AKZENTE   ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR

 

EUROPA

 

Heft 3 / September 2016

 

Herausgegeben von

Robert Menasse und Jo Lendle

INHALT

Heft 3 / September 2016  63. Jahrgang

 

Jo Lendle   Robert Menasse   Vorwort

Elfriede Jelinek   Europas Wehr

Alek Popov   Ein Platz an der Sonne

Dana Grigorcea   Aus dem Leben der rumänischen Dichterin Mara B.

György Dragomán   Bärenfett

Zbigniew Herbert   Aus einer ungeschriebenen Theorie der Träume

Babelsprech   Neun neue Gedichte für Europa

Nicoleta Esinencu   Hotel Europa

Ulrike Guérot   Robert Menasse   Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik

Charles Heller   Von reisenden Menschen und Bildern

Adam Zagajewski   Die Schließung einer offenen Gesellschaft

Robert Menasse   Der eindimensionale Europäer

Chantal Mouffe   Für einen europäischen Linkspopulismus

Lily Brett   Europa

Dubravka Ugrešić   Europa in Sepia

Anna Kim   Die Gleichen

Ingo Schulze   Charkiw in Europa

Najem Wali   Vaterland im Gehen   Meine Beziehung zum Westen

Tom Schulz   Heraklits Tablet

 

Autoren   Übersetzer

JO LENDLE   ROBERT MENASSE
Vorwort

Es ist nichts Neues, aber es ist wieder einmal aktuell: Die Europäer kommen mit Europa nicht klar. Europa zeigt sich als etwas Ganzes, das nur aus Gegenteilen besteht. Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik. Eine Währungsunion ohne gemeinsame Finanz- und Fiskalpolitik. Letztlich eine politische Union, deren Mitglieder die politische Union bekämpfen und blockieren. Sie managen mit ungeheuren Kosten und ohne nachhaltige Lösungen die Krisen, die sie durch nationale Interessenspolitik selbst produzieren, und nennen das »Europäische Solidarität« – was früher »den Bock zum Gärtner machen« genannt wurde.

Ist Europa ohne seine Geschichte, seine historischen Erfahrungen und die einst daraus gezogenen Konsequenzen denkbar? Dumme Frage, sollte man meinen, natürlich nicht! Und doch erleben wir heute, wie Europa ein geschichtsvergessener Kontinent wird, ein Umstand, dem wir letztlich alle unsere aktuellen Krisen verdanken, politisch, ökonomisch, kulturell und geistig.

Man kann heute nicht über Europa sprechen oder schreiben, ohne letztlich das europäische Einigungsprojekt mit zu meinen, dessen heutiger Name EU ist. Aber man kann heute, wie sich leider unausgesetzt zeigt, über die EU reden und schreiben, ohne mehr deren Idee zu kennen, und deren buchstäbliche Not-Wendigkeit, nach den Erfahrungen, die Europa mit dem Nationalismus hatte; und man kann heute in Leitartikeln und an den Stammtischen über Europa räsonieren, ohne eine Vorstellung von der Zukunft zu haben, die nicht nur die Gründergeneration noch hatte, sondern lange davor eine Vielzahl hellsichtiger Literaten und Künstler, die zurück und voraus blickten.

»Als Heimat empfand ich das europäische Festland. Vor 1914 reiste man ohne Pass von der atlantischen Küste bis an das Schwarze Meer, von Skandinavien bis nach Sizilien. Ausland war eigentlich Redensart. Überall war man etwas mehr als ein Zugelassener; sich in ein Volk zu mischen, stand jedem frei, und den jeweiligen Staat konnte er übersehen. Eine Vorbedingung des geeinten Europa war erfüllt, unsere private Unabhängigkeit von Landesgrenzen.« Dies schrieb Heinrich Mann im Jahr 1941 im Exil, als die konsequentesten Nationalisten Europa in Schutt und Asche legten, die Europäer ihrer Heimat beraubten und Millionen Europäer ermordeten.

Schon Jahre vorher, nämlich 1913, schrieb Stefan Zweig: »Wir erleben jetzt und in nächster Zukunft den Entscheidungskampf zwischen einem geeinten, brüderlichen Europa und einem Europa eigensinniger Nationen.« Wir wissen, wie dieser Kampf ausgegangen ist, und Stefan Zweig musste 1942 im Exil konstatieren: »Der Nationalismus hat die europäische Zivilisation zerstört.«

Und noch früher, schon 1850, schrieb Victor Hugo, dass es unvermeidlich sei, dass sich eines Tages ganz Europa, alle seine Regionen, zu einer Europäischen Republik zusammenschließen werden, denn die Vereinigung von einigen Provinzen und Regionen jeweils zu Nationalstaaten könne nicht das Ende der Geschichte sein, sondern nur ein Schritt auf dem Weg zu einem wirklich vereinten Europa. 1851 musste Victor Hugo ins Exil, zunächst ging er übrigens nach Brüssel. Er wurde verspottet und verhöhnt. Der Deutsch-Französische Krieg, der Beginn der nationalistischen Verwüstung Europas, war dann nicht mehr so lustig.

Was diese und viele andere Schriftsteller, Dichter und Künstler schrieben, kannten, wussten und ersehnten (Victor Hugo sah sogar eine gemeinsame europäische Währung voraus!) ist uns nicht fremd, erscheint uns zweifellos nicht so verrückt wie vielen ihrer Zeitgenossen – und wird doch heute wieder in Frage gestellt: Historisches Wissen, historische Erfahrung und historische Notwendigkeit erscheinen plötzlich wieder als vergebliche Utopie. Aber wie denken die zeitgenössischen Autoren über Europa, die Enkel von Victor Hugo, Heinrich Mann, Stefan Zweig und all den anderen, die mit ihren Erfahrungen eine Zukunft verbürgten, die jetzt politisch noch einmal verspielt wird?

Wir haben eine Reihe von Autoren aus Europa beziehungsweise mit Bezug zu Europa eingeladen, einen Beitrag für dieses Heft zu schreiben, in Reaktion auf den Zuruf »Europa!«. Was wir nicht wollten, war eine Anthologie, die so pedantisch wie wider den europäischen Geist »literarische Vertreter der europäischen Nationalstaaten« versammelt. Die Beiträge in diesem Heft zeigen: In der Fantasie, der Kritik, den seismografischen Träumen, den analytischen Bildern, den Erzählungen und Forderungen der Autoren ist Europa aufgehoben, unzerstörbar gibt es Europa, in der Literatur, und immerhin heute nicht bloß im Exil.

Europa ist am Ende? Diese Nachricht ist falsch. Tatsächlich steht Europa noch immer oder wieder am Anfang. Das ist das Erschütternde – aber das fruchtbare Feld literarischer Fantasie.

ELFRIEDE JELINEK
Europas Wehr

falls er die Ware zurückschicken möchte, der Zettel ist von Anfang an mitgekommen. Eine syrische, nein, eine assyrische, Quatsch, so viele Länder gabs damals nicht, eine wie heißt das, eine phönizische, ist ja egal, Prinzessin wurde angefordert und angeliefert, aber eigentlich liefert er sich ihr, der Stier, der eigentlich ein Gott ist, deswegen muß er alles selber machen, denn er hat niemanden über sich, der ihm Befehle geben könnte. Ist sie das überhaupt, da, auf dem Foto? Oder hat er sie woanders gesehen, die Braut? Stimmt. Paßt. Die ist es! Die europäischen Größen stimmen, sie sind im Ausland nur andere. Jeder hat andere Größen, zu denen er aufschaut. Ich sehe kein Problem. Es ist das, was der Gott, der hier, wie gesagt, bloß König Kunde ist, ich sehe das schon als eine gewisse Degradierung, bestellt hat. Soweit in Ordnung, die Papiere wurden geprüft, man hat ihr, die auch was gegen Vorkasse gekauft hat, ihr gutes Recht!, heute dürfen auch Frauen Schuhe, Frauenschuhe bestellen, angekündigt, die Lieferung schriftlich angekündigt: Hier auf dieser Fähre wird der IT-Techniker, den sie bestellt hat, die Prinzessin, eine abgeschlossene Berufsausbildung wäre fein, gilt aber nicht, gilt bei uns nicht oder nur sehr eingeschränkt oder nur im Bereich der Altenpflege oder des Putzens, das ist es, was wir brauchen, hier also wird er ankommen, sie freut sich schon so, bald werden sie beide putzen oder pflegen dürfen, wenn auch nicht nebeneinander. So hat sie es sich nicht vorgestellt bei der Vorbestellung, die Prinzessin. Eine gewisse Enttäuschung ist immer eingeplant bei Bestellungen im Netz, es ist nie genau das, was man sich gewünscht hat, denn der Erwünschte, von dem man allerdings keine genaue Vorstellung hatte (macht nichts, wir bestellen trotzdem, wir können es zurückschicken, wenn es uns nicht gefällt), wird die Form eines Stieres angenommen haben. Er sieht aus, als hätte er sich selbst in einem 3D-Drucker aus Plastik erzeugt, so schaut das Produkt zumindest aus, nicht wahr, ich sehe nicht, wie man da flüssiges Erz hätte hineinschütten können, das eigentlich bevorzugte Material, doch das funktioniert in diesem Drucker nicht, und man muß ja auch nehmen, was da ist, der hat sich aus einer Wurst Material, nicht einem Wust, einer Wurst herausgedrückt, um damit die Weiber in die Irre zu führen, mit seinem Stierkörper, ich meine mit seiner Gestalt, welche einer Plastik gleicht, weil sie aus Plastik ist. Und die Fähre wird er vielleicht auch noch selber sein, das hat er vor, allerdings, bitte um etwas Geduld, er muß erst schauen, er muß mit dem Huf probieren, wie kalt das Wasser ist, wir haben nicht mehr Sommer. Ach, hätte sie ihn bloß früher gesehen, und vor allem: ach, hätte er sie bloß früher gesehen! Nur keine Sorge, der Lieferschein muß unterschrieben werden, nicht wahr, persönlich, kein anderer soll sie nämlich bekommen, hier, auf dieses kleine Gerät schreiben Sie Ihren Namen, dann geht die Ware in Ihren Besitz über. Die Entscheidung der Annahme wird damit noch nicht gefällt, sondern sie entsteht einfach, sie steht, die Entscheidung bildet sich, und jetzt steht sie fest, sie ist luftgetrocknet. In der Inständigkeit des Nichts wird das Gelieferte oft verkannt, so daß man es voreilig zurückschickt. Noch einmal dieselbe Strecke, bloß zurück? Echt? Im Ernst? In die andere Richtung? Bevor man seine Zeit und die anderer mißbrauchen, nein, beenden konnte? Bevor man in den Kampf ewige Seligkeit gegen Vorrangzeichen, ich meine persönliche Interessen, abgewogen gegen Gott und immer für zu leicht befunden, eintreten kann? Bevor man die Flugzeugtür eintreten kann und eine ganze Handballmannschaft damit gegen sich aufbringt, welche gern drinnen bleiben würde, sie muß ja zu einem Auswärtsspiel? Dabei hat man doch kaum das Geld für den Sattelschlepper oder den Schlepper allein aufbringen können? Sogar der Tötungsbus im Burgenland mußte im Voraus bezahlt werden, sonst sterben die Leute, und wo bleiben wir? Wir bleiben hier. Für den Stier aber, für die Sicherheit seiner Lieferung, hieß das: immer schön bei den anderen bleiben, bei der gewählten Reise-Gruppe, sich nicht absondern, keine Festung aus sich gründen, sie soll ihn, der sie erwählte, ja erst im letzten Moment erkennen, die Prinzessin, sonst ist die Überraschung beim Teufel, und wir wollen doch alle zu Gott, nicht wahr, das wollen wir doch! Seltsamerweise in total unterschiedliche Richtungen, in die Hoffen und Sehnen sie treiben, ja, genau, ins Kommendste, denn da sieht man das Kommende nicht. Sie müssen nur noch unterschreiben, dann kriegen Sie es.

 

Da begibt er sich erst mal mit den anderen ins Gezelte, das noch nach Volksfest riecht, nach vergossenem Bier, kein Problem, du wirst es aber auch noch billiger geben, kein Problem, wer immer kommt, er kommt eben in einer Herde, um danach unsere Großmut, unsere Langmut und unseren langsam gegen sie ansteigenden Mut auszunützen. Anders, und meist solo, weil es nicht viele von ihnen gibt, jetzt weiß ich gar nicht, gibt es mehr Menschen, oder gibt es mehr Tiere?, sicher mehr Tiere, falls man die Insekten dazurechnet, es muß sich auf alle Fälle irgendwie ausgehen, daß eins das andere frißt und dann genau nichts übrigbleibt. Also Götter gibt es nur relativ wenige, und alle, alle kommen sie, Menschen und Götter, beide auch manchmal als Tiere, als Tiere solo, die haben wenigstens von Anfang an einen Platz im Transporter, zu essen kriegen sie nichts, aber stehen dürfen sie immerhin, damit die anderen Tiere sie nicht niedertrampeln. Die ihre Gestalt aufgegeben haben, die Gestalt eines Gottes befindet sich derzeit mitten unter ihnen, die haben auch andere Mittel und Wege, ihre Schritte betrügen, alles an ihnen trügt,

ALEK POPOV
Ein Platz an der Sonne

Jeden Morgen setzt sich ein Mann an der bulgarischen Schwarzmeerküste in den Sand, um die Sonne bei ihrem Aufgang zu begrüßen. Genau auf der gegenüberliegenden Seite, an der georgischen Küste, setzt sich jeden Abend ein anderer Mann in den Sand, um sie bei Sonnenuntergang zu verabschieden. Die beiden ahnen nicht das Geringste voneinander. Beide sind mit ihrem Leben unzufrieden – im Großen und Ganzen aus ein und denselben Gründen. Beide suchen Zuflucht in Wunschträumen, inspiriert durch den Sonnenzyklus. Und beide reisen in Gedanken nach Hause – an den Ort, den sie für ihre geistige Heimat halten. Aber damit scheinen die Ähnlichkeiten auch schon ausgeschöpft. Das, was sie verbindet, trennt sie eigentlich.

Früh am Morgen. Ein junger Mann vollführt merkwürdige Leibesübungen am menschenleeren bulgarischen Strand. Seine Kleidung besteht aus grob zusammengenähten knielangen Lederhosen. Im Sand steckt ein Stab, an dem ein Bündel langer schwarzer Haare im Wind weht, ein Mittelding zwischen Skalp und Pferdeschweif. Die Bewegungen des Mannes stellen eine sorgfältige Rekonstruktion der Kampfkunst der alten Bulgaren dar, auch bekannt als Bu-Wei – verloren gegangen in den Jahrhunderten der Knechtschaft und des Nihilismus, aber auf dem Kamm der Ethno-Welle, die Bulgarien nach seinem historischen Beitritt zur EU überschwemmte und bis zum heutigen Tage nicht abebbt, wieder an die Oberfläche gespült.

Der junge Mann hat sich diese uralte Praxis während seines Sommerurlaubs in einer der Schulen angeeignet, wo protobulgarische Kampfkünste gelehrt werden. Die Rekonstruktion beruht zum Teil auf Analogien zu den Kampfkünsten der Völker im Osten, zum Teil auf Berichten in mittelalterlichen Chroniken, am meisten jedoch auf dem Gespür und dem Enthusiasmus der Jünger der ruhmreichen Vorfahren. Besondere Begeisterung unter den Eingeweihten weckt eine authentische Miniatur aus dem Menologion des byzantinischen Kaisers Basileios II., das heute in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek aufbewahrt wird. Auf ihr ist ein protobulgarischer Krieger zu sehen, der einen typischen Schlüsselgriff gegen seinen Gegner anwendet – einen Christen, geschmückt mit dem Heiligenschein des Märtyrertums.

Es ist kurz vor sieben. Die Sonne taucht majestätisch aus der spiegelglatten Weite des Schwarzen Meeres auf, und die Brise bläst die letzten Spuren von Kohlenwasserstoff weg, die nach der mitternächtlichen Emission der Raffinerie Neftochim noch in der Luft hängen. Der junge Mann, der im normalen Leben als Ivan oder Stojan in Erscheinung tritt, setzt sich in den immer noch kühlen Sand, das Gesicht dem Sonnenaufgang zugewandt, und gibt sich der Meditation hin. Jetzt ist er Koraste – der Name, durch den er sich mit den Geistern der großen Urahnen vereinigt. Jeder alte bulgarische Name, davon ist er überzeugt, muss den Konsonanten »r« in sich tragen – eine Quelle von Männlichkeit und Kraft, wie die Namen der protobulgarischen Fürsten beweisen: KubRat, AspaRuch, TeRvel, KRum OmuRtag. Kommt er zweimal darin vor, umso besser – KRakRa, ein großer Heerführer. In der Gruppe gibt es jedoch schon zwei Krakras, und der Anführer, Bagatura Kormisosch, hat angeordnet, dass er sich einen anderen Namen suchen soll. Das Problem mit den authentisch protobulgarischen Namen ist, dass sie nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Aus dem Dunkel der Altertums sind gerade einmal ein Dutzend in unsere Zeit überliefert, Interessenten gibt es jedoch viel mehr. Man ist gezwungen, neue Namen zu schmieden, was nach einer feinen philologischen Intuition verlangt. Er kneift die Augen zusammen und greift in die Pelzmütze mit den Zetteln. Ihm fällt das würdevolle und klingende Koraste zu.

Dein Wille geschehe, o Tangra, Gott des Himmels!

Die rote Scheibe erhebt sich in einer gleichmäßigen Bewegung über den Horizont. Die Wasseroberfläche beginnt zu funkeln, zusammen mit der Erinnerung an vergangene Größe, gereinigt vom Rost der Zeit und des Vergessens, von den Flecken der Misserfolge und des Verrats, der historischen Ungerechtigkeiten und der erbärmlichen Gegenwart. Über die stoppelige Wange des jungen Kriegers kullert eine heiße Träne. Dort irgendwo, jenseits des Meeres, in den Steppen zwischen Dnjepr und dem Kaukasus, erstreckt sich das alte Großbulgarien. Die alte Hauptstadt Phanagoria steht stolz an der Küste der Taman-Halbinsel. Pferdeschweife wehen im Wind, Jurten schimmern weiß, zahllose Pferdeherden grasen, Kinder lernen reiten und mit dem Bogen zu schießen. Im Palast empfängt Khan Kubrat die Gesandten des byzantinischen Kaisers, der ihn »Bruder« nennt und mit Geschenken überhäuft. Ein wenig weiter im Norden wiederum, zwischen Wolga und dem Ural, liegt das Reich der Wolgabulgaren – regiert vom tapferen Kotrag, ein Land reicher und glücklicher Städte, wo die Menschen bis zum heutigen Tag ihre protobulgarischen Wurzeln bewahrt haben. Aber der Geist fliegt weiter ostwärts, er fliegt über das Kaspische Meer und Choresmien, und da, in der Ferne, taucht der schneebedeckte Kamm des mythischen Imaion-Gebirges auf. Die Urheimat! Das Königreich Balch, das schon im Mahabharata erwähnt wird. Das zähe Baktrien! Alexander der Große heiratet die bulgarische Prinzessin Roxane, um der Konfrontation mit ihrer unbesiegbaren Reiterei aus dem Weg zu gehen. Roxane ist die schönste Frau aller Zeiten – die schöne Helena die reinste Schreckschraube dagegen! Noch immer sagt man in den Tälern des Hindukusch »schön wie ein Bulgare«.

Es geht auf acht zu. Vom einen Ende des Strandes kommen ein paar dunkelhäutige Indogermanen daher, die sich orangefarbene Westen mit der Aufschrift »Sauberkeit« übergezogen haben und schwarze Plastiksäcke hinter sich her schleifen. Erschrocken schaut Koraste auf die Uhr und springt auf. Er zieht sich in Windeseile um, stopft die protobulgarische Hose in den Rucksack (die Hose ist übrigens auch eine bulgarische Erfindung, falls Sie es nicht wussten, genauso wie das Dörrfleisch, der Ayran, der Säbel, der Sattel und noch andere Errungenschaften des Fortschritts!), schwingt sich auf seine knatternde Vespa, die ihm laut Verbraucherpreisindex zusteht, und düst zur Arbeit davon. Um Punkt acht Uhr fünfundzwanzig kommt er am Hintereingang des BILLA von Burgas zum Stehen. Er trägt sich in die Liste ein, und einige Minuten später sehen wir ihn zur Wursttheke schreiten, herausgeputzt mit einem Uniformhemd und einer Schürze, an der ein Namensschildchen baumelt – Ivan.

»Ivan«, schilt ihn der Abteilungsleiter für Feinkost, »dass du mir das Dörrfleisch nicht wieder so dick schneidest, erst vorgestern gab es eine Beschwerde! Ist das klar?«

Währenddessen nimmt die Sonne unerschütterlich ihren Lauf, wie sie es schon Millionen Male getan hat, lang bevor die Pferdeschwänze an den Ufern des Schwarzen Meeres im Wind wehten. Kurz nach sechs, als Koraste langsam Ivan von sich abschüttelt und daran geht, das erste Bier zu kippen, setzt sich auf der anderen Seite des Meeres, im uralten Land Iberien, ein stattlicher Georgier im selben Alter bei Poti an der Strand, um den in der Dunkelheit versinkenden Feuerball zu verabschieden.

Vor dem Hintergrund des Sonnenuntergangs werden die bedrohlichen Silhouetten von Kreuzern und Fregatten der Russischen Schwarzmeerflotte sichtbar, die die georgische Küstenregion nach dem letzten Zusammenstoß zwischen dem ehemaligen Imperium und der stolzen Kaukasusrepublik abriegeln. Kein Schiff ist jedoch in der Lage, den Flug des Geistes von Merab Gamkrelidze aufzuhalten, der nach Westen strebt. Im Unterschied zu ihren einstigen Nachbarn, den Bulgaren, haben seine Vorfahren nie die gelobte Urheimat verlassen. Sie sitzen dort, eingeschlossen in ihre fruchtbaren Täler, so lang sie denken können! Und trotzdem, beschleicht ihn ein verräterischer Gedanke, hätten sie beizeiten den Hintern hochbekommen, wären wir jetzt vielleicht auf der anderen Seite des Meeres … Vielleicht sind die Sonnenuntergänge auf der anderen Seite nicht so schön wie hier, aber im Gegenzug sind, wie wir wissen, dort drüben die EU und die NATO, und die schwimmenden russischen Tröge wagen es nicht, sich blicken zu lassen. Außerdem bekommen die landwirtschaftlichen Produzenten Subventionen, und die Straßen befinden sich in unvergleichlich besserem Zustand. Die Arbeitslosigkeit ist kaum der Rede wert. Es ist leicht, an Verbraucherkredite zu kommen. Noch leichter ist es, das Geld auszugeben; alle großen Handelsketten haben dort drüben bereits Fuß gefasst – von BILLA über Carrefour bis Tesco – und bieten Waren und Dienstleistungen an, die Weltniveau haben. Aber vor allem können die Menschen frei reisen. Das, schau, ist so viel wert wie alle BILLAs zusammen! Mit nichts als einem blanken Personalausweis kannst du ganz Europa abgrasen, seufzt Merab und sitzt in Gedanken schon in einem rüttelnden Autobus nach Wien. Er besucht das Freud-Museum, isst am Graben ein paar Würstel und lauscht den Straßenmusikern. Von Wien aus macht er sich auf den Weg nach Rom, über Venedig. Er fährt in einer Gondel, drückt dem Papst die Hand, besichtigt das Kolosseum. Und zum Preis einer Zugfahrkarte von Tiflis nach Poti fliegt er mit Wizz Air nach Paris. Paris! Die Hauptstadt der Kultur: Beaubourg, der Louvre, die Oper, die Sorbonne (wo Merab Mamardaschwili höchstpersönlich Vorlesungen gehalten hat!), das Quartier Latin, Montmartre … Eine heiße Träne kullert über die Wange des jungen Dschigiten. Dieser Tradition gehören er und sein ganzes Volk an, nicht den wilden asiatischen Steppen. Das ist seine geistige Heimat! Und ob er von hier aus nach London weiterreist oder nach Berlin oder Amsterdam, ist eigentlich unerheblich.

Merab ist zu Hause.

Die Sonne ist bereits im Meer versunken. Es sind nur noch die Positionslichter der russischen Schiffe übrig. Und wie sie so, einer Weihnachtsbeleuchtung gleich, den Horizont trassiert haben, erinnern sie ihn an die Grenzen der physischen Realität, die zu bewohnen er gezwungen ist. Er steht zornig auf, kehrt dem Meer den Rücken und schwingt sich auf die knatternde IZH-2, hergestellt noch zu Zeiten der Sowjetunion. Zu Hause erwarten ihn zweihundert Hausarbeiten zum Thema: »Die Größe des georgischen Volkes durch die Augen unseres Nationaldichters Schota Rustaweli betrachtet.« Er muss sie bis zum Morgen durchgesehen haben. Die Tür nach Europa beginnt, sich langsam, aber unerbittlich zu schließen. Bis zum nächsten Sonnenuntergang.

 

 

AUS DEM BULGARISCHEN VON ALEXANDER SITZMANN