweite Ziel des Buches.

Gemäß den beiden Zielbestimmungen ist diese Monografie in zwei Teile gegliedert. Teil 1 bereitet die materialen Milieuerkundungen in Teil 2 theologisch vor. Der hier propagierte pastoraltheologische Dreischritt, der auch den Titel des Buches bildet, wird vor der Kulisse der Konzilstheologie in Gaudium et spes (Kap. 1, 2) sowie des dogmatischen Traktates der ‚Theologischen Anthropologie‘ begründet (Kap. 4). Der Überstieg in eine pastoraltheologische Ethnologie wird entwickelt (Kap. 5). Basale Vorkenntnisse der Milieutheorie, etwa aus der Sinus-Kirchenstudie von 2006 oder anderen Befassungen, werden vorausgesetzt.14 Teil 2 erschließt dann jedes Milieu mit derselben Systematik (Kap. 6–15).

Insgesamt möchte das Buch den pastoraltheologischen Dialog mit der Kultursoziologie im Ganzen und der Milieutheorie im Besonderen fundieren und weiter befeuern. Wer auf der Höhe des Konzils argumentieren will, muss auf der Höhe der ‚Leute‘ sein. Hier, in der kulturhermeneutischen Kreativität der Pastoraltheologie, in der wechselseitig-kritischen Rückkopplung von Alltag, (Populär-)Kultur und Tradition, liegt ihr unverzichtbarer Beitrag für die theologische Arbeit im Ganzen. Es geht heute darum, dass das Verb ‚glauben‘ nicht zum Synonym für ‚fliehen‘ degeneriert, sondern als Synonym für ‚reingehen‘ neue Attraktivität bekommt.

Ein herzlicher Dank geht an die Unterstützer dieses Buches: Prof. Dr. Wippermann, Dr. Marc Calmbach und Berthold Bodo Flaig für die freundliche Überlassung von Zitier- und Abbildungsrechten; Peter Martin Thomas und Prof. Michael N. Ebertz für viele engagierte Begegnungen; Thomas Becker, mit dem ich den Ansatz sozialer Milieus institutionell vorantreiben konnte; Caroline Wolanski für die einschlägig mühsamen Korrekturarbeiten. Allen sieben danke ich für ihren soziologisch begründeten Glauben an die enormen Potenziale einer milieusensiblen Pastoral für eine Kirche auf der Höhe des Konzils.

Hinweise für die eilige Lektüre

Jeder Autor wünscht sich Leserinnen und Leser, die er von der ersten bis zur letzten Seite zur Lektüre gewinnen kann. Aber angesichts des Angebotes, der Wichtigkeit so vieler Themen und der Kostbarkeit an verfügbarer Zeit kann das nur selten gelingen. Daher hier eine kleine Navigation für die Eiligen.

Denen, die vor allem praktisch-theologisch interessiert sind, empfehle ich als ersten Schritt die Lektüre einer der ‚dichten Beschreibungen‘ in Teil II, egal welcher. Man sieht hier, worauf alles zusteuert. Wie sich das begründet, worauf alles zusteuert, steht in Teil I. Hier empfehle ich v. a. die Lektüre der Kapitel 1 und 2 sowie 5.1 und 5.4.

Denen, die vor allem an der systematisch-theologischen Fundierung des hier gebotenen Ansatzes der Pastoral interessiert sind, empfehle ich ebenfalls die Lektüre einer Milieubeschreibung aus Teil II (aus obigem Grund) und dann die Kapitel 1 bis 5.1. Eventuell ist wichtig wahrzunehmen, dass man im Zuge eines ethnologischen Projektes in die mittlere Theoriereichweite pluralen Denkens einsteigen muss: Diesen Schritt leistet 5.2.

Den vor allem phänomenologisch an Milieus Interessierten empfehle ich zum Einstieg des theologischen Anliegens das Kapitel 1 und dann einfach den kompletten Teil II.

Ein wichtiger Hinweis für alle: Immer wieder wird vor allem in Teil II das bekannte Milieuhandbuch (HB) zitiert, und zwar in der Fassung, die die Medien DienstleistungsGmbH kostenlos zum Download verfügbar macht. Dieser Download wird sehr empfohlen, um parallel hierin lesen, Bilder ansehen und die Belege nachvollziehen zu können. Googeln Sie ‚download mdg milieuhandbuch‘, dann werden Sie zum richtigen Link geleitet.15

Zuletzt sei noch darauf verwiesen, dass das Buch auch eine geistliche Herausforderung aufwirft: Diese wird mit einem, wie ich finde, sehr beeindruckenden kleinen Text im Schlussabschnitt eingespielt.

1 Camus 1988 (zuerst 1950): 35; ebd. die zwei folgenden Zitate. Camus spricht hier im engeren Sinn von den großen toskanischen Meistern wie Piero della Francesca, Giotto di Bondone oder Cimabue.

2 Ebd.: 39.

3 Ebd.: 44.; insgesamt zu Camus vgl. Pieper 1994. Auch Bauer 2010: 773 meint für die Theologie: „Vielleicht sollten wir heute insgesamt wieder mehr Camus lesen.“ So sieht es auch Pröpper 2012: 36–42, denn: „Soweit Camus. Dass seine Position mich in vieler Hinsicht fasziniert, will ich gar nicht verleugnen. Kaum jemals wurde das Glück, das im Vollzug der menschlichen Freiheit liegen kann, auf eindringlichere Weise gefeiert“ (ebd: 40).

4 Pollack / Rosta 2011: 79 f.

5 Vgl. nur Bucher 2004: 19.

6 Einen Überblick über aktuelle Ansätze der Pastoraltheologie liefern Heft 2/2000 der Pastoraltheologischen Informationen; das Heft 1/2011 der ‚Lebendigen Seelsorge‘; sowie neuerdings Mette 2012.

7 Vgl. ausführlich Eberhard Jüngels Überlegungen zur ‚Menschlichkeit Gottes‘ in ders. 1992: 409–543 (z. B. 411. 543).

8 Camus 1988: 35.

9 Vgl. Hans-Urs von Balthasar 1988: 413–449; sekundär dazu Sellmann 2007b.

10 Ein kurzes Wort zur Begrifflichkeit: Im Buchtext wird immer wieder einmal von den ‚Leuten‘ gesprochen. Manchen erscheint dieser Terminus als Abwertung: Kirche müsse doch von den ‚Menschen‘ sprechen. Eine Abwertung ist hier keinesfalls gemeint. Vielmehr ergibt sich als sprachliche Aufgabe, von einer meist integral und normativ angelegten theologischen Sprechweise (‚der Mensch‘, das ‚Wesen der Kultur liegt in …‘ usw.) in eine deskriptive und plurale Perspektive der Soziologie wechseln zu können. Der Begriff ‚die Leute‘ ist unverdächtiger, konkrete kulturelle Subjekte auf ihr ‚eigentliches‘ Menschsein hin zu adressieren, was für eine hier zu entwickelnde pastoraltheologische Ethnologie nicht viel austrägt. Die ebenfalls möglichen Bezeichnungen ‚Subjekte‘ oder ‚Personen‘ klingen ebenfalls recht abgehoben und philosophisch durchtränkt. Daher der Begriffsgebrauch ‚Leute‘. Er spielt das ein, worum es hier geht: deren bürgerliche Existenz, ihren Alltag, ihre Normalität – Leute eben. Ein Vorbild dieses Sprachgebrauchs liefert der instruktive Text der EKD ‚Das Evangelium unter die Leute bringen‘ (vgl. EKD 2000).

11 Vgl. nur Ebertz / Hunstig 2008 sowie neuerdings Sellmann / Wolanski 2013.

12 Das anschauliche Bild stammt von Georg Simmel (1998 [zuerst 1903]: 195), dem Begründer der Kultursoziologie in Deutschland. Von ihm stammt der methodische Tipp, „dass sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seele schicken lässt, dass alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“ Auch Wippermann 2011: 204 orientiert sich an dieser methodologischen Anweisung.

13 Bei aller Problematik sozialen Verstehens, die die Kultursoziologie ja selber stärker betont als etwa jede pastorale Theologie.

14 Zu Beginn jedes Milieuporträts sind hierzu einleitende, leicht zugängliche Literaturhinweise angegeben. Vgl. grundsätzlich: www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html; www.delta-sozialforschung.de/delta-milieus/delta-milieus/delta-milieusr/; www.milieus-kirche.de/.

15 http://www.mdg-online.de/leistungen/mdg-milieuhandbuch/mdg-milieuhandbuch-download.html (Zugriff August 2012).

Teil 1:
ERÖFFNUNGEN.
Grundlinien einer theologisch
inspirierten Ethnologie

1 Die Entdeckung des Kontextes, oder:
Eine Kirche auf der Höhe des Konzils
ist auf der Höhe der Leute

Während der Beratungen über die Vorlagen zur späteren Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes‘ kommt es in der Aula des Zweiten Vatikanischen Konzils am 1. Oktober 1964 zu einem folgenreichen Eklat. Erzbischof Marcel Lefebvre hält farbige Umschläge hoch und richtet eine Anfrage an den Konzilssekretär Pericle Felici: „Welche Autorität haben diese Heftchen für das Konzil?“ Der Sekretär antwortet spontan noch am selben Tag: „Diese Dokumente sind mehr privater Natur.“ Was heißen soll: Wer sie denn beachten möchte, kann das tun – wer nicht, der nicht. Richtig wichtig sind andere Texte; die hatte man ja auch schon länger vorher ausgeteilt, und die waren ja auch in weiße Umschläge eingetütet worden.

Auf diese Bewertung hin entbrennt eine stürmische Diskussion. Der Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander als Kommentator von Gaudium et spes vergleicht die Situation mit einem Wespennest, in das Felici hineingestochen hatte.16 Denn zum einen erfuhren natürlich jene Väter und Theologen, die hart an den farbigen ‚Heftchen‘ gearbeitet hatten, eine Entwertung genau jener Mühen. Die Äußerungen Lefebvres und Felicis hatten die Dokumente mit jenen Flugblättchen vergleichbar gemacht, die rund um die Konzilsaula kursierten und die tatsächlich oft genug nicht ernstzunehmen waren. Zum anderen aber ging es um eine prinzipielle, sozusagen theologiearchitektonische Frage. Und man darf wohl als sicher annehmen, dass sich Erzbischof Lefebvre später noch oft sehr geärgert haben wird, die erwähnte Frage nach der Autorität überhaupt gestellt zu haben. Denn letztlich war es sein Vorstoß, der den Debatten um Gaudium et spes eine ganz neue Wendung gab – wodurch die Pastoralkonstitution zum Fokus jenes theologischen Sprachfortschrittes wurde, den man als die eigentliche Frucht des Konzils ansehen kann.

Aber der Reihe nach: Was war denn nun in diesen farbigen Umschlägen? Und was in den weißen? Und wieso konnte man auf die Idee kommen, die Texte in den farbigen Hüllen für minderwertige, nicht dogmatisierbare Texte zu halten, obwohl sie doch von einer offiziellen Konzilskommission erarbeitet worden waren? Hat die dogmatische Qualität von Textentwürfen etwa etwas mit ihrer Verpackung zu tun? Das Rätsel ist schnell gelöst. Die weißen und erheblich früher verteilten Umschläge enthielten einen Haupttext mit dem Titel ‚De Ecclesia in Mundo huius temporis‘; die farbigen Umschläge transportierten sogenannte ‚Adnexa‘, also Anhänge zu diesem Haupttext. Der Haupttext – das berühmt-berüchtigte Schema XIII des Konzils – hieß so, weil er sowohl im Inhalt wie im Duktus Bekanntes referierte: Das Verhältnis von Kirche und Welt wurde gemäß überzeitlicher Prinzipien und christologischer Reflexionen in allgemeiner Form vorgestellt. Kniffliger war die Sache mit den Adnexa: Hier hatten Fachexperten und Bischöfe zusammen bestimmte empirische Problembereiche fokussiert, in denen ‚die Menschheit‘ mit Recht von der Kirche eine orientierende Position erwarten durfte. Gemäß der großen Metapher Johannes’ XXIII. von den ‚Zeichen der Zeit‘ in seiner Enzyklika ‚Pacem in terris‘ von 1963 versuchte man, jene epochalen Herausforderungen zu definieren, zu denen man als Kirche nicht schweigen könne. Hierzu gehörten damals unter anderem die Frage eines möglichen Nuklearkrieges, der dramatischen Bevölkerungsentwicklung oder des risikohaften Fortgangs der Wissenschaften.

Das Problem, das sich nun mit solchen Themen stellt, liegt auf der Hand: Wie soll die Theologie aus ihren überzeitlichen Quellen wie der Bibel, dem Lehramt oder auch der Philosophie Erkenntnisse generieren, die sich auf geschichtliche, empirische Fragen beziehen – und zwar so, dass sie sich nicht in spekulativen Reflexionen ergehen, sondern als konkrete ethische Standpunkte erkennbar werden? Wie soll man dogmatisieren – also als unhintergehbare Sprachmarke errichten –, was sich im Lauf der Geschichte verändern wird? Und, noch grundsätzlicher gefragt: Hat denn die Kirche als überzeitliche Stiftung, als vollendete Gesellschaft (‚societas perfecta‘) mit solchen Themen überhaupt konstitutiv etwas zu tun? Dies waren harte Fragen, die keineswegs einfach beantwortbar erschienen. Man sah sich im Dilemma, zu diesen wichtigen Themen einerseits wenig Eigenes sagen zu können, andererseits aber angesichts des Problemdrucks auch nicht schweigen zu dürfen. Von Beginn des Entschlusses zu einer Pastoralkonstitution17 an verfolgte man daher eine Doppelstrategie: Es müsse im selben Dokument sozusagen zwei Textsorten geben, deren dogmatisches Gewicht voneinander abzuweichen hätte. Der Haupttext mit seinen unwandelbaren Prinzipien war unproblematisch. Die Anhänge aber sollten entweder als ‚Instruktionen‘ erscheinen, als eine Art ‚Sozialkatechismus‘, als globale Schlussfolgerungen oder situative Analysen, jedenfalls aber unterhalb des dogmatisierbaren Niveaus verbleiben.

Diese Taktik macht es durchaus verständlich, dass man die beiden Textsorten auch äußerlich unterschied und für das Unwandelbare die Nichtfarbe Weiß, für das Wandelbare aber die Farbigkeit der Umschläge vorsah – die man dann auch noch später und kurzfristiger versandte. Trotzdem: Ein Unbehagen blieb bei den Protagonisten eines neu zu entwerfenden Formates namens ‚Pastoralkonstitution‘ zurück. Um es im Schema ‚Außen-Innen‘ zu reformulieren: Kann man denn Kirche wirklich so radikal getrennt von ihrem ‚Außen‘, also ‚der Welt‘ denken, dass sie sich zu deren Großproblemen nur unterhalb ihres höchsten Redeniveaus äußern kann? Hat denn Offenbarung wirklich nur überzeitliche Qualität? Kann lehramtliche Dogmatik sich nur so verstehen, dass sie von realer Menschheitsgeschichte im Kern nicht verändert werden kann? Haben kirchliche Texte keinerlei Autorität, wenn es um die konkreten Ortsbestimmungen des Menschseins geht – um Tod und Not, um Dramatik und Flucht, aber auch um Schönheit und Eleganz?

Diese Fragen brachen auf, als das anzuschlagende Niveau der Adnexa vom Konzilssekretär noch einmal auf das denkbar Niedrigste heruntergepegelt wurde: ‚mere privatum‘, mehr privater Natur seien diese Texte. Subjektive Meinungsäußerungen, ohne konziliares Gewicht. Der vehemente Protest gegen diese Qualifizierung vereinte Majorität und Minorität und führte in der Folge zu der gemeinsamen Einsicht, dass sich eine Trennung in dogmatischen Hauptteil und nicht-dogmatischen Anhang einfach verbietet. Sander kommentiert: „Damit war (…) die bisher verfolgte Darstellungsstrategie der ‚ecclesia ad extra‘ hinfällig geworden. Man war damit jedoch sprachlos geworden und musste eine neue Sprache sprechen lernen.“18

Es markiert die Größe des Konzils, dass man einer derartigen Verunsicherung trotz hochgespannter Außenerwartungen, innerer Fraktionsbildungen und allgemeinen Zeitdrucks nicht ausgewichen ist. Wie man heute weiß, wurde mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes eine solche ‚neue Sprache‘ wenn nicht gefunden, so doch in Anfängen gewagt.19 Wer diese Konstitution genau liest, wird überall die alte Zweiteilung in prinzipielle und auf Empirie bezogene Passagen bemerken. Am deutlichsten wird dieser Dualismus wohl in der bekannten Fußnote gleich zu Anfang des Textes. Hier wird betont, dass Gaudium et spes zwar aus zwei Teilen besteht, diese aber als Einheit anzusehen seien. Denn im ersten lehrhaften Teil fehle nicht die pastorale, im zweiten empirischen nicht die lehrhafte Absicht. Man sei sich klar darüber, dass man im zweiten empirischen Teil lehrhaft behandle, was „nicht nur aus bleibenden, sondern auch aus bedingten Elementen besteht.“20

Hier vollzieht sich Dogmengeschichte. Denn zum ersten Mal werden veränderliche Umstände als solche Gegenstand der obersten kirchlichen Lehrverkündigung. Wie deutlich den Konzilsvätern diese Neuheit vor Augen stand, mag der Hinweis zeigen, dass über diese Fußnote sogar eine eigene Abstimmung des ganzen Konzils erfolgte.21 Noch einmal Sander: „Diese Fußnote schließt die Entwicklung des Textes ab. Sie repräsentiert die Innen-Außen-Problematik und die Nicht-Ausschließungsstrategie der pastoralen Ortsbestimmung, die den Text nicht nur von Anfang an begleitet haben, sondern seine Genealogie bestimmen. Mit ihr werden Pastoral und Dogmatik in eine neue Beziehung gesetzt: Sie stehen in keiner Unterordnungs-, sondern in einer Innen-Außen-Konstellation und in keiner Darlegung von einem dieser Pole darf der jeweils andere ausgeschlossen werden. Das jeweilige Außen hat für das Innen konstitutiven Rang und in der Differenz zwischen beiden werden Ausschließungen ausdrücklich überschritten.“22

Mit anderen Worten: Man entdeckt, dass der geschichtliche Kontext theologischer Gottesrede und pastoraler Verkündigung nicht als eine Art Aufführungsmanege fungiert, sondern beide Sprachvorgänge von innen her verändern muss. Man muss aus dem gegebenen Kontext heraus erst erlernen, was man über die Gegenwart Gottes wissen und was man in den Kontext hinein verkünden kann. Wer Eselsbrücken mag – es gilt sozusagen das ‚Triple-Kon‘. Konzil, das bedeutet: Der Kontext wird konstitutiv.

Diese Entdeckung des Kontextes, diese kulturhermeneutische Wende kann als die Grundspur konziliarer Theologie überhaupt angesehen werden. Sie kommt begrifflich sicherlich am klarsten in Gaudium et spes zum Ausdruck, liegt aber als Ausrichtung und organisierendes Prinzip auch in den anderen Dokumenten vor. Pointiert kann man sagen: Die Kirche geht als predigende in das Konzil hinein – und kommt als zuhörende wieder heraus. Zumindest auf der programmatischen Ebene ist das so:

– ‚Dei Verbum‘, die Konstitution über die göttliche Offenbarung – und damit über das Herz der Theologie – wechselt vom Instruktions- zum Kommunikationsparadigma und entdeckt Gott als den Sich-Mitteilenden, der sich die Menschen und die Kirche als Freund wünscht, um in ein Gespräch zu kommen. Gott selbst als der Zuhörende!

– ‚Sacrosanctum concilium‘, die Liturgiekonstitution, akzentuiert, dass der Gottesdienst der Kirche ein dialogisches Geschehen zwischen dem Gottesgeist und den Gläubigen in ‚tätiger Teilnahme‘ darstellt – welch letztere wachsen kann, wenn der kulturelle Rahmen der Feier (Sprache, Riten, Besonderheiten des Ortes usw.) konstitutiv einbezogen wird. Kontextuelles Zuhören als Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrbarkeit der liturgischen Zeichen!

– ‚Lumen Gentium‘, die Konstitution über die Kirche, macht einen Unterschied zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, spricht vom Volk Gottes der Menschen und eröffnet damit den Weg, Kirche größer zu denken als in den Grenzen ihrer institutionellen Präsenz. Kulturelle Neugier wird zur Basiskompetenz einer Kirche als lernender Organisation!

– Die Erklärung ‚Nostra aetate‘ rät den Christen, sehr aufmerksam die heiligende Weisheit der je anderen Religionen wahrzunehmen. Religiöse Vielfalt als Chance zum Zuhören!

– ‚Ad Gentes‘, das Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche, fordert direkt dazu auf, dass „das christliche Leben (…) dem Charakter und der Eigenart jeder Kultur angepasst“ wird (AG 22). Zuhören als erster Schritt der Inkulturation!

– ‚Christus Dominus‘, das Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe, empfiehlt diesen dringend, Einrichtungen der pastoralsoziologischen Forschung einzurichten (CD 17, auch CD 16), damit sie überhaupt wissen können, in welchen Bedingungen die Gläubigen ihrer Diözesen leben. Kontextuelles Zuhören als Weiterbildungsmaßnahme der Funktionsträger!

Man könnte viele weitere Beispiele dafür bringen, dass eine kulturhermeneutische Offensive als Leitphilosophie des Konzils ansprechbar ist.23 Die Hauptprogrammatik aber liefert hierfür die Pastoralkonstitution, die den Platz der Kirche in der Welt identifiziert – und eben nicht ihr gegenüber oder gar höhergestellt –, die gottgefällige Autonomie der Kultur herausschält und die Verkündigung der Kirche sogar darauf verweist, sich und ihren Inhalt von den Leuten her neu zu erfassen. Zuhören, um überhaupt dazuzugehören!

All dies war auf dem Konzil überraschend und ist es seitdem wohl immer noch.24 Zu eingefräst sind die jahrhundertelangen Routinen einer Kirche als ‚societas perfecta‘, als vollkommene Gesellschaft, die den Leuten nur dann Heil zuspricht, wenn sie ins Innere der verfassten Kirche eintreten. Wer seine Umwelt so lange im Modus der Bringschuld modelliert hat; wer glaubte, vom sicheren Boden der Tradition alles um sich herum bewerten zu können; wer sich so lange als einzige sakramentale Heilsanstalt verstanden hat – der wechselt nicht mal eben in den Modus der Selbst(er) findung durch Kulturkontakt. Und sei es noch so sehr höchstlehramtliche Äußerung: Auch ein Konzil braucht Zeit – manche sagen: drei Generationen – bis es wirksam in Ausbildungsgänge, Rollen-Selbstbilder, Planungskennziffern und dogmatische Sprachstile eingesickert ist. Man ist nur ehrlich, wenn man sagt: Unsere gegenwärtige Kirchenpraxis ist noch um einiges davon entfernt, diesen umwälzenden Fortschritten der Konzilsdogmatik in den Alltagsroutinen zu entsprechen. Die Vision einer diakonischen Kirche, die sich eins macht mit ihrem je neu und örtlich unverwechselbar gegebenen Kontext und die ihre Botschaft durch diesen kenotischen Akt neu empfängt, um sie erst dann zu verkünden – diese Vision sucht weiter nach ihrer geschichtlichen Stunde. Nach wie vor hätte Camus recht, wenn er sein Diktum auf uns bezöge: Sie haben verlernt, die wirklichen Gesichter in ihrer Umgebung zu sehen. Sie suchen weiterhin vor allem nach dem, was sie schon zu kennen glauben.

16 Vgl. Sander 2005: 626; sowie ebd.: 616–691 sowie Tanner 2006: 319–322.

17 Eine solche Konstitution war gar nicht im Konzilsplan vorgesehen. Gaudium et spes gilt ja gerade deswegen als genuine Frucht des Konzils, ja als sein unverwechselbarster Ausdruck, weil sich die Notwendigkeit zu solch einem Text aus den Debatten der Aula erst ergab; vgl. nur Sander 2005: 827–864; Pesch 1994: 311–350, bes. 348 f; Mette 2005.

18 Sander 2005: 627.

19 Dies ist ja das bekannte Diktum Karl Rahners, der von Gaudium et spes wie vom ganzen Konzilswerk als dem ‚Anfang des Anfangs‘ spricht; vgl. Rahner 1966: 14 u. ö. Wie sehr Rahner mit dem hier eher intuitiv gespürten als konzeptionell schon gewussten fälligen Fortschritt dogmatischer Rede gekämpft hat, zeigen seine Interventionen während der Debatten (vgl. Sander 2005: 650–663. 847 f), noch mehr aber seine überaus konstruktiven Einordnungen des dann dogmatisierten Dokumentes in der nachkonziliaren Zeit (vgl. nur Rahner 1967a).

20 Gaudium et spes, Fußnote zum Titel; zit. nach Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: 592.

21 Vgl. Sander 2005: 685–691. 704–710.

22 Sander 2005: 687.

23 Und es ist sicher kein Zufall, dass ebendiese dogmatischen Errungenschaften der kulturhermeneutischen Grundhaltung (Öffnung zur Ökumene, Religionsfreiheit, Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, Mission als Inkulturation, kulturell adaptierte Liturgie usw.) heute den eigentlichen Streitpunkt mit rechtsintegralistischen Kräften darüber bilden, inwiefern das Vatikanum II überhaupt als dogmatisches Konzil angesehen wird.

24 Vgl. als eine wichtige Stimme Klinger 1997: 77 f: „Die Pastoralkonstitution ist ein Wendepunkt in der Kirche. Sie stellt die Tradition vom Kopf auf die Füße; diese war bis dahin selbst eine Quelle der Offenbarung. Man konnte von ihr her alles, was nicht zu ihr gehört, bewerten. Nun aber heißt es: Die Kirche vermag dem eigenen Glauben nicht beredter Ausdruck zu geben, als wenn sie ihn von den Menschen her versteht, an die sich wendet, ihre Würde achtet, ihre Rechte anerkennt, Dialog mit ihnen führt (…). Dieser Perspektivwechsel im Umgang mit der Vergangenheit hat grundlegenden Charakter. Man kann seine Bedeutung nicht hoch genug einschätzen; denn er wird in der Konstitution [gemeint ist GS, MS] (…) methodisch durchgeführt.“

2 Erster Angang: Gaudium et spes 44 und der neue pastoraltheologische Dreischritt

Man kann mit einigem Recht sagen: Eine Gewinnerin dieser Entdeckung des Kontextes in seiner konstitutiven Wichtigkeit für theologische Erkenntnis ist die Pastoraltheologie. Sie erhält nun ihr eigentliches Formalobjekt als Wissenschaft. Auch wenn die Selbstdefinition dieser Disziplin vielfältig ist und die „Pluralität im eigenen Haus“25 großgeschrieben wird, so wird man doch zwei gemeinsame Nenner behaupten können. Erstens sind die Zeiten vorbei, in denen man Pastoraltheologie einfach als die handwerkliche Ausbildung von Pfarrern oder als Erfüllungsgehilfin einer überzeitlich immer schon Bescheid wissenden Dogmatik verstand. Zweitens steht im Vordergrund der Forschungen, dass man empirisch erforschte Praxis in Anschlag bringt für den Erkenntnisprozess der Theologie an sich. Welche Praxis von wem dann methodisch wie für welche Theorie erschlossen wird, das ist kontrovers. Das ‚ob überhaupt‘ aber nicht.

2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext

Interessanterweise sind es oft gerade Dogmatiker und Fundamentaltheologen gewesen, die die systematische, ja: die offenbarungstheologische Bedeutung einer pastoraltheologischen Kontextanalyse betont und als Desiderat gefordert haben. Die akademische Pastoraltheologie verdankt Denkern wie Karl Rahner, Klaus Hemmerle, Johann Baptist Metz, Walter Kasper, Karl Lehmann, Elmar Klinger, Jürgen Werbick, Hans-Joachim Hilberath oder Hans-Joachim Sander sehr viel.26 Was sich in den Werken dieser in sich natürlich wieder sehr differenten Autoren spiegelt, ist der Optimismus, dass ‚Tradition‘ kein Vorgang der Reformulierung des immer Gleichen und prinzipiell Wissbaren bedeutet, sondern prozessuale, relationale und damit performative Qualität hat: Tradieren als Prozess im Vollzug erschließt der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als Ganzer neue Potenziale der Erkenntnis, des Ausdrucks und der Verehrung. Tradieren hat substantiell mindestens genauso viel mit Risiko wie mit Sicherheit zu tun. Denn erst die mutige, lernende Selbstüberlieferung an den Kontext beglaubigt, was die Verkündigung des Evangeliums inhaltlich aussagen will: dass über der Welt das Versprechen eines Gottes liegt, diese zum Heil zu führen; dass man im Glauben an die Erfüllung dieses Versprechens gewagte Vertrauensvorschüsse an Andere hin signalisieren kann; dass man sich im Fremden seiner selbst gerade nicht verliert, sondern findet.27

Letztlich geht es hier um ein dynamisches Verständnis von Tradition, das sein uneinholbares Zielbild in der ‚Tradition‘ (wörtlich: Dahingabe; griechisch: paradosis) des Gottessohnes selbst am Kreuz findet.28 Nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften wird Jesus in vielfacher Weise ‚tradiert‘, so oft und vielfältig, dass man sagen kann, dass der Gestus des Selbstrisikos geradezu das Typische der Jesusgeschichte selbst ist: Beim Letzten Abendmahl übergibt sich Jesus den Jüngern in den Gestalten von Brot und Wein (Lk 22,19 f); Judas liefert ihn an die jüdische Obrigkeit aus (Mk 14,10), der Hohe Rat übergibt ihn den Römern (Mk 15,1), und schließlich übergibt ihn Pilatus den Soldaten zur Kreuzigung (Mk 15,5). Im innertrinitarischen Geschehen ist es der Vater, der den Sohn dahingibt (Joh 3,16; vgl. auch Röm 8,32) und ist es der Gekreuzigte, der seinen Geist aufgibt (Joh 19,30; vgl. Joh 15,13). Schließlich bekennt Paulus, dass er für den Sohn Gottes lebt, der sich für ihn hingegeben hat (Gal 2,20). ‚Tradition‘, Selbstüberlieferung ist nach diesem exegetischen Kurzbefund also ein Prozess, der alle Geschehenspartner involviert und anfordert und niemanden unverändert hinterlässt – und ist eben keine Nachlassverwaltung eines bereits definierten Erbes, das keinen Außenweltkontakt mehr vertrüge. Tradition ist ein paradoxes Verb: die Entdeckung der je neuen Neuheit dessen, was der gegenwärtige Gott in seinem Geist je heute wirken will. Die konstitutive Hinwendung zum Kontext fügt der restfreien Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus nichts hinzu; sie vollzieht die Grundbewegung dieser Selbstmitteilung aber prozessual nach; und sie macht sie erst zur Mitteilung, das heißt: Ohne den Kontextbezug bleibt eine als Kommunikation verstandene Offenbarung reine Information. Zur echten Mitteilung wird sie erst über das Aussetzen ihrer selbst in einen externen Verstehenshorizont.29