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Susanne Hegger

SPERARE CONTRA SPEM

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Herausgegeben von

Karl-Heinz Menke

Julia Knop

Magnus Lerch

Bonner
Dogmatische
Studien

Band 51

Susanne Hegger

SPERARE CONTRA SPEM

Die Hölle als

Gnadengeschenk Gottes

bei Hans Urs von Balthasar

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Für Jonathan, Theresa und Leonard

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH

Umschlaggestaltung: Peter Hellmund

ISBN 978-3-429-03512-9 (Print)

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

1.1 Abschied von der Hölle?

1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar

1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung

2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss

2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie

2.1.1 Theologisches Apriori natürlicher Erkenntnis

2.1.2 Unterscheidend christliche Metaphysik

2.1.2.1 Seinsvergessenheit der neuzeitlichen Metaphysik

2.1.2.2 Das Wunder des Seins aus meta-anthropologischer Perspektive

2.1.2.2.1 Formale Struktur des Seins

2.1.2.2.2 Materiale Struktur des Seins

2.1.2.2.3 Analogie des Seins

2.2 Theologie als Ausdruck des Eindrucks des göttlichen Wortes

2.2.1 Wahrheit als Beziehungsgeschehen

2.2.2 Theologische Wahrheit als Liebesgeschehen

Exkurs: Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr

2.2.3 Mystik als locus theologicus

2.3 Die Gestalt der balthasarschen Theologie

2.3.1 Die Trilogie: Theologische Ästhetik – Theodramatik – Theologik

2.3.2 Theologische Phänomenologie

2.3.3 Methode der Integration

2.4 Reflexion

2.4.1 Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Mystik

2.4.2 Absage an die Behauptung der Apriorität theologischer Aussagen

3. Die Frage der Hölle im Konnex der theologischen Summe Balthasars

3.1 Hölle im Spiegel trinitarischer Lebendigkeit

3.1.1 Hermeneutik des Kreuzes

3.1.2 Das Wesen Gottes als dreieiniges Geschehen der Liebe: die „Ur-Kenose“ in Gott

3.1.2.1 Dreiheit der Personen: die trinitarischen Prozessionen

3.1.2.1.1 Die Zeugung des Sohnes

3.1.2.1.2 Die Hauchung des Geistes

3.1.2.2 Einheit des Wesens: circumincessio

3.1.3 Hölle als unendliche Starre

3.2 Hölle aus anthropologischer Perspektive

3.2.1 Analogia trinitatis

3.2.1.1 Das Sein des Menschen als imago Dei: analogia libertatis

Exkurs: Zur Denkform Balthasars

3.2.1.1.1 Endliche Freiheit als bipolarer Spannungsbogen zwischen Autonomie und Verdanktsein

3.2.1.1.2 Die Gefahr sündiger Verfehlung endlicher Freiheit

3.2.1.2 Die Bestimmung des Menschen zur similitudo Dei: analogia personalitatis

3.2.2 Entdramatisierung der (Heils)Geschichte?

3.2.3 Hölle als egozentrische Selbstverschließung

3.3 Hölle im Fokus christologischer Zentrierung

3.3.1 Koinzidenz von Person und Sendung Jesu Christi

3.3.1.1 Jesu Bewusstsein ewiger Sohnschaft

3.3.1.2 Das Sein Jesu Christi als konkrete analogia entis

3.3.2 Das Kreuz im Zentrum der Sendung

3.3.2.1 Das pro nobis als ontisch reale Stellvertretung

3.3.2.2 Jesu Erfahrung der Weltsünde in der Passion

3.3.2.3 Der Tod Jesu als Weltgericht

3.3.3 Der descensus Jesu Christi ad inferos

3.3.3.1 Descensus als Höllenerfahrung Jesu

3.3.3.2 Die Befreiung endlichen Seins zur analogia Christi

3.3.3.3 Neubesinnung oder Häresie?

3.3.3.3.1 Wider den Häresieverdacht

3.3.3.3.2 Zur Begründung der Rechtgläubigkeit

3.4 Hölle im Licht des neuen Äon

3.4.1 Der Mensch unter dem Gericht

3.4.1.1 Selbstgericht in der personalen Begegnung mit der göttlichen Wahrheit

3.4.1.2 Die Gerechtigkeit des Richters als Modus seiner Liebe

3.4.2 Hoffnung für alle

3.4.2.1 Hoffnung als göttliche Tugend

3.4.2.2 Hoffnung auf allerlösende Macht der Ohnmachtsgestalt des Retters

3.4.2.3 Kritische Rückfragen

3.4.2.3.1 Verweltlichung des christlichen Glaubens durch Heilsgewissheit?

3.4.2.3.2 Logische Verstrickung in eine Lehre von der Apokatastasis panton?

3.4.2.3.3 Theologische Abseitigkeit?

4. Ausblick: Pathologische Angst als Vorschattung von Hölle?

4.1 Bestandsaufnahme: Beispiele theologischer Annäherungen an die Angstthematik

4.2 Rahmenbedingungen eines Dialogs zwischen Balthasar und der Daseinsanalyse

4.3 Angst aus daseinsanalytischer Perspektive

4.3.1 Grundzüge des menschlichen Wesens

4.3.2 Pathologische Angst als Privationsphänomen

4.4 Überlegungen zu Möglichkeiten eines diskursiven Gesprächs zwischen daseinsanalytischem Angstverständnis und Balthasars Theologie der Hölle

4.5 Perspektiven

5. Schlussbetrachtung

6. Abkürzungsverzeichnis

7. Literaturverzeichnis

8. Personenregister

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2011/12 als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des theologischen Doktorgrades angenommen. Für die Veröffentlichung wurde lediglich ein Personenregister ergänzend hinzugefügt.

Eine Promotionsschrift ist immer Produkt eines jahrelangen Denk- und Arbeitsprozesses, der nicht im „Alleingang“ zu bewältigen ist, sondern stets auch durch unterschiedliche Formen der Begleitung und Unterstützung belebt, in Gang gehalten und schließlich zum Abschluss gebracht wird. Am Anfang soll darum ein Wort des Dankes an jene stehen, die auf je eigene Weise einen Beitrag zum Gelingen meines Vorhabens geleistet haben.

Prof. Dr. Markus Knapp hat die Arbeit von der ersten, noch unscharfen Fragestellung bis zur letzten Zeile gleichermaßen konstruktiv wie kritisch begleitet, sowie das Erstgutachten erstellt. Ganz besonders dankbar bin ich ihm für die Selbstverständlichkeit, mit der er mir dabei ohne jeden Vorbehalt zugetraut hat, familiären Verpflichtungen, dienstlichen Aufgaben und einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt gleichermaßen gerecht werden zu können. Das war und ist mir eine große Zu-Mut-ung!

Die Mühe des Zweitgutachtens hat Prof. em. Dr. Hermann Josef Pottmeyer auf sich genommen. Ihm gebührt darum mein Dank ebenso wie Prof. Dr. Karl-Heinz Menke für die bereitwillige Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Bonner Dogmatische Studien“. Dem Bistum Essen sage ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss Dank.

Nicht minder wichtig als die Unterstützung, die ich von akademischer und kirchlicher Seite erfahren durfte, waren Beistand und Hilfe von Freunden und meiner Familie. Frau Jutta Doetsch danke ich für so manchen bereichernden (theologischen) Gedankenaustausch, besonders wenn er spätabends, an Wochenenden oder auf Autofahrten stattfand. Um die leidige aber unverzichtbare Aufgabe des Korrekturlesens haben sich Tim Schiller und vor allem Dr. Bettina Oeste verdient gemacht. Ihr weiß ich mich außerdem für das eine oder andere Telefonat zu Dank verpflichtet. Mein Mann Andreas Hegger hat mein Projekt in jeder Phase mit großer Gelassenheit und dankenswerter Geduld verfolgt und mir so die für jedes wissenschaftliche Forschen unabdingbare Ruhe gewährt.

Mein ganz besonderer Dank aber gilt meinen Kindern Jonathan, Theresa und Leonard, denen diese Arbeit darum gewidmet ist. Immer wieder haben sie als Heranwachsende gleichsam ihre Rollen mit mir getauscht und mich ermuntert, gelobt, getröstet oder aber auch, wann immer es ihnen nötig erschien, zur Arbeit geradezu angetrieben. Ohne ihr großes Verständnis, ihre Unterstützung und Nachsicht hätte diese Studie nicht entstehen können.

Voerde, im Februar 2012

Susanne Hegger

1. Einleitung

Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Frage der Hölle im 21. Jahrhundert mag auf den ersten Blick nicht nur anachronistisch, sondern geradezu befremdlich erscheinen. Nachdem die Höllenthematik über Jahrhunderte hinweg nicht zuletzt im Interesse der Sicherung kirchlicher Macht über die Gläubigen eine zentrale Stellung in Theologie und Verkündigung eingenommen hatte, setzte in der evangelischen Theologie im 19., katholischerseits dann ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Kehrtwende ein. „Vor dem Denkhorizont des 20. Jahrhunderts erweisen sich die überkommenen Vorstellungen von der Hölle in zunehmendem Maße als nicht mehr mitvollziehbar“1, und so wächst die Einsicht in die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Entmythologisierung der Lehre. „Die naive analogielose Anwendung unseres Zeit- und Raumdenkens, eine rein innerweltl(iche) Beurteilung des Ganzen also, die diesem Dogma eine oft kaum zu ertragende Gestalt gibt, muß … als eine Verzerrung seiner eigentl. Bedeutung erkannt werden“2, betont in diesem Sinne schon 1960 Joseph Ratzinger. Vor allem aber wächst mehr und mehr das Bewusstsein für die im engeren Sinne theo-logische Problematik der Rede von einer ewigen Bestrafung des unbekehrten Sünders. Immer mehr Gläubigen erscheint sie als letztlich unvereinbar mit dem christlichen Bild eines dem Menschen in absoluter Liebe zugewandten, zutiefst gütigen und barmherzigen Gottes.

1.1 Abschied von der Hölle?

„Die großen Theologen unseres (= des 20.; S. H.) Jahrhunderts haben versucht, der Hölle die Flammen zu löschen“3. Mit einer Neubesinnung auf die in Jesus Christus offenbar gewordene absolute Liebe Gottes und seinen unbedingten Heilswillen treten sie an, die Pervertierung der christlichen Frohbotschaft zu einer Drohbotschaft zu überwinden. „So wird heute die Tendenz zu einem gegenläufigen Pendelschlag verständlich, daß man nämlich statt von Gericht, Strafe und Hölle zu sprechen, nur noch einlinig Heil, Liebe und ewiges, seliges Leben hervorhebt.“4 Dieser Befund gilt sowohl mit Blick auf die wissenschaftliche Theologie, wie auch hinsichtlich der Verkündigungspraxis. Elke Jüngling kommt in einer breiten Bestandsaufnahme zu dem Ergebnis, dass in manchen neueren evangelischen aber auch ökumenischen Dogmatiken das Thema der Hölle schlicht vermieden und ausgespart wird.5 Aber auch dort, wo Abhandlungen sich der Frage annehmen, „brechen (sie) mit dem traditionellen eschatologischen Diskurs“6, indem sie zu Abschwächungen und Relativierungen der traditionellen Lehre neigen, stellt Michael Ebertz fest.7 Den gleichen Richtungswechsel kann er in einer historisch-empirischen Untersuchung für Predigttexte nachweisen. Auch hier ist ‚Hölle‘ „zu einem Tabuthema geworden …, worüber man eigentlich sprechen müßte, aber nicht mehr angemessen sprechen kann“8.

Diese Entwicklung entpuppt sich nun zunehmend als zweischneidiges Schwert. Einerseits kann und darf es gar keinen Zweifel daran geben, dass der vollzogene Umbruch des Denkens nicht nur geistesgeschichtlich unausweichlich, sondern auch theologisch unbedingt geboten war. Im Zentrum der christlichen Botschaft steht die Rettung und Befreiung der Menschheit durch Jesus Christus. In ihm, in seinem Leben, Wirken und Sterben, zuhöchst aber in seiner Auferweckung ist das Heil Gottes in der Welt angebrochen, der damit zugleich ihre Vollendung in der Teilhabe an der göttlichen Liebe verheißen ist. Jede Rede von der Hölle im Sinne der realen Möglichkeit endgültiger Verfehlung dieser letzten Bestimmung von Mensch und Welt ist damit grundsätzlich auf eine Hermeneutik der Erlösung verpflichtet. Hinter diese fundamentale Einsicht darf es unter keinen Umständen ein Zurück geben.

Andererseits aber wird man sagen müssen, dass nicht nur eine Reinigung des Höllentopos von verfehlten und missbräuchlichen Vorstellungen stattgefunden hat, sondern geradezu ein Umschlag in das Gegenteil vollzogen wurde, indem die Theologie dazu neigt, „sich ausschließlich des ewigen Lebens und der Liebe Gottes zu versichern.“9 In der Eschatologie hat sich so in Ablösung der Rede von der Verwerfung der Vielen ein neues Paradigma durchgesetzt, das „in zugespitzter Kurzform: ‚Wenn Tod, dann Himmel‘“10 lautet. Mit dieser Beschneidung der Lehre von den letzten Dingen um ehemalige Schlüsselbegriffe und Grundgedanken11, findet aber nicht nur eine Korrektur der kirchlich-theologischen Tradition, sondern auch eine deutliche Veränderung der christlichen Botschaft statt.

Wenngleich Jesus auch sicherlich kein Höllenprediger war, so spielt die Warnung vor der Gefahr, das zugesagte Heil endgültig zu verfehlen doch zweifellos eine unverkennbare Rolle in seiner Verkündigung.12 Wird diese Dimension in der Gegenwartsdiskussion nun ausgeblendet, so hat dies erhebliche Konsequenzen nicht nur für die Eschatologie, sondern für die Theologie insgesamt. Indem ein gewisser Heilsoptimismus, wenn nicht gar eine Heilsgewissheit um sich greift, geschieht nämlich eine regelrechte Zivilisierung des biblischen Gottes13 zu einem partnerschaftlichen Kumpanen.14 „Alles, was den Gott des Evangeliums unbequem, ja ärgerlich machte, wurde strukturell eliminiert.“15 Zur neuen Leitformel und Basisorientierung wurde der ‚liebe Gott16, ein Gott mithin, „über dessen Haltung man sich getrost hinwegzusetzen vermag“17, weil nichts Bedrohliches von ihm ausgeht. „Die inflationäre Rhetorik vom lieben Gott aber ist nicht nur langweilig und undramatisch, sie betrügt auch um den Ernst, der die Liebe in einer lieblosen Welt ans Kreuz gebracht hat.“18 Das biblische Gotteszeugnis wird dergestalt „unter dem Apriori einer ‚Hermeneutik der Harmlosigkeit‘ gedeutet“19. Mit der Reduzierung der zwischengottmenschlichenen Beziehung auf den Zuspruch göttlicher Liebe, wird der Anspruchcharakter der christlichen Botschaft eliminiert.20

Aus dieser Eindimensionalität ergibt sich aber nicht nur eine neue, gleichsam gegenläufige Verzerrung des Gottesbildes. Auch das Bild des Menschen erfährt deutliche Veränderungen in seiner Konturierung, wobei allerdings logisch zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden können. Entweder dem menschlichen Dasein wird ein letzter Sinn und Ernst abgesprochen, weil und indem ohne letztgültige Ausrichtung und Weisung alles Handeln wie auch jede Entscheidung willkürlich und beliebig erscheinen, oder aber der Mensch muss antreten, sich und der Welt selber ein Ziel, aber auch Maß und Norm zu verleihen. Mit dem Verzicht auf den Höllentopos nämlich geht notwendig der Verlust des Gerichtsgedankens einher. Ist die Erwartung eines letzten göttlichen Aktes, mit dem jeder Mensch, sei er Opfer oder Täter, schließlich in sein Recht gesetzt wird, aber erst einmal aufgegeben, so „fällt die ganze Last der Gerechtigkeitssicherung auf menschliche Instanzen, auf den Menschen überhaupt zurück.“21 Dieser Aufgabe aber kann er als endliches Wesen schlechterdings nicht gerecht werden. Scheinbar aus der Fremdbestimmung eines allgegenwärtigen, disziplinierenden Gottes befreit, sieht er sich vor die Begrenztheit und Unzulänglichkeit seines eigenen Daseins gestellt.

In der Auseinandersetzung nicht zuletzt mit dieser Erfahrung kommt nun unversehens die Rede von der Hölle in veränderter Gestalt vielfach wieder ins Spiel. „Seit dem 19. Jahrhundert sind es paradoxerweise … die atheistischen Dichter und Denker, die sich darum bemühen, die Hölle neu zu definieren.“22 In Literatur, Kunst und Philosophie findet zunehmend „das Bewußtsein von der Existenz von Höllen im Mikrokoskosmos des menschlichen Ich und im Makrokosmos der Gesellschaften und Schöpfung im Großen wie der menschlichen Beziehungen im Kleinen“23 seinen Niederschlag.24 „Der makrokosmische Bereich umfasst alles Entsetzliche, das Menschen einander antun können.“25 Es sind vor allem die Grauen der Weltkriege, aber etwa auch die systematische Vergewaltigung von Frauen zu kriegerischen Zwecken im ehemaligen Jugoslawien oder die Zustände in Flüchtlingslagern, die immer wieder mit dem Höllentopos in Zusammenhang gebracht wurden und werden.26 Als Höllenerfahrungen auf mikrokosmischer Ebene werden vielfach innerpsychische Deformationen und Zerrissenheiten interpretiert.

Auf die Herausforderung durch diese Entwicklung hat die Theologie ihrerseits durchaus reagiert. In zunehmendem Maße sind in ihrem Raum analoge Ansätze erkennbar, Erfahrungen von Not und Grauen als Momente des Unheil-Seins auszuweisen und damit in den Horizont der christlichen Heilsfrage zu rücken. So betrachtet etwa Joachim Gnilka die Hölle durchaus als ein irdisches Phänomen. „Die Hölle ist die Verweigerung und Umkehrung der Botschaft des Heils, der Liebe, des Gnadenangebotes Gottes. Die Realität des Bösen wirkt um uns und unter uns.“27 Mit diesem Verständnis liegt er ganz auf einer Linie mit Karl Rahner, dem die biblischen Aussagen über die Hölle ebenfalls als Enthüllung der Situation, in der der Mensch sich jetzt befindet, gelten.28 Wilhelm Maas geht sogar so weit, ‚Hölle‘ als „eine exakte ‚Orts‘-Beschreibung menschlicher Existenz heute“29 zu bezeichnen. Aus einer kultur- und gesellschaftskritischen Perspektive erscheint ihm die Epoche der Moderne insgesamt zutiefst gekennzeichnet durch „höllische (…) Kommunikationslosigkeit und Ich-Einsamkeit“30. Papst Benedikt XVI. denkt demgegenüber mehr auf ontischer Ebene, wenn er die Hölle als Abgrund der menschlichen Natur bezeichnet. „Mehr denn je wissen wir heute, dass eines jeden Existenz diese Tiefe berührt“31, so auch seine Einschätzung.

Die Vorstellung diesseitiger Höllen fristet nun aber anders als man bis hierher meinen könnte, keineswegs ein „Nischendasein“ in den Köpfen weniger Intellektueller. Dem Abschied vom traditionellen Bild der Hölle steht im Gegenteil auch im allgemeinen, öffentlichen Bewusstsein eine große Präsenz des Topos gegenüber. In einer profunden Untersuchung von Zeitungsschlagzeilen, Fernsehfilmen und Meinungsumfragen zur Höllenthematik gelangt Elke Jüngling zu der Erkenntnis, dass am Ende des 20. Jahrhunderts der Begriff ‚Hölle‘ wohl breitere Verwendung findet, als jemals zuvor in der Geschichte.32 Auffallend dabei ist allerdings ein tiefgreifender Bedeutungswandel. Indem der Höllenbegriff gleichsam seiner eschatologischen Dimension entkleidet wird, geschieht eine entscheidende Verlagerung der Schuldfrage. Hölle ist nicht mehr Folge von Sünde vor Gott, ja sie liegt gar nicht mehr primär im eigenen Verhalten eines Menschen begründet. Der Begriff wird vielmehr zumeist „als Synonym für [unschuldiges] Leiden verwendet.“33

Der bisherige Befund zeigt nun, wie ich meine, ein Doppeltes: Zunächst einmal gibt er allen Anlass zu der Hoffnung, dass das ehemalige Verständnis der Hölle als jenseitigem Strafort tatsächlich überwunden ist. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist endgültig nicht mehr anfällig für Versuche einer Disziplinierung und Reglementierung seines Lebensvollzugs durch Androhungen ewiger Verdammnis. Dann aber ist auch deutlich geworden, und dies mag vielleicht überraschen, dass eine christlich verantwortete Rede von der Hölle heute vielleicht weniger verzichtbar ist denn je. Der Mensch, jeder Einzelne, in seinem ganz persönlichen Umfeld, wie auch die Weltbevölkerung insgesamt, ist in unserem Zeitalter immer rasanterer Entwicklungen auf allen Gebieten der Politik, Forschung und Lebensführung immer schneller vor immer größere Herausforderungen, Aufgaben und Entscheidungen gestellt, die zu bewältigen ihn zunehmend überfordert. In einer stetig steigenden Zahl von Biographien stellen sich darum Erfahrungen tiefen Unheil-Seins ein. Diese menschliche Not gilt es theologisch unbedingt einzuholen. Wenn nämlich „diesseitige Erfahrungen von Hölle in Leid und Qual nicht mehr mit Gott in Verbindung gesetzt werden, kann die christliche Botschaft die Menschen als Trost und Kraft nicht mehr erreichen“34.

Der zweifellos ganz und gar notwendige Paradigmenwechsel von der Verbreitung einer Drohbotschaft zur Verkündigung der Frohen Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes in Jesus Christus hat es mit sich gebracht, dass gemeinhin Erfahrungen gelingenden Menschseins theologisch als Verheißung und Angeld endgültigen Heils interpretiert werden. Was aber, wenn solche Momente des Glücks und Heils einem Menschen, aus welchen Gründen auch immer, nicht zugänglich sind? Wenn er, sei es zu Recht oder Unrecht, sein Leben von Unglück beherrscht sieht? Die Botschaft von der göttlichen Heilszusage findet dann keine Anknüpfungsmöglichkeiten und muss ins Leere laufen; „die Hölle auf Erden bleibt gottlos.“35 Besonders an jene Menschen aber, die der Heilung bedürfen, richtet sich die Selbstzusage Gottes. Gefragt sind darum „positive Entwürfe …, die den (Höllen)Topos in eine Gotteslehre einbringen“36.

Die bereits exemplarisch angeführten theologischen Versuche, Hölle als diesseitige Unheilserfahrungen in unsere Zeit hinein thematisch werden zu lassen, leisten dies indes nicht, sondern verbleiben weitestgehend auf der Ebene reiner Setzung. Der Zusammenhang zwischen dem Theolugomenon und existentiellen Erfahrungen wird zwar behauptet, nicht aber systematisch hergeleitet. Geeignete Ansatzpunkte für eine theologische Neuentdeckung und zeitgemäße Fassung der Höllenthematik bieten sich aber, so die Grundthese dieser Arbeit, im theologischen Werk Hans Urs von Balthasars.

1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar

Der schweizer Theologe ist der wohl letzte Denker, der sich in ernst zu nehmender Weise mit der Frage der Hölle befasst hat. Aber nicht nur deshalb bietet es sich an, seine Überlegungen zum Gegenstand der folgenden Untersuchung zu machen. „Balthasar ist vielleicht der gebildetste Mann seiner Zeit.“37 Neben einem schier unerschöpflichen Fundus an Wissen aus nahezu allen Bereichen der Literatur, Kunst, Musik und Philosophie verfügte der promovierte Germanist vor allem auch über ganz außergewöhnliche Kenntnisse der Theologiegeschichte, insbesondere aber der Patristik. Seine theologischen Überlegungen durchmessen daher einen ungewöhnlich weit aufgespannten geistesgeschichtlichen Horizont. Bei aller Weite seines Denkens weiß Balthasar sich aber immer in unverbrüchlicher Treue auf das Wort der Schrift als norma normans allen Theologisierens verpflichtet. Von dorther fühlt er sich nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, dort, wo es ihm nötig erscheint, Irrtümer und Fehler in der theologischen Tradition als solche aufzudecken und Korrekturen einzufordern. „Entschieden rückte er die Überzeugung von der absoluten Barmherzigkeit Gottes in das Zentrum seiner Theologie und überdachte von hieraus nochmals die überkommenen Traditionen. Dies gilt insbesondere für die Eschatologie, in der die Linien seiner gesamten Theologie sich verdichten.“38

Theologie als Reflexion auf die in Jesus Christus ergangene Selbstoffenbarung Gottes muss, so Balthasar, Spiegel ihres Gegenstandes sein. Im Zentrum der Botschaft Jesu aber steht der unbedingte Heilswille Gottes. Im Christusereignis ist das Reich Gottes bereits in dieser Welt angebrochen und seine endgültige Durchsetzung zum Heil aller Menschen zugleich verheißen. Schlechthinniger Ort der Heilswahrheit ist darum nach balthasarschem Verständnis die Eschatologie, denn erst eingedenk seiner Verendgültigung ist das in der Person Jesu Christi ergehende Beziehungsangebot in seiner ganzen Tiefe zu ermessen. „Gott ist das ‚Letzte Ding‘ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegefeuer.“39 Rede von Gott ist demnach nur dann dem christlichen Gottesbild angemessen, wenn sie zuinnerst eschatologisch dimensioniert ist.

Von dieser Grundüberzeugung her verfolgt Balthasar, darin bewusst den Spuren Karl Barths40 und anderer protestantischer Theologen seiner Zeit folgend, das Programm einer umfassenden Eschatologisierung der Theologie in allen ihren Lehrstücken.41 „Es ist jedoch begreiflich, daß dieses Aufpflügen der Theologie von der Eschatologie her eine beruhigte systematische Darstellung nicht gefördert hat; sind doch die Letzten Dinge viel eher der Ort, wo – spätestens! – die Aporetik der Theologie sichtbar wird. Es gibt kein ‚System‘ der Letzten Dinge“42. Balthasars Theologie sprengt darum jede klassische Systematik; vor allem sprengt sie die Grenzen aller Traktate auf. Dies heißt nun aber nicht, sie verliefe sich gleichsam in einer Aufaddierung von Disparatem. Vielmehr ist sein Werk in allen seinen Teilen christozentrisch ausgerichtet und strukturiert und hat in diesem Sinne durchaus eine innere Einheit.

Die eigentliche Originalität des balthasarschen Denkens liegt nun aber darin, dass er den Einheitspunkt der Theologie noch einmal auf eine zentrierende Mitte zugespitzt sieht. Hans Urs von Balthasar zufolge ergeht die Selbstoffenbarung Gottes zuhöchst im Karsamstagsereignis. Einzig vom Höllenabstieg Jesu Christi her ist darum seiner Überzeugung nach die christliche Heilsbotschaft angemessen zu erschließen und in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Damit ist klar, dass die balthasarsche Rede von der Hölle jeder Drohgebärde von Grund auf zuwider läuft. Sie ist vielmehr fundamental darauf ausgerichtet, eine universale Hoffnungsperspektive zu eröffnen und als begründet auszuweisen. Der Grundgedanke dabei ist, dass der Sohn Gottes das göttliche Heil bis in die tiefsten Abgründe des Menschen und seiner Welt hineinträgt und dergestalt Hoffnung auch und gerade dort stiftet, wo völlige Hoffnungslosigkeit herrscht. Von diesem Ereignis her entwickelt Balthasar also seine Theologie insgesamt, was in der Konsequenz zugleich bedeutet, dass alle seine theologischen Aussagen, sei es explizit oder auch implizit, die Signatur des Descensus Christi ad inferos tragen.

Es kann nicht verwundern, wenn eine solche Grundkonzeption in starkem Maße polarisierend wirkt. Balthasar hat ebenso glühende Bewunderer,43 wie auch vehemente Gegner. Gegen seine Verächter ist der Theologe vielfach „in Schutz zu nehmen – nicht, um eine sachliche Debatte zu blockieren, sondern um – gelinde gesagt – unterkomplexe Zuschreibungen abzuwehren.“44 Im Fokus polemischer Kritik stand zunächst einmal, wie nicht anders zu erwarten, die Frage der Hoffnung auf das Heil aller. Ihren Höhepunkt erreichten die diesbezüglichen Anfeindungen Balthasars durch Vertreter kirchlich rechtskonservativer Kreise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.45 Nach einer längeren Phase, in der seine Theologie der Hölle eher verhalten diskutiert wurde, löste im Jahr 2007 dann die amerikanische Theologin Alyssa L. Pittstick mit ihrer Dissertation,46 in der sie Balthasars Theologie des Karsamstags unter Häresieverdacht stellt, im englischsprachigen Raum neue und z. T. abermals heftige Auseinandersetzungen aus.47 Eine eingehende, systematische Darstellung und Untersuchung des balthasarschen Entwurfs zu einer Theologie der Hölle jedoch bleiben bei allen KritikerInnen gleichermaßen zu vermissen.

Nun sind in jüngerer Zeit bemerkenswerter Weise zwei große Arbeiten zur Höllenthematik erschienen, aber auch diese handeln beide nicht von Balthasar. In ihrer schon mehrfach zitierten Dissertation zeigt Elke Jüngling u. a. in einer systematisch-theologischen Bestandsaufnahme,48 dass es sich bei der Hölle keineswegs um einen veralteten Glaubensartikel handelt. Hans Urs von Balthasar gehört aber leider nicht zu den 20 von ihr exemplarisch ausgewählten und besprochenen Theologen. Eine eher fundamentaltheologische Perspektive nimmt Markus Schulze ein und fragt: „Ist die Hölle menschenmöglich?“49 Seine Arbeit dazu will er ausdrücklich verstanden wissen „als eine historisch-systematische Hinführung zu Balthasar und der Auseinandersetzung um sein Werk“50. Er denkt also „bis an Balthasar heran, nicht wirklich in seine Eschatologie hinein.“51 Diese angemessen zur Sprache zu bringen, formuliert er allerdings explizit als dringende Forschungsaufgabe.52

Der Stand innerhalb der Balthasar-Rezeption bleibt also auch durch erste Ansätze zu einer Wiederentdeckung der Höllenfrage unverändert. Zur Diskussion steht immer wieder das gedankliche Endergebnis der balthasarschen Theologie der Hölle, ohne dass aber die Wege seiner Herleitung angemessen erschlossen und erhellt wären. Die Tragfähigkeit jeder Kritik, sei sie nun negativ oder auch positiv53, kann damit nur eine deutlich begrenzte sein. Damit aber wird letztlich die Chance vergeben, das nicht nur so ganz originäre, sondern zweifellos auch sehr reiche Denken Balthasars auf heutige Frage- und Problemstellungen hin auszuwerten und fruchtbar zu machen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Bearbeitung dieses Desiderats.

1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung

Weil die Eschatologie bei Balthasar kein Traktat neben anderen ist und weil vor allem der Descensus für ihn kein Lehrstück unter vielen anderen darstellt, sondern vielmehr „zu einem Strukturelement … (seines; S. H.) ganzen Lehrgebäudes“54 avanciert, besteht die mit dem Vorhaben einer systematischen Erschließung der balthasarschen Rede von der Hölle gegebene Aufgabe notwendig darin, die Frage nach der Möglichkeit endgültiger Verlorenheit des Sünders vom Gesamtzusammenhang der theologischen Konzeption her zu erschließen. Näherhin bedeutet dies, die Höllenthematik unter trinitätstheologischem, anthropologischem, christologisch-soteriologischem und schlussendlich eschatologischem Fokus je neu zu verfolgen, wobei es gleichzeitig darum gehen muss, den inneren Zusammenhang der unterschiedlichen Perspektiven erkennbar zu machen, um so Balthasars Theologie der Hölle immer deutlicher in ihrer einheitlich-ganzheitlichen Gestalt zu konturieren.

Angesichts dieses Vorhabens ist nun aber auf die spezifischen Probleme jeder Balthasar-Rezeption hinzuweisen.55 „Balthasars Theologie weist den, der sich um sie bemüht, auf einen steilen Weg.“56 Im Speziellen gilt das für seine Eschatologie. „Diese ist nicht ein Berg, sie ist ein Gebirge.“57 Zunächst einmal stellt die Mannigfaltigkeit seiner Thematisierungen eine besondere Herausforderung dar. Es wäre wohl nicht nur ein kaum zu erfüllender Anspruch, wollte man versuchen, alle bei Balthasar selbst explizit oder auch implizit mit der Höllenthematik verknüpften Aspekte in die Darstellung und Reflexion einzubeziehen. Es hieße vor allem unweigerlich auch, sich in einem letztlich nicht mehr durchschaubaren Netzwerk aus Ansätzen und Ideen zu verstricken. Eine Konzentration auf die zentralen Dreh- und Angelpunkte sowie ihre Gelenk- und Verbindungsachsen ist darum unerlässlich, auch wenn dies in der Konsequenz bedeutet, Probleme unerkannt und Fragen offen lassen zu müssen.

Analoges gilt im Hinblick auf die zu berücksichtigende Literatur. Die Fülle der balthasarschen Schriften ist kaum zu überschauen.58 Neben mehr als 100 Büchern hat der Theologe über 500 Aufsätze verfasst. Hinzu kommt inzwischen eine regelrechte Flut an Sekundärliteratur.59 Die Rezeption der balthasarschen Werke lief zunächst recht schleppend an. Bis zur Mitte der 1970er Jahre gab es nach eigenen Aussagen Balthasars gerade einmal ca. 20 Dissertationen60, die sich mit seinem Denken befassten. Inzwischen liegen um die 300 Monographien vor.61 Es versteht sich von selbst, dass es unmöglich ist, alle Werke auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu studieren und in der Auseinandersetzung zu behandeln. Es wird mit den folgenden Ausführungen also ausdrücklich kein Anspruch auf Vollständigkeit der Sichtung erhoben. Vielmehr erlaube ich mir, ein ebenso weises wie pragmatisches Prinzip Balthasars zur Anwendung zu bringen: „Nur wer viel übersehen kann, hat Übersicht.“62

Was die Werke Balthasars anbelangt, so treffe ich meine Auswahl im Wesentlichen aus den nach 1947/48 entstandenen Schriften. In den Jahren zuvor entstanden Werke „mit einer vorwiegend philosophischen Perspektive“63. Ab diesem Zeitpunkt dann widmet er sich im engeren Sinne theologischen Fragestellungen. Insgesamt wird man „von einer auffälligen Kontinuität in den eschatologischen Arbeiten Balthasars sprechen dürfen“64. Dies gilt insbesondere auch „im Blick auf den christlichen Heilsuniversalismus, der in einer Theologie des Kreuzes und des Descensus Christi grundgelegt“65 ist. Es wird darum im Verlauf der Untersuchung durchaus möglich sein, die berücksichtigten theologischen Werke Balthasars alle untereinander ins Gespräch zu bringen, ohne seinem Denken damit Gewalt anzutun. Vor allem aber steht nicht zu befürchten, dass mit einem nicht einbezogenen Text ein wesentlicher Aspekt verloren geht oder etwa eine fundamentale Neubesinnung übergangen wird.

Deutlich größere Schwierigkeiten bereitet die Auswahl der Sekundärliteratur. Neben deutschsprachigen Schriften konzentriere ich mich besonders auf Texte aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, weil gerade hier in den letzten beiden Jahrzehnten ein deutlich wachsendes Interesse an der Theologie Hans Urs von Balthasars festzustellen ist.66 Außerdem ist es mir wichtig, neben einigen Standardwerken vor allem auch neuere Erscheinungen zu berücksichtigen, weil ich mir erhoffe – zu Recht, wie sich immer wieder herausstellen wird –, hier Fragen und Antwortperspektiven zu finden, die meinen verwandt sind.

Leitender Impetus der folgenden Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt Hans Urs von Balthasars ist es, darzulegen, dass und in welchem Sinne die Rede von der Hölle, zu der er ausgehend von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus findet, keinerlei Spuren einer Drohbotschaft trägt, sondern im Gegenteil in besonderer Weise geeignet ist, Größe und Wunder des göttlichen Heilsangebots auch und gerade in menschlichen Erfahrungen abgründigen Unheils zur Sprache zu bringen und dergestalt eine Hoffnungsperspektive zu eröffnen.

Eine mögliche Vertiefung und Konkretisierung dieses Gedankens soll am Ende der Arbeit in einem kurzen Ausblick exemplarisch zumindest angedeutet werden. Es war eingangs bereits davon die Rede, dass im außer- wie auch im innertheologischen Raum gegenwärtig immer wieder von „individuellen und kollektiven Höllen des 20. Jahrhunderts“67 gesprochen wird. Eugen Biser geht sogar so weit, zu sagen, Hölle sei „das Stichwort der herrschenden Daseinsinterpretation“68. Die Hölle erscheint damit nicht länger als ausstehende, jenseitige Gefahr, sondern wird zu einem gegenwärtigen, ja sogar alltäglichen Phänomen erklärt.69 Sie „existiert schon allerorten; man muss sie nicht erst theologisch erfinden.“70 Dabei wird der Topos, auch das wurde schon erwähnt, immer wieder, nicht zuletzt von theologischer Seite, vielfach in Zusammenhang mit psychischen Leiden gebracht: „die Hölle als Inbegriff seelischer Erkrankungen, von Neurosen und Psychosen“71.

Bisher verbleibt diese Erklärung allerdings weitgehend auf der Ebene der Behauptung; eine systematisch-theologische Durchdringung des Gedankens ist noch nicht geleistet. In einem Ausblick am Ende dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, anzudeuten, wie die Verknüpfung des Höllentopos mit Zuständen seelischen Leidens von Balthasar her möglicherweise als theologisch gerechtfertigt ausgewiesen und dergestalt erhärtet werden kann. Die These dabei lautet, dass pathologische Formen der Angst als Ursprung und Grund neurotischer und psychotischer Leiden als Vorschattungen von Hölle im Sinne Balthasars begriffen werden können.

Nun kann und darf die Theologie sich freilich keinerlei psychologischen und psychiatrischen Kompetenzen anmaßen. Sie ist darum in der Entwicklung einer Theologie pathologischer Angst notwendig auf das interdisziplinäre Gespräch mit den entsprechenden Wissenschaften anwiesen. Ein solcher Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften bedarf aber ebenso notwendig der Vermittlung durch eine Philosophie, die gleichsam eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Perspektiven auf die Wirklichkeit schlägt. Nun gibt es mit der Daseinsanalyse eine psychopathologische und psychotherapeutische Richtung, die sich ausdrücklich ein philosophisches Fundament gibt. Dies ist umso interessanter, als sie sich auf die Philosophie Martin Heideggers gründet, eine Richtung mithin, die durchaus auch anschlussfähig für theologische Diskurse ist.

In meinem Ausblick werde ich also zumindest andeuten, wo ich Berührungspunkte zwischen der Theologie Balthasars und der daseinsanalytischen Sicht des Menschen und seiner Gesundheit bzw. Krankheit erkenne. Damit soll der Versuch unternommen werden, eine Denkrichtung zu markieren, die es erstens ermöglichen könnte, pathologische Angstphänomene theologisch (be)greifbar zu machen, die sich aber darüber hinaus zweitens vor allem als geeignet erweisen könnte, Hoffnung auf Heilung und Heil zu begründen. Mit diesem Unterfangen hoffe ich nicht zuletzt auch zeigen zu können, dass „von Balthasars Position … ein noch intensiveres Gespräch zwischen den verschiedenen Wissenschaften möglich (ist), als er es selbst geführt hat.“72 In einen solchen Dialog tatsächlich einzutreten und dergestalt systematisch auf die Entwicklung einer Theologie pathologischer Angst hinzuarbeiten, muss allerdings einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben.

Wenden wir uns nach diesen Vorüberlegungen nun also Hans Urs von Balthasar und seiner Theologie zu. Um seinen Entwurf zur Höllenthematik in gebührender Weise nachvollziehen und erfassen zu können, ist es unabdingbar, um sein eigentümliches Theologieverständnis zu wissen. In einem ersten Schritt soll darum nun dargelegt werden, wie und in welchem Sinne der große Denker Theologie betreibt. Dabei wird es allerdings auch bereits ein erstes Mal vonnöten sein, kritische Einwände geltend zu machen, nicht zuletzt um damit Ziel und Anspruch dieser Arbeit deutlich zu machen.

1 Satory: In der Hölle brennt kein Feuer, 184.

2 Ratzinger: Hölle. V. Systematik, 448.

3 Bohren: Ungepredigte Hölle, 226.

4 Greshake: Himmel – Hölle – Fegefeuer, 73.

Zu den Entwicklungsstufen innerhalb dieses Prozesses vgl. Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 307–445.

5 Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 226. Die Vf’in verweist dazu auf: Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, 3 Bde., Tübingen 1979; Graß, Hans: Christliche Glaubenslehre, Teil 1 u. 2, Stuttgart 1973/74; Schlink, Edmund: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen 1983.

6 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 359 (im Original kursiv).

7 Jürgen Moltmann nimmt sicherlich eine Extremposition ein, indem er versucht, die Unmöglichkeit einer Hölle theologisch zu begründen. Vgl. dazu ders.: Am Ende ist alles Gottes.

8 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 348 f. Diesen Befund findet der Autor bei einem Blick in Katechismen und liturgische Texte bestätigt (vgl. dazu ebd., 356–359). Parallele Entwicklungen sind seiner Beobachtung nach zudem hinsichtlich der Fegefeuerlehre auszumachen (vgl. dazu ebd., 351–353).

Ganz übereinstimmend mit diesen Erkenntnissen konstatiert auch Günter Röhser „den nahezu vollständigen Verlust einer Sprache für die Zukunft und das Ende der Welt, für die Zukunft und das Leben des Menschen nach dem Tode in der Theologie ebenso wie in der kirchlichen und religionsunterrichtlichen Praxis der Gegenwart“ (ders.: Hat Jesus die Hölle gepredigt?, 26).

9 Jüngling: Hölle, 435.

10 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 345.

11 „Viele Theologen unserer Zeit versuchen Schwierigkeiten, die sich existentiell, anthropologisch und theologisch aus der Annahme unrettbarer Verlorenheit ergeben, einer Lösung zuzuführen, indem sie den … Begriff der Hölle – zugegebenermaßen oder stillschweigend – aufgeben bzw. so minimalisierend auslegen, dass das von der kirchlichen Lehrverkündigung Gemeinte darin nicht mehr wiederzuerkennen ist“ (Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 50). Ebertz geht darum sogar soweit, von einem „Kollaps des traditionellen eschatologischen Codes“ zu sprechen (ders.: Zivilisierung Gottes, 338).

12 Vgl. dazu Röhser: Hat Jesus die Hölle gepredigt?, bes. 28–30; vgl. auch unten, 119–121.

13 Ich schließe mich damit der Diagnose von Michael Ebertz an, die zugleich als Titel seiner Arbeit firmiert.

14 Vgl. Jüngling: Hölle, 447.

15 Fuchs: Gerichtsverlust, 161.

16 Vgl. Ebertz: Zivilierung Gottes, 343.

17 Jüngling: Hölle, 447.

18 Tück: ‚Glaubhaft ist nur Liebe‘, 147. „Eine Infantilisierung des Glaubens, die bereits Kinder als unterkomplex durchschauen, ist nicht selten die Folge“ (ebd).

19 Miggelbrink: Zorn Gottes, 5 (Kursiven von mir).

20 Vgl. Jüngling: Hölle, 447.

21 Fuchs: Gerichtsverlust, 163.

22 Minois: Hölle, 135.

23 Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 370.

24 Eingang in die Malerei findet die „Einsicht in die alltägliche Realität der Hölle“ (Vorgrimer: Geschichte der Hölle, 367) bereits zu Beginn der Neuzeit im Werk von Hieronymus Bosch, der vor allem die psychischen Abgründe des Menschen zur Darstellung bringt. In seinem Gefolge zu nennen sind insbesondere Pieter Bruegel, Francisco Goya, Edvard Munch, Alfred Kubin, Wassily Kandinsky und Max Ernst (vgl. dazu ebd., 367 f). Mit den Schrecken der Kriege des 20. Jahrhunderts wird das Höllenmotiv zunehmend zur künstlerischen Ausdeutung von Erfahrungen auf makrokosmischer Ebene herangezogen. Exemplarisch sei dazu an die Kriegsbilder von Max Beckmann und Pablo Picasso erinnert.

Die Liste der Auseinandersetzungen mit dem Gedanken der Hölle in der neueren Literatur ist schier endlos. Sie reicht von Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ über Camus und Satre, Lewis und Beckett, Thomas Mann und Lasker-Schüler bis zu Dorst und Muschg. Einen instruktiven ersten Überblick gibt auch dazu Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 370–385; vgl. auch Maas: Hölle – Abgrund der Existenz?; ders.: Gott und die Hölle, 288– 312.

25 Vorgrimler: Wiederkehr der Hölle?, 158.

26 „Wenn die Literatur von den Höllen von Verdun, Stalingrad, Auschwitz sprach, dann handelte es sich nicht nur um Metaphern, oder genauer: dann tritt der harte Wahrheitskern jeder Metapher an den Tag“ (Vorgrimler: Wiederkehr der Hölle?, 158).

27 Gnilka: Biblische Botschaft von Himmel und Hölle, 28.

28 Vgl. Rahner: Hölle, 736.

29 Maas: Geheimnis des Karsamstags, 128.

30 Maas: Geheimnis des Karsamstags, 128. Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung gelangt auch Eugen Biser. Ihm gilt die Neuzeit als „Zeitalter des Perfektionismus. Der perfektionierten Daseinsstruktur entspricht aber innerlich der homo deformis“ (ders.: Abgestiegen zu der Hölle, 286; Kursiven im Original wurden nicht übernommen), so dessen Befund.

31 Ratzinger: Einführung in das Christentum, 294.

32 Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 21–48.

33 Jüngling: Hölle, 439. Damit schließt sich der Kreis. „Die Hölle, das sind die andern“; zu dieser Einsicht gelangt auch Satre (ders.: Geschlossene Gesellschaft, 59).

Auf das mit diesem Verständnis verbundene Problem eines allgemein zunehmenden Mangels an Schuldbewusstsein, um nicht zu sagen einer sich ausbreitenden Unschuldsmentalität kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Vgl. dazu: Jüngling: Hölle, 437; Fuchs: Gerichtsverlust, 162.

34 Jüngling: Hölle, 449.

35 Jüngling: Hölle, 449.

36 Jüngling: Hölle, 449.

37 Lubac: Zeuge Christi, 392.

38 Striet: Wahrnehmung der Offenbarungsgestalt, 57.

39 VC, 282; vgl. auch Pa, 69; Balthasar: Eschatologie, 133.

40 Die für seine Zeit geradezu revolutionäre Position Karl Barths lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“ (ders.: Der Römerbrief. Zweite Fassung, München 1922, 298; zitiert nach: Jüngel: Barth, 258).

41 Vgl. dazu VC, 276–300. Jan-Heiner Tück bezeichnet Balthasars Schrift „Umrisse der Eschatologie“ m. E. völlig zu Recht als „programmatischen Aufsatz“ (Tück: Nachbetrachtung, 120). „Befasst man sich eingehender mit dem Werk Balthasars, dann kann man leicht feststellen, daß die Theologie Balthasars eschatologisch geprägt ist, denn Balthasar entfaltet seine Theologie im Horizont der Frage nach der Vollendung bzw. der Eschatologie“ (Kim: Christliche Denkform 28).

42 VC, 276. Diese Überlegungen Balthasars beziehen sich auf die Theologie Karl Barths. Sie haben aber nicht weniger Geltung für sein eigenes Werk.

43 „Balthasar wird stets Bewunderer finden, jedoch schwerlich Schule machen. Sein angelegentliches Bemühen um eine einheitliche Gesamtschau eignet sich nicht für Schematisierungen und Unterscheidungen, die in den theologischen Traktaten gang und gäbe sind“ (Jöhri: Hans Urs von Balthasar, 436).

44 Tück: Hans Urs von Balthasar, 95.

45 Vgl. dazu bes. Jg. 15 (1984) der katholischen Monatsschrift „Der Fels“, sowie die Ausgaben Oktober 1986 bis April 1987 der Zeitschrift „Theologisches“. Vgl. auch unten Kapitel 3.4.2.3.1.

46 Pitstick: Light in Darkness.

47 Vgl. dazu unten Kapitel 3.3.3.3.

48 Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 59–227.

49 Zitiert ist damit der Titel der Schrift Markus Schulzes.

50 Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9.

51 Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9 (Kursiven im Original wurden nicht übernommen).

52 Vgl. Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 417 f.

53 Balthasar ist ohne Zweifel auch vor vielen seiner LiebhaberInnen zu verteidigen, „weil sie nicht selten die Brisanz seiner Theologie unterschätzen“ (Tück: Hans Urs von Balthasar, 95).

54 Lochbrunner: Ineinander von Schau und Theologie, 188.

55 Vgl. dazu Löser: Unangefochtene Kirchlichkeit, 478 f.

56 Löser: Sein – ausgelegt als Liebe, 424.

57 Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9; vgl. auch ebd., 417.

58 Vgl. dazu: Balthasar, Hans Urs von: Bibliographie 1925–2005. Darüber hinaus war Balthasar als Übersetzter klassischer französischer Werke tätig und betreute als Herausgeber und Verleger etliche Schriftreihen. Vgl. dazu auch Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar als Autor, Herausgeber und Verleger.

59 Die Hans Urs von Balthasar-Stiftung stellt unter http://homepage.bluewin.ch/huvbslit. ein Verzeichnis aller Sekundärschriften zu Balthasar zu Verfügung, das zweimal im Jahr aktualisiert wird.